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KIND SEIN

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„Sie können keine Kinder mehr bekommen“, sprach der Frauenarzt zu meiner Mutter. Dieser Diagnose verdanke ich mein Leben.

Meine Mutter wurde im Alter von 40 Jahren schwanger und ich kam am 10. März 1953 und damit zwei Monate zu früh auf die Welt. So früh, dass sie mich in einen Inkubator legten, den es zu dieser Zeit zum Glück schon gab.

Meine Schwester Martina war damals schon 14. Sie war eine Hausgeburt gewesen und hatte ebenfalls als Siebenmonatskind das Licht der Welt erblickt. Die Aussage der Hebamme: „Die erlebt den nächsten Morgen nicht.“ Doch hatte sie die Rechnung ohne die Großeltern gemacht. Oma Ida sprach zu Opa Alwin, in einem Ton, der keine Widerrede duldete: „Geh in den Keller, hole Anbrennholz und Brikett und heize den Berliner Ofen an.“ Und so geschah es, dass am 8. August, einem heißen Sommertag, der Säugling in einen Wäschekorb gelegt und dieser auf den warmen Ofen gestellt wurde. Das winzige Mädchen erlebte den nächsten Morgen.

Historisch gesehen war meine Geburt fünf Tage nach Stalins Tod. Doch was weiß man schon, wenn man in den Inkubator gelegt wird und bis Pfingsten auf der Neugeborenenstation der Universitätskinderklinik Leipzig liegt.

Während dieser Pfingstfeiertage fuhren mich meine Eltern und meine Schwester erstmals im Kinderwagen aus. Die Schwangerschaft meiner Mutter war nicht auffällig gewesen. Es war Winter, meine Mutter vollschlank, ich klein und der Wintermantel verdeckte den Rest. So entstand das Gerücht Martina, meine Schwester, wäre mit 14 Jahren die Mutter.

1953 sollte ein turbulentes Jahr werden. Stalins Tod und der Arbeiteraufstand am 17. Juni stellten einiges auf den Kopf. Mein Vater war selbständiger Tischlermeister und führte einen Betrieb mit 10 Mitarbeitern. Darum sollte er die Behandlung im Inkubator bezahlen.

Zum Glück wurden die Forderungen bald fallen gelassen. Denn nach dem 17. Juni hatte sich die politische Lage etwas gedreht.

Ich dagegen drehe die Zeit noch etwas weiter zurück und widme mich meinen Vorfahren.

Mein Vater Martin wurde am 23. März 1908 in Tautenhain bei Geithain in Sachsen als sogenanntes Häuslerkind geboren. Häusler waren die Dorfbewohner, die weder zu den Bauern noch zu den Handwerkern gehörten und so über keinen Hof verfügten. Sie wohnten in einem kleinen Haus, deshalb Häusler. Meines Vaters Vater Robert, der dem Jahrgang 1876 entstammte war, was man damals einen Handarbeiter nannte. Er arbeitete im Sommer im Kalkbruch oder als Helfer auf dem Bau. Im Winter gab es für ihn meistens gar keine Arbeit. Seine Frau Hulda, geboren 1877, nähte für andere Leute und führte verschiedene Hilfstätigkeiten aus. Es herrschte eine große Armut in der achtköpfigen Familie. Die neben den Eltern aus drei Jungen und drei Mädchen bestand. Eine vierte Tochter war unehelich und einige Jahre älter. Sie wohnte jedoch nicht mehr zu Hause.

Gehe ich geschichtlich noch weiter zurück, so waren die Vorfahren meines Großvaters Robert aus der Steiermark nach Thüringen eingewandert. Sie ließen sich erst in Gera und später in Weida nieder.

Die Vorfahren meiner Großmutter Hulda hingegen stammten aus Oberwiesenthal im Erzgebirge.

Wie mein Großvater von Weida nach Tautenhain kam, ist nicht bekannt. Hulda war als Kind mit ihren Eltern auch dorthin gezogen. Robert und Hulda verliebten sich und trotz des unehelichen Kindes nahm Robert seine Hulda im Februar 1903 zur Frau.

Fünf Jahre später kam mein Vater zur Welt und Ostern 1914 wurde er eingeschult. Im darauffolgenden September musste sein Vater Robert für den deutschen Kaiser in den Weltkrieg ziehen, was die Not der Familie noch vergrößerte. Da auch viele Lehrer in den Krieg ziehen mussten, teilte man den Unterricht, vormittags Klasse 1 bis 4 und nachmittags Klasse 5 bis 8, wobei diese Klassenstufen jeweils zusammen unterrichtet wurden.


Robert Diebler Soldat im 1. Weltkrieg

Man schrieb das Jahr 1922, als mein Vater aus der Schule kam. Gegen seinen Willen musste er Knecht werden, ein sogenannter Osterjunge, bei einem Tautenhainer Bauern. Seinem Wunsch, ein

Handwerk zu erlernen, wurde nicht entsprochen. Sein älterer Bruder Karl hatte es da besser. Er erlernte den Maurerberuf, wohnte noch zu Hause und die Eltern beköstigten ihn. Diese Ausgaben konnten die Eltern nur einmal tragen. Beim Bauern hatte mein Vater immerhin freie Kost und Logis.


Familie Robert Diebler um 1920

Doch nach zwei Jahren als Knecht hatte er genug von der Landwirtschaft. Er verließ den Bauern und machte sich selbst auf die Suche nach einer Lehrstelle.

In Geithain hatte er Erfolg bei einem Stellmacher, bei dem er die vierjährige Lehre antreten konnte.

Endlich ein Handwerksberuf. Darüber war er froh. Lohn bekam er nicht, hatte dafür aber freie Kost und Logis. Dazu kam, die Frau des Meisters betrieb einen Lebensmittelladen. In diesem musste er aushelfen und bekam dafür etwas Geld. Brauchte er ein paar neue Schuhe oder etwas zum Anziehen, so waren diese größeren Dinge das Weihnachtsgeschenk des Meisterpaares.

1928 konnte mein Vater die Lehre als Stellmachergeselle abschließen. Wurde von seinem Lehrmeister leider nicht mehr übernommen, da dieser bereits im Rentenalter war und den Betrieb nicht weiterführte.

Nach einigen weiteren Stationen kam mein Vater zu Beginn der 1930er Jahre dann nach Leipzig.

Dort lebte auch meine Mutter. Sie wurde am 5. Januar 1912 in der Messestadt geboren.

Ihr Vater Alwin Pehnert, Jahrgang 1886, war Geschirrführer. Ein Beruf, der dem heutigen Berufskraftfahrer entspricht. In dieser Zeit wurden die meisten Transporte noch mit Pferd und Wagen durchgeführt. So transportierte mein Großvater große Rollen Zeitungspapier vom Güterbahnhof in die Zeitungsdruckereien. Auch am Bau des Völkerschlachtdenkmals war er mit Baustofftransporten beteiligt gewesen.

Meine Großmutter Ida, die Alwins Frau war, wurde 1889 geboren. Sie wusch für feine Herrschaften in deren Haushalt die Wäsche, bügelte und spannte Gardinen. Auch in der Küche wurde sie tätig. Ihre Herrschaften waren Inhaber der Gaststätte „Zum Thüringer Hof“ und während der Leipziger Messen kochte auch sie mit in der traditionsreichen Gaststätte.


Ida Pehnert

Alwin und Ida stammten aus dem Dorf Mölbis südlich von Leipzig. Das einige Jahrzehnte später in der DDR traurige Berühmtheit erlangte. Es lag hinter dem Braunkohlenveredlungswerk Espenhain. Damit lag es in der Hauptwindrichtung. Viel Dreck und giftige Abgase zogen in das Dorf und machten die Bewohner, und besonders die Kinder, krank.

Die Eltern von meinem Opa Alwin bewirtschafteten in Mölbis einen kleinen Bauernhof.

Meine Oma Ida hingegen war das uneheliche Kind einer Magd in Mölbis. Es ging die Kunde, ein Butterhändler, der über die Dörfer zog und hier und da ein Kind zeugte, sei der Vater gewesen.

Auch hieß es, der Dorfpfarrer habe der leiblichen Mutter den Säugling gegen ihren Willen weggenommen und ihn Pflegeeltern im Dorf übergeben. Dies war ein traumatisches Erlebnis für die leibliche Mutter.

Nach Abschluss der Dorfschule ging meine Oma nach Leipzig in Stellung, d.h. sie wurde Dienstmädchen in einem vornehmen Haushalt. Putzen, waschen, kochen zählten zu ihren Aufgaben.

Doch dann passierte es: Ihre Mutter hatte herausgefunden, wo sie wohnt, und wollte Kontakt mit ihr aufnehmen. Diesen Versuch hat meine Oma jedoch brüsk abgewiesen. Sie sagte ihr: „Ich habe keine Mutter!“

Meine Großeltern, die nach eigenen Aussagen in Mölbis keinen Kontakt hatten, lernten sich in Leipzig kennen, lieben und heirateten 1911.

1914 musste auch Alwin in den Weltkrieg ziehen. Er war bis 1918 an der Westfront, in Belgien und Frankreich im Einsatz. Er hat nie viel erzählt. Die Grauen im Schützengraben wurden nicht thematisiert, obwohl er zwei Mal verwundet wurde. Die einzige Schilderung über diese Zeit widmete er dem Essen.

So erzählte er: „Im Winter lagen da im Freien große Berge gefrorener Rüben. Die Köche kamen mit dem Spaten und stachen welche ab. Die gaben sie so in den Kessel, so dass sie zusammen mit der Erde und den Ratten aufgetaut und gekocht wurden!“


Hochzeit Alwin und Ida 1911

Die Grauen des ersten Weltkrieges haben nach Erzählungen meiner Großeltern viele Menschen dazu veranlasst, aus der Kirche auszutreten. Auch meine Großeltern kehrten der Kirche von da an den Rücken. Ihre Tochter Herta wurde noch getauft, aber nicht mehr konfirmiert.


Familie Pehnert um 1918

Nach ihrem Schulabschluss 1926 erlernte meine Mutter den Beruf einer Kontoristin, Bürokauffrau nennt man diese Tätigkeit heute.

Anfang der dreißiger Jahre geschah es. Da lernten sich im Volkshaus in der Leipziger Südvorstadt meine Eltern beim Tanz kennen. Vater war arbeitslos und meine Mutter arbeitete in ihrem Beruf in einer Spedition.

Als mein Vater seine Herta heiraten wollte, hielt er bei Alwin „um ihre Hand an“, d.h. er erbat das Ja für die Hochzeit.


Herta und Martin als junge Menschen

Mit der Frage: „Wie willst du sie denn ernähren?“, verweigerte ihm Opa Alwin ihm die Zustimmung.

Um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, machte sich Vater 1933 selbständig. Als Stellmacher baute er Handwagen und Fahrradanhänger. In dieser Zeit wurde der Skisport gerade populär. Dies brachte ihn auf die Idee, Skier zu reparieren, insbesondere abgebrochene Spitzen wieder anzubringen und einen Skiservice durchzuführen. Obendrein stellte er auch selbst Holzskier her, die in Sporthandlungen verkauft wurden.

Seine erste Werkstatt war ein kleines Hofgebäude in der Johannastraße 11 in Leipzig Dösen.

1935 dann übernahm er einen Kohle- und Holzhandel in der Leinestraße in Leipzig Dölitz.


Hochzeit Martin und Herta 1935

Dort richtete er sich seine Werkstatt ein. Neben dem Verkauf von Brikett und Feuerholz verlegte er sich bald auf den Bau von Wochenendhäusern. Diese wurden in der Werkstatt gebaut, auf dem Hof auf- und anschließend wieder abgebaut, zum Standort transportiert und dort endgültig errichtet.

Wie gut die Geschäfte liefen! Er verdiente Geld und bekam 1935 von Opa Alwin die Erlaubnis zur Hochzeit, die im gleichen Jahr am 13. April gefeiert wurde.

Der Zweite Weltkrieg beendete jäh diese Entwicklung. Ein Jahr nach Kriegsbeginn wurde Vater zur Wehrmacht eingezogen, musste in den Krieg ziehen. Nach sieben langen Jahren kehrte er 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft endlich in die Heimat zurück.

Der Anfang nach dem Krieg war schwer. Zerstörte Städte, große Winterkälte und Hungersnöte verlangten den Menschen viel ab.

Opa Alwin und Oma Ida stammten vom Dorf und kannten sich mit Tierhaltung und Gartenbau aus. Sie fütterten eine Ziege, Hühner und Kaninchen. So war kein Mangel an Milch, Eiern oder Fleisch. Im Garten wuchs Gemüse und Kartoffeln wurden gepflanzt. Aus der Ziegenmilch stellte Opa Alwin Ziegenkäse her. Im Connewitzer Wald bekamen die Selbstversorger eine Fläche zugewiesen, von der sie sich mageres Gras als Futter holen konnten. Die Urgroßeltern in Mölbis konnten auch mit etwas Essbarem aushelfen.

Dadurch brauchten weder meine Eltern, noch meine Schwester Martina so großen Hunger leiden, wie die Leipziger Stadtbevölkerung.

Mein Vater brachte seine Tischlerei wieder zum Laufen. Er hatte zehn Gesellen und war besonders auf den Leipziger Messen wirtschaftlich erfolgreich. Mit dem Bau von Wochenendhäusern war es nach dem Krieg erst einmal vorbei, die Menschen hatten jetzt andere Probleme.

1953 legte er seine Meisterprüfung ab. Als Tischlermeister, obwohl er den Tischlerberuf – er war ja Stellmacher – nie erlernt hatte. Und somit sind wir wieder in meinem Geburtsjahr angelangt.


Konrad - 1. Foto 1953

Die ersten Lebensjahre verbrachte ich viel bei Oma und Opa. Meine Mutter erledigte in der Tischlerei die Büroarbeiten. Da meine Großeltern gegenüber der Werkstatt wohnten, gab mich Mutter früh dort ab und nahm mich nach Feierabend wieder mit nach Hause.


Familie Diebler um 1957

Für ein Jahr besuchte ich ab 1958 den Kindergarten in Dölitz. An zwei Sachen erinnere ich mich bis heute, an das Essen und Schlafen. Wir mussten immer aufessen und auch das fette Fleisch durfte nicht auf dem Teller bleiben. Nach dem Essen kam die Mittagsruhe, geschlafen habe ich nicht, das fette Fleisch hatte ich oft noch im Mund. Im Garten habe ich es dann in einem unbeobachteten Moment in ein Gebüsch gespuckt. So sind mir gerade die negativen Erinnerungen geblieben.

Auf dem Hof der Tischlerei hielt Opa Alwin noch Hühner und einen Hahn, diese Tiere waren aus der Nachkriegszeit übrig geblieben. Meinem Vater gefiel dies gar nicht. Die Hühner liefen über den Hof, kackten auf die Holzstapel und passten einfach nicht in eine Tischlerei. Das größte Problem war jedoch der Hahn. Er sprang Mitarbeitern oder Kunden, die auf den Hof kamen, in den Rücken. Auch ich ängstigte mich vor ihm. Eines Tages sprang der Hahn wieder einem Kunden in den Nacken. Meinen Vater packte die Wut, er ergriff den Gockel am Hals, ging in die Werkstatt und hackte ihm auf einer Hobelbank mit der Axt ruck zuck den Kopf ab.

Diese spontane Tat war der Anfang vom Ende der Hühnerhaltung. Meine Oma war alles andere als glücklich, aber es half nichts, ein Huhn nach dem anderen wurde geschlachtet und landete im Topf und auf den Tellern.

Das Jahr 1959 brachte für meinen Vater einschneidende Veränderungen. Über den Selbständigen schwebte die Gefahr der Enteignung durch den Staat. Dies beschäftigte ihn sehr, er trat die Flucht nach vorn an und schloss sich mit zwei weiteren Tischlermeistern zu einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks – einer PGH – zusammen, was das Ende seiner Selbständigkeit bedeutete. Er war nun PGH-Vorsitzender und Gehaltsempfänger, blieb aber, was ihm wichtig war, der Chef. Die anderen zwei Tischlereien brachten einen Haupt- und einen Lohnbuchhalter mit. So endete auch für meine Mutter die Arbeit im Büro. Ab 1959 war sie Hausfrau und Mutter eines Schulanfängers, mich.


Ida und Alwin um 1960


Konrad mit Mutter 1953


Hulda u. Konrad 1956


Robert u. Hulda um 1950

Kein Leben wie jedes andere

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