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Organisation und Politik der athenischen Demokratie
ОглавлениеDie athenische Demokratie war nach Ausweis von vielen Hunderten erhaltener Inschriften das Musterbild einer sich vorbildlich selbst verwaltenden Gemeinschaft. Die Regierung erfolgte durch Beschlüsse des Volkes und war durch Vorberatungen im Rat der Fünfhundert sorgfältig vorbereitet; das Abstimmungsverfahren wurde im Präskript jedes Volksbeschlusses auf eine Weise dokumentiert, die von der Generation des Perikles, etwa 460 bis 430 v. Chr., bis zur römischen Kaiserzeit keinen Änderungen unterlag. In den Massenversammlungen des Volkes, auf denen Regierungsbeschlüsse gefasst wurden, ging es streng diszipliniert zu. Es will bedacht sein, dass die einzige Polizeitruppe, die der athenische Staat seit Mitte des 5. Jahrhunderts unterhielt, ein Korps skythischer Bogenschützen war. Die in der Überlieferung festgehaltene Aufgabe dieser Polizeitruppe war es, Ruhe und Ordnung in den Versammlungen des Volkes aufrechtzuerhalten. Im 4. Jahrhundert gab es 40 reguläre Sitzungen der Volksversammlung; hinzu kamen bei Bedarf, besonders in Kriegszeiten, außerordentliche Sitzungen. Der Rat der Fünfhundert beziehungsweise sein geschäftsführender Ausschuss, die 50 Prytanen einer Phyle, traf sich täglich mit Ausnahme bedeutender Feiertage. Für bestimmte Beschlüsse war ein Quorum von 6000 Teilnehmern an der betreffenden Volksversammlung vorgeschrieben; für alle übrigen war die Zahl der Abstimmenden nicht festgelegt. Die 6000 Stimmberechtigten des Quorums repräsentierten das Volk als Ganzes, und wenn es nach einschlägiger Vorschrift erforderlich war, dass das Volk unter Beachtung des Quorums einen Beschluss fasste, wurde geheim per Stimmstein abgestimmt (bei mindestens 6000 Beteiligten eine umständliche Prozedur), sonst im vereinfachten Verfahren durch Handaufheben. Die Vorstellung, dass die 6000 des Quorums die Gesamtheit des Volkes repräsentierten, lag wohl auch der jährlich durch Auslosung revidierten Liste der 6000 Geschworenen zugrunde, aus der von Fall zu Fall für die einzelnen Verfahren 500 bis 1500 Richter ausgelost wurden.
Dieser Befund demonstriert, dass die symbolische Gesamtheit des Volkes nur ein Bruchteil der realen war. Athen hatte im 5. Jahrhundert, bis der Peloponnesische Krieg (431–404 v. Chr.) die Zahl der Einwohner erheblich reduzierte, 30 000 bis 50 000 Bürger. Wenn alle, wozu sie berechtigt waren, an den Sitzungen der Volksversammlung teilgenommen hätten, wäre das Regierungssystem vermutlich zusammengebrochen. Eine Debatte zu führen, Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge zu machen und über geänderte Beschlussvorlagen abstimmen zu lassen hätte vermutlich schon wegen des Fehlens moderner Tonverstärker zu einem Chaos geführt, dem auch der Ordnungsdienst der skythischen Bogenschützen machtlos gegenübergestanden hätte. Nicht nur die schieren Zahlen der zur Teilnahme an den Volksversammlungen Berechtigten warfen Probleme auf, sondern auch die Entfernungen zwischen dem zentralen Versammlungsort Athen und den Wohnorten der über ein Territorium von 2500 Quadratkilometern verstreuten Bürger. Man bedenke nur, dass der Abstand zwischen Marathon (wo die berühmte Schlacht stattgefunden hatte) und Athen ungefähr 40 Kilometer beträgt. Selbst ein geübter Marathonläufer hätte fast jede Woche drei Tage von zuhause abwesend sein müssen, wenn er an den regulären 40 Sitzungen der Volksversammlung hätte teilnehmen wollen. Wer hätte das auf sich nehmen können, Haus und Hof zu verlassen, ständig auf Reisen zu sein und die anfallenden Kosten trotz Unterbrechung der eigenen Erwerbsarbeit zu tragen?
Zu Recht ist deshalb gesagt worden, dass „infolge der Größe des Areals … alle Bürger, die nicht im Umkreis von vielleicht zehn Kilometern von Athen wohnten, praktisch von der Teilnahme an der Volksversammlung ausgeschlossen“ waren (so der verstorbene Frankfurter Althistoriker Eberhard Ruschenbusch). Aus diesem Grund hat er die athenische Demokratie mit provokativer Zuspitzung, aber sachlich keineswegs verkehrt eine Oligarchie der in der Nähe Athens Wohnenden genannt: „Man könnte also die Verfassung Athens als eine Oligarchie der Bürger der etwa 300 Quadratkilometer der Stadtregion bezeichnen.“
Abgesehen von der eingeschränkten Beteiligung an den Sitzungen der Volksversammlung muss das Zentrum des Staates, Athen und sein Haupthafen Piräus, auf Besucher, wirkliche und fiktive aus unserer Zeit, den Eindruck einer übermäßig politisierten Gemeinschaft gemacht haben. Meisterhaft ist es Alfred Heuß im dritten Band der Propyläen-Weltgeschichte gelungen, diesen Eindruck plastisch wiederzugeben. Seine Schilderung verdient, hier wörtlich zitiert zu werden:
„Wenn man in der Stadt Athen oder im Piräus spazierenging, dann war es schwierig, unter den vielen einfachen Bürgern jemanden ausfindig zu machen, der nicht gerade einem öffentlichen Geschäft nachging oder dessen Gesichtskreis nicht mit solchen Dingen ausgefüllt gewesen wäre, auch wenn er im Moment damit nicht befasst war. Dass er sich auf dem Weg zur Volksversammlung befand oder eine öffentliche Ansprache hörte, war beinahe noch das wenigste. Aber schon die Wahrnehmung des Richtergeschäftes hielt jährlich eine Schar von sechstausend Leuten in Gang. Wir sehen sie, wie sie in den ‚Wespen‘ des Aristophanes (einer Komödie aus dem Jahr 422) am frühen Morgen, noch in der Dämmerung, sich mit ihren Lämpchen auf den Weg zu ihrem Gerichtslokal machen … Wer nicht zu ihren Sphären gehörte, hatte bestimmt in den unzähligen anderen Ämtern etwas zu tun. Und selbst wenn diese Funktion ausfiel, dann lag für jeden Interessierten der öffentliche Auftrag gewissermaßen auf der Straße. Die öffentlichen Strafverfahren kannten keinen bestallten Staatsanwalt. Die Anklage konnte nicht nur, sondern musste von irgendwem vertreten werden. Die staatsbürgerliche Moral … gebot die Übernahme dieser Pflicht und damit zugleich die Aufgabe, das Belastungsmaterial zu beschaffen … Schließlich forderten die vielen Prozesse ein gewaltiges Aufgebot von Zeugen. Im Stadtgebiet Athens und in der näheren Umgebung mag es etwa vierzigtausend zur Bürgerschaft gehörige Personen gegeben haben, ein Viertel davon als der erwachsene männliche Teil – meistens von dreißig Jahren an; dieses Alter war für die Übernahme öffentlicher Ämter vorgeschrieben – kam für die öffentlichen Funktionen in Betracht, also zehntausend Mann; der Bedarf wird sich ungefähr zwischen sechs- und achttausend bewegt haben. Der Eindruck, die männliche Bürgerschaft Athens sei ein Volk von Politikern und Funktionären, wäre also nicht unberechtigt gewesen.“
Die athenische Demokratie konnte weder auf einen studierten Richterstand noch auf ein fachlich differenziertes Berufsbeamtentum zurückgreifen. Schlimmer noch: Es gab keine Untersuchungs- und Anklagebehörde wie die moderne Staatsanwaltschaft mit ihrem sogenannten Erzwingungsstab, der Polizei. Die athenische Demokratie war in einer unterentwickelten Staatlichkeit entstanden; ihr fehlten die Vorprägungen und Institutionen, die der monarchische Absolutismus den entstehenden modernen Demokratien als Erbe einer geordneten staatlichen Verwaltung und Rechtspflege hinterlassen hat. Was Letztere anbelangt, blieb es bei dem Prinzip, dass jeder selbst dafür sorgen musste, dass Rechtsverletzungen, die er oder die Seinen erlitten hatten, von Gerichts wegen geahndet wurden, gleichgültig ob es um privat- oder strafrechtliche Fälle ging. Auch Schädigungen der Gemeinschaft, beispielsweise durch Entziehung vom Kriegsdienst, Landes- und Hochverrat wie beispielsweise Verschwörungen zur Errichtung einer Tyrannis oder Aneignung und Unterschlagung öffentlichen Eigentums, konnten nur verfolgt werden, wenn ein Privatmann die umständliche Aufgabe übernahm, die notwendigen Beweismittel und Zeugen zusammenzubringen und dann Klage vor dem Volksgericht zu erheben. Selbstverständlich wurde dies als bürgerliche Ehrenpflicht für alle diejenigen betrachtet, die dazu die notwendigen Mittel besaßen. Aber die Erfahrung lehrte, dass auch rein persönliche Beweggründe für die Erhebung falscher Anklagen verantwortlich sein konnten, sodass es sich als notwendig erwies, Privatklagen wegen falscher Anschuldigungen zuzulassen. Doch davon soll im übernächsten Kapitel, das den Problemen der athenischen Demokratie mit Gerichten und Rechtspflege gewidmet ist, ausführlicher die Rede sein. Hier mag es genügen, darauf hinzuweisen, dass die ungeheure Zahl von 6000 Geschworenen, immerhin ein Fünftel bis ein Neuntel der Bürgerschaft, als Reservoir für den Richterdienst zur Bewältigung der anfallenden Flut von Prozessen vorgesehen war.
Der Volksversammlung als der Regierung eines für antike Verhältnisse großen Staates, der eine umfangreiche Agenda zu bewältigen hatte, blieb wie bei der Rekrutierung von Laienrichtern nur die Möglichkeit eines Rückgriffs auf das Potenzial, das in der Bürgerschaft steckte. Ungefähr 750 Personen, die überwältigende Mehrheit auf dem Weg der Auslosung, mussten für Verwaltungs- und andere öffentliche Dienstleistungen mobilisiert werden. Das System sah eine Rotation zwischen Belastung und Freistellung vor. Dabei wurde auch die unterschiedliche Arbeitslast berücksichtigt, die mit den verschiedenen Aufgaben verbunden war. Für die Geschworenenliste konnte (und musste) einen das Los im Laufe der Jahre mehrfach treffen; die Ratsherren, die in dem Jahr ihrer Amtszeit stark beansprucht waren, wurden allenfalls zweimal im Leben herangezogen. Das System sah vor, dass fast alle Posten kollegial besetzt wurden. Unerfahrene lernten von den Erfahrenen, und so geschah es, dass in Athen jeder Bürger über eine gewisse allgemeine Orientierung, wenn auch nicht über eine fachlich spezielle Kenntnis einzelner Bereiche verfügte. Auch besaß das Rekrutierungssystem, wie oben bereits angedeutet, den Vorteil, dass es den Wechsel zwischen der Heranziehung zu öffentlichen Dienstleistungen und einer Befreiung von ihnen zugunsten privater Lebensführung erlaubte.
In der Totenrede, die der Historiker Thukydides seinem Idol, dem führenden Staatsmann Perikles, in den Mund legt, wird die Rotation zwischen privater und öffentlicher Rolle der Bürger geradezu zu einem Alleinstellungsmerkmal der athenischen Demokratie erklärt:
„Frei leben wir miteinander im Staat und im gegenseitigen Geltenlassen des alltäglichen Tuns, ohne den Nachbarn misstrauisch und mit Zorn zu beobachten, wenn er nach Lust und Laune handelt … (Thuk. II, 37,2) … Wir vereinigen in uns die Sorge um den eigenen Hausstand und unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in öffentlichen Angelegenheiten keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Anteil nimmt, nicht ein (politisch) untätiger Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken sie doch (bei Beratungen) richtig durch“ (II, 40,2).
Was hier von Thukydides zum Ausdruck gebracht wird, ist mit der demokratischen Selbstauffassung, wie sie Aristoteles in seiner Politik 1317a 40 – 1317b wiedergibt, eng verwandt. Auch dieser Text, ein Kernstück der demokratischen Ideologie von Freiheit und Gleichheit, soll an dieser Stelle zu Wort kommen:
„Freiheit ist das Grundprinzip der demokratischen Verfassung; diese Auffassung vertritt man (das heißt die Anhänger der Demokratie) dauernd, so als könnte man nur in dieser Verfassung an der Freiheit teilhaben.“
Diesen demokratischen Freiheitsbegriff entfaltet Aristoteles nach zwei Seiten, zuerst nach seiner politischen, dann nach seiner privaten Bedeutung. Den politischen Freiheitsbegriff bringt er mit dem Gegensatz, der Gleichheit, in Verbindung: Jeder Bürger wird nach dem Prinzip der Rotation für eine öffentliche Tätigkeit herangezogen und danach wieder in die Freiheit persönlicher Lebensgestaltung entlassen. Aristoteles leitet diese Regelung von der Gleichberechtigung aller her, die dem in der Demokratie herrschenden Mehrheitsprinzip entspricht:
„Ein Aspekt der Freiheit ist, abwechselnd Amtsträgern des Staates zu unterstehen und selbst als Amtsträger zu fungieren; denn demokratisches Recht bedeutet, dass (die Bürger) der Zahl nach und nicht den Fähigkeiten und dem Verdienst nach Gleichheit besitzen. Wenn aber von diesem Begriff von Gerechtigkeit ausgegangen wird, dann muss notwendig die Mehrheit die Entscheidungsgewalt besitzen; und was immer die Mehrheit beschließt, das besitzt höchste Verbindlichkeit und Rechtskraft. Denn sie (die Anhänger der Demokratie) sagen, dass jeder einzelne Bürger Gleichberechtigung genießen muss.“
Das Mehrheitsprinzip aber hat, so Aristoteles, zur Folge, dass die Leute ohne Besitz, welche die Mehrheit innehaben, den Vorrang vor der Minderheit der Besitzenden genießen:
„Daraus ergibt sich, dass in Demokratien die Besitzlosen mächtiger sind als die Wohlhabenden; denn jene bilden die Mehrheit, was aber die Mehrheit beschließt, besitzt höchste Verbindlichkeit.“
Was den zweiten Aspekt der Freiheit anbelangt, die Freiheit der privaten Lebensgestaltung, steht sie Aristoteles zufolge in engem Zusammenhang mit dem im Vorangehenden vorgestellten Aspekt der politischen Freiheit:
„Ein weiteres Merkmal (der Freiheit) aber ist, zu leben, wie man will. Denn dies sei, so sagen sie (die Anhänger der Demokratie), eine Wirkung der Freiheit, wenn es denn zutrifft, dass es einen Sklaven kennzeichnet, dass er lebt, wie er nicht will. Dies also ist das zweite Merkmal der Demokratie.“
Eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung privater Freiheit war die politische Freiheit insofern, als die Demokratie die Pflichten und Lasten, die sie ihren Bürgern im öffentlichen Interesse auferlegt, unter Beachtung des Prinzips der Gleichheit begrenzt. Dies geschah in der Weise, dass jeweils ein Teil der Bürgerschaft nach dem Prinzip der Rotation für ein Jahr amtliche Funktionen auszuüben hatte, um dann in die Freiheit privater Lebensgestaltung entlassen zu werden. Auf diese Weise wurden, wie Aristoteles abschließend hervorhebt, die Grundsätze verwirklicht, auf denen die Demokratie beruht, nämlich Freiheit und Gleichheit:
„Hieraus entspringt das Prinzip, dass man sich keiner Amtsgewalt unterstellt, am besten keiner, wenn aber doch, dann nur im Wechsel, und so bewirkt auch dieser Aspekt die Freiheit, welche die Verwirklichung der Gleichheit zur Folge hat.“
Dies war die Rechtfertigung des in Athen praktizierten Wechsels einer Heranziehung der Bürger zu öffentlichen Diensten und ihrer Freistellung von öffentlicher Tätigkeit nach Maßgabe der Gleichbehandlung.
Was die Regierungstätigkeit der Volksversammlung anbelangt, erzwang die Fülle der entscheidungsbedürftigen Gegenstände, dass die Versammlung im 4. Jahrhundert mindestens vierzigmal im Jahr zu festgelegten Routinesitzungen zusammentreten musste. Unterschieden wurden nach der Wichtigkeit der Traktandenliste zehn Haupt- und dreißig reguläre Sitzungen. Hinzu kamen bei Bedarf, besonders in Kriegszeiten, außerordentliche Tagungen.
Wir besitzen aus der Zeit um 330 v. Chr. in Gestalt des in der Schule des Aristoteles entstandenen Staates der Athener, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Papyrusfund in Ägypten zutage kam, eine genaue Beschreibung der Arbeit, welche die Volksversammlung im Jahr zu leisten hatte. Zum leichteren Verständnis sei vorausgeschickt, dass das Amtsjahr nach unserem Kalender im Juli begann und im Juli des nachfolgenden Jahres in der Regel nach 364 Tagen endete. Eingeteilt wurde das Jahr in zehn Abschnitte von viermal 36 und sechsmal 35 Tagen. In diesen zehn Jahresabschnitten, die als Prytanien bezeichnet wurden, führten die jeweils 50 Mitglieder einer der zehn Phylen nach ausgeloster Reihenfolge die laufenden Geschäfte des Rates der Fünfhundert. Dazu gehörten die Festlegung der Termine und die Bestimmung der Gegenstände, die der Volksversammlung zur Entscheidung vorgelegt werden sollten. Das Wort „Prytane“ bedeutet im Singular so viel wie Herrscher, oberster Magistrat, im Plural, die Prytanen, die Mitglieder des für 36 beziehungsweise 35 Tage bestellten Führungsgremiums des Rates der Fünfhundert, das abgeleitete Nomen „Prytanie“ den Zeitraum der Amtszeit. Diese möglicherweise etwas umständlich erscheinende Erläuterung erklärt, warum die einzelnen Politikbereiche, aus denen der Regierung, das heißt der Volksversammlung, im Laufe eines Amtsjahres Beschlussvorlagen zu präsentieren waren, unter die Tätigkeit der Prytanen subsumiert werden. Weil auf diese Weise auch eine authentische Unterrichtung über die Politikfelder der damaligen Zeit gegeben werden und der Unterschied zu den heutigen Verhältnissen verdeutlicht werden kann, soll der bestreffende Abschnitt im Staat der Athener (43,36) im Wortlaut angeführt werden:
„Die Prytanen berufen sowohl den Rat als auch das Volk ein, den Rat täglich außer an den sitzungsfreien Tagen, das Volk viermal in jeder Prytanie. Sie legen im Voraus fest, womit sich der Rat befassen muss, welches die jeweilige Tagesordnung ist und wo die Sitzung stattfindet.“
„Ebenso legen sie die Volksversammlungen fest: eine Hauptversammlung, in der man die Amtsträger durch Abstimmung in ihrem Amt bestätigt, sofern ihre Amtsführung gebilligt wird; befassen muss sich diese Versammlung auch mit der Getreideversorgung sowie mit der Sicherheit des Landes; auch kann an diesem Tag jeder, der will, eine politische Anklage erheben, (griechisch) eine eisangelia (die Straftatbestände waren Hochverrat, Sturz der Demokratie und Bestechlichkeit im Amt); außerdem müssen die Verzeichnisse der Güter, die von Staats wegen konfisziert werden, sowie die eingereichten Ansprüche auf Erbschaften und Erbtöchter verlesen werden, damit verwaistes Eigentum niemandem verborgen bleibe.“
„In der (Hauptsitzung der) sechsten Prytanie (das heißt zu Beginn der zweiten Jahreshälfte: Dezember/Januar) lassen die Prytanen zusätzlich zu den genannten Tagesordnungspunkten noch darüber abstimmen, ob das Scherbengericht stattfinden soll oder nicht; außerdem lassen sie Anklagen gegen Sykophanten (das heißt gegen solche Personen, die falsche Anklagen erhoben haben) zu, und zwar gegen Athener und gegen Metöken jeweils höchstens drei, und ebensolche Prozesse, die gegen jemanden angestrengt werden, der dem Volk gegebene Versprechungen nicht eingehalten hat.“
„Die zweite Volksversammlung widmen sie den Bittgesuchen; in ihr darf jeder, der will, ein Bittgesuch für ein beliebiges Anliegen stellen, sei es privat oder öffentlich, und es dem Volk erläutern.“
„Die verbleibenden Versammlungen (also jeweils die dritte und vierte einer Prytanie) befassen sich mit den übrigen Angelegenheiten: In ihnen, so schreiben es die Gesetze vor, soll man drei kultische, drei Herolde und Gesandtschaften betreffende und drei profane Angelegenheiten behandeln.“
„Man verhandelt (in der Volksversammlung) verschiedentlich auch ohne Vorbeschluss des Rates. Die Herolde und Gesandten wenden sich aber zuerst an die Prytanen, und ihnen übergeben sie die Briefe, wenn sie welche mit sich führen.“
Diese Themenliste lag der Tätigkeit der Prytanen und der Volksversammlung zehnmal im Jahr zugrunde – nur in der Hauptsitzung der sechsten Prytanie gab es einige zusätzliche Punkte. Sachlich ging es also, von der sechsten Prytanie abgesehen, viermal im Jahre um die Kontrolle der aus dem Volk mobilisierten Amtsträger, die je nach Ergebnis in ihrem Amt bestätigt oder abgesetzt und zur Rechenschaft gezogen wurden; weiterhin um die Einleitung von Prozessen wegen politischer Vergehen verschiedener Art. Auch in diesen Fällen war das Volk darauf angewiesen, dass sich ein privater Ankläger fand. Für die Problemfälle falscher Anklagen, die sogenannte Sykophanten vertreten hatten, beschloss das Volk auf der sechsten Hauptsitzung die Einleitung von Prozessen. So war dafür gesorgt, dass Athen ein Dorado der politischen Strafgerichtsbarkeit wurde. Der Verfolgung einer politischen Verfehlung diente auch die Einleitung von Prozessen gegen diejenigen, die ihre dem Staat gegebenen Leistungsversprechen nicht eingehalten hatten (siehe den sechsten Hauptteil im Staat der Athener).
Aber es gab auf der anderen Seite auch die Berücksichtigung der Interessen von Bürgern. So diente die Vorschrift, dass angemeldete Ansprüche auf Erbschaften und Erbtöchter öffentlich verlesen werden mussten, der Berücksichtigung konkurrierender Ansprüche. In beiden Fällen ging es darum, dass das Familiengut in der Hand der Erbberechtigten blieb; im Falle von Erbtöchtern war vorgesehen, dass der nächste nicht verheiratete männliche Verwandte die betreffende Erbin heiratete. Hinzu kam das Petitionsrecht: Zehn Sitzungen im Jahr waren dazu bestimmt, dass jeder, der wollte, dem Volk ein Bittgesuch vorlegen und es mündlich erläutern konnte.
Die übrigen Themen betrafen Anliegen des Staates. Die wichtigsten Punkte, die auf den Hauptsitzungen verhandelt wurden, galten der Getreideversorgung und dem Schutz des Landes gegen Angriffe und Überfälle von außen. Letzteres gehört zu der ureigenen Aufgabe der Selbstverteidigung und bedarf keiner Erläuterung, während die Getreideversorgung deshalb ein besonderes Problem darstellte, weil die beiden bevölkerungsreichen Zentren des Staates, Athen und der Haupthafen Piräus, nicht aus dem Umland mit den damaligen Grundnahrungsmitteln, Gerste und Weizen, versorgt werden konnten. Viele Kleinbauern betrieben Subsistenzwirtschaft, produzierten also nur, was sie selbst mit ihren Familien verbrauchten. Und abgesehen davon stellte unter antiken Bedingungen der Landtransport von Massengütern über weite Strecken einen Kostenfaktor dar, der mit jedem Kilometer anstieg. Athen war auf Zufuhr aus Übersee angewiesen, vornehmlich aus den fruchtbaren Schwarzerdegebieten nördlich des Schwarzen Meeres. Als die Spartaner und ihre Bundesgenossen während des Peloponnesischen Krieges Attika zur Erntezeit oder ganzjährig besetzt hielten, war Athen ganz auf die Zufuhr von Übersee angewiesen. Anderenfalls musste es kapitulieren (wie es im Jahre 404 v. Chr. tatsächlich geschah).
Insgesamt zwanzig Versammlungen waren der Routine der Regierungstätigkeit gewidmet, den inneren Angelegenheiten und dem diplomatischen Verkehr (und damit der Außenpolitik). Die inneren Angelegenheiten betrafen den kultischen und den profanen Bereich. Die besondere Berücksichtigung des kultischen Bereichs erklärt sich aus der Existenz einer Staatsreligion und der daraus folgenden Verpflichtung der Gemeinschaft, für den Bau und die Erhaltung der heiligen Stätten einschließlich der religiösen Festkultur zu sorgen. Eine besondere Kategorie stellt der Verkehr mit auswärtigen Mächten dar (bei dem es sowohl um weltliche wie um religiöse Angelegenheiten gehen konnte). Der Form nach kommunizierte die Volksversammlung mit Herolden und Gesandten fremder Staaten in Audienzen, auf denen diese ihrem Auftrag in Form von Verbalnoten oder der Übergabe von Briefen nachkamen. In dringenden Angelegenheiten musste eine schnelle Antwort erteilt werden, ohne dass eine Vorberatung des Rates der Fünfhundert mit Vorlage einer Beschlussvorlage stattgefunden hätte. Gesandte und Herolde hatten sich in jedem Fall zunächst an die Prytanen zu wenden, die den Tag und Nacht erreichbaren geschäftsführenden Ausschuss des Rates der Fünfhundert bildeten.
Die zitierte Liste, die einen authentischen Einblick in die Organisation und die Fülle der Themen gibt, die die Volksversammlung dazu zwang, fast jede Woche zusammenzutreten, ist die schlagende Widerlegung des modernen Vorurteils, dass die direkte Demokratie der Antike nur in einem kleinen Staat mit einem geringen Regelungsbedarf möglich gewesen wäre. Die athenische Demokratie ist der Beweis des Gegenteils.
Es liegt auf der Hand, dass die Regierung durch den Souverän, das Volk, einen Verwaltungsstab zur Vorbereitung, Ausführung und Kontrolle seiner Beschlüsse brauchte. Da ein modernes Berufsbeamtentum ebenso fehlte wie ein juristisch geschulter Richterstand, war die athenische Demokratie, wie oben dargelegt wurde, auf die Mitwirkung eines Teils der Bürgerschaft angewiesen. Wie zu Recht gesagt worden ist, waren der Rat der Fünfhundert und seine geschäftsführenden Ausschüsse, die Prytanien, der administrative Angelpunkt in der politischen Verfassung der athenischen Demokratie. Die Prytanen bildeten in ihrer Amtszeit die Stallwache des Staates, an die man sich jederzeit wenden konnte, und ihr täglich wechselnder Vorsitzender fungierte für einen Tag als eine Art Staatspräsident Athens. Während der sechsten Prytanie, nach unserem Kalender im Dezember/Januar, der es vorbehalten war, die militärischen Operationen des folgenden Sommerhalbjahres vorzubereiten, hatten die amtierenden Prytanen die zusätzliche Aufgabe, die von der Volksversammlung vorzunehmenden Wahlen militärischer Amtsträger und der Beauftragten für den Bau und die Einsatzbereitschaft der Kriegsschiffe zu leiten. In diesem Fall passte die Methode der Auslosung nicht; denn Militärbefehlshaber und die Beauftragten mussten sich durch entsprechende Erfahrung und Kompetenz empfehlen.
Dem Rat der Fünfhundert war aufgegeben, die Tagesordnungen der Volksversammlung zu beraten und nach Möglichkeit einen Vorbeschluss (griechisch: ein probuleuma) vorzulegen, an den sich das Volk bei seinem Beschluss halten konnte, den es aber auch modifizieren oder zurückweisen durfte. Im 4. Jahrhundert war die Funktion des Rates bei den von der Volksversammlung angeordneten Verfahren zur Verurteilung und Bestrafung von Unrechtstätern durch ein spezielles Gesetz geregelt (Staat der Athener 45,1):
„Wenn der Rat jemanden wegen eines Unrechts verurteilt oder bestraft, sollen die Thesmotheten (die sechs Mitglieder des Archontenkollegiums mit jurisdiktionellen Aufgaben) die (vom Rat vorgeschlagene) Verurteilung und Bestrafung dem Gericht vorlegen, und wofür die Richter stimmen, das soll rechtskräftig sein.“
Damit fiel dem Rat die Funktion einer Strafverfolgungsbehörde zu – das war eine Neuerung im Vergleich zur rein privaten Anklageerhebung. Der Rat beantragte in diesem Fall wie die moderne Staatsanwaltschaft eine Verurteilung und Bestrafung; aber eine rechtskräftige Entscheidung fällte ein Gericht. Diese Teilung der Zuständigkeit zwischen Rat und Volksgericht wurde auch für andere Bereiche der Rechtspflege übernommen, so bei Verfahren, die der Rechenschaftslegung von Amtsträgern galten, oder für Anklagen wegen gesetzwidriger Handlungen, die von Privatleuten erhoben wurden. Der Rat wurde ein Hilfsorgan der Rechtspflege, aber kein Gericht. Alle Amtsträger mussten vor dem Rat Rechenschaft über die Verwendung von Geldern ablegen, die ihnen zu treuen Händen anvertraut worden waren. Der Rat fasste das Ergebnis seiner Überprüfung in die Form eines vorläufigen Urteils und leitete es dem Volksgericht zu, dem es vorbehalten war, das rechtskräftige Urteil zu fällen.
Diese Regelung galt nicht zuletzt für diejenigen, durch deren Hände große Geldmittel des Staates gingen: die zehn Schatzmeister der Stadtgöttin Athene, in deren Tempel der Reserveschatz des Staates verwahrt wurde, oder die zehn Verpächter (griechisch: poletai) des profanen Staatseigentums wie beispielsweise der Silbergruben im Laureiongebirge sowie den König (griechisch: basileus), das Mitglied des Archontenkollegiums, zu dessen Zuständigkeit für Angelegenheiten des Kultes die Verpachtung des Landeigentums der Heiligtümer gehörte. Betroffen waren auch die zehn Einnehmer (griechisch: apodektai), die dem Staat geschuldete Beträge entgegenzunehmen hatten. Weiterhin hatte der Rat aus seinen Reihen zehn Rechnungsprüfer (griechisch: logistai) auszulosen, deren Aufgabe es war, zehnmal im Jahr, also in jeder Prytanie, die Rechnungsführung der Amtsträger zu überprüfen. Schließlich wurden noch zehn Untersuchungsführer mit zwei Beisitzern ausgelost, die allen Amtsträgern nach Ablauf ihrer Amtszeit die Erklärung korrekter Amtsführung abnahmen und gegebenenfalls Anklagen wegen Vergehen im Amt veranlassten. Der Bericht im Staat der Athener über die Aufgaben des Rates der Fünfhundert endet mit folgender Generalklausel (49,5):
„Der Rat arbeitet außerdem, allgemein gesprochen, bei der Verwaltung der meisten Staatsangelegenheiten mit den anderen Amtsträgern zusammen.“
Über die Tätigkeit der verschiedenen Amtsträger soll im letzten Teil dieser Übersicht nur das Wichtigste gesagt werden. Dies mag zur Begründung des Urteils genügen, dass die athenische Demokratie ein hochdifferenzierter Staat war und sich eines aus der Bürgerschaft rekrutierten hochkomplexen Verwaltungssystems bediente, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
Die meisten Amtsträger waren in Kollegialorganen organisiert. Dies empfahl sich schon deshalb, weil es gegenseitige Kontrolle begünstigte und die Sachkenntnis erfahrener Mitglieder die mangelnde Erfahrung anderer kompensieren konnte. Von den mehrköpfigen Behörden seien genannt: die Zehnerkommission, die für die Instandhaltung der Tempel zuständig war; die zehn Stadtaufseher (griechisch: astynomoi), jeweils fünf für Athen und fünf für den Piräus, die die Aufsicht über die Straßen führten und für die Einhaltung von Bauvorschriften zu sorgen hatten. Hinzu kamen die zehn Marktaufseher (griechisch: agoranomoi), wiederum jeweils fünf für Athen und den Piräus, desgleichen die zehn Aufseher über Maße und Gewichte (griechisch: metronomoi). Von besonderer Wichtigkeit war die große Kommission der Aufseher des Getreidemarktes (griechisch: sitophylakes). Zur Entstehungszeit des aristotelischen Staates der Athener, um das Jahr 330, bestand das Kollegium aus 35 Mitgliedern, 20 für Athen und 15 für den Piräus, den Hafen, in dem überseeische Getreidelieferungen gelöscht wurden. Für die ordnungsgemäße Verteilung des Getreides gab es noch eine weitere Kommission, die zehn Kontrolleure des Handelshafens. Sie hatten unter anderem dafür zu sorgen, dass zwei Drittel des im Piräus gelöschten Getreides nach Athen weitergeleitet wurden. Erwähnt sei zum Schluss dieser freilich unvollständigen Übersicht noch ein Gremium, das seine Entstehung einer bedeutenden Reform der Strafrechtspflege verdankt. Die fragliche Neuerung markiert den Übergang vom reinen Privatstrafrecht zu einem öffentlich-rechtlichen Strafrecht (wir können sie nicht genau datieren; wahrscheinlich fällt sie in die Zeit nach Entstehung der Demokratie). Der Vollzug der Todesstrafe war seitdem Sache des Staates (man denke an die Hinrichtung des Sokrates), und darum hatte sich eine aus elf Mitgliedern bestehende Kommission zu kümmern, deren offizieller Name „die Elf“, ohne weiteren Zusatz, lautete.
Nicht ausgelost, sondern gewählt worden war in vordemokratischer Zeit das Kollegium der neun Archonten mit seinem Sekretär, das die Funktion einer Regierung ausübte. Sie alle gehörten zum Kreis adliger Familien mit herausgehobener Vermögensqualifikation. Insbesondere der eponyme Archont, nach dem das jeweilige Amtsjahr benannt war, hatte einst die Funktion des Vorstehers der Volksversammlung ausgeübt, die ihm bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung der Politik bot. Damit hatte die Demokratie Schluss gemacht: Das Zehnerkollegium der Archonten wurde ausgelost, die Forderung nach Zugehörigkeit zu einer besonderen Vermögensklasse aufgehoben. Nachdem die Wahl durch Auslosung ersetzt war, blieben dem Kollegium nur noch Routineaufgaben in Rechtsprechung und kultischen Angelegenheiten. Dem eponymen Archonten war es vorbehalten, drei der reichsten Bürger als Beauftragte für die Tragödien- und Komödienaufführungen an den beiden Festen des Gottes Dionysos zu ernennen, ebenso fünf weitere für die Chorwettbewerbe an den Thargelien, dem Fest des Apollon. Die acht, die er ernannte, hatten die nicht unerheblichen Kosten für die Gestaltung der Wettbewerbe aus eigenen Mitteln zu tragen.
Das Wahlverfahren bei der Bestellung von Amtsträgern blieb nur bestehen, wenn die Bekleidung des Amtes besondere persönliche Qualifikationen erforderte. Dies galt für drei Bereiche: neben Reichtum als Voraussetzung der Erfordernis, gegebenenfalls Schadenersatz zu leisten, militärische Erfahrung und Bewährung für die höheren Befehlshaber mit den zehn Strategen an der Spitze sowie Fachwissen in bestimmten technischen Disziplinen als Aufseher der Brunnen und der Wasserversorgung.
Dieses System der Ämter ersparte der athenischen Demokratie die enormen Kosten, die das moderne Berufsbeamtentum einschließlich der Angestellten des öffentlichen Dienstes dem Staat auferlegt. Aber ganz ohne Geld war auch die Tätigkeit von Administration und Geschworenenrichtern nicht zu haben. Voraussetzung war die Entwicklung der Münzgeldwirtschaft, die Athen einen finanziellen Spielraum verschaffte, den andere Staaten nicht besaßen. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zahlte der athenische einem im Laufe der Zeit erweiterten Empfängerkreis Tagegelder, um sie für den Verdienstausfall zu entschädigen, wenn sie für den Staatsdienst ausgelost worden waren. Die Höhe dieser Tagegelder bemaß sich am Verdienst von Arbeitern und Handwerkern (zu denen auch Steinmetze – Sokrates gehörte bekanntlich zu dieser Berufssparte – und bildende Künstler gerechnet wurden) und war mit den Diäten und Aufwandsentschädigungen, die heutige Abgeordnete der Parlamente oder Angehörige der nach Besoldungsgruppen und Altersstufen differenzierten modernen Verwaltung und Rechtspflege erhalten, nicht im Entferntesten zu vergleichen.
Teilweise lagen die gezahlten Tagegelder sogar unterhalb des Verdienstes von Arbeitern und gelernten Handwerkern. Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts, also in der Zeit des Peloponnesischen Krieges, wurden ungelernte Bauarbeiter mit drei Obolen pro Tag, das ist eine halbe Drachme, entlohnt, ein gelernter Handwerker erhielt das Doppelte, also eine Drachme am Tag. Um 330, zur Entstehungszeit des aristotelischen Staates der Athener, war die Kaufkraft des Geldes durch Vermehrung des ausgeprägten Silbers erheblich gesunken, und infolge der eingetretenen Inflation wurden höhere Nominalwerte gezahlt. Ein ungelernter Arbeiter erhielt nun anderthalb Drachmen, das heißt neun anstelle von drei Obolen; ein gelernter Maurer zwei bis zweieinhalb Drachmen, also zwölf bis fünfzehn Obolen anstelle von sechs.
Staatliche Tagegelder erhielten seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zuerst die Richter der Geschworenengerichte. Ihnen wurde der bescheidene Betrag von zwei Obolen gezahlt, ein Obol weniger, als ein ungelernter Arbeiter am Tag verdiente. Dieser Betrag wurde im Jahr 425 mitten in den Nöten des Peloponnesischen Krieges, als die Spartaner das flache Land besetzt hielten und die geflüchtete Landbevölkerung zwischen den Langen Mauern der Landfestung Athen Zuflucht fand, auf drei Obolen, eine halbe Drachme, erhöht. Das war in der gegebenen Situation für viele ein starker Anreiz, sich um eine der Richterstellen zu bemühen. Als dann nach dem verlorenen Krieg die eingetretenen starken Menschenverluste und die wirtschaftliche Notlage sich dahingehend auswirkten, dass der Besuch der Volksversammlung das für bestimmte Themen vorgeschriebene Quorum von 6000 Besuchern nicht erreichte, erhielten seit 395 die ersten 6000, die registriert wurden, pro Sitzung eine kleine Unterstützung in Höhe von einem Obol. Dieser geringe Betrag musste mehrfach erhöht werden, damit das Tagegeld seinen Zweck erfüllte, zuerst auf zwei und dann auf drei Obolen.
Später wurden die Zahlungen weiter erhöht. Für die Teilnahme an den zehn Hauptversammlungen des Jahres erhielten die betreffenden 6000 pro Kopf anderthalb Drachmen, also neun Obolen, für die Teilnahme an den übrigen Sitzungen wurde eine Drachme pro Person gezahlt. Was die Amtsträger des öffentlichen Dienstes anbelangt, so erhielten die Mitglieder des Archontenkollegiums vier Obolen am Tag, die Mitglieder des Rates der Fünfhundert fünf und die 50 Prytanen, die während ihrer Amtszeit Tag und Nacht erreichbar sein und selbst die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen mussten, einen Obol zusätzlich als Verpflegungsgeld. Diese und die übrigen Gelder konnte Athen trotz der Finanznöte nach dem verlorenen Krieg und dem Verlust der Einnahmen aus den Beiträgen der Mitglieder des Seebundes offenbar aus dem Vermögen des Staates, insbesondere aus dem Ertrag der verpachteten Silbergruben, aufbringen. Mögen auch die ausgeworfenen Tagegelder nach heutigen Maßstäben noch so bescheiden gewesen sein: Kein anderer Staat Griechenlands wäre zu vergleichbaren Zahlungen in der Lage gewesen.
Die skizzierte Übersicht über die Organisation von Politik und Administration im demokratischen Athen wirft eine Frage von allgemeiner Bedeutung auf: War Athen unter der Demokratie zu einer Stadt des leidenschaftlichen Bürger-Engagements geworden, das – so Christian Meier – einem sozusagen anthropologischen Bedürfnis nach Teilhabe an der Politik entsprang? Oder verpflichtete die staatsbürgerliche Moral – so Alfred Heuß – die Bürger dazu, öffentliche Strafverfahren gegen Personen zu führen, die den Staat geschädigt hatten? So mochte es in idealistischer beziehungsweise offizieller Perspektive scheinen. Aber ich denke, der aus den Quellen erschlossene Befund spricht eine andere Sprache. Die Mobilisierung für den öffentlichen Dienst war eine Zwangsmaßnahme, die in der wohlhabenden Elite auf Ablehnung stieß und von der Masse des Volkes hingenommen wurde, weil es unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit den Wechsel zwischen Dienstpflicht und privater Freiheit gab. Und schließlich sei erinnert an die beinahe lückenlose, mehrfach wiederholte Kontrolle der dienstverpflichteten Bürger und das über ihnen aufgehängte Damoklesschwert strafrechtlicher Verfolgung bei Pflichtverletzungen und Vergehen gegen den Staat! Dies alles zeugt von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Bürgern, dass sie durch Amtsmissbrauch, Unterschlagung anvertrauter Gelder und, allgemein gesprochen, durch Korruption Schaden anrichten könnten.
Selbstverständlich konnte es das in der Frühen Neuzeit mühsam anerzogene Beamtenethos nicht geben, durch das sich Preußen ausgezeichnet haben soll. Die Dienstverpflichteten waren letztlich Menschen, die auf ihren Vorteil sahen – und sie waren Griechen.