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Freitag, 4. Dezember, 00.05 Uhr

Mitten in der Nacht durchschnitt das Klingeln des beigen Telefons auf Paula Arangurens Nachttisch die frühlingshafte Stille des Vororts wie die Klinge eines Fleischermessers. Paula ließ es zweimal läuten, während sie ihr Kissen unter Joaquín hervorzog und sich aufsetzte. In der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Es lag verborgen unter dem Urwald aus schwarzen Locken, die zu schneiden er sich weigerte. Konzentriert räusperte sie sich. Das Telefon klingelte zum dritten Mal. Paula nahm den Hörer ab und meldete sich mit einem ruhigen »¿Dígame?«.

»Wer zum Teufel ruft mitten in der Nacht …«, Joaquín rührte sich schlaftrunken und versuchte, in der Dunkelheit die Uhrzeit zu entziffern.

Paula gebot ihm zu schweigen, plötzlich alarmiert.

Er wandte sich von ihr ab und warf einen Blick auf den kleinen Casio-Wecker auf seinem Nachttisch, der ihn frech anfeixte, ein verkniffenes Cheshire-Cat-Grinsen aus zwei leuchtenden Zeigern. Fünf nach zwölf. Nach Mitternacht geschieht nichts Gutes, hallten in seiner Erinnerung die Worte seines Vaters wider, mit denen er die Ausgangssperre der Alzada-Brüder zu rechtfertigen pflegte.

»Das ist für dich«, sagte Paula bestimmt, die Hand auf das Mundstück gelegt.

Da wusste er Bescheid.

Joaquín erhaschte einen flüchtigen Blick auf ihren Ehering. Immer noch im Liegen streckte er über seine Frau hinweg einen gebräunten Arm aus und griff nach dem Hörer, die gespannte Schnur wand sich unnatürlich um seine weißen Knöchel.

Es war die Nachbarin seines Bruders. Selbst unter diesen seltsamen Umständen erkannte er ihre Stimme, sodass sie ihren Namen nicht zu nennen brauchte. Seit dem Moment, als Jorge Rodolfo und seine Frau Adela in die Wohnung gegenüber eingezogen waren, hatte sie die beiden systematisch ausspioniert. Joaquín fiel wieder ein, wie sein Bruder sie imitiert hatte – wie sie auf den Flur hinausschlurfte, zur Wohnungstür seines Bruders, dann zurück zu ihrer.

Joaquín erinnerte sich, dass Jorge Rodolfo ihren Tonfall als hochnäsig bezeichnet hatte. Jetzt sagte sie mit deutlich ernsterer Stimme: »Sie haben Ihren Bruder mitgenommen.«

Er war nicht der Erste, der einen solchen Anruf erhielt. Schon viele vor ihm hatten die gleiche Unsicherheit durchlitten, die gleiche Angst, die gleiche Ohnmacht. Nach ihm würden viele Weitere die gleichen Erkundigungen einholen, die gleichen Beschimpfungen brüllen, die gleichen Tränen unterdrücken. Jahre später würden die Ausläufer dieser Gespräche das Mantra einer verlorenen Generation bilden. Es würde Proteste geben, Prozesse und Frustration. Es würden Abhandlungen verfasst und ausschweifende Reden über das gehalten werden, was man hätte tun können und was nicht. Jetzt legte Joaquín erst einmal den Hörer zurück auf die Gabel und verkündete sachlich: »Ich fahre hin.«

»Nein«, war das einzige Wort, das Paula herausbrachte, teils, um ihn zurückzuhalten, teils, damit die neue Realität nicht bis zu ihr vordrang. Sie wiederholte es, als Joaquín aus dem Bett sprang, in der Hoffnung, dass mehrere »Nein« hintereinander den gewünschten Effekt erzielen würden. Sie sagte es noch einmal – zu sich selbst –, als Joaquín in die Küche lief; sie sagte es immer noch, leise, als er mit seinen Schuhen zurückkam.

Er schien in den Rhythmus seines eigenen Monologs versunken zu sein, der kein innerer war. »¡Bastardos!« und »¡Hijos de puta!« kamen in regelmäßigen Abständen darin vor. Bastarde und Hurensöhne. Joaquín stürmte, jetzt halb angezogen, zurück auf den Flur hinaus. »Wo ist meine Jacke?«

»Deine Jacke? Es ist Hochsommer, Joaquín.«

»Ich brauche sie, um meine Waffe zu verstecken.«

Paula hielt inne. Sie holte tief Luft, bevor sie antwortete: »Ich glaube, du hast sie über den Stuhl am Eingang gehängt.«

Sie hörte seine ruhelosen Schritte im Flur, die langsamer wurden und dann anhielten: Es beruhigte ihn, Dinge zu finden. Was sie von sich nicht behaupten konnte.

»Komm zurück!«, rief sie.

Sofort erschien Joaquín im Eingang zum Schlafzimmer. Paula musste unweigerlich an ihre erste Begegnung zurückdenken: Damals hatte er im Eingang zum Auditorium gestanden, an den Türrahmen gelehnt, so wie jetzt. Die Vorlesung war eine Viertelstunde zuvor vorbei gewesen. Er hatte vermutlich auf ein anderes Mädchen gewartet, das hatte er ihr nie erzählt. Neunzehn Jahre alt und schon dessen überdrüssig, ein Erwachsener zu sein, seine sehnige Gestalt bis zu den Knien von einem kamelfarbenen Regenmantel verhüllt, die langen Finger ständig nach den Zigaretten in seiner Tasche ausgestreckt, das Lächeln eines Mannes, der immer bekommt, was er will. Von seinem schmalen Bart hatte er sich mittlerweile getrennt und im Gegenzug ein paar Kilo zugelegt, um sich als jüngster Polizeiinspektor von Buenos Aires einen Anstrich von Seriosität zu verleihen. Joaquín reagierte nicht wie gewohnt auf den Anblick von Paula im Nachthemd.

Schweigen.

Er ging zielstrebig auf die Schublade zu, in der er seine Walther aufbewahrte.

»Warte.« Sie hielt ihn am Arm fest.

Für Paula war es ein schwieriger Lernprozess gewesen, auf so engem Raum mit Joaquíns Dienstwaffe zusammenleben zu müssen. Sie entstammte einer wohlhabenden Familie, die ihren Reichtum der Metallindustrie verdankte. Ihre Überzeugungen hatten ursprünglich zwischen vagem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und energischer Verachtung für jeden Gesetzeshüter geschwankt. Nur langsam war sie mit der Idee warmgeworden, dass irgendjemand diese Rechtsstaatlichkeit in die Praxis umsetzen musste und dass dieser Jemand ihr eigener Mann sein könnte.

Überraschenderweise war es ihr weniger schwergefallen als angenommen, die Gegenwart eines tödlichen Stücks Metall in ihrem Haus zu akzeptieren. Die tägliche Routine hatte dabei eine Rolle gespielt: Sie hatte sich daran gewöhnt, dass Joaquín es feierlich in sein Halfter schnallte, während er sich für die Arbeit ankleidete, daran, das Gewicht an seiner Hüfte zu spüren, wenn sie ihn zum Abschied küsste, erleichtert aufzuseufzen, wenn er es jeden Abend zurück in seinen Sarkophag bettete.

»Joaquín, lass uns in Ruhe darüber nachdenken«, versuchte sie es erneut.

Nein, am schwersten war es ihr gefallen, mit den vielen möglichen Zukunftsszenarien zurechtzukommen, die der Waffe innewohnten: dass er sie eines Tages würde benutzen müssen. Oder noch schlimmer: dass jemand irgendwann mit einer solchen Waffe auf Joaquín zielen könnte. Als sie ihn jetzt im Eingang stehen sah, wurde ihr klar, dass es keine Worte gab, die imstande wären, ihn davon abzuhalten. Er würde nicht als der ruhige, wachsame, besonnene Inspektor zur Wohnung seines Bruders fahren, als den sie ihn kannte. Er würde alles, was sich ihm in den Weg stellte, in Schutt und Asche legen, um Jorge zurückzubekommen.

»Und wenn du dort bist, was dann? Sie werden nicht auf dich gewartet haben. Sie sind längst weg.«

»Ich habe jetzt keine Zeit für so was«, sagte er abweisend.

»Wir waren erst heute noch bei Jorge!«

Daran musste sie Joaquín nicht erinnern: Sein Schädel brummte immer noch vom Bier und vom Wein.

»Was, wenn sie da die Wohnung bereits observiert haben?«, fuhr Paula fort. »Stehen wir jetzt auch auf einer Liste?«

Joaquín blieb stehen. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber von einem Polizisten lassen sie doch bestimmt die Finger, oder? Ihn fröstelte. »Mach dir keine Sorgen.«

»Mach dir keine Sorgen? Was soll das heißen: ›Mach dir keine Sorgen‹? Ich tue nichts anderes! Ich habe mir Sorgen um Jorge gemacht, und jetzt muss ich mir auch noch um dich Sorgen machen! Was ist, wenn sie doch noch da sind?«

»Umso besser. Ich will sie sehen. Ich will ihnen in die Augen schauen, wenn sie mir Rede und Antwort stehen. Denn das werden sie. Das sage ich dir. Wenn Jorge irgendetwas – irgendetwas – zustößt …«

»Joaco, bitte.«

Er hielt inne, spürte plötzlich seine eigene Angst. Was würde er denn tun, wenn er auf ein gut trainiertes Militärkommando traf? Seine alte Walther glühte an seiner Hüfte wie eine Wärmflasche. Wie sieht dein Plan aus, Joaquín? »Ruf Galante an. Aber erzähl ihm nichts am Telefon. Sag ihm bloß, er soll mich bei Jorge treffen.«

»Wird er nicht nachfragen?«

»Nein, wird er nicht. Dann ruf die Nachbarin an. Die von eben. Ihre Nummer steht irgendwo in dem Adressbuch aus Leder. Sie ist bestimmt noch wach.« Niemand in dem Haus wird jetzt schlafen. »Sag ihr, sie soll ein Licht anmachen, sobald die Scheißkerle weg sind.«

»Okay.«

»Welche Wohnung ist ihre?«

»Sie ist auch im dritten Stock. Dein Bruder hat Apartment C, also muss ihres Apartment A sein.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin die Frau des Polizeiinspektors, Joaquín. Nicht der Polizeiinspektor.«

Joaquín setzte sich neben sie aufs Bett und nahm ihre Hände in seine.

»Sag ihr, sie soll ein Licht im Wohnzimmer anmachen, sobald alle verschwunden sind.«

Während er die Worte laut aussprach, wurde er sich ihrer schwerwiegenden Bedeutung bewusst. Sobald alle verschwunden sind. Sie arbeiteten schnell. Wenn er in der Wohnung seines Bruders ankäme, würde ihn genau das erwarten: alle verschwunden. Sein Bruder würde verschwunden sein. Adela würde verschwunden sein. Der Junge. Joaquín spürte einen stechenden Schmerz auf der linken Körperseite.

»Was ist mit mir?«, fragte Paula.

»Du bleibst hier«, sagte er. Als wollte er eine Auseinandersetzung vermeiden, fügte er hinzu: »Du musst die Anrufe für mich tätigen. Und hier sein, falls jemand versucht, uns zu erreichen. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich dort bin. Alles wird gut.« Joaquín fragte sich, ob seine Lügen auf andere Menschen ebenso überzeugend wirkten wie auf ihn selbst.

»In Ordnung.«

Joaquín küsste sie gedankenverloren auf die Wange und verließ das Zimmer. Er nahm die Autoschlüssel aus der Terrakotta-Schüssel am Eingang zur Küche, ein Souvenir aus Galantes Flitterwochen in Mexiko. Ihre Freundschaft war in Polizeikreisen wohlbekannt, auch wenn ihre Beziehung momentan etwas angespannt war. Vielleicht ist es keine besonders gute Idee, ihn da mit reinzuziehen. Galante mochte zwar derzeit mit den Militärs auf gutem Fuß stehen, aber ein solcher Vorfall könnte ihm leicht Ärger bereiten. Sollte das Militär irgendwelche Fragen stellen, wäre es besser, wenn sein ehemaliger Partner sie ehrlich beantworten könnte. Nein, je weniger Leute davon erfahren, desto besser.

Joaquín ging zurück ins Schlafzimmer. Paula saß noch an derselben Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte. »Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte er so beiläufig wie möglich, »ruf Galante nicht an. Ich will ihn lieber nicht in die Sache reinziehen, solange es nicht unbedingt nötig ist.«

Paula nickte abwesend.

»Und schließ die Tür hinter mir ab.«

Er stürmte aus dem Haus, bevor seine Frau ihn weinen sah.

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