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Die Entstehung der Demokratie in Athen
ОглавлениеDie athenische Demokratie entstand gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. und erreichte um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. unter Führung des Perikles ihre klassische Gestalt. In dieser Zeit gab es in Griechenland rund 700 Stadtstaaten. Die meisten hatten eine Fläche von 50 bis 100 Quadratkilometern und eine durchschnittliche Bürgerzahl von 400 bis 800 erwachsenen Männern. Athen war eine der großen Ausnahmen. Sein Territorium entsprach mit rund 2500 Quadratkilometern ungefähr dem des heutigen Saarlandes, und die Zahl seiner Bürger belief sich um 500 v. Chr. nach Angabe Herodots, des frühesten griechischen Historikers, auf 30 000 Personen. Die meisten Gemeinden besaßen eine städtische Siedlung als politisches Zentrum – das griechische Wort polis oszilliert zwischen den beiden Bedeutungen „Stadtstaat“ und „Stadt“. Alle Gemeinden verstanden sich als Personalverbände ihrer Bürger. Frauen, Sklaven und Fremde gehörten nicht dazu. Der offizielle Name der Polis Athen war schlicht und einfach „die Athener“, und die offizielle Anrede der versammelten Bürger lautete: „athenische Männer“. Das Volk war also der Staat, und es ließe sich behaupten, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausging. Aber das Volk regierte nicht, und vor der athenischen gab es keine Demokratie. Das Volk hatte seine Regierungsgewalt nach herrschender Vorstellung einem König und einer adligen Ratsversammlung übertragen. Wenigstens ist dies die Sicht, in der die politischen Verhältnisse in einer kleinen Szene der Odyssee begegnen, in der Begegnung des Alkinoos, des Königs der Phaiaken, mit seiner Tochter Nausikaa, als er im Begriff steht, das Haus zu verlassen (Hom. Od. VI, 53–55):
„… und jener (der König)
Kam an der Pfort’ ihr entgegen, er ging zu der glänzenden Herren
Ratsversammlung, wohin die edlen Phaiaken ihn berufen hatten.“
Zu den Institutionen griechischer Gemeinden zählte neben dem König beziehungsweise dem leitenden Magistrat und dem aus Adligen bestehenden Rat eine Versammlung des Volkes, griechisch: ekklesia, was so viel bedeutet wie die durch einen Herold zusammengerufenen Bürger. Dies geschah bei Bedarf: etwa bei der Gefahr feindlicher Übergriffe oder bei Angelegenheiten, die die persönlichen und dinglichen Leistungen der Bürger für die Gemeinde erforderten, beispielsweise für den Fall, dass öffentliche Bauten zu errichten oder auszubessern waren. Es versteht sich von selbst, dass zu den genannten Zwecken das Volk zu Versammlungen zusammengerufen werden musste, damit es dem jeweiligen Begehren der Regierenden mehr oder weniger informell seine Zustimmung erteilte.
Formelle Abstimmungen gab es erst verhältnismäßig spät. In kleinen Gemeinden fiel wahrscheinlich nicht oft etwas vor, was die Einberufung des Volkes notwendig gemacht hätte. In der literarischen Vorstellungswelt der Odyssee begegnet die Situation, dass in der Inselgemeinde Ithaka viele Jahre, seitdem Odysseus, ihr König, in den Troianischen Krieg gezogen war, keine Volksversammlung mehr einberufen worden war. Als es dann doch geschieht, herrscht unter den Einberufenen Unkenntnis darüber, wer denn die Versammlung einberufen habe und welches der Grund der Einberufung sei (Hom. Od. II, 25–32):
„Höret mich jetzt, ihr Männer von Ithaka, was ich euch sage! Keine Versammlung ward und keine Sitzung gehalten, Seit der edle Odysseus die Schiffe gen Troia geführt hat. Wer hat uns denn heute versammelt? Welcher der Alten Oder der Jünglinge hier? Und welche Sache bewog ihn? Höret er etwa Botschaft von einem nahenden Kriegsheer, Dass er uns allen verkünde, was er am ersten vernommen? Oder weiß er ein andres zum Wohl der Gemeinde zu sagen?“
In Sparta, wahrscheinlich im 7. Jahrhundert, hatte zwar das Delphische Orakel angeordnet, dass die Versammlung der Spartaner, wie es hieß, „von Zeit zu Zeit“ zusammenzurufen sei, und, wie der Dichter Tyrtaios (F 3a Diehl) bezeugt, war die Vorschrift ergangen, dass Anträge der Regierung, das heißt der beiden Könige und des adligen Ältestenrats, erst durch Mehrheitsbeschluss der Apella, der Volksversammlung, bindende Kraft erlangten:
„Aber der Mehrheit des Volkes sollen Sieg und Bekräftigung folgen.“
Die Regierung behielt indes die Kontrolle. Sie konnte die Versammlung auflösen, wenn die Versammlung einen unliebsamen Beschluss zu fassen im Begriff war. So war es noch zu der Zeit, als in Athen die Regierungsgewalt ohne Beschränkung vom Volk ausgeübt wurde. Verhältnisse wie in Sparta überlebten auch auf Kreta, wie Aristoteles in seiner Politik, den Vorlesungsmanuskripten, die er der Analyse der politischen Verhältnisse in Griechenland widmete, zu berichten weiß (Aristot. Pol. II, 1272a, 8–12):
„Die Königswürde gab es dort zwar früher; aber später haben die Kreter sie abgeschafft; den Oberbefehl im Krieg haben die kosmoi (gewählte Jahresbeamte) inne. Alle Bürger haben das Recht zur Teilnahme an der Volksversammlung; diese besitzt aber nur die Befugnis, die Beschlussvorlagen der Geronten (des adligen Rates) und der kosmoi in einer Abstimmung zu bestätigen.“
Auch in Athen war die Stellung der Volksversammlung in vordemokratischer Zeit nach allen Indizien, die sich ermitteln lassen, eher schwach. Zunächst ist zu bedenken, dass Athens Staatsgebiet mit ungefähr 2500 Quadratkilometern viel zu groß war, als dass die Masse der zerstreut im Lande lebenden Bevölkerung die Zeit und Muße gefunden hätte, sich regelmäßig in Athen zu versammeln. Die vielen kleinen Leute, aus denen sich die Bürgerschaft zusammensetzte, die Bauern, Handwerker, Tagelöhner, Fischer und Seeleute, hatten andere Sorgen, etwa die Sorge um das Überleben – wie sie sich und ihre Familien ernähren sollten. Gegen Ende des 7. Jahrhunderts war zudem eine verheerende Schuldenkrise eingetreten, welche die bäuerlichen Grundlagen der Gesellschaft zu vernichten drohte.
Die Reformen, die Abhilfe schaffen sollten, betrafen die Einführung des Gerichtszwangs, einen Schuldenerlass und eine Rechtskodifizierung, die, vereinfacht ausgedrückt, das Streitpotenzial, das die Gesellschaft belastete, zu minimieren bestimmt war. Dies alles war im späten 7. und frühen 6. Jahrhundert das Werk von gewählten Beauftragten, den Aisymneten, die Aristoteles in seiner Politik mit gutem Grund „Tyrannen auf Zeit“ nennt. Anders konnte man sich damals in Griechenland nicht helfen. Griechenland durchlief gerade die Phase seiner Geschichte, in der Adlige nach der Tyrannis strebten, entweder zur Rettung der als legitim geltenden Adelsherrschaft oder zur Begründung einer auf Usurpation beruhenden Alleinherrschaft auf Dauer. In Athen war der Adlige Solon der große Reformer, der mit seinem Werk die Machtergreifung eines Gewaltherrschers zu verhindern beabsichtigte, aber er musste erleben, dass seine Selbstlosigkeit von Standesgenossen nicht verstanden wurde. Er schrieb in einem seiner politischen Gedichte (F 23,1–7 Diehl):
„Solon ist kein tiefverständ’ger und kein wohlberatener Mensch:
Als ihm Gott das Beste anbot, nahm er es selber nicht an. Seine Beute war gefangen, doch betroffen zog er nicht Zu das große Netz; es fehlte ihm an Herz wie an Verstand. Könnte ich die Macht gewinnen und des Reichtums volles Maß
Und Tyrann sein der Athener nur für einen einz’gen Tag, Dann mag man zum Schlauch mich schinden und austilgen meinen Stamm.“
Drei mächtige adlige Clans kämpften, gestützt auf ihre lokale Anhängerschaft, noch im 6. Jahrhundert um den Besitz der Tyrannis. In der historiographischen Überlieferung heißt es dazu laut der von Aristoteles wiedergegebenen Zusammenfassung (Verfassung der Athener 13,4):
„Es gab drei Parteiungen, als erste die Bewohner der Küstenebene, die Megakles, der Sohn des Alkmeon, anführte …; als zweite die Bewohner der (zentralen) Ebene; ihr Führer war Lykurgos …; als dritte die Bewohner des Hügellandes, die Peisistratos folgten.“
In der Zeit zwischen 561/60 und 529/28 behauptete sich Peisistratos, von zwei Unterbrechungen abgesehen, als Stadtherr Athens, und er vererbte seine Stellung in der Stadt an seine Söhne Hippias und Hipparchos. Vierzehn Jahre später fiel dieser, der jüngere von beiden, dem Attentat zweier Adliger namens Harmodios und Aristogeiton zum Opfer, während der ältere dem Anschlag entging. Die Motive der Täter sind unklar. Die Überlieferung ist gespalten zwischen einer reinen Privataffäre und der Absicht einer Befreiung von der Tyrannenherrschaft. Wie dem auch sei: Die letztere Version begründete nach der Vertreibung des Hippias im Jahre 511/10 ihre Verherrlichung als Befreier ihrer Vaterstadt. Statuen zu Ehren der Tyrannenmörder wurden auf der Agora, dem zentralen Versammlungsplatz, aufgestellt, und bei den Gastmählern des Adels wurde der Ruhm der Befreier in Trinkliedern besungen, von denen eines folgenden Wortlaut hatte (Athen. Deipn. XV, 695):
„Für immer lebe auf Erden euer Ruhm,
Harmodios und Aristogeiton, ihr Lieben,
Denn ihr habt den Tyrannen getötet
Und Athen machtet ihr zu einer Stadt der Gleichheit.“
Vielleicht war mit diesem Lied ursprünglich gemeint, dass mit der Beseitigung der Tyrannis die Gleichheit des Adels wiederhergestellt worden sei, aber nach Einführung der Demokratie schob sich eine neue Sinngebung in den Vordergrund: Die Tyrannenmörder hatten die Athener zu einem Volk der Gleichen gemacht.
Im Jahre 511/10 gelang es einer Koalition athenischer Adliger mit Sparta, den Tyrannen Hippias zu vertreiben. Aber was folgte, war ein neuer Kampf um die Stadtherrschaft. Die Protagonisten waren Kleisthenes aus der Familie der Alkmeoniden und ein Adliger namens Isagoras, von dem Herodot nicht einmal den Namen seiner Familie nennen konnte. Ihn hatte das Schicksal der Verlierer im Bürgerkrieg getroffen: Der Name seiner Familie war für immer aus der Erinnerung getilgt worden. Dass er den mehrjährigen Bürgerkrieg verlieren würde, war eigentlich nicht vorauszusehen gewesen. Der spartanische König Kleomenes I. war sein Gastfreund und unterstützte seinen Verbündeten auch ohne Autorisierung durch Sparta mit den Gefolgsleuten, die er aus den Städten der Peloponnes aufbieten konnte. Kleisthenes geriet in die Gefahr, unterzugehen, und Isagoras wurde zum Archonten für das Jahr 508/7 gewählt. Dann kam der Umschwung. Dem Unterliegenden gelang es, das Volk militärisch und politisch zu mobilisieren, und Sparta setzte dem Privatfeldzug seines Königs ein Ende. Dieser hatte noch zwei Nachbarn Athens, Boiotien und Chalkis auf Euboia, zum Krieg gegen Athen anstiften können. Aber Athen siegte. Kleisthenes’ Bündnis mit dem Volk hatte in dem mehrere Jahre dauernden Krieg gegen innere und äußere Feinde zu einer bis dahin unbekannten Mobilisierung des Volkes geführt, die den Grund zur direkten Demokratie und zu einer enormen Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit Athens legte.
Mit der sogenannten Phylenreform schuf Kleisthenes eine organisatorische Struktur des athenischen Staatsgebiets, die dem Regionalismus als Voraussetzung zu Usurpationen adliger Clans ein Ende bereitete. Grundlage der territorialen Neuordnung bildeten die drei Großregionen: die Küstenebene, die zentrale Ebene und das Hügel- und Bergland, das die Machtbasis der Peisistratiden gebildet hatte. Jede dieser Großregionen wurde in zehn Teile gegliedert, und die so geschaffenen 30 Teilstücke wurden nach dem Losverfahren zu zehn neuen Bezirken vergleichbarer Größe und Bevölkerungszahl zusammengefügt. Phyle bedeutet im Griechischen so viel wie Stamm und bezieht sich ursprünglich auf genetische Abstammung. Mit der Reform wandelte sich ihre Bedeutung. Eine Phyle wurde die Bezeichnung für einen aus drei geographischen Teilen zusammengesetzten Bezirk. Auf die Phylen wurden die rund 130 Siedlungen so verteilt, dass jede Phyle ungefähr die gleiche Bevölkerungszahl umfasste. Jede stellte jeweils für ein Jahr 50 ausgeloste Mitglieder zu dem neu geschaffenen Rat der Fünfhundert. Dieser fungierte als der geschäftsführende Ausschuss der Volksversammlung: Er legte die Termine und die Tagesordnungspunkte fest, führte Vorberatungen über die Gegenstände, die das Volk zu entscheiden hatte, und beaufsichtigte die Ausführung der Beschlüsse. Die zehn Phylen bildeten nicht nur die organisatorische Grundstruktur des Staates, sie waren auch die Rekrutierungsbezirke für das militärische Aufgebot.
Die Mobilisierung der potenziellen militärischen Stärke Athens gelang, weil der Krieg im Inneren und nach außen um die Existenz der Stadt geführt werden musste und die Gefahr, in der Athen schwebte, einen Mentalitätswandel schuf, auf dem die antike Demokratie beruhte: Die Masse der Bürger begriff, dass die Rettung der Stadt in ihrem ureigenen Interesse lag und die Freiheit der Gemeinschaft dank Kleisthenes’ Reformen auf der Gleichheit der Bürger beruhte. Wie Herodot schreibt, war Athen schon wegen seiner schieren Größe potenziell mächtig, aber es war die Befreiung von der Tyrannis, die zeigte, was in der Stadt für Möglichkeiten steckten (Hdt. V, 66,1):
„Athen war schon vorher eine mächtige Stadt, aber nach der Befreiung von den Tyrannen wurde es noch mächtiger.“
An anderer Stelle beschreibt Herodot den Mentalitätswandel der Athener in einer Weise, dass der Zusammenhang von Freiheit und bürgerlicher Gleichheit, von militärischer Selbstbehauptung und demokratischer Selbstbestimmung begreifbar wird (Hdt. V, 78):
„Athen also wuchs. Die Gleichheit ist eben in jeder Hinsicht etwas Wertvolles und Schönes; denn als die Athener Untertanen von Tyrannen waren, waren sie keinem einzigen ihrer Nachbarn überlegen. Jetzt aber, da sie von den Tyrannen befreit waren, standen sie weithin als die Ersten da. Man sieht daraus, dass sie, als sie als Untertanen für einen Herrn zu kämpfen hatten, vorsätzlich schlecht kämpften, während dann, als sie die Freiheit errungen hatten, jeder bereitwillig für die eigene Sache eintrat.“
Der erzwungene Rückzug des spartanischen Königs Kleomenes I. hatte noch ein Nachspiel, das Athen in die Gefahr brachte, dem Herrschaftsanspruch des persischen Großkönigs anheimzufallen, der damals in Begriff stand, sein Reich nach Westen auszudehnen. Die Athener fürchteten, dass König Kleomenes seine Niederlage nicht hinnehmen, sondern mit verstärkten Kräften Athen angreifen würde, und so beschlossen sie, zu ihrem Schutz ein Bündnis mit den Persern einzugehen. Doch der Satrap, der im Auftrag des Großkönigs Dareios I. von Sardes aus den Westen des Reiches regierte, gab den Athenern den Bescheid: Wenn sie dem König als Zeichen der Unterwerfung Erde und Wasser geben wollten, werde der König mit ihnen einen Bündnisvertrag schließen; anderenfalls sollten sie gehen. Daraufhin erklärten die Gesandten, ohne dazu ermächtigt zu sein, Athens Bereitwilligkeit und mussten sich deshalb, nach Hause zurückgekehrt, schwere Vorwürfe anhören. Die Folgen dieser eigenmächtigen Zusage zeigten sich nach einigen Jahren, als die Athener zusammen mit der auf Euboia gelegenen Gemeinde Eretria den Aufstand der an der Westküste gelegenen griechischen Städte Kleinasiens gegen die Perser mit kleinen Schiffskontingenten unterstützten.
Seitdem stand Athen unter persischer Bedrohung und der Forderung, sich zu unterwerfen oder die Vernichtung zu riskieren. Der erste persische Angriff auf Athen scheiterte bekanntlich im Jahr 490 in der berühmten Schlacht bei Marathon. Dann folgte zehn Jahre später die große persische Invasion unter König Xerxes. In Athen war es die ganze Zeit hochumstritten, ob man der persischen Forderung nach Unterwerfung folgen oder Widerstand auf die Gefahr der Zerstörung der Stadt hin leisten sollte. Dieser Streit bestimmte die politische Auseinandersetzung in Athen beinahe über zwei Jahrzehnte und zog zwei Verfassungsneuerungen nach sich, die einer weiteren Demokratisierung zugute kamen. Der archon eponymos, der oberste gewählte Magistrat der Stadt und als Vorsitzender der Volksversammlung mit Möglichkeiten ausgestattet, deren Abstimmungsverhalten zu steuern, verlor diese Position dadurch, dass er künftig nicht mehr gewählt, sondern aus den Personen der betreffenden Vermögensklasse ausgelost werden sollte. Damit war so gut wie ausgeschlossen, dass der Amtsträger weiterhin zu der Elite der politisch Ehrgeizigen und Erfahrenen gehörte. Jeden Beliebigen, auch den politisch Desinteressierten, konnte das Losverfahren in das höchste Amt befördern.
Die zweite Neuerung, die wie die erstgenannte aller Wahrscheinlichkeit nach in das Jahrzehnt zwischen den beiden persischen Invasionen, 490 und 480/79, fällt, war dazu bestimmt, eine Vorentscheidung zugunsten einer Seite der Alternative Widerstand oder Unterwerfung zu treffen, vor welche die Perser Athen gestellt hatten. Das Verfahren eröffnete dem Volk die Möglichkeit, einen prominenten Politiker durch Abgabe von Tontafeln, die mit dessen Namen beschriftet waren, mit qualifizierter Mehrheit für bestimmte Zeit aus Athen zu entfernen, damit er nicht Einfluss im Sinne des von ihm vertretenen Standpunktes in der strittigen Frage vor der Volksversammlung nehmen konnte. Das gut dokumentierte Verfahren fiel zugunsten der Verfechter des Widerstandes aus. Athen nahm es unter Führung des Themistokles auf sich, dass die Bewohner zweimal über das Meer evakuiert werden mussten, und ihre Stadt zweimal der Zerstörung durch die Perser anheimfiel; aber Athen trug auch Entscheidendes zu dem Seesieg bei Salamis bei, der Xerxes zur Rückkehr nach Asien bestimmte.
Es müssen aufregende Auseinandersetzungen gewesen sein, bis durch das Scherbengericht und die Abstimmungen in der Volksversammlung der Weg frei wurde, der in der Abwehr der Perser endete. Die wichtigste Grundlage dazu hatte Themistokles, der prominenteste Verfechter des Widerstandes gegen die Perser, bereitet. Er hatte mit seinem Flottenbauprogramm die Voraussetzungen zu dem entscheidenden Sieg der Griechen in der Seeschlacht bei Salamis geschaffen; denn er hatte die Volksversammlung dazu gebracht, auf die Verteilung des Ertrags der neu erschlossenen Silberbergwerke von Laureion an die Bürger der Stadt zu verzichten und stattdessen ihre Zustimmung zur Verwendung des Geldes – Silber war ja der Stoff, aus dem Geld gemacht wurde – für den Flottenbau zu geben. Für die Einübung einer aus Bürgern bestehenden Rudermannschaft – Kriegsschiffe mussten, um ihren Zweck zu erfüllen, durch Ruder manövrierfähig gemacht werden – hatten die Athener einen hohen zusätzlichen Preis zahlen müssen: In der Zwischenkriegsphase zwischen der ersten und zweiten persischen Invasion hatte sich Athen im Seekrieg gegen die bedeutende, im benachbarten Saronischen Golf gelegene See- und Handelsstadt Aigina noch keineswegs überlegen gezeigt. Aber die Athener waren engagiert und lernten hinzu, sodass sie es waren, die den entscheidenden Anteil an dem Sieg über die Perser in der Seeschlacht bei Salamis hatten. Die große Kriegsflotte versetzte Athen in die Lage, die Griechen der Ägäisinseln und der Städte an der kleinasiatischen Westküste zu befreien und zu schützen. In dieser Rolle wurde das demokratische Athen als Vormacht des Delisch-Attischen Seebundes eine imperiale Großmacht. Das war nur möglich, weil die Umstände die Mobilisierung des politischen und militärischen Engagements aufrechterhielten, dessen Grundlagen Kleisthenes gelegt hatte. Das viel beschworene Bürger-Engagement der athenischen Demokratie hatte nach meiner Überzeugung hier seinen Ursprung.
Dieser Herleitung der athenischen Demokratie aus den beschriebenen Zusammenhängen steht eine andere gegenüber, die der renommierte Althistoriker Christian Meier mit Rückgriff auf eine These des ebenfalls renommierten französischen Althistorikers Paul Veyne vertritt. Paul Veyne veröffentliche im Jahr 1983 einen Aufsatz unter dem Titel Les Grecs ont-ils connu la démocratie? (deutsch: Kannten die Griechen die Demokratie?). Der Grund seiner Frage ist die Feststellung, dass die Athener unter Demokratie etwas anderes verstanden haben als die Heutigen: Während diese nach dem Verhältnis von Bürgern und Staatszweck in der modernen Demokratie fragen, bleibt die antike eine Antwort auf solche Fragen schuldig. Sie kannte, so Paul Veyne, als Staatsziele weder die Garantie von Freiheit und individuellem Glücksstreben wie im Zeitalter des Liberalismus noch die Vorsorge gegen die Risiken des Lebens wie die sozialstaatlich ausgerichtete Demokratie der Gegenwart, sondern nur die totale Inanspruchnahme der Bürger durch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. In diesem Sinne heißt es bei Veyne (ich zitiere aus der deutschen Übersetzung seines Aufsatzes):
„Könnten wir uns in das alte Athen begeben, so würden wir dort keineswegs das demokratische Beinahe-Ideal der westlichen Welt, sondern vielmehr das geistige Klima aktivistischer politischer Parteien antreffen.“
Denn – so fährt der Verfasser fort – es sind die Bürger, die den Staat ausmachen, und von ihnen wird verlangt, „sich militant in einer Institution einzusetzen, die in ihrer Mitte besteht und Polis heißt“. Der Bürger einer Polis hat nach Veynes Urteil Pflichten, aber keine Rechte, weder Menschen- noch Bürgerrechte, wie sie in den Verfassungen moderner Demokratien niedergelegt sind, und auch keine Freiheiten, sondern er ist wie ein Soldat in die Anforderungen eingespannt, die die politische Gemeinschaft an ihn stellt. Dementsprechend ist bei Veyne von „berufssoldatischem Eifer“ die Rede. In der französischen Originalfassung steht das kaum übersetzbare Kunstwort militantisme. Diese Haltung wird freilich nicht nur für die athenische Demokratie in Anspruch genommen, sondern für das antike Polisbürgertum schlechthin. „Es steht fest“, urteilt Veyne, „dass die Antike ihre Politik genauso selbstverständlich im Sinne der Militanz auffasste, wie wir es heutzutage in dem der Demokratie (sic) tun.“ Darunter verstand er natürlich moderne Demokratien mit ihrer Ausrichtung an den Werten des Liberalismus oder des Sozialstaates.
In Deutschland hat Christian Meier die Wesensbestimmung, die Paul Veyne von der antiken Demokratie als spezieller Ausprägung des Staatsverständnisses der griechischen Polis gegeben hat, sich vollständig zu eigen gemacht und nach den Gründen der von Veyne diagnostizierten Einstellung gefragt. Christian Meier hat sich seit einem halben Jahrhundert wie kein zweiter Gelehrter in Deutschland darum bemüht, Entstehung und Ausgestaltung der athenischen Demokratie mit größtmöglicher theoretischer Reflexion zu analysieren. Dies geschieht in therapeutischer Absicht, gewissen Mängeln der modernen Demokratie die athenische als Spiegel vorzuhalten: als Vorbild eines bürgerschaftlichen Engagements mitsamt den ihm zugrunde liegenden anthropologischen Wurzeln und als Gegenmittel gegen Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung. Dies hat Meier unter anderem gemeinsam mit Paul Veyne in einem Büchlein formuliert, das zuerst 1988/89 erschien und neuerdings im Jahr 2015 wiederaufgelegt wurde. Sein Titel lautet: Kannten die Griechen die Demokratie? Zwei Studien.
Als letzten anthropologischen Grund für den von Veyne diagnostizierten bürgerschaftlichen militantisme begreift Meier das elementare „Bedürfnis breiter Schichten“ (diese Formulierung begegnet mehrfach), gegenüber dem traditionellen Vorrang des Adels in gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht durch Teilhabe am öffentlichen Leben einen Status auf Augenhöhe zu gewinnen. Diesem Argumentationsziel nähert sich Meier – anderes lassen die Quellen nicht zu – auf dem Weg spekulativer Deduktion, mit der er die Tiefenschicht einer „anthropologischen Disposition der Griechen zum politischen Engagement breiter Schichten“ als Quelle jener „Kraft der Bürger-Identität“ freizulegen versucht, die Meier wahlweise den Athenern oder den Griechen zuschreibt. Abgesehen von dieser Unschärfe der Zuschreibung sieht er so gut wie vollständig von den oben geschilderten historischen Voraussetzungen ab, die seit dem Ende des 6. Jahrhunderts das Volk von Athen dazu brachten, sich politisch zu engagieren.
Meiers These ist nicht nur unbeweisbar, sie widerspricht auch allen Indizien, die sich der Überlieferung entnehmen lassen. Die Nöte der Verschuldung in der Zeit Solons bewirkten, dass die Masse der Bevölkerung, die Bauern, um ihr und ihrer Familien Überleben zu kämpfen hatte: Wie sollte da das Bedürfnis eine Rolle gespielt haben, dem Adel politisch auf Augenhöhe begegnen zu können? Und was über die militärische Unzulänglichkeit der Athener in der Zeit der Tyrannis und über den Gesinnungswandel in der Zeit der Entfaltung aller Kräfte zur Rettung der Stadt berichtet wird, spricht ebenfalls gegen die Ableitung der Demokratie aus einer „psychologischen Grunddisposition der Griechen zum politischen Engagement breiter Schichten“. Vielmehr waren die Selbstbehauptung der Stadt und ihr Aufstieg zu einer maritimen Großmacht sowie die Entstehung und der Ausbau der Demokratie als Mobilisierung des Volkes in doppelter Hinsicht zwei Seiten einer Medaille.
Meier beruft sich zur Untermauerung seiner These auf einen Text, der von dem großen Naturphilosophen Demokrit, dem Erfinder der antiken Atomtheorie, stammt. Dieser hatte sich noch zur Zeit des Perikles, wahrscheinlich in dem Jahrzehnt zwischen 440 und 430 v. Chr., in Athen aufgehalten. In einer der erhaltenen Notizen über den Druck, dem die Angehörigen der Oberschicht dort ausgesetzt waren, sich für die Polis zu engagieren, heißt es in den Fragmenten der Vorsokratiker (Demokrit, F 253 Diels-Kranz):
„Den Männern aus besseren Kreisen ist es nicht zuträglich, ihre eigenen Angelegenheiten zu vernachlässigen und fremde zu betreiben. Denn dann pflegt es um die eigenen schlecht zu stehen. Wenn man aber die öffentlichen vernachlässigen wollte, so bildet sich ein übler Ruf, auch wenn man weder etwas stiehlt oder sonst unrecht tut. Besteht doch selbst für den, der nicht nachlässig ist, Gefahr, in üblen Ruf, ja sogar in körperliches Leid zu kommen (so der Wortlaut der Übersetzung von Hermann Diels in den Fragmenten der Vorsokratiker). Es ist ja unvermeidlich, Fehler zu begehen, aber die Verzeihung der Leute dafür zu erhalten ist nicht leicht.“
Die im Deutschen gegebene Übersetzung „in körperliches Leid kommen“ hat Meier so verstanden, dass mit körperlichem Leid ein psychosomatisches Leiden gemeint sei. Meiers Worte lauten: „Wenn schon Demokrit von möglichen psychosomatischen Konsequenzen für den Fall spricht, dass man sich den Erwartungen (eines Engagements für die Allgemeinheit) entzog: wie viel bedrohlicher müssen sie dann in Athen gewesen sein!“ Abgesehen davon, dass Demokrits Bemerkung anders, als Meier meint, auf die Verhältnisse in der athenischen Demokratie gemünzt sein wird: Worauf Demokrit hinauswill, ist, die Misslichkeit zu demonstrieren, in die Angehörige der Elite unweigerlich durch den Erwartungsdruck der Öffentlichkeit gerieten, ob sie sich nun diesem Druck entzogen oder ihm nachgaben. Verweigerten sie sich, handelten sie sich einen schlechten Ruf ein; gaben sie hingegen dem Erwartungsdruck nach, konnte es noch schlimmer ausgehen, wenn ihnen bei der Ausführung der übernommenen Aufgabe Fehler unterliefen, auch wenn diese schwer vermeidbar waren. Dafür geriet man nicht nur in einen schlechten Ruf, sondern musste, wenn Verzeihung zu erhalten sich als schwierig erwies, befürchten, vor Gericht gestellt und verurteilt zu werden. Dies ist in der Sprache des Rechts die gut belegte Bedeutung des fraglichen sprachlichen Ausdrucks, der wörtlich so viel heißt wie „etwas erleiden“.
Von dieser Kehrseite des erwarteten und geforderten politischen Engagements war vermutlich Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges, betroffen. In dem Amt eines Strategen zur See war er um Haaresbreite zu spät gekommen, um den strategisch bedeutenden Platz Amphipolis am Strymon vor dem Zugriff des spartanischen Flottenbefehlshabers zu retten. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht: Er wurde in Athen vor Gericht gestellt und mit Verbannung bestraft.
Das Zeugnis, das Christian Meier als vermeintlichen Beleg einer Einstellung, die in der Demokratie Leistungen für die Gemeinschaft generierte, positiv bewertet, dokumentiert in Wahrheit den kritischen Vorbehalt der wohlhabenden Elite gegen die Zumutungen, denen sie in perikleischer Zeit ausgesetzt war. Diese Zumutungen leisteten einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft in Leistungsträger und Leistungsempfänger des Volkes Vorschub. Die gemeinsame Motivation der gesamten Bürgerschaft, für die Selbstbehauptung der Gemeinschaft einzutreten, löste sich auf. Davon wird noch ausführlich in dem Kapitel die Rede sein, das den Feinden der Demokratie gewidmet ist.