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3 2001

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Mittwoch, 19. Dezember, 10.00 Uhr

Als Alzada auf der Polizeiwache eintraf, hatte es angefangen zu regnen. Es war kein richtiger Regen, sondern chirimiri: ein unablässiges, fast unmerkliches Nieseln, das einen irgendwann bis auf die Knochen durchnässte. Der Inspektor betrat das Großraumbüro. Ursprünglich war es die Empfangshalle gewesen, mit einem eleganten Mahagonischreibtisch und einer bildhübschen Sekretärin, die ihr Haar wie Evita trug, doch die Wirtschaftskrise hatte die Policía Federal Argentina zu umfangreichen Sparmaßnahmen gezwungen. Sie hatten die oberen Etagen des Präsidiums an eine schicke ausländische Werbeagentur vermieten müssen, und der Empfangsbereich war in der Folge in ein Büro umgewandelt worden, in dem die jüngeren Polizeibeamten wie Estrático saßen. Der Raum war beengt, in einem fragwürdigen Senfton gestrichen, und wie auf einem Tetris-Spielfeld stapelten sich darin Sperrholzschreibtische, unbequeme, klapprige Stühle, eine launische Kaffeemaschine und das Schmuckstück der Polizeiwache: eine grüne Couch, auf der jeder Unruhestifter im Viertel Monserrat schon gesessen hatte. Ihr Baumwollsamtbezug machte keinen Unterschied zwischen Polizeibeamten in Zivilkleidung und Tätern, die darauf warteten, dass man ihre Daten aufnahm, und begrüßte diejenigen, die auf ihr Platz nahmen, mit der Erinnerung an abgestandenen Zigarettenrauch und Kaffee. Dreißig Jahre nach ihrem Kauf war ihre Farbe zum Großteil verblichen, und sie hatte gelbliche Flecken wie Gras nach einem trockenen Sommer.

Darauf hockte an diesem Morgen – so wie an fast jedem anderen auch – »la Dolores«, die wieder einmal den Frieden in diesem respektablen Stadtviertel gestört hatte. Dolores war siebenunddreißig, sah aus wie siebenundvierzig und tat sich chronisch schwer damit, zu verstehen, warum dieselben Kunden, die ihr während ihrer privaten Zusammenkünfte bedingungslose Liebe schworen, danach so taten, als würden sie sie nicht kennen, insbesondere während der gelegentlichen Sonntagsspaziergänge mit ihrer Familie. Ihrer »anderen Familie«, wie Dolores sie hartnäckig nannte.

»Guten Morgen, Dolores.«

Ihr Modus Operandi belustigte Inspektor Alzada.

»Guten Morgen, Inspektor.« Sie sah aus, als hätte sie auf dem Sofa übernachtet – eingewickelt in eine Decke und mit verlaufenem Augen-Make-up.

»Ich sehne den Morgen herbei, an dem ich Sie einmal nicht hier antreffe«, sagte Alzada im Vorbeigehen.

»Ich auch, Inspektor.«

»Geben Sie mir Bescheid, falls die Jungs mehr Zeit als nötig mit dem Bearbeiten Ihrer Unterlagen brauchen. Ich weiß, sie freuen sich über Ihre Gesellschaft, aber Sie sollten längst wieder zu Hause sein. Besonders bei dem, was heute los ist.«

»Danke, Inspektor.« Sie äußerste keinen Satz, ohne darin seinen Rang zu erwähnen: die perfekte Mischung aus Ehrfurcht und liebenswürdigem Spott.

»Estrático!«, brüllte er.

Ein blonder Schopf schoss aus einer Seitentür heraus. Der Hilfsinspektor hatte, zu Alzadas großem Missfallen, sein Jackett ausgezogen – was der sich rausnimmt! – und enthüllte darunter zu allem Überfluss ein kurzärmeliges Hemd mit Button-down-Kragen.

»Nennen Sie mich ruhig Orestes, Inspektor. Wo wir doch jetzt Partner sind …«

»Estrático, ich hatte ein Mal im Leben einen Partner und suche verdammt sicher keinen zweiten.« Alzada blickte sich um, plötzlich beunruhigt. Hier sieht es aus wie an einem Sonntagnachmittag. »Sind alle Mann ausgesandt worden?«

»Ja, zur Verstärkung«, bestätigte Estrático. »Fünfundsiebzigtausend Streitkräfte und Zivilpolizisten in Bereitschaftsstellung. Eine beispiellose Maßnahme.«

Es gibt ein Beispiel, und das hat kein gutes Ende genommen. Als das Militär das letzte Mal die Kontrolle über die Straßen übernommen hatte, war die Zahl der Todesopfer in die Tausende gestiegen.

»Alle, nur wir nicht?«, kicherte Alzada. »Ich weiß, was ich getan habe, um für diese heroische Aufgabe nicht auserkoren worden zu sein, aber Sie? Ist es nicht ein bisschen zu früh in Ihrer Berufslaufbahn, um aufs Abstellgleis zu geraten?«

Estrático lächelte unbehaglich.

»Gut.« Alzada hatte einen gewissen Spaß daran, seinen Untergebenen zu verunsichern, aber genug war genug. »Ich nehme an, heute gibt es keinen Appell … Irgendwelche Neuigkeiten aus dem Leichenschauhaus?«

»Noch nicht, Inspektor. Abgesehen von der anonymen Toten war der Morgen bisher ruhig.«

»Bisher«, knurrte Alzada.

»Hier ist ein Paar, das Sie sehen möchte.«

»Mich?« Alzada ließ enttäuscht die Hände sinken. »Haben sie ausdrücklich nach mir gefragt? Sind Sie sicher, dass sie mit mir sprechen wollen?«

»Sie haben nicht nach Ihnen persönlich gefragt.« Das klingt schon besser. »Sie wollten den höchstrangigen Beamten auf dieser Wache sprechen. Und wie Sie wissen«, der Hilfsinspektor hielt inne und hüstelte gekünstelt, »ist es erst 10 Uhr … also sind das momentan Sie.«

»Und weswegen sind sie hier?« Alzada beschloss, Estráticos Anspielung auf die berüchtigt laxe Arbeitsethik des Polizeipräsidenten zu übergehen.

»Das wollten sie nicht sagen. Ich habe sie in Ihr Büro gebracht.«

Der Inspektor hatte an diesem Morgen schon genug Zeit mit dem Besuch im Leichenschauhaus und der Parkplatzsuche für seinen betagten Clio verschwendet. Nicht dass er wirklich viel zu tun gehabt hätte: Ohne Personalausweis, ohne toxikologischen Bericht und ohne Tatort blieb ihm nur zu hoffen, dass jemand anrief und eine Frau als vermisst meldete, auf die die Beschreibung zutraf. Die Vorgehensweise für heute ist klar. Der Inspektor nannte es gern »das Protokoll des geringstmöglichen Aufwands«: Alles, was aufgeschoben werden konnte, wurde aufgeschoben. Aber selbst wenn er die Zeit hatte, sich um diese Leute zu kümmern – sie mussten verrückt sein, sich ausgerechnet diesen Morgen für einen Besuch auf der Polizeiwache ausgesucht zu haben.

»Begleiten Sie mich.«

»Guten Morgen«, verkündete Alzada, als er sein Büro betrat.

Das Paar antwortete mit einem unverständlichen Murmeln.

Von seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes konnte sich der Inspektor mit diesen zwei Schönheitsflecken auf seinem ansonsten »makellosen« Tag befassen und dabei gleichzeitig das Großraumbüro draußen im Blick behalten: Eine große Rauchglasscheibe ermöglichte ihm, das gesamte Geschehen zu verfolgen, auch wenn seine Tür geschlossen war. So blieb ihm das hämmernde Tippen seiner Untergebenen erspart, ihre dreckigen Witze und der wahllose Klatsch über Dinge, die ihm scheißegal waren. Galantes letztes Zugeständnis. Sonst säße ich bei den Sekretärinnen.

In einer Ecke seines Büros stand ein runder, wackliger Tisch, auf dem Minarette aus unbearbeiteten Akten aufragten; der Inspektor wälzte sie gern auf die jungen Polizisten ab, die ihm abwechselnd zuarbeiteten. Ihm war durchaus bewusst, dass sie ihm nicht aus Gefälligkeit zur Seite gestellt wurden: Ihre wahre Mission bestand nicht etwa darin, als seine persönlichen Assistenten zu fungieren, wie Galante ihm versichert hatte, sondern den Polizeipräsidenten über jegliches unverantwortliche Handeln des schwarzen Schafs auf dem Revier zu informieren, idealerweise bevor es dazu kam. Kürzlich hatte der Polizeipräsident Estrático zu seinem neuesten Lakaien auserkoren. Glaubt wahrscheinlich, ich könnte mir einen solchen Arschkriecher nicht vom Leib schütteln.

Alzada machte das allgemeine Chaos dafür verantwortlich, dass die Akten im ungelegensten Moment seinen Schreibtisch verstopften – sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinn –, hässliche Fälle, die nie den Weg zu ihm gefunden hätten, wenn die Dinge ihren gewohnten Gang gegangen wären. Er wünschte, ihm fiele ein besseres Wort dafür ein – etwas Elegantes, womöglich mit lateinischem Anklang. Doch in diesem Fall war es das passende Wort: hässlich. Seinen Tag damit zubringen zu müssen, eine schlüssige Erklärung dafür zu finden, dass eine Leiche im Müllcontainer hinter dem Leichenschauhaus gelandet war. Hässlich. Unter normalen Umständen müsste sich jemand aus dem Diebstahlsdezernat niemals um eine unbekannte Tote kümmern. Aber wann waren die Umstände zum letzten Mal »normal« gewesen – in diesem Polizeirevier, in Buenos Aires?

Alzada wollte gerade seinen Regenschirm an den Garderobenständer hängen, als ihn etwas innehalten ließ.

»Wem gehört dieses Jackett?«, fragte er.

Die beiden Zivilisten blieben stumm.

»Mir, Inspektor«, murmelte Estrático.

»So hängt man keine Jacke auf. Wissen Sie das denn nicht?« Alzada griff nach dem grauen Jackett. »Sie müssen sie am Ärmel aufhängen. So«, führte er vor. »Sonst haben Sie in kürzester Zeit eine Jacke mit Buckel.«

»Ja, Inspektor.«

Alzada schob sich um seinen Schreibtisch herum, darauf bedacht, nicht gegen die abblätternde Wandfarbe zu stoßen, ließ sich auf seinen Stuhl sinken und rieb sich die Hände. »Also gut, an die Arbeit.«

Der Inspektor musterte das Paar, das so reglos dasaß wie in Blei gegossen, und war mit einem Mal dankbar für das Surren des Ventilators.

»Ich bin Inspektor Alzada. Und das ist Hilfsinspektor Estrático«, sagte er und deutete auf den Beistelltisch, an dem der junge Polizeibeamte Platz genommen hatte. »Er wird mir assistieren. Er gehört zu unseren vielversprechendsten Nachwuchskräften in der Einheit, müssen Sie wissen.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Estráticos Brustkorb vor Stolz anschwoll. Schwachkopf. Natürlich glaubt er, es ginge dabei um ihn. Man muss dafür sorgen, dass sich Zivilpersonen – selbst wenn sie aus eigenem Antrieb herkommen – erst einmal akklimatisieren. Alzada hatte es unzählige Male erlebt: Die Leute betraten die Wache, begierig, Informationen beizusteuern, nur um dann zu verstummen, als würde ihnen irgendwo zwischen dem Nicken, mit dem Wachmann Basilio sie begrüßte, und dem Moment, in dem sie sich einem Polizeibeamten gegenübersetzten, plötzlich klar, wo sie waren. Verstört wie nach dem Biss einer Jararaca-Lanzenotter.

»Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann sah aus wie ein Ingenieur – so wie jemand nach Ingenieur aussieht, selbst wenn er keiner ist: Er trug eine dicke Hornbrille und, Buenos Aires’ Sommerhitze zum Trotz, einen Pullover über dem karierten Hemd und eine passende burgunderrote Krawatte. Die Frau war farblich perfekt auf ihren Mann abgestimmt – über einem gestreiften burgunderroten Kleid lag eine cremeweiße Strickjacke auf ihren Schultern. Lehrerin. Die beiden rochen nach Geld.

»Meine Schwester ist verschwunden«, sagte sie. Unumwunden. Sachlich. Die meisten Leute brauchten vierzig Leitfragen, um an diesen Punkt zu gelangen. Direkt zur Sache. Gefällt mir. Jetzt, wo sie wieder schwieg, zitterte ihre Unterlippe leicht.

Alzada öffnete eine Schublade und schob auf der Suche nach einem Stift und einem Blatt Papier seinen Flachmann beiseite. Wie sich die Zeiten geändert haben. Vor nicht einmal zwanzig Jahren wäre das undenkbar gewesen. Die Vorstellung, dass jemand in eine Polizeiwache hereinmarschiert kommt, verlangt, mit dem höchstrangigen Beamten zu sprechen, und jemanden als vermisst meldet? Als die Beziehung zwischen der Polizei und dem Militär, das für das Verschwinden von Menschen verantwortlich war, zumindest auf stillschweigender Duldung beruhte? Nein, nicht undenkbar: leichtsinnig, gefährlich, tödlich. Und da saßen sie nun, diese beiden, und meldeten ihre Schwester offen als vermisst, ohne Angst. In demselben Häuserblock, in dem sich die Coordinación Federal befunden hatte. Wo Menschen gefangen gehalten und gefoltert worden waren. Damals hatten die Leute so große Angst gehabt, dass sie einen Umweg machten, um bloß nicht an dem Gebäude vorbeilaufen zu müssen.

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn wir eine Vermisstenanzeige hätten aufgeben können? Wenn sich ein beflissener Polizist unserer angenommen und die richtigen Fragen gestellt hätte? Alzada fragte sich, ob seine Lippe ebenfalls zitterte.

»Letztes Wochenende. Am Samstag.«

Der Inspektor musste sich schwer beherrschen, um daraufhin nicht die Augen zu verdrehen. Er wollte nicht unwirsch sein. Er wollte ihr keine Angst machen. Aber er wollte der Frau auch nicht sagen, dass sich das Zeitfenster, in dem ihre Schwester lebend aufzufinden gewesen wäre, bereits geschlossen hatte. In diesem Chaos und nach fünf Tagen … Alzada blickte an dem Paar vorbei zum Großraumbüro hinüber. Gibt es wirklich niemanden, auf den ich diese Sache abwälzen kann? Das Büro wirkte trostlos: ein einsamer Weihnachtsbaum neben dem Eingang und zwei Polizeibeamte an ihren Schreibtischen. Polizeimeister – nicht hochrangig genug für diese Sache.

Trotz Alzadas Bemühungen, Interesse vorzutäuschen, schien die Frau etwas bemerkt zu haben, denn sie versuchte sofort, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen: »Aber ich habe danach noch mit ihr telefoniert.«

»Wann?«

»Gestern Abend.«

Alzada runzelte die Stirn und legte seinen Stift beiseite. »Sie müssen verstehen, Señora, dass uns das in eine missliche Lage bringt. Wenn Sie gestern Abend tatsächlich noch Kontakt mit ihr hatten, ist es laut unserem Protokoll zu früh, um sie offiziell als vermisst zu melden. Wir können nicht –«

»Das ist mir durchaus klar, Inspektor«, unterbrach sie ihn.

Er tat, als würde er auf die Uhr sehen; er musste die Zeit nicht überprüfen, um zu wissen, dass es noch zu früh war. »Es sind noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen. Bei einer volljährigen Person warten wir ab dem Zeitpunkt, an dem zuletzt von ihr gehört worden ist, mindestens einen ganzen Tag –«

»Es sei denn, es besteht Grund zu der Annahme …«, unterbrach sie ihn. Schon wieder. Mit verändertem Tonfall fuhr sie fort: »… dass es sich dabei um gewaltsames Verschwinden handelt.«

»Wir bevorzugen den Ausdruck ›unfreiwilliges Verschwinden‹.«

»Natürlich.« Großartig. Eine Besserwisserin. »Ich habe mich schlaugemacht.«

»Das freut mich.« Das tat es nicht. Dennoch lenkte er ein: »Dann wissen Sie ja sicher, dass wir das ›Verschwinden‹ einer Person lediglich als Indikator für etwas Umfassenderes ansehen, nicht als einen isolierten Vorfall. Als Symptom mit tiefergehender Ursache, wenn man so will. Menschen verschwinden – unfreiwillig oder nicht«, räumte er ein, »aber es gibt immer, immer einen Grund dafür. Unsere umfassende Erfahrung hat uns gelehrt, dass die Suche am effektivsten verläuft, wenn wir uns in erster Linie auf diesen Grund fokussieren. Denn wenn wir den Grund kennen, können wir ihre Spur verfolgen und sie schnellstmöglich nach Hause bringen. Was genau veranlasst Sie zu der Annahme, ihr Verschwinden sei …«

»Unfreiwillig.« Braves Mädchen. »Als wir gestern telefoniert haben, klang sie verängstigt.«

»Ich möchte nicht … wie soll ich es ausdrücken?« Ja, wie sollst du es ausdrücken, Joaquín? »Wir brauchen etwas mehr.«

Die Frau senkte den Blick, faltete die Hände im Schoß und schien ihre Erinnerungen zu durchforsten. Alzada nutzte die kurze Pause, um sie in Augenschein zu nehmen. Er konnte sich vorstellen, wie sie vor fünfzehn Jahren gewesen war: ausgezeichnete Studentin, erste Reihe, kerzengerade Haltung, makelloses Strafregister. Jemand, den man in einer Krisensituation gern an seiner Seite hätte. Warum tat sie sich dann so schwer damit, die Situation klar und zusammenhängend zu schildern? Irgendetwas war faul an der Sache.

»Erzählen Sie uns einfach etwas über Ihre Schwester«, ermutigte Alzada sie.

»Sie ist wunderbar.«

»Ich meine … Fangen wir am besten mit ihrem Namen an.«

»Norma. Norma Eleonora Echegaray.«

»Echegaray wie …«, der Inspektor zögerte. Wie einer der bekanntesten Großgrundbesitzer Argentiniens?

»Ja. Genau.« Verflucht. Die Sache kann ich unmöglich an Estrático delegieren: Die erwarten ein hohes Tier. Sofort setzte sie nach: »Und nein, wir wohnen nicht mehr auf dem Anwesen.«

Bei der Erwähnung des Reichtums ihrer Familie wurde ihr Ton kühler als noch einen Moment zuvor.

»Es steht schon eine Weile leer, nicht wahr?«, sagte er beschwichtigend.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: »Verzeihung. Reine Gewohnheit. Ausnahmslos jeder spricht mich darauf an. Sie sagten gerade … wegen meiner Schwester.«

»Ja, Norma. Hat sie so etwas vorher schon einmal gemacht? Ist sie vielleicht für ein paar Tage weggefahren und hat vergessen zu sagen, wohin?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Ihr Mann wirkte von dem Gespräch gelangweilt; und es schien, als wollte er etwas sagen, selbst wenn es nur dazu diente, die Sache zu beenden. Er wird es mir verraten.

»Noch nie?«, insistierte Alzada. »Dann kann man also mit Fug und Recht behaupten, dass ihr Verschwinden überhaupt nicht zu ihr passt.«

»Meine Schwägerin war schon immer …« Ihr Mann regte sich auf seinem Stuhl, unter ihm quietschte das Leder. Hab ich’s doch gewusst. »… schwierig.«

»Schwierig?«, fragte Señora Echegaray ungehalten. »Was soll das heißen, ›schwierig‹?«

Ihr Mann bedeutete ihr zu schweigen. Alzada machte große Augen. Hätte er so etwas bei Paula versucht, müsste er eine Woche lang auf einem Liegestuhl im Garten übernachten – und sie danach anflehen, damit sie ihn zurück ins Haus ließ. Doch die Frau gehorchte.

»Seit ich sie kenne – ich bin jetzt sechs Jahre mit meiner Frau verheiratet –, hat sich Norma systematisch in Situationen gebracht, in denen sie notgedrungen unsere Hilfe brauchte. Erst letzten Monat mussten wir sie auf Kaution freibekommen, weil sie mit einem riesigen Vorrat an Flüssigseife erwischt worden war: Offenbar hatte sie vor, den Springbrunnen von Lola Mora zum Überschäumen zu bringen.« Er kicherte unerwartet. Bis zu diesem Moment hätte Alzada nicht geglaubt, dass er zu lächeln imstande war, erst recht nicht zu lachen. »Es war lustig«, fügte er hinzu, als müsse er seine plötzliche Ausgelassenheit rechtfertigen. »Sie ist nun mal ein Spaßvogel. Was soll man machen? Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie gerade in Gefahr schwebt.«

»Facundo, bitte.«

Der Ingenieur hatte nicht ganz unrecht. Trotzdem war er diesem Mann nicht grün: Er hatte eins von diesen Gesichtern – zu früheren Zeiten hätte Alzada sich über einen Vorwand gefreut, ihm eins draufzugeben. Stattdessen fragte er Señora Echegaray: »Haben Sie ein Bild von ihr?«

»Natürlich.« Sofort zog sie ein Foto im Passbildformat aus ihrer Handtasche hervor. Norma Echegaray trug darauf eine Abschlussrobe mit Doktorhut. »Das war vor zwei oder drei Jahren, aber sie sieht noch genauso aus«, rechtfertigte die Frau ihre Wahl.

Und eine gute Wahl noch dazu. So unfair es auch war, Alzada wusste, dass die Polizei immer geneigter war, Mordfälle, Vergewaltigungen und Überfälle von stinkreichen Partygirls hintanzustellen, wenn einer fleißigen Absolventin der Universidad de Buenos Aires Gefahr drohte. Der blaue Streifen auf ihrer Schulter verriet, dass sie Wirtschaftswissenschaften studiert hatte. Alzada betrachtete das Bild aus der Nähe.

Das ist sie.

Derselbe besonnene Gesichtsausdruck wie auf einem alten sepiafarbenen Porträt. Ihr Lächeln war direkt, ein wenig erwartungsvoll.

Ist sie das wirklich?

War es die Frau aus dem Leichenschauhaus? Sie war eindeutig genauso hellhäutig, dunkelhaarig und hübsch wie die Tote. Aber das traf auf halb Buenos Aires zu. Du hast als Polizist mehr drauf, Joaquín. Auf diese Frau wartete ein anderes Schicksal. Das Verschwinden dieser Frau ging vermutlich auf ihr eigenes – gut gefülltes – Konto, und sie würde in ein paar Tagen unversehrt wieder auftauchen. Dann wäre das Ganze nur noch eine Anekdote, die sie auf Partys zum Besten geben würde, zur großen Verärgerung ihrer Schwester.

War das bloßes Wunschdenken oder seine professionelle Meinung? Alzada schwindelte plötzlich.

»Inspektor?«

»Ja, Señora?«

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja.« Alzada erlangte seine Fassung zurück. »Was ich sagen wollte … Die Argumente Ihres Mannes sind durchaus überzeugend, Señora.« Konzentrier dich. »Warum sollten wir uns Sorgen machen? Oder warum sollten wir uns jetzt schon Sorgen machen? Wenn wir, so wie Sie sagen, ausschließen, dass es sich um einen Scherz oder einen spontanen Ausflug handelt, glauben Sie dann, es steckt ein finanzielles Motiv dahinter?« Unwahrscheinlich. Falls sie gestern Abend entführt worden wäre, hätten die Echegarays schon eine Nachricht erhalten. Eine erfolgreiche Entführung ist in weniger als einem Tag vorbei. Automatisch stand Alzada sein ehemaliger Strafrechtsdozent Iraola vor Augen, der erklärte, eine Entführung sei von allen Verbrechen am schwierigsten erfolgreich umzusetzen. Alzada war entsetzt gewesen, wie nüchtern der Professor die Nachteile geschildert hatte: das Risiko, eine Beziehung zu der entführten Person aufzubauen und nicht mit kühlem Kopf entscheiden zu können, die konstante Überwachung, die erforderlich war, und das Verhängnisvollste: Wenn die Entführung vorbei war, gab es einen Augenzeugen. Señora Echegaray zog die linke Augenbraue hoch. »Nicht bei allem geht es um Geld, Inspektor. Nicht einmal bei Leuten wie uns.«

Sie hatte recht: Es gab ein »uns«, und Alzada gehörte ganz sicher nicht dazu. Diese Leute hatten ihr privates Sicherheitspersonal und ihre eigenen Ermittler. Warum wenden sie sich dann an die Polizei? Doch nach mehreren Jahrzehnten im Dienst wusste Alzada, wann man nachfragen sollte und wann besser nicht. Er hatte die Lektion widerwillig gelernt, aber er hatte sie gelernt. Er machte einen weiteren Versuch: »Darf ich annehmen, dass Ihre Schwester Leibwächter hatte?«

»Nehmen Sie das ruhig an«, sagte Señora Echegaray, immer noch verstimmt.

»Und wo waren die?«

»Sie hat sich einen Sport daraus gemacht, ihnen zu entwischen, erst recht wenn –«

»Wie schon gesagt, sie ist ein Spaßvogel«, fiel ihr Mann ihr ins Wort.

Alzada beschloss, seinen Kommentar zu überhören: »Erst recht wenn …«

»Sie wissen schon: wenn sie ein Date hatte oder dergleichen. Diese Kerle sind inkompetent.« Damit wäre zumindest eine Frage beantwortet: Sie traut ihnen nicht zu, die Sache selbst in den Griff zu kriegen.

»Hat sie zurzeit einen Freund?«

»Nein.« Als hätte sie seine Skepsis gehört, setzte Señora Echegaray nach: »Das hätte sie mir erzählt.« Unwahrscheinlich.

»Hat sie irgendein besonderes Merkmal?«, platzte Estrático heraus. Er hatte sich dem Schreibtisch genähert – verstohlen wie immer – und hielt das Foto in der Hand. »Ein Muttermal, eine Tätowierung?«

Was fällt dir ein!

»Nein. Das kann ich definitiv verneinen«, sagte Señora Echegaray an den Hilfsinspektor gewandt, während dieser zu seinem Stuhl zurückging. Also sind wir uns doch nicht so sicher, was den Freund angeht.

»Um es zusammenzufassen«, sagte Alzada, bevor sich die Situation in eine Seifenoper verwandelte: »Ich bin gewillt, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, aber dazu brauche ich zumindest einen winzigen Hinweis darauf, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte. Haben Sie irgendetwas für mich?«

»Sie hat gesagt: ›Ich rufe dich zurück.‹«

Welch subtiles Indiz. Noch im Jahr 1982 wäre es kein ausreichender Grund für eine Untersuchung gewesen, wenn vier Männer mitten in der Nacht ihre Tür eingetreten und sie aus der Wohnung gezerrt hätten. Es wäre als »Zwischenfall« eingestuft und zu den Akten gelegt worden.

Ihr Mann verdrehte die Augen.

»Ich weiß, dass mein Mann die Augen verdreht«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, »aber wir waren mitten im Gespräch, da hat sie mich plötzlich abgewürgt. Jemand war an der Tür. Sie hat gesagt, sie würde mich zurückrufen. Man mag ihr einiges vorwerfen, aber wenn sie sagt, ›te llamo de vuelta‹, dann tut sie das.« Señora Echegaray hielt einen Moment inne. »Aber sie hat nicht zurückgerufen.«

Ihrem Stirnrunzeln entnahm Alzada, dass ihr Verstand die Gedanken schneller abfeuerte, als sie sie verarbeiten konnte. Ah, der Verstand, dieses mächtige Werkzeug. Die gefährlichste aller Waffen. Señora Echegaray fragte sich: Was hätte ich anders machen können? Hätte ich sie fragen sollen, wer es war? Hätte ich in der Leitung bleiben sollen, während sie die Tür aufmachte? Hätte ich früher zurückrufen sollen? Hätte ich gestern Abend nach ihr sehen sollen statt erst heute Morgen? Egal was sich letztlich herausstellt, um ihren inneren Frieden wäre es geschehen. Er kannte diesen Prozess nur allzu gut. Reue begleitet dich ein Leben lang.

»Es ist schwer zu erklären.« Ihr aufmüpfiger Ton von vorher war wie weggeblasen. Sie beugte sich vor und legte die Hände auf Alzadas Schreibtisch. French Manicure, Verlobungsring mit Diamant, darüber ein goldener Ehering. »Inspektor – ich weiß nicht, ob Sie Geschwister haben – aber falls Sie welche haben, kennen Sie das Gefühl vielleicht? Das Gefühl, sich Sorgen um sie zu machen? Das Gefühl … es einfach zu wissen

Alzada kannte es.

1981

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