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Einführung

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Als Griechenland vor einigen Jahren vor dem Staatsbankrott zu stehen schien und das Verbleiben des Landes in der Währungsunion der Eurozone strittig wurde, ist verschiedentlich geltend gemacht worden, dass Europa Griechenland nicht nur wegen seiner Verdienste um die Entstehung der europäischen Kultur, sondern auch als Wiege der Demokratie, der Regierungsform, die in der westlichen Welt als die legitime schlechthin gilt, Dank und Hilfe aus der Not schulde. Demokratie heißt übersetzt bekanntlich Herrschaft des Volkes. Aber was heißt das? In der direkten Demokratie der Antike – sie war eine Erfindung der Athener, nicht der Griechen schlechthin – bedeutete das, dass das Staatsvolk in Gestalt von Versammlungen regierte, gesetzliche Regelungen verabschiedete, Gericht hielt und eine umfassende Kontrolle über alle Amtsträger ausübte, die Aufträge des Souveräns, der Volksversammlung, erfüllten. Zu Recht sind diese Amtsträger von einem deutschen Althistoriker, Ulrich Kahrstedt (1888–1962), als „Briefträger“ der Volksversammlung apostrophiert worden.

In den heutigen Bezugnahmen auf diese Form der Demokratie fehlt es nicht an obligaten Hinweisen auf ihre Mängel: Frauen, Sklaven und Fremde, auch diejenigen mit Niederlassungsrecht in Athen, die sogenannten Metöken (das heißt „Mitbewohner“), waren von allen politischen Mitwirkungsrechten ausgeschlossen. Doch immerhin: Die volljährigen männlichen Bürger genossen Gleichheit und Freiheit, das heißt diejenigen Vorzüge, die nach eigenem Selbstverständnis die Demokratie auszeichnete. Sie allein waren berechtigt, die Stadt zu regieren, indem sie an Entscheidungen der Volksversammlung und der Volksgerichte teilhatten und amtliche Funktionen in welcher Stellung auch immer ausübten. In der Versammlungsdemokratie der Antike war das Volk der Bürger der Souverän des Staates und übte es die Staatsgewalt selbst aus. Auch in den modernen repräsentativen Demokratien wird bekanntlich alle Staatsgewalt auf das Volk zurückgeführt; aber das Volk regiert nicht, sondern wählt Vertreter, denen in welcher Form auch immer Gesetzgebung und Regierung obliegen.

Nach verbreiteter heutiger Meinung war die direkte Demokratie der Antike nur in einem kleinen Gemeinwesen möglich, wo sozusagen jeder jeden kannte und die Entfernungen kurz waren, sodass jeder Berechtigte auch faktisch in der Lage war, seine politischen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Vorausgesetzt wird vielfach auch, dass die Bürger der antiken Demokratie wegen der Existenz der Sklaverei ohne Nahrungssorgen waren und somit hinreichend freie Zeit zu politischem Engagement hatten. Schließlich wird geltend gemacht, dass in den kleinen Gemeinwesen der Antike, auch in Athen, nur über verhältnismäßig wenige und unkomplizierte Gegenstände Entscheidungen zu treffen waren. Aber für Athen, den Stadtstaat, in dem die Demokratie entstand, sind die zitierten Meinungen allesamt anfechtbar. Athen war nach antiken Maßstäben alles andere als ein Kleinstaat. Mit einer Fläche von ungefähr 2500 Quadratkilometern und einer Bürgerzahl, die im 5. Jahrhundert v. Chr. 30 000 bis 50 000 Personen umfasste, war die Stadt die größte Gemeinde in Griechenland. Schon wegen der zurückzulegenden Entfernungen war es der auf dem Land lebenden Bevölkerung meist nicht möglich, regelmäßig an den Sitzungen der Volksversammlung teilzunehmen. Man bedenke: Im 4. Jahrhundert gab es im Jahr vierzig reguläre und weitere zusätzliche Sitzungen bei Bedarf. Die Masse der Bürger und ihre Familien lebten auch nicht von der Arbeit, die Sklaven leisteten, sondern von eigener Erwerbsarbeit als Kleinbauern, Ruderer, Fischer, Handwerker oder Tagelöhner. Nicht zuletzt war Athen alles andere als eine Gemeinde ohne politischen und administrativen Regelungsbedarf.

Gemessen an antiken Verhältnissen war das genaue Gegenteil der Fall. Die Stadt war im 5. Jahrhundert eine maritime Großmacht, deren außenpolitischer Aktionsradius von Zypern und Ägypten im Osten bis Sizilien und Unteritalien im Westen reichte. Athen verfügte über das kostspielige Machtmittel einer großen Kriegsflotte und stellte mit den Langen Mauern, die Athen mit seinen Häfen verbanden, die größte Landfestung der damaligen Zeit dar. Athen war nicht nur in militärischer Hinsicht eine bedeutende Macht, die Stadt spielte auch eine Schlüsselrolle in der aufkommenden Münzgeldwirtschaft. Athens Silbergeld wurde das Hauptzahlungsmittel im Raum der Ägäis und darüber hinaus. Athen als führende Seemacht und als Gemeinwesen der direkten Demokratie war ohne die Rolle, die das Silbergeld im Wirtschaftsleben und im Staatshaushalt spielte, nicht denkbar.

Dies gilt gerade auch für das politische System der Demokratie. Athen hätte für die Bewältigung seiner politischen und administrativen Aufgaben ein ausgebildetes Personal gebrauchen können, wie es ein moderner Staat in Gestalt eines vielgliedrigen Berufsbeamtentums und zahlreicher Angestellter entwickelt hat. Aber dafür fehlten alle Voraussetzungen. Athen behalf sich damit, dass es jedes Jahr einen beträchtlichen Teil seiner Bürgerschaft für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben auslosen ließ – Wahlämter gab es nur wenige – und für die Rotation der Belastung sorgte, indem die betreffenden Funktionen nur einmal oder selten ausgeübt werden mussten. Ob diese Regelung als schwer erträglicher Eingriff in die Freiheit individueller Lebensgestaltung oder als Bereicherung an gesellschaftlicher Bedeutung erfahren wurde, mag einstweilen auf sich beruhen. Aber es gab ohnehin keine Alternative. So viel ist jedenfalls sicher: Unter heutigen Bedingungen wäre eine solche Organisation des öffentlichen Dienstes undenkbar und ginge, wenn sie denn eingeführt würde, wahrscheinlich in einem Verwaltungschaos und einem Proteststurm der Betroffenen unter.

Trotz zunehmender Bedeutung der Geldwirtschaft wäre Athen gar nicht in der Lage gewesen, sich ein Berufsbeamtentum modernen Zuschnitts zu leisten. Aber auch das System der rotierenden Heranziehung der Bürgerschaft zu öffentlichen Dienstleistungen auf Zeit wäre ohne Geld nicht möglich gewesen. Tagegelder mussten gezahlt werden, nicht alle auf einen Schlag, sondern mit allmählicher Ausweitung der Bezahlung auf einen größeren Personenkreis. Die Höhe der Zahlungen war gering. Sie orientierten sich am Tagesverdienst eines ungelernten Arbeiters beziehungsweise eines gelernten Handwerkers. Mit den üppigen Diäten heutiger Parlamentsabgeordneter oder den Verdienstspannen des heutigen Berufsbeamtentums waren die Ausgleichzahlungen für entgangenen Mindestverdienst nicht im Entferntesten vergleichbar.

Die regulären Einnahmen der Stadt reichten für die genannten Unterstützungszahlungen aus, aber nicht für den Finanzierungsbedarf der kostspieligen Kriegsflotte. Hierzu mussten die Bundesgenossen der Athener Beiträge leisten (soweit sie nicht in der Lage waren, Kriegsschiffe zu stellen), und auch die Wohlhabenden in Athen wurden in der Weise zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen, dass ihnen die Ausrüstung und Unterhaltung von Kriegsschiffen oder die Einstudierung von Chorliedern, Theateraufführungen, Tänzen und sonstigen Wettbewerben der Festkultur kostenpflichtig aufgebürdet wurden. Dieses System der Leiturgien, wie im Griechischen die betreffenden Leistungsverpflichtungen genannt wurden, stellte eine Belastung dar, die in Kriegszeiten – und wann gab es keinen Krieg? – eine schwere Bürde war, die unter Umständen im Verlust großer Vermögen enden konnte. Dies war einer der Gründe, aus denen die besitzende Klasse der Bürgerschaft der Demokratie entfremdet wurde.

Der andere Grund war die aristokratische Verachtung der breiten Masse, die in der Demokratie die Regierungsmehrheit bildete. Vom Standpunkt der alten adligen Elite aus betrachtet, bedeutete Demokratie Herrschaft des Pöbels, also die Herrschaft der sachlich und moralisch zum Regieren Unqualifizierten. Es war dieser demokratiefeindliche Standpunkt, der in den Schriftzeugnissen der damaligen Literatur vielfach zum Ausdruck kommt. Das Lob der demokratischen Ordnung, das Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.), Perikles, dem führenden Staatsmann Athens, in den Mund legt, stellt eine Ausnahme dar. Verwunderlich ist das nicht. Die überwältigende Mehrheit der Schriftkundigen waren Gegner, wenn nicht Feinde der Demokratie, und sie nutzten die Möglichkeit, ihr Urteil einem Medium anzuvertrauen, das die beste Chance zu seiner Verbreitung und langfristigen Erhaltung bot. Als frühestes Beispiel mag die knappe Verurteilung der Demokratie gelten, die Herodot, der erste griechische Historiker, im dritten Viertel des 5. Jahrhunderts in die sogenannte Verfassungsdebatte des dritten Buches seiner Historien aufgenommen hat: „Es gibt nichts Unverständigeres und Gewalttätigeres“, heißt es dort, „als die unnütze Masse. Wie sollte sie auch vernünftig sein? Sie hat weder etwas gelernt, noch weiß sie von sich aus, was gut und edel ist. Ohne Verstand stürzt sie sich auf das Regieren, einem Strom im Tauwetter des Frühlings vergleichbar“ (Hdt. III, 81).

Gewiss, auch die führenden Politiker stammten im 5. Jahrhundert noch zu einem bedeutenden Teil aus der alten adligen Elite, so beispielsweise der erwähnte Perikles oder sein jüngerer Verwandter Alkibiades. Aber sie galten der Mehrheit ihrer Standesgenossen als Verräter.

Das negative Urteil über die Demokratie wurde im 4. Jahrhundert von den großen Staatstheoretikern Platon und Aristoteles aufgegriffen und vertieft. Generell bestimmte letztlich Ablehnung das Bild der Demokratie. So wies im 2. Jahrhundert der Historiker Polybios (ca. 200–118 v. Chr.) es kategorisch von sich, die Frage nach der besten Verfassung unter Einbeziehung von Athen und Theben, wo das Volk regierte, auch nur zu erörtern: „Daher erübrigt sich jedes weitere Wort über Athen und Theben. Denn dort regierte die Masse nach ihrem Belieben, in der einen Stadt mit ungewöhnlicher Heftigkeit und Härte, in der anderen aufgewachsen in einer Atmosphäre von Gewaltsamkeit und Leidenschaft“ (Plb. VI, 44,9).

Dies war das Bild der Demokratie, das die Antike der Nachwelt überliefert, und dieses Bild war der Grund, dass sowohl in der Theorie als auch in den praktischen Überlegungen, die in der Zeit der Amerikanischen und Französischen Revolution über schriftlich fixierte Verfassungen angestellt wurden, der Demokratie eine Absage erteilt wurde – Erfahrungen mit der antiken direkten Demokratie besaß ja niemand. Die bedeutendste Ausnahme war Jean-Jacques Rousseau. In seinem 1762 erschienenen Werk Du contrat social ou Principes du droit politique (deutsche Übersetzung: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts) erkannte er der direkten Demokratie den Rang der einzigen Form zu, in der die Souveränität des Volkes Gestalt annehmen könne. Aber er scheiterte mit der Suche nach Realisierungsmöglichkeiten.

Die antike und die moderne Form der Demokratie beruhen der Staatstheorie zufolge wie alle Staatsgewalt auf dem Konzept der Volkssouveränität. Dieses Konzept reicht bis in die Antike zurück. Auf die Dispositionsgewalt des Volkes wurden die drei klassischen Regierungsformen zurückgeführt: Demokratie, Aristokratie und Monarchie. In der Version, die John Locke (1632–1704) in seinem Second Treatise on Government aus dem Jahr 1691 dieser Lehre gegeben hat, wird dargelegt, dass zu Beginn der Staatsbildung die Mehrheit des Volkes die Regierungsgewalt entweder selbst ausübte oder auf einen Einzelnen beziehungsweise auf eine bestimmte Gruppe übertrug. Für den Fall, dass diese erste Übertragung der Regierungsgewalt durch das Volk hinfällig geworden war, fiel die Dispositionsgewalt an das Volk zurück: „Wenn die Mehrheit“, so heißt es, „die legislative Gewalt (die Verfügung über die öffentlichen Angelegenheiten) zuerst nur auf Lebenszeiten oder für eine begrenzte Zeit einer einzigen oder mehreren Personen überträgt, so kann die Gemeinschaft danach wieder über sie verfügen und sie in beliebige Hände legen und so eine neue Regierung schaffen.“

Im römischen Juristenrecht wurde die Herrschaftsgewalt der römischen Kaiser auf die Übertragung durch das Volk in Gestalt eines ‚Ermächtigungsgesetzes‘, einer lex regia, zurückgeführt. In den Digesten und den Institutionen des Corpus Iuris wird den kaiserlichen Verfügungen aus diesem Grund Gesetzeskraft zugeschrieben: „Was der Kaiser bestimmt, hat Gesetzeskraft, weil ja das Volk durch das ‚Königsgesetz‘, das über die Herrschaft des Kaisers ergangen ist, diesem und auf diesen seine gesamte Herrschaftsgewalt übertragen hat (Ulpian in Dig. I, 4,1; Inst. I, 2,6).

Rom kannte die direkte Gesetzgebung des Volkes und die abgeleitete des Kaisers. Aber in den europäischen Monarchien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stand es anders. Sie waren durch ihre germanischen Wurzeln auf eine genossenschaftliche Struktur festgelegt. Kaiser und Könige übten ihre Herrschaft mithilfe von Vasallen und adligen Gefolgsleuten aus, auf höchster Ebene in Gestalt allgemeiner Versammlungen, die das Volk vertraten. Ursprünglich wurden derartige Versammlungen nur unregelmäßig aus besonderen Anlässen zusammengerufen, doch spätestens in der Frühen Neuzeit wurden sie zu einer Dauereinrichtung: im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum Ewigen Reichstag in Regensburg, in Polen-Litauen zur Adelsvertretung des Sejms, in dem jedes einzelne Mitglied durch sein liberum veto jeden Beschluss der Körperschaft verhindern konnte, in England zum Parlament, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird. Doch es gab auch gegenläufige Entwicklungen unter dem Einfluss des monarchischen Absolutismus. Die allgemeinen Versammlungen in Frankreich, die sogenannten Generalstände, bestehend aus Vertretern des Adels, der (hohen) Geistlichkeit und des Stadtbürgertums, wurden seit dem frühen 17. Jahrhundert überhaupt nicht mehr einberufen. Als es endlich zur Abwendung des drohenden Staatsbankrotts 1789 wieder geschah, begann mit der Französischen Revolution ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte.

Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Monarchien Alteuropas stammten die Vertreter des Volkes aus den privilegierten Minderheiten des Adels, der Kirchenfürsten und der städtischen Obrigkeiten. Zu ihren Aufgaben gehörte im Falle einer Wahlmonarchie beziehungsweise des Wechsels zu einer neuen Dynastie die Vertretung des Volkes bei der Zeremonie der Herrschaftsübertragung auf den erwählten Monarchen. Dabei konnte, wie im Heiligen Römischen Reich, das Volk von einer winzigen Minderheit repräsentiert werden, seit der Wahlordnung der Goldenen Bulle von 1356 von dem herausgehobenen Gremium der sieben Kurfürsten. Damit der Erwähnung eines uralten Herkommens das Satyrspiel nicht fehle, sei die Karikatur, die ein Augenzeuge der symbolischen Herrschaftsübertragung durch das Volk anlässlich der Kaiserkrönung Leopolds II. im Frankfurter Dom (1790) seinen Lebenserinnerungen beigefügt hat, wörtlich zitiert: „Am possierlichsten war es, als eine Bischofsmütze im lieblichsten Nasentone und lateinisch zur Orgel hinauf intonierte, ob sie da oben nun wirklich den Serenissimum Dominum, Dominum Leopoldum wollten in regem suum habere, worauf der bejahende Chorregent gewaltig mit dem Kopfe schüttelte, seinen Fiedelbogen getreulich auf und nieder schwenkte, die Chorjungfern und Chorknaben aber im höchsten Diskant herunterriefen: fiat, fiat, fiat!“ (er soll es werden, er soll es werden, er soll es werden).

Die Übertragung der Herrschergewalt auf ein neues Königspaar konnte auch zu einer Neubestimmung des Machtverhältnisses zwischen Krone und Vertretung des Volkes führen. Dies geschah nach der Glorious Revolution von 1689 in England. Bei dem Krönungszeremoniell nahmen die Mitglieder des Unterhauses zum ersten Mal in der Geschichte Englands einen prominenten Platz in der Kirche ein, und beide neuen Herrscher, Wilhelm III. und Königin Mary, leisteten den zwischen ihnen und dem Parlament neu ausgehandelten Eid, mit dem sich die Inhaber der Krone an den legislatorischen Willen des Parlaments banden. König und Königin gelobten, „to govern the people of this kingdom of England … according to the statutes in parliament agreed on, and the laws and customs of the same.“ Das war der Anfang einer Entwicklung, die dazu führte, dass in England die königliche Gewalt von der parlamentarischen Vertretung des Volkes gewissermaßen eingehegt wurde – king in parliament war die Formel, die der entstehenden parlamentarischen Monarchie Englands beigelegt wurde. Von Demokratie war diese parlamentarische Adelsherrschaft noch denkbar weit entfernt. Es sollte bis zum Jahr 1920 dauern, bis Stanley Baldwin, in der Zwischenkriegszeit mehrfach konservativer Premierminister, in einem Privatbrief schrieb: „Die Demokratie hat England im Galopp erreicht, und ich werde den Eindruck nicht los, dass es ein Rennen um unser Leben (das der alten aristokratischen Klassengesellschaft) ist: Können wir sie (die Mehrheit der neuen Wähler) erziehen, bevor es zum großen Krach kommt?“

Zurück zum 18. Jahrhundert. Im Heiligen Römischen Reich standen dem Kaiser als Vertreter des Volkes die Inhaber der Landesherrschaften gegenüber, während die Masse der Reichsritter ausgeschlossen blieb; in Polen-Litauen vertraten die Abgeordneten des überaus zahlreichen Schwertadels, der Szlachta, die Nation. Beide Gebilde – der Staatsrechtslehrer Samuel Pufendorf (1632–1694) hatte das Heilige Reich nicht als Staat, sondern als monstro simile, einer Missgeburt ähnlich, bezeichnet – gingen im Zeitalter der Französischen Revolution gegen Ende des 18. beziehungsweise zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugrunde.

Allein Polen-Litauen hatte zur Abwendung des drohenden Endes durch die Verfassung vom Mai 1791 unter Rückgriff auf die Lehre von der Gewaltenteilung versucht, das Doppelreich vor dem Zugriff der Nachbarn, Russland, Preußen und Österreich, zu retten. Diese Lehre stammt von dem bedeutenden französischen Philosophen und Staatsrechtslehrer Charles de Montesquieu (1669–1755). Er hatte längere Zeit in England verbracht und zog in seinem 1748 erschienen Werk De l’esprit des lois (deutsch: Vom Geist der Gesetze) aus der Betrachtung der politischen Verhältnisse dieses Landes die Einsicht, dass in der Gewaltenteilung zwischen der Exekutive der Krone, der Legislative des Parlaments und der Judikative unabhängiger Richter die Garantie der viel gerühmten englischen Freiheit liege. Heute gilt Gewaltenteilung als eine der wichtigsten Grundlagen der Demokratie. Im 18. Jahrhundert war das ganz anders. Demokratie war nach verbreitetem Urteil ungeteilte Mehrheitsherrschaft und als solche die schlimmste Form der Despotie. Kein Geringerer als der größte philosophische Kopf des 18. Jahrhunderts, Immanuel Kant (1724–1804), hat dies in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf aus dem Jahr 1795 in aller Schärfe zum Ausdruck gebracht. Nicht zur Begründung einer Demokratie, sondern zur Erhaltung der inneren Freiheit des Staates waren die revolutionären Verfassungen der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1787/88 und Frankreichs vom September 1791 nach dem Prinzip der Gewaltenteilung konstruiert.

Bei der polnischen Verfassung vom Mai 1791 kam zum Motiv der Erhaltung der Freiheit noch die Absicht ins Spiel, dem Land eine funktionierende Exekutivgewalt mit einem erblichen Königtum an der Spitze zu geben. Gerade die Institution der Königswahl hatte dem korrumpierenden Einfluss der Nachbarn, insbesondere Russlands, Tür und Tor geöffnet, und in die gleiche Richtung wirkte das Zusammenspiel adliger Partikularinteressen mit der Einflussnahme der benachbarten Großmächte. Zwar blieb auch unter der neuen Verfassung die privilegierte Stellung des Schwertadels, der Szlachta, als Repräsentant der Nation erhalten. Aber zur Eindämmung der Bestechlichkeit, die unter den vielen armen Angehörigen des Adels verbreitet war, wurde ein Zensus eingeführt, der einen Großteil der Szlachta, angeblich rund vierzig Prozent der Mitglieder, von dem Recht ausschloss, Abgeordnete zum Sejm zu wählen. Hinzu kamen zwei weitere flankierende Maßnahmen: Das liberum veto, das jedem Repräsentanten des Adels ermöglicht hatte, durch sein Veto Beschlüsse des Reichstags zunichtezumachen, wurde abgeschafft, und die Koalitionen mächtiger Magnaten, die im Zusammenspiel mit den Nachbarn ihre partikularen Interessen gegen die des Gesamtstaates durchzusetzen unternahmen, wurden verboten – zum Schaden der unglücklichen Nation leider vergeblich.

Während im Königreich Polen-Litauen der Adel verfassungsgemäß weiterhin die Nation repräsentierte und es um die Erhaltung von Staat und Gesellschaft ging, brachten die Amerikanische und die Französische Revolution grundlegende Veränderungen: In Frankreich waren Staat und Gesellschaft betroffen, in Amerika wurde das Band zwischen dem englischen Mutterland und den dreizehn nordamerikanischen Kolonien zerschnitten und ein neuer souveräner Bundesstaat gegründet – die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort war der eigentlich revolutionäre Akt die Erklärung der Unabhängigkeit von England am 4. Juli 1776. Der Kern des Konflikts war, dass es das englische Parlament war, das die Kolonien besteuerte, um die Schuldenlast zu mindern, die während des französisch-englischen Krieges um die Herrschaft in Nordamerika (1756–1762) entstanden war. Damit hatte es nach amerikanischer Auffassung gegen das im englischen Staatsrecht geheiligte Prinzip „No taxation without representation“ verstoßen; der Konflikt eskalierte, und die Vertreter der dreizehn Kolonien sagten sich schließlich vom Mutterland los. Mit französischer Hilfe gewannen sie ihre Unabhängigkeit und gründeten einen Bundesstaat neuen Typs, der auf einer schriftlich fixierten, im Wesentlichen noch heute gültigen Verfassung fußte. An der gesellschaftlichen Ordnung der Vereinigten Staaten brauchte nichts geändert zu werden. In den Kolonien gab es keinen Adel als besonderen Stand, sondern schlicht und einfach Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten.

In Frankreich war dies anders. Dort hatte im Schicksalsjahr 1789 der dritte Stand, der das Leistungszentrum des Landes, das Bürgertum, vertrat, sich zum alleinigen Repräsentanten der Nation erklärt und die privilegierten Stände, Adel und hohe Geistlichkeit, abgeschafft. Bereits in den wenigen Jahren bis zum Ende der Monarchie (1792) war die Nationalversammlung der eigentliche Souverän des Staates. Nirgends kommt dies klarer zum Ausdruck als in der kurzlebigen ersten geschriebenen Verfassung der konstitutionellen Monarchie vom September 1791. In Frankreich war anstelle der ständischen Ordnung die Gesellschaft der Staatsbürger entstanden, und dies war der Grund, warum der Verfassung ein Katalog der Bürger- und Menschenrechte vorausgeschickt wurde. Darin waren die Vereinigten Staaten Frankreich insoweit vorausgegangen, als die Unabhängigkeitserklärung in hochfliegenden Formulierungen den Staat auf den Zweck festlegte, das individuelle Streben nach Glück, pursuit of happiness, zu fördern. Eine Ergänzung fand die Verfassung durch einen Katalog von Bürger- und Menschenrechten in den ersten zehn Zusatzartikeln von 1791. Diese gelten noch immer als grundlegender Teil einer demokratischen Ordnung, ja, sofern das gegenwärtige Demokratieverständnis auf die humanitären Ideale der Menschenrechte fixiert ist, für das eigentliche Kernstück einer Demokratie. Dieses Demokratieverständnis hat seine eigene Geschichte, die sich längst von den revolutionären Ursprüngen, das heißt von einer der Aufklärung verpflichteten Grundlegung eines neuen Staats- und Gesellschaftsideals, emanzipiert hat. Als Fundament einer Demokratie waren die Bürger- und Menschenrechte ursprünglich keineswegs gedacht, sondern zur Abgrenzung von dem Totalitätsanspruch eingeführt, der im 18. Jahrhundert der aus der Antike überlieferten direkten Demokratie zugeschrieben wurde.

Wie wenig es damals um den Aufbau einer wie immer definierten Demokratie ging, zeigt die Suche nach einer Elite, die dazu bestimmt war, anstelle der alten Stände die öffentlichen Angelegenheiten beurteilen zu können und den Staat zu lenken und zu leiten. Die Lösung wurde überall durch die Einführung eines Zensus angestrebt, der das aktive und passive Wahlrecht an ein Mindestvermögen oder an die Höhe der Steuerleistung band. Die zugrunde liegende Begründung ging dahin, dass Vermögen und Bildung die notwendigen Voraussetzungen für Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit in öffentlichen Angelegenheiten waren. Selbst in Polen-Litauen, wo der Adel die Nation repräsentierte, wurde der Maßstab des Zensus in der Absicht angewendet, diejenigen vom Wahlrecht auszuschließen, deren finanzielle Situation ihre Unabhängigkeit infrage stellte und sie für Bestechung empfänglich machte.

Die Verfassungen des späten 18. Jahrhunderts waren im Selbstverständnis der neuen Eliten nicht demokratisch, und in den Vereinigten Staaten legten die Gründerväter den größten Wert darauf, dass der neue Staat eine Republik und keinesfalls eine Demokratie sei. Aber es gab auch überall eine radikale Unterströmung, die politische Gleichheit und nicht nur diese forderte. In Frankreich postulierte François „Gracchus“ Babeuf (1760–1797) nach dem scheinbaren Vorbild der beiden römischen Agrarreformer Tiberius und Gaius Gracchus eine Neuverteilung des Grund und Bodens, ohne eine nennenswerte Anhängerschaft zu gewinnen. Die Bourgeoisie, die neue herrschende Klasse, hielt an den bestehenden Eigentumsverhältnissen fest. Im frühen 19. Jahrhundert gewann jene demokratische Unterströmung Auftrieb. In England wurde Jeremy Bentham (1748–1832), der Mitbegründer der einflussreichen reformorientierten Zeitschrift Westminster Review, nach Heinrich von Treitschkes Urteil im vierten Band seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (1889, 22 f.) einer der Hauptverfechter der wissenschaftlichen Formeln für die Weltanschauung des herannahenden demokratischen Zeitalters. „Wird der Staat erst demokratisiert“, so lautete die Erwartung, „muss schließlich die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künstlichen, nur durch äußere Umstände bedingten Unterschied zwischen den Personen, den Rassen, den Geschlechtern völlig vernichten.“

In England, dem Land der Frühindustrialisierung, wurde damals im Interesse der malträtierten Arbeiterklasse von den Chartisten – der Name, abgeleitet von lateinisch charta, bezeichnet eine Bewegung, die für eine geschriebene Verfassung eintrat – die Forderung nach politischer und sozialer Gleichheit erhoben. Doch der durch die Parlamentsreform von 1832 leicht modifizierten parlamentarischen Adelsherrschaft gelang es, durch eine Mischung von Repression und Entgegenkommen in Detailfragen der Bewegung der Chartisten Herr zu werden. Das Gelobte Land einer Demokratisierung aber wurden seit der Zeit um 1830 die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Symbolfigur dieser Entwicklung war Andrew Jackson, zweimal Präsident des Landes in der Zeit von 1828 bis 1836. Dieser stammte nicht aus der alten Elite der Ostküstenstaaten, sondern repräsentierte die Schicht der kleinen Leute, welche die Territorien und neuen Staaten jenseits der Alleghanies besiedelten. In seine Zeit fällt in den meisten Staaten die Beseitigung des Zensuswahlrechts (Schlusslicht war 1856 North Carolina). Jeder männliche weiße Amerikaner besaß nun das Wahlrecht, und die Wahlversammlungen gerieten zum Schrecken der alten Elite zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die auch Eingang in die Karikaturen der Zeit fanden.

Die Demokratisierung vollzog sich nicht nur im politischen Raum durch die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts weißer Männer und die Berücksichtigung von Anliegen kleiner Leute. Sie betraf auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, den freien Umgang der Angehörigen aller Schichten und vieles mehr. Die erste wissenschaftlich anspruchsvolle Analyse dieses Demokratisierungsprozesses stammt von Alexis de Tocqueville (1805–1859). Die beiden von ihm verfassten Bände De la démocratie en Amérique (Erstveröffentlichung 1835/1840) sind der literarische Niederschlag seiner Amerikareise, die er 1831 im Auftrag der französischen Regierung zum Studium des Rechtssystems und des Strafvollzugs in den Vereinigten Staaten antrat und zu einem umfassenden Studium von Staat und Gesellschaft einer entstehenden Demokratie nutzte. Er sagte voraus, dass die Demokratisierung, wie sie sich in Amerika vollzog, das Schicksal der Welt sein werde.

Deutschland war damals von diesem Schicksal noch denkbar weit entfernt. Zwar hatte Napoleon für eine radikale Vereinfachung der buntscheckigen Landkarte des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches gesorgt. Aber in Hinblick auf die verfassungsmäßige Ordnung der Staaten des Deutschen Bundes herrschte weiter die größte Verschiedenheit. Der Deutsche Bund hatte in Artikel 13 der Wiener Schlussakte seine Staaten auf „landständische Verfassungen“ festgelegt und damit auf jenen rückständigen Typus, in dem der Adel unverhältnismäßig stark vertreten war. Eine Reihe von Staaten, zumal die größten, Preußen und Österreich, blieben ohne Verfassung, andere verharrten bei ihrem „altständischen Stilleben in Norddeutschland“ (so die Überschrift des einschlägigen Kapitels in Treitschkes Deutscher Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert), während wieder andere, die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt, sich in der Absicht, alle Teile ihres Staatsgebietes einer einheitlichen Ordnung zu unterwerfen, neue Verfassungen gaben. Strittig war, ob diese dem Artikel 13 der Wiener Schlussakte entsprachen oder als Repräsentativverfassungen aufzufassen seien, in denen nicht Stände, sondern das Staatsvolk als Ganzes in den Landtagen vertreten war.

Wegen der vermeintlichen Nähe von Volkssouveränität und Repräsentativsystem schlugen stockkonservative Staatsrechtslehrer und Publizisten Alarm; denn wo das Prinzip der Volkssouveränität ins Spiel kam, war, so schien es, die Demokratie nicht mehr weit; mit diesen Warnungen trafen sie die Ängste der reaktionären Mächte, indessen keineswegs immer zu Recht. Selbst die 1831 in Kraft getretene kurhessische Verfassung, die gewisse, sonst in Deutschland nicht vorhandene Elemente von Fortschrittlichkeit enthielt, war auf dem monarchischen Prinzip der Staatsgewalt gegründet und hielt an der ständischen Struktur des Landtags fest – und doch rügte der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich ein Jahr vor Ausbruch der Märzrevolution von 1848 die kurhessische Verfassung als „sehr demokratisch“. Überhaupt fühlten sich die Vormächte der Reaktion, vor allem Russland unter Zar Nikolaus I., von den „Fluten der ständig wachsenden Demokratie“ herausgefordert – so der russische Staatsmann Graf Nesselrode an Zar Nikolaus zu dessen 25. Jubiläum der Thronbesteigung. Die Rede war von einem „Schutzwall gegen die Wogen der ständig anwachsenden Demokratie“ (une digue aux flots de la démocratie toujours croissante), der mit Erfolg gegen die polnische Unabhängigkeitsbewegung errichtet worden war. Tatsächlich waren im Interesse der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Polens die militärische und die politische Mobilisierung der bäuerlichen Mehrheit des Landes notwendig, und genau dies war das Ziel des von Frankreich aus gesteuerten polnischen „Demokratischen Vereins“.

In Deutschland war die Märzrevolution von 1848 Erfolg und Misserfolg zugleich. Das eine Ziel demokratischer Bestrebungen, die Einheit der politisch gespaltenen Nation zu erlangen, wurde bekanntlich verfehlt, das andere, das dahin ging, Standesprivilegien des Adels abzubauen, die Befreiung der Bauern von den teilweise noch immer nicht abgelösten Feudallasten zu vollenden, Gewerbefreiheit und bürgerliche Rechtsgleichheit zu schaffen, wurde im Wesentlichen, wenn auch nicht bereits durch die Paulskirchenverfassung von 1849, die ja keine Gültigkeit erlangte, so doch in der unmittelbaren Folgezeit erreicht. Die Standesprivilegien wichen der bürgerlichen Gleichheit – mit der Ausnahme der politischen Mitwirkungsrechte in den Parlamenten. Diese wurden der Elite der Wohlhabenden und Gebildeten vorbehalten. Der Zensus war das Mittel der Wahl, die Zugehörigkeit zu dieser Elite festzustellen oder auszuschließen. Das später umkämpfte preußische Dreiklassenwahlrecht entsprach zunächst der Regel.

Einer der damals führenden Staatsrechtslehrer in Heidelberg, der zugleich ein führender Parlamentarier zuerst in der Ersten, dann in der Zweiten Kammer des Großherzogtums Baden war, Johann Caspar Bluntschli (1808–1881), schrieb dazu in dem zwischen 1857 und 1870 veröffentlichten mehrbändigen Staatshandbuch: „Da die heutigen Staaten fast alle auf einem weiten Land ruhen und die großen Massen auch der Arbeiter persönliche Freiheit und Staatsbürgerrecht erwerben, aber nicht die Muße und nicht die Bildung haben, um den Staat verwalten zu können, so ist diese Staatsform (gemeint ist die direkte Demokratie der Antike) nicht möglich, und die veredelte Form der repräsentativen Demokratie an ihre Stelle getreten als die moderne Art der Demokratie. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie ist: Das Volk beherrscht sich selbst, aber indem es die gesamte Staatsverwaltung an seine Repräsentanten überträgt, die es zu diesem Zweck als die Besten und Tauglichsten auswählt.“

Was die Gründerväter der Vereinigten Staaten, die von direkter Demokratie nichts wissen wollten, als Republik bezeichnet hatten, erhielt nun, nachdem der Begriff der Demokratie seinen Schrecken eingebüßt hatte und als Repräsentativsystem in Erscheinung trat, den Ehrennamen einer „veredelten Demokratie“.

Doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam eine lang andauernde Entwicklung in Gang, in der alle Beschränkungen des Wahlrechts zurückgenommen wurden und das Prinzip des „one man one vote“ auch die Frauen einschloss. In Europa war der erste Bundesstaat, der für die Wahl der Repräsentanten des Volkes keinen Zensus vorsah, der nach dem Krieg Preußens gegen Österreich und den Deutschen Bund 1867 gegründete Norddeutsche Bund. Übernommen wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht in die Verfassung des 1871 gegründeten Deutschen Reichs, in dem auch das demokratische Programm der deutschen Einheit Erfüllung fand – freilich unter Ausschluss der österreichischen Teile des aufgelösten Deutschen Bundes. Trotzdem lässt sich im Falle des deutschen Kaiserreichs nicht von Demokratie sprechen. Die Regierungsform war im Unterschied zu der Englands nicht parlamentarisch, sondern monarchisch-konstitutionell. Die Ernennung des Reichskanzlers war das Vorrecht des Kaisers, und diesem, nicht dem Reichstag, war der Chef der Regierung verantwortlich. Das änderte sich erst kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, als das Deutsche Reich im Oktober 1918 zur parlamentarischen Regierungsform überging.

Damals nahm auch das längst für Frauen geforderte Wahlrecht seinen Anfang, aber es dauerte lange, bis es sich überall in Westeuropa durchgesetzt hatte. In Deutschland führte die Verfassung der Weimarer Republik das Frauenwahlrecht ein, in Frankreich dauerte es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Schweiz und ihren Kantonen noch länger. In England fielen die Beseitigung des Zensuswahlrechts und der Beginn des Frauenwahlrechts auf das Ende des Ersten Weltkriegs. Damals wurde den Frauen über dreißig Jahren in Anerkennung ihres Beitrags zur Erringung des Sieges das Wahlrecht zuerkannt; die jüngeren Frauen gingen noch leer aus, damit der männliche Teil der Bevölkerung, der im Krieg hohe Verluste erlitten hatte, nicht auf die Minderheit an der Wahlurne reduziert wurde. Erst 1928 wurde auch den jüngeren Frauen das Wahlrecht zuerkannt.

Mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht aller Bürger änderten sich der Staatszweck und die Führungselite der vollendeten Demokratie. Es entstanden miteinander verbunden Parteiendemokratie und sozialstaatliche Orientierung im Interesse einer Daseinsfürsorge für die Masse des Volkes. Auf Einzelheiten kann erst im zweiten Hauptteil eingegangen werden. An dieser Stelle sei nur daran erinnert, dass in England bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts von der Bewegung der Chartisten die aufeinander bezogenen Forderungen nach politischer und sozialer Gleichheit erhoben worden waren und im deutschen Kaiserreich die Gründung einer sozialistischen Arbeiterpartei die Anfänge und den Ausbau der sozialstaatlichen Orientierung des Staatszweckes vorantrieb. Andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen beförderten den weiteren Ausbau der Parteiendemokratie. Im Zeitalter des sogenannten Kulturkampfes entstand mit dem Ziel der Selbstbehauptung des Katholizismus die Zentrumspartei; die älteren konservativen und liberalen Parteien mutierten zu ökonomischen Interessenvertretungen, etwa der Landwirtschaft oder der Industrie, von Freihandel oder Schutzzöllen. Anderes kommt neuerdings hinzu: die Erhaltung der natürlichen Umweltbedingungen oder die Eindämmung von Flüchtlingsströmen, die politischer Verfolgung, Krieg oder Armut entgehen wollen, die Bewältigung der Finanzkrise in der Eurozone oder die Stärkung des inneren Zusammenhalts in der Europäischen Union.

Die Parteien bewerben sich darum, die größtmögliche Zahl von Wählern zu gewinnen und, wenn irgend möglich, die Regierung zu stellen. Sie sind das Verbindungsglied zwischen dem Souverän, dem Volk, und der Staatsgewalt, die von diesem „in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ ausgeübt wird (Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz). Zur Rolle der Parteien heißt es in Artikel 21 Absatz 1 Grundgesetz: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Wahlen und Abstimmungen sowie die Ausübung der Staatsgewalt werden durch Vermittlung von Parteien vollzogen. Das aber heißt: Der Eintritt in die Elite der Parteiendemokratie ist nach dem sogenannten „ehernen Gesetz der Oligarchie“ nur über die Mitgliedschaft und die prominente Stellung in einer Partei möglich. Insofern kann gesagt werden: Die moderne repräsentative Demokratie ist eine Parteiendemokratie. Abgesehen von Wahlen und Abstimmungen geschieht alles Weitere, was aus dem Ergebnis folgt – Koalitionsabsprachen, Vereinbarung des Regierungsprogramms, Gesetzgebung und Regierungstätigkeit –, ohne direkte Beteiligung des Wahlvolkes. Aber wenngleich der Souverän von direkter Mitsprache ausgeschlossen ist, so sind doch die Absprachen und Beschlüsse der Parteien gewiss nicht unbeeinflusst von der Debatte über öffentliche Angelegenheiten in Presse und Rundfunk, den Initiativen von Interessenvertretungen und öffentlichen Demonstrationen.

Die Parteien selbst haben ein ureigenes Interesse daran, jeweils zu berücksichtigen, was den Wähler umtreibt, und dazu gehört auch die Einbindung von Parteimitgliedern und Wahlvolk in den Prozess der demokratischen Willensbildung. Dies geschah und geschieht getreu der von Willy Brandt stammenden Losung „Mehr Demokratie wagen“ in Gestalt einer Ausweitung der demokratischen Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit auf den gesamtgesellschaftlichen Bereich. Erwähnt seien einige prominente Beispiele – ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Chronologie – auf so verschiedenen Feldern wie: gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frauen und ihre Berücksichtigung auf allen Führungsebenen in Politik und Wirtschaft, Abbau traditioneller Hierarchien in Universitäten und Hochschulen, Aufnahme von Arbeitnehmervertretern in die Vorstände großer Unternehmen, Beseitigung der geringeren Bezahlung weiblicher Arbeitnehmer im Vergleich zu Männern, Sicherung von Mindestverdienst und Alters-, Gesundheits- und Pflegeversicherung, Beseitigung der sogenannten Zweiklassenmedizin durch eine wie immer geartete Bürgerversicherung, als „Ehe für alle“ plakatierte Gleichstellung von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung im Ehe- und Adoptionsrecht, um hier nur diese Themen ‚demokratischer‘ Politik zu nennen, die eine Berücksichtigung elementarer Interessen großer und kleiner Wählerschichten enthalten.

Konterkariert werden diese Zielsetzungen demokratischer Politik durch die Komplexität der zur Lösung anstehenden Probleme, etwa bei den Fragen der Finanzierung, der Steuergesetzgebung, des Rentenalters oder der Sanierung des Gesundheitswesens und der Pflegeversicherung im Alter. Was die antike Demokratie anbelangt, so konnte Perikles in der von Thukydides verfassten Grabrede mit einigem Recht sagen, dass jeder Bürger Athens über eine gewisse Kenntnis der öffentlichen Angelegenheiten verfüge. Heutzutage lässt sich das nicht mehr behaupten. Wer könnte schon von sich behaupten, dass er angesichts der konkurrierenden Gesetzgebung der Länder, des nationalen Bundesstaates und der Europäischen Union die Übersicht, die Sachkenntnis und das Interesse aufbrächte, um den Wegen und Umwegen des politischen Betriebs folgen zu können.

Die Folgen dieses Zustandes sind offenkundig: Neigung zu Wahlenthaltung oder Fundamentalopposition gegen den Konsens der politischen Wortführer in Politik und Presse. Zu den umstrittenen Themen gehören gegenwärtig bekanntlich die Asyl- und Flüchtlingspolitik oder die Pläne, die auf eine Zurückdrängung der nationalen Selbstbestimmung zugunsten einer Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Bundesstaat mit einheitlicher Währung und Staatshaushalt hinauslaufen.

Diese Konstellation hat zur Gründung einer neuen Partei am rechten Rand des politischen Spektrums geführt, der sogenannten „Alternative für Deutschland“. Abgesehen von der Kinderkrankheit innerparteilicher Flügelkämpfe versucht die neue Partei oft genug, sich mit einer die Grenze zum Skandal überschreitenden Verbalradikalität zu profilieren. Dies hat dazu geführt, dass die unbequemen Neuankömmlinge von den etablierten Parteien und dem größten Teil der Presse unter dem Stichwort „(Rechts-)Populismus“ abgewertet und aus dem Kreis der honorigen Demokraten ausgegrenzt werden. Am linken Rand des Parteienspektrums wird auch die aus der Erbmasse der untergegangenen DDR hervorgegangene Partei „Die Linke“, so gut oder so schlecht es gehen mag, von der Möglichkeit politischer Mitwirkung ferngehalten. Obwohl beide Parteien sich an demokratischen Wahlen beteiligt und zusammen etwa ein Viertel der Wähler zum Deutschen Bundestag gewonnen haben, gelten sie als Störfaktor im Kreis derjenigen Parteien, die sich als die wahren Demokraten verstehen und die anderen als rechts- oder linksradikale Populisten ausgrenzen. Das wirft die Frage nach der Stichhaltigkeit der als Kampfbegriffe gebrauchten Schlagworte „Demokratie“ und „Populismus“ auf. Immerhin haben beide Worte eine gemeinsame Wurzel: In beiden steckt das Wort Volk, griechisch demos, lateinisch populus.

Am Schluss des Buches soll aus der Flut der Vorschläge, die Gebrechen der modernen Demokratie zu heilen, auf drei Bücher jüngsten Datums eingegangen werden. Im Jahr 2016 erschien die deutsche Übersetzung des Buches von David Van Reybrouck mit dem Titel Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, und auf der Rückseite des Umschlags ist zu lesen: „Wahlen sind heutzutage primitiv. Eine Demokratie, die sich darauf reduziert, ist dem Untergang geweiht.“ Als Heilmittel wird das Losverfahren gepriesen, mit dem in der athenischen Demokratie abwechselnd jeweils ein Teil der Bürgerschaft zu Hilfskräften des regierenden Souveräns auf Zeit bestimmt wurde. Fast zur gleichen Zeit erschien das Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Jason Brennan. Der Titel lautet Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Darin plädiert der Autor für eine Beschränkung des Wahlrechts auf die Minderheit politisch gebildeter Staatsbürger. Die Richtgröße wird auf rund 25 Prozent der Bürger des Landes festgelegt. Vielleicht war das Entsetzen über die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten der Grund für die Verklärung eines Systems, dem im Zeitalter der Amerikanischen und Französischen Revolution die Bindung des Wahlrechts an Besitz und Bildung diente. Der jüngste Vorschlag erschien im Jahr 2017 im englischen Original unter dem Titel Demopolis: Democracy before Liberalism in Theory and Practice (Titel der deutschen Übersetzung: Demopolis oder was ist Demokratie?). Josiah Ober, sein als Althistoriker und politischer Theoretiker renommierter Verfasser, verfolgt das Ziel, den eigentlichen Kern der Demokratie zu retten, wie sie sich vor ihrer modernen Verbindung mit Werten wie Menschenrechten, öffentlicher Daseins- und Gesundheitsvorsorge oder globaler Solidarität präsentierte. Er ist kein Gegner einer liberalen beziehungsweise sozialstaatlich orientierten Demokratie, aber er reagiert auf Krisenerscheinungen wie den sogenannten Populismus und Nationalismus, welche die moderne Demokratie infrage stellen. Er reduziert deshalb Demokratie nach antikem Verständnis auf den inneren Wert der Teilhabe an der Gestaltung des öffentlichen Lebens und behauptet, dass eine solche Kerndemokratie zugleich für ein angemessenes Sicherheits- und Wohlstandsniveau zu sorgen in der Lage sei. Wie dies unter modernen Bedingungen geschehen kann, bleibt allerdings ein Rätsel.

Das Volk regiert sich selbst

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