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Die Gartenlaube
ОглавлениеEs wäre Klaus sicher schwergefallen das Essen in der Volksküche genauer zu beschreiben, obwohl er neuerdings glaubte, etwas von der Materie zu verstehen. Denn er war unerwartet in den Besitz eines ganzen Stapels, der Illustrierten „Die Gartenlaube“ gekommen und konnte dadurch die in ihnen abgedruckten zahlreichen Rezepte ausführlich studieren. Er kannte die Illustrierte von früher aus Stolp, wo er mit Oma und Eta auf der Ofenbank sitzend, oft in ihnen geblättert hatte.
Trotz allem sah Klaus keinen Grund sich zu beklagen, denn das Essen in der Volksküche war fast immer ausreichend und verträglich, mit anderen Worten, es blieb bei ihm nie ein Teller leer. Er hatte zwar keine unvergesslichen kulinarischen Ereignisse in der Volksküche erlebt, wenn man die nicht dazu zählt, wo er seinen Teller zweimal gefüllt bekam, aber dass der Küchenchefs und seiner Mitarbeiter überhaupt jeden Tag was auf die Teller bringen konnten und alle zufrieden und dankbar machte, war sicher wichtiger und hinterließ ein wärmendes Gefühl in seinem Bauch, an was er sich noch lange Zeit erinnerte.
Nun mühte er sich mit der üppigen Rezeptsammlung in der „Gartenlaube“ ab. Diese war eingebettet in eine Rubrik, welche heute die neudeutsche Bezeichnung „Lifestyle“ bekommen hätte. Von den dort dringlich vorgebrachten Vorschlägen für einen sittlichen Lebenswandel sowie der Verinnerlichung hauswirtschaftlicher Tipps und der schließlich geforderten richtigen Führung des Hauspersonals konnte er keinen Nutzen für seine Probleme erkennen.
Jedoch die Rezepte hatten es in sich, hier vermutet er etwas lernen zu können. Edith hatte sich ihm nach einigen Fragen, als Mitleserin angeboten und war eine große Hilfe. Es ging ja nicht nur darum eine Erklärung für die oft rätselhaften Inhaltsstoffe zu finden, sondern auch wie die Zubereitung mittels der verschiedensten Wiegemesser, Mörser und Kochtöpfen erfolgen sollte. Aber auch hier sah er bald ein, dass es zwischen jener offenbar für immer verschwundenen Welt und der jetzigen rauen Wirklichkeit, keine Verbindung mehr bestand.
Im Augenblick war Klaus jedoch dankbar die Gartenlaube studieren zu können. Er hatte den ganzen Stapel von Frau Plambeck, einer freundlichen alten Dame erhalten, bei der Oma ein Zimmer vom Wohnsamt zugewiesen bekommen hatte. Er dürfe sie alle behalten, wenn er sie nur auch liest, hatte sie gesagt und ihm über den Kopf gestrichen. Dabei war sie gerade einen Kopf größer als er. Sie hätte sie alle vor der Sammelwut der HJ gerettet, die dauernd Material für ihre Altpapiersammlung gesucht hatten. Von ihnen war sie ständig belästigt worden. Denn irgendjemand hatte ihnen verraten, welche Schätze dieser Art sich in ihrer Wohnung befanden, aber sie hätte sich ganz einfach diesen Menschen verweigert. Er spürte die Verachtung, die aus ihren Worten sprach.
Die einzelnen Exemplare der Zeitschrift waren alle aus den Jahren um die Jahrhundertwende, aber das störte ihn nicht, denn auch sonst stammte fast alles Lesbare, was ihm im Moment in die Hände fiel, aus diesem Zeitraum. Dass diese ziemlich zeitlich einseitige Beeinflussung seines Lesestoffs auch daran lag, dass zwei Zensurwellen über die öffentlich zugänglichen Quellen hinweggegangen waren, wurde dadurch deutlich. Zuerst waren es die Nazis gewesen, die mit ihrer „Aktion wider den undeutschen Geist“, versucht hatten alles für sie unbequeme auszumerzen und dann waren die Alliierten gekommen, welche die Bücher entnazifizierten und sie damit vom „ großdeutschen Geist “ befreien wollten.
Übrig geblieben war dass, was von beiden für unverdächtig gehalten wurde. Das Resultat nach den zweimaligen Eingriffen war jedoch keineswegs als geistlos einzustufen, wie engstirnige behaupten. Außerdem blieben die Bücherregale in den Privaträumen der Bürger, von diesen Eingriffen meistens verschont.
Zunächst nahm ihn das Enträtseln, der zahlreichen Vexierbilder in der „Gartenlaube“ in Beschlag. Er brütete oft und lange über einzelne Bilder und nach einer erfolgreichen Lösung beschäftigte ihn dann immer noch die erkannte Figur oder Person weiter. Er fragte sich, welche Bedeutung sie wohl hatte und wer sie gewesen war und überhaupt was sollten die vielen Vexierbildern in der Zeitung.
Verbarg sich dahinter eine humoristische Absicht oder war es was anderes. Klaus ahnte, dass die Bilder nicht immer nur zur Erheiterung abgedruckt worden waren, sondern dass manchmal darin auch eine Botschaft versteckt war, bloß welche?
Bald jedoch vertiefte er sich in den Fortsetzungsnovellen. Aus unerklärlichen Gründen blieb er bei Eugenie Marlitt mit der „Frau mit den Karfunkelsteinen“ hängen. Er war wie gefesselt von der Erzählung. Manchmal fehlten einige Nummern der Gartenlaube und sein Gedankenstrom wurde dadurch lästig unterbrochen. Dies Missgeschick veranlasste ihn, dann die Geschichte in Gedanken weiter zu spinnen. Notizen konnte er sich nicht machen, denn auch dafür fehlte es an Papier und Bleistift. So spielten sich die Geschichten nur in seinem Kopf ab. Wenn er dann durch Zufall doch auf die fehlenden Zeitungsnummern stieß, zögert er sie zu lesen, und wenn er sich dazu aufraffte, verblüffte ihn das nun gelesene oft. Meistens war er enttäuscht über den Mangel seiner eigenen Fantasie oder über den der Autorin.
Einige der Mittagesser hatten von der neuen Lesequelle, der Gartenlaube, Wind bekommen und bewarben sich für eine Nachlese der von Klaus schon abgelegten Exemplare. So bildeten sich parallele Lesezirkel, welche sie offenbar nach speziellen Interessengebieten durchackerten. Es kursierten ständig etliche Ausgaben auf den Tischen. Besonders die Fortsetzungsromane waren gefragt. Der Versuch während des Essens oder auch danach den Inhalt durch einen Vortragenden zu verbreiten, scheiterte an der allgemeinen zu großen Geräuschkulisse der speisenden und daran dass einige in Ruhe speisen wollten.
Um seine Oma bei Frau Plambeck aufzusuchen, musste Klaus eine lange steile Treppe, in einem Hinterhaus in der Bismarckstraße erklimmen, bis man an ihre Wohnungstüre gelangte. Nach dem Öffnen glaubte man zuerst, man würde ein Försterhaus betreten. Geweihe und Bilder mit allerlei Getier bedeckten die Wände des kleinen Entreezimmer. Die Garderobenhaken für Hut und Mütze befanden sich in Augenhöhe von Klaus und bestanden aus Paaren von Wildschweinhauern, also von Eckzähnen dieser Tiere, sodass er manchmal dachte, in deren Maul zu schauen.
Weiter oben an der Wand befanden sich Reihen von Aufhänger für Mäntel und Jacken, die aus Geweihstücken von Hirschen bestanden und die auf dunkle Eichenbretter befestigt waren. Danach durchquerte er eine kleine Küche, die der seiner Oma in Stolp zum Verwechseln ähnlich sah, so als wenn man die Zeit zurückgedreht hätte und vieles nie passiert wäre.
Der Frau Plambeck begegnete er selten, weil sie sich meisten für ihn unsichtbar in den hinteren Räumen ihrer Wohnung aufhielt. Dass es sie überhaupt gab, ließ sich nur an einigen Geräuschen, die durch die Türen drangen, belegen. Meistens blieb er auch in der Küche eine Weile stehen und betrachtete interessiert die Batterien von Wiegemesser, die an der Wand, wie in einem Museum aufgereiht befestigt waren. Der schmale Raum lag immer still und geruchlos da, so als ob hier schon seit langer Zeit nicht mehr gekocht worden war. Er fragte sich immer, wo und was die Frau Plambeck essen wird und wer sie versorgt. Aber er kam zu selten hierher, um darüber zu genaueren Erkenntnissen zu gelangen. Durch eine Türe in der Küche gelangte man schließlich in das Zimmer von Oma.
Das war mit den dunklen Schlafzimmermöbeln von Frau Plambeck ausgestattet. Die mit den Schnörkel verzierten Schranktüren und den runden gedrechselte Kugeln auf den Bettpfosten. Entsprachen dem Geschmack der Jahrhundertwende. Beide Betten waren mit durchgehenden Federkern-Matratzen ausgestattet, die Furcht erregend quietschten, wenn man sich auf ihnen umdrehte. Ein normales Sexualleben hätte in diesen Betten nicht stattfinden können, ohne dass die ganze Straße zusammengelaufen wäre. Aber auch so war es für Klaus ein Problem. Da er häufig bei Oma übernachtete und dann mit Mutti in einem Bett schlafen musste.
Oma sagte immer, er schläft wie ein Hase, aber tatsächlich hatte Klaus nicht nur einen sehr unruhigen Schlaf, sondern sein Einschlafen verzögerte sich meistens, durch ein Nervösem zucken der Beine. Ungeduldige Ermahnungen von Mutti, die sich gestört fühlte, er solle doch stillliegen und schlafen, führten nur dazu, dass er erst recht Schwierigkeiten hatte und sich weiterhin herumwälzte. Erst wenn sie sich anbot, ihn in den Arm zu nehmen und er zustimmte, trat Ruhe ein. Diese sich jetzt abendlich wiederholenden Einschlafprobleme hatte er seit den Ereignissen bei Kriegsende in Stolp. Aber alle scheuten sich einen Zusammenhang herzustellen, und darüber zu sprechen.