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Die Vorgeschichte

Die meisten Flüchtlinge waren erst nach Kriegsende in Schleswig-Holstein eingetroffen. Sie hatten dort die Einwohnerzahl so stark ansteigen lassen, dass auf vier Einheimische drei Flüchtlinge kamen und viele von ihnen blieben, bis in den 50er Jahren die großen Umsiedlungsaktionen nach Westdeutschland einsetzten.

Das Thema wird heute meistens als erledigt abgehakt, obwohl sich das nur darauf beziehen kann, dass die meisten von ihnen mittlerweile verstorben sind.

Sich selbst auf die Schulter klopfend, wird diese Zeit heute meistens als gelungene Integration bezeichnet. Das wurde damals keineswegs so gesehen. Bestenfalls kann man heute rückblickend bestätigen, dass man miteinander auskam, ohne dass der teilweise offene Hass der ihnen entgegenschlug, Gewalt auslöste.

Wobei ihre persönlichen Geschichten sicher an allen Orten anders waren. Diese hier beginnt in Süderbrarup, einer Gemeinde im nördlichsten Teil Schleswig-Holsteins, in der schönen Landschaft Angeln, nahe der Ostsee.

Auch hier steht das Thema dieser Flüchtlinge heute natürlich nicht mehr im Mittelpunkt, obwohl sie für die Zeitgenossen, Flüchtlinge wie Einheimische, prägend waren. Aber selbst in der aktuellen Ortschronik wird darauf nicht besonders tiefschürfend eingegangen. Sie werden zwar erwähnt, aber ohne besondere Teilnahme, was angesichts der allgemeinen Tendenz auch nicht zu erwarten ist. Im Ortsbild deutet nichts mehr auf die großen Lagerkomplexe hin, die es hier einst gab, kein Hinweisschild oder Ähnliches gibt darüber Auskunft.

Ihr damaliges Erscheinen auf der Ortsbühne wird häufig nur noch als eine lästige und überstandene Episode der Geschichte angesehen, die man bald vergessen möchte, was auch verständlich ist.

Die Flüchtlinge kannten bei ihrer Ankunft meistens nur noch zwei Gefahren, den Hunger und im Winter die Kälte. Und damit wurden sie zu Konkurrenten der Einheimischen, da es für beide Gruppen um das gleiche Stück Brot auf den Lebensmittelkarten und das gleiche Dach über dem Kopf ging.

Die Bauern unter den Alteingesessenen, die man auch Selbstversorger nannte, brauchten keine Lebensmittelkarten. Und das waren in dem Agrarland Schleswig-Holstein nicht wenige und die meisten Einheimischen hatten natürlich ihre gewachsenen Beziehungen zur Verwaltung, welche die Einweisung der Flüchtlinge in Wohnraum realisieren sollte. Was aber wegen des wachsenden Widerstandes und mangels Masse oft erschwert wurde, sodass sich über viele Jahre ein Lagerleben etablierte. Damit konzentrierte sich das ganze Elend der Zeit auf die Flüchtlinge.

Nun gab es im Norden von Schleswig-Holstein noch etwas, was über die „normale“ Rivalität zwischen diesen konkurrierenden Bevölkerungsgruppen hinausging. Das war die dänische Minderheit. Diese wollte, offenbar ermutigt durch das Beispiel der Polen, die ihre Grenze nach Westen bis zur Oder verschoben hatten, ebenfalls gerne die dänische Grenze nach Süden bis zur Eider verschieben. Danach sollten alle Flüchtlinge ausgewiesen werden.

Die fast täglich neu hinzu Kommenden waren dafür natürlich hinderlich, sodass ihnen Ablehnung und Feindseligkeit entgegenschlug. Eben waren sie noch in ihrer Heimat verfolgt worden, weil sie deutsche waren und jetzt wurden sie hier deswegen erneut infrage gestellt. Sie saßen also wieder zwischen Baum und Borke.

Die Neuankömmlinge entstammten verschiedenen Flüchtlingswellen. Mit Schiffen oder auf dem Landweg waren die Ersten, meist unter dem Beschuss der heranrückenden Front, noch vor Kriegsende angekommen. Die Nächsten kamen direkt aus dem unmittelbaren Frontgeschehen und dann jene die man den so genannten „wilden“ und zum Schluss, die man den „regulären“ Vertreibungen zurechnete.

Sie alle mussten noch die Erlebnisse von Kampfhandlung, Plünderung und Exzessen verarbeiten, bevor sie in Schleswig-Holstein eintrafen. Was immer man hier mit Worten erklären wolle, es würde nicht reichen.

Hinzu kamen noch die Soldaten, die in Schleswig-Holstein in Gefangenschaft geraten waren und die nicht wieder in ihre mittlerweile von Russen und Polen besetzte Heimat zurück konnten.

Die ersten der Flüchtlinge konnten noch die schon vorhandenen Baracken der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes benutzen. Die später kamen wurden dann in Schulen, Säle von Gaststätten oder auch zwangsweise in Privaträume von Einheimischen untergebracht.

Viele waren traumatisiert und mussten jetzt versuchen unter Umständen weiterzuleben, die für sich alleine schon schwer waren. Das sie nicht willkommen waren wussten sie und dies bedrückte sie noch zusätzlich. Das war der Boden, das Substrat, auf dem sich dann alles Weitere entwickelte.

Die Kinder

Hier wird von den Menschen und ganz besonders von den Kindern erzählt, die im Juli 1946 mit ihren Müttern, als Flüchtlinge nach Süderbrarup in Schleswig-Holstein kamen.

Kinder haben es manchmal etwas leichter, weil vieles von den Alltagssorgen bei den Erwachsenen verbleibt. Aber durch ihre gemeinsamen Erlebnisse hatten sie alle schon ein Stück ihrer Kindheit verloren und waren dadurch viel zu früh, zu kleinen Erwachsenen geworden.

Es werden hier nur beispielhaft, die Erlebnisse von Klaus erzählt, der mit seiner Mutti seit dem Einmarsch der Russen in Pommern, eine Überlebensgemeinschaft gebildet hatte.

Sie hatten beide alles überlebt, wenn auch mit vielen Narben und Schrammen. Er kam als neunjähriger nach Süderbrarup und ging als sechszehnjähriger ins Rheinland. Über diese Zeit wird hier erzählt, aus der Froschperspektive des heranwachsenden Flüchtlingsjungen.

Wegen der bedrückenden Wohnverhältnisse in den Lagern und zugewiesenen Zimmern konnten die Kinder der Flüchtlinge meistens nur draußen spielen. Aber auch da lagen sie ständig auf der Lauer um etwas zu ergattern, dass ihnen und ihren Müttern das Überleben erleichtern würde. Ob bei der Kohle oder den Briketts nachgeholfen wurde, damit sie von den Zügen fallen oder wenn Zuckerrüben oder Kartoffeln auf dem Bauernhof vom Wagen stibitzt, wurden, wobei der stets wachsame Hofhund geschickt abzulenken war, stets vermischte sich ihr Überlebensdrang mit Abenteuerlust und ganz normalen kindlichen Verhaltensweisen. In diesem Zwischenraum von Spielen, Neugier, Vergnügen, Abenteuer und Not spielte sich ihr Leben ab.

Schon nach kurzer Zeit fanden sich wieder ganz automatisch gleichaltrige Kinder, meist Jungs, zusammen. Während sie früher den lästigen HJ-Streifen ausweichen mussten, die jedes Untätige herumlungern, wie sie es nannten, unterbinden wollten, konnten sie sich jetzt ungehemmt bewegen. Diese Selbstständigkeit waren sie gewöhnt, da sie doch schon nach Kriegsende oft entscheidend mit fürs Überleben der Familie gesorgt hatten, denn ihre Mütter konnten sich aus berechtigter Furcht vor schlimmsten Belästigungen kaum an die Öffentlichkeit trauen.

Dieses „zusammen cliquen“ der Flüchtlingskinder, wie Mutti es nannte, erfolgte zunächst nur, um zu erkunden, wo es etwas gab, das den täglichen Speiseplan ergänzen konnte. Später suchte man sich zusammen auch anderweitig zu beschäftigen, um nicht vor Langeweile, wie Georg Koppitsch es nannte, zu versauern. Denn es gab am Ort nichts, was man auch nur im entferntesten als ein Angebot zur Freizeitgestaltung, wie man es heute nennen würde, ansehen konnte. Sodass alle auf sich und ihrer eigenen Fantasien angewiesen waren. Da dies ein allgemeines Problem war, zog die Clique der Flüchtlingskinder natürlich auch einheimische Kinder an.

Die Wiederaufnahme des Schulbesuchs, zusammen mit den einheimischen Kindern, sorgte dann für etwas Normalität. So erlebten sie, nach all dem Schrecken doch noch eine Kinder- und Jugendzeit in dem noch dörflichen Charakter des Ortes, der alles was sie durchgemacht hatten, in eine unwirkliche Ferne rückte.

Für sie waren die Feste, wie Kindergilde mit Kuchenessen und Tanz oder der Weihnachtsbasar im alten Anglerhof mit Varieté, jetzt ein wichtiger Mittelpunkt des Jahres geworden. Das Baden in Bächen, moorigen Gewässern und in der Schlei, war das schiere Sommervergnügen.

Es gab noch die mit allen Sinnen wahrzunehmenden Naturwunder. Die zu jeder Tageszeit anders duftenden Wiesen. Das unverwechselbare Geräusch der Himmelsziegen in der Dämmerung, das Glocken Geläute der über einen niedrig Hinweg streifenden Wildenten, das Kiebitzgeschrei in den Feuchtgebieten, die blühenden Knabenkrautwiesen und das toben auf den nach einem Sommergewitter überfluteten Wegen und Straßen.

So könnte man nach Art einer „ Sentimental Journey „ noch viele unwiederbringliche Momente aufzählen. Auch davon wurden alle, die hier ankamen geprägt, das nahmen sie mit, wohin sie auch später gingen.

Zwischen Baum und Borke

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