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Die erste virtuelle Welt
© Will Merydith, CC BY-SA 2.0, http://flic.kr/p/8qUcGQ
Einleitung ¦
Die erste virtuelle Welt
I got my twelve sided die and I’m ready to roll with a wizard and my goblin crew,
My friends are comin’ over to my mom’s basement bringin’ Funyuns and the Mountain Dew, I got a big broad sword made out of cardboard and that stereo’s a-pumpin’ Zeppelin,
It’s that time of the night we turn on the black light let the dungeons and the dragons begin, It’s D&D!
Fighting with the legends of yore.
It’s D&D!
Never kissed a lady before (nope).
Now ‚The Lord of the Rings‘ the ‚Dark Crystal‘ and things,
We use these as a reference tool.
And when we put on our cloaks and tell warlock jokes we’re the coolest kids in the school.
– Stephen Lynch, „D&D Song“
Frau S. machte sich Sorgen um ihren Sohn. 17-jährige haben immer Flausen im Kopf, doch Daniels neues Hobby erschien ihr äußerst beunruhigend – noch beunruhigender als die Gruftie- und Punk-Phase, die der Junge im Vorjahr durchlebt hatte. Damals war es um Musik gegangen, grässliches Gedudel, aber immerhin irgendwie nachvollziehbar. Doch was trieb das Kind nun bloß? Jedes Wochenende traf sich Daniel neuerdings mit anderen Teenagern in einem Gemeindehaus am Stadtrand. Erst spät in der Nacht kam er zurück. Stets nahm ihr Sohn die große Tennistasche mit, vollgestopft mit Getränken, Schokolade und Erdnussflips, die er aus der Vorratskammer räuberte. Vor allem aber packte er viele Bücher ein.
Dicke Folianten waren das, sie okkupierten seit einiger Zeit alle freien Flächen in Daniels Kinderzimmer. Worum es in diesen Büchern ging, ließ sich nicht so genau feststellen, denn sie waren in Englisch verfasst, und die Sprachkenntnisse von Frau S. waren etwas angestaubt. „Dragons“ stand auf dem Cover, Drachen, das konnte sie noch entziffern. Ansonsten war sie auf die Bilder angewiesen, und die waren schauerlich: Teufel oder Dämonen waren dort abgebildet, außerdem leicht bekleidete Mädchen, weswegen sie vermutete, dass die Bücher mit jenen Heavy-Metal-Platten zu tun hatten, von denen ihr eine andere Erziehungsberechtigte berichtet hatte. Ging es also um Okkultismus? Veranstaltete ihr Sohn in diesem Gemeindezentrum mit anderen Halbstarken irgendwelche Rituale? Und welche Rolle mochten die Erdnussflips dabei spielen?
Abgenutzte alte Würfel aus einem „Dungeons & Dragons“-Set: Klassische Rollenspiele waren die erste virtuelle Welt, ganz ohne Computer. ¦ © Marc Majcher, CC BY-SA 2.0
Cover eines Werbekatalogs des D&D-Verlags TSR aus dem Jahr 1979: Größtes Spielephänomen der siebziger und achtziger Jahre.
Cover des AD&D „Players Handbook“, Ausgabe von 1980: Die Auflage dieser Regelbücher ging in die Millionen.
„Es ist nur ein Spiel, Mama“, hatte Daniel vorhin auf Nachfragen entnervt erklärt. Dann hatte er sich die schwere Tasche auf den Rücken gewuchtet und war verschwunden. Frau S. ging ins Zimmer ihres Sohnes und schaute sich erneut einige der seltsamen Bücher an. Sie nahm eines in die Hand, einen großformatigen Band mit orangefarbenem Rücken, auf dem „Advanced Dungeons & Dragons“ stand. Auf dem Cover war ein rauschebärtiger Zauberer abgebildet, um den mehrere geflügelte Dämonen kreisten. Auf der Rückseite stand „Role Playing Game“. Frau S. ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes und schlug den Begriff im Langenscheidt nach. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo die vielbändige Brockhaus-Enzyklopädie stand und suchte dort unter „Rollenspiele“.
„Das Schwarze Auge“ oder „Dungeons & Dragons“ sind inzwischen Teil der Popkultur geworden.
Jetzt war sie erst recht beunruhigt.
Als ihr Sohn gegen ein Uhr nachts nach Hause kam, war Frau S. noch wach. Bevor er die Chance hatte, seine Tasche abzustellen, schoss seine Mutter auf ihn zu: „Wieso triffst du dich mit diesen Drogensüchtigen?“
Daniel, der zwar entschieden zu viele Chips gegessen und zu viel Cola getrunken hatte, aber ansonsten völlig nüchtern war, brachte nur ein entgeistertes „Was?“ hervor.
„Diese Rollenspiele. Ich habe es nachgeschaut. Das ist eine Therapieform, die von Psychologen verwendet wird. Bei Drogensucht.“
Was Daniel (Name geändert) in den achtziger Jahren widerfuhr, nur weil er mit ein paar Freunden Fantasy-Rollenspiele spielen wollte, dürfte heutzutage kaum noch jemandem passieren. „Das Schwarze Auge“ oder „Dungeons & Dragons“ sind inzwischen Teil der Popkultur geworden. Die meisten Menschen unter sechzig haben schon einmal etwas von Rollenspielen, Charakterklassen oder Erfahrungspunkten gehört.
Das war in den Siebzigern und Achtzigern völlig anders. Fantasyspiele, bei denen jeder Beteiligte die Rolle eines Zauberers oder Kriegers übernahm und dann gemeinsam mit anderen Abenteuer erlebte, waren damals etwas gänzlich Neues. Der Begriff „Spiel“ bezog sich Mitte der Siebziger ausschließlich auf Brett-, Würfel- oder Kartenspiele. Entsprechend reagierten die meisten Menschen, auf „Dungeons & Dragons“ spielende Teenager so, wie sie auf Neues meistens reagieren: mit Unverständnis und Angst.
Daniels Mutter beruhigte sich seinerzeit übrigens erst, nachdem sie mit der Mutter eines anderen Rollenspielers gesprochen hatte. Als sie begriff, dass ihr Sohn Orangensaft trinkend in einem Hobbykeller herumhockte, während andere Teenager kiffend die Hamburger Reeperbahn unsicher machten, gefielen ihr Rollenspiele plötzlich viel besser.
Innenseiten aus dem TSR-Katalog von 1979: Neben D&D und AD&D verlegte die Drachenschmiede zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche andere Produkte, etwa das Western-Rollenspiel „Boot Hill“, das Agenten-RPG „Top Secret“ oder das nach der nuklearen Apokalypse angesiedelte „Gamma World“.
Zinnfiguren-Diorama: Spiele, in denen historische Schlachten mit Miniaturen nachgestellt werden, sind mit den Rollenspielen verwandt. Zunächst stellte man reale Begebenheiten nach, später spielte man auch Fantasyschlachten ¦ © Will Merydith, CC BY-SA 2.0, http://flic.kr/p/9XeAQJ
Würfel und Zinnfiguren bei einer Rollenspielsitzung: Die häufig verwendeten Miniaturen stammen ursprünglich aus Wargames, die es bereits vor den Rollenspielen gab. ¦ © Will Merydith, CC BY-SA 2.0, http://flic.kr/p/8qYLgy
Fast vier Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von „Dungeons & Dragons“ durch die Amerikaner Gary Gygax und Dave Arneson ist es heute kaum noch vorstellbar, dass es Rollenspiele als Form des Eskapismus einmal nicht gab. Zwar ist die Zahl jener, die sich mit einem dicken Stapel Spielbücher, Bleistiften und Würfeln an den Küchentisch setzen, um Orks und Drachen zu erschlagen, inzwischen rückläufig – dafür ist die jener, die dies mithilfe des Computers tun, gigantisch. Sogenannte Massively Multiplayer Online Role Playing Games (MMORPG) wie „World of Warcraft“ oder „Eve Online“ haben weltweit über 15 Millionen Spieler. Allein in Deutschland dürfte die Zahl der Computerrollenspieler im Millionenbereich liegen.
Dank des Internets ist die Idee, sich online eine zweite Identität zuzulegen und virtuelle Welten zu durchstreifen, für Millionen von Menschen selbstverständlich geworden. Sie ergab sich teilweise aus den
Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Technologie. Vor allem aber stammt die Idee der virtuellen Welt aus jenen Rollenspielen, die in den Achtzigern und Neunzigern zu einer der populärsten Spieleformen wurden.
MMORPGs haben weltweit über 15 Millionen Spieler
Rollenspiele waren deshalb so erfolgreich, weil sie etwas vorwegnahmen, das ohne für alle verfügbares Internet nicht möglich war: Sie schufen eine gemeinsame virtuelle Erfahrung. Zu fünft oder sechst saß man zusammen, als Elf, Zwerg oder Waldläufer, und ließ sich von einem Spielleiter durch eine Geschichte führen. Zufallselemente wurden durch Würfel simuliert. Es war wie ein Onlinespiel, nur eben ohne Computer.
Verschiedene Ausgaben von D&D (im Uhrzeigersinn, von links oben): Die Fortgeschrittenenversion AD&D (1989), D&D-Spielerbuch (1983), D&D-Basisbuch (1981), D&D-Spielerbuch (2000).
Frühes D&D-Charakterblatt: Jede Spielfigur hat sechs Attribute. Hinzu kommen Charakterklasse, Lebenspunkte, Kampfwerte und Spezialfähigkeiten wie Infravision. ¦ Scan: PlaGMADA.org
D&D-Erstausgabe (1974): Das Urspiel bestand aus drei unscheinbaren braunen Heftchen wie diesem.
Die Grundideen des Rollenspiels – von Charakterklassen über Stufen (Levels) bis hin zu Belohnungssystemen (Erfahrungspunkte) – finden sich heute in fast allen Computerspielen und Onlinesimulationen. Das liegt daran, dass jene Nerds, die in den vergangenen Jahren mit dem Aufstieg von Computer und Internet gesellschaftlich und wirtschaftlich an Einfluss gewonnen haben, mit Rollenspielen aufgewachsen sind. „Dungeons & Dragons“ (D&D) war, neben dem Homecomputer von Commodore, das Nerdspielzeug par excellence – damit konnten unsportliche Jungs mit zu großen Brillengestellen den muskelbepackten Barbaren geben, durften endlich einmal selbst Helden sein.
Viele Rollenspieldesigner wandten sich später Computerspielen zu. Es ist wohl kein Zufall, dass das legendäre „Deus Ex“, ein Egoshooter mit Rollenspiel- und Stealthelementen, von Warren Spector entwickelt wurde, der jahrelang Pen&Paper-Rollenspiele für TSR geschaffen hat – oder dass viele Level im düsteren „Doom“ ausgerechnet von Sandy Petersen Level entworfen wurden, jenem Spieledesigner, der auch das Pen&Paper-Rollenspiel „Call of Cthulhu“ schrieb.
Ex-Rollenspieler sind überall. Jedes Mitglied der Generation C64 dürfte in seinem Bekanntenkreis zumindest einen haben, der früher „diese Fantasyspiele“ gespielt hat. Etliche bekannte Persönlichkeiten haben früher Rollenspiele gespielt oder spielen sie immer noch, darunter „Simpsons“-Erfinder Matt Groening, der Schriftsteller George R. R. Martin oder die Schauspieler Vin Diesel, Robin Williams und Mike Myers. Auch der Sänger Ozzie Osbourne, der Comedystar Steven Colbert und die Pornodarstellerin Sasha Grey sind erklärte D&D-Fans.
Miniatur eines Beholders: Dieses fliegende, magiebegabte Monster ist ebenfalls eine D&D-Erfindung.
Aber wo kamen Rollenspiele überhaupt her? In diesem Buch geht es nicht nur um die Erfolgsgeschichten von „Dungeons & Dragons“ oder „Das Schwarze Auge“ (DSA) und ihren Einfluss auf die Populärkultur, sondern auch um die Wurzeln des Phänomens.
Sie liegen zum einen in Militär- und Strategiespielen, die sich bis ins alte Preußen zurückverfolgen lassen, und zum anderen in den einzigen virtuellen Welten, die es vor der Erfindung von Rollenspielen und Internet gab: in Büchern. Fantasygeschichten wie der „Herr der Ringe“ waren stets auch Entwürfe ganzer Welten, mit Karten, Göttern, Reichen und Völkern. In ihnen siedelten fantasiebegabte Männer wie der Schuster Gary Gygax ihre ersten Abenteuer an. Sie wollten wie Gandalf oder Conan sein, wie Elric oder Buck Rogers. Und deshalb erfanden sie Spielmechanismen, die es Millionen erlaubten, die Abenteuer dieser Figuren selbst zu träumen und zu erleben. Sie waren die Drachenväter und sind die wahren Helden dieses Buchs.