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Kapitel 2
Оглавление26. Dezember 1980 Bentwaters-Woodbrigde, England.
Ein Jeep raste in den frühen Morgenstunden des 26.12.1980 über eine unbefestigte Straße. Drei Militärangehörige befanden sich in dem Jeep. Auf den Vordersitzen die beiden Airmen Petrakes und Johnson, auf der Rückbank saß ein Funker namens Price. Petrakes fuhr. Wie ein Verrückter heizte er mit dem Jeep über den Feldweg auf ein Waldstück zu. Zuvor hatten sie von ihrem Stützpunkt aus ein Flugobjekt am Himmel wahrgenommen, das im Zickzackkurs über den Rendlesham Forest flog und anschließend zwischen den Bäumen verschwand. Sie gingen von einem Flugzeugabsturz aus. Jetzt sahen sie aus dem Wald ein helles Leuchten.
»Der Funkkontakt zur Basis wird schwächer«, rief Price. »Hallo Stützpunkt ... Hallo Stützpunkt.« Price drehte sich zu Johnson. »Der Empfang ist fast weg«, sagte er.
Petrakes verringerte die Geschwindigkeit. Price drehte an der Sendereinstellung am Funkgerät herum.
»Zum Teufel«, fluchte er, »je weiter wir uns von der Basis entfernen, desto schlechter wird der Empfang. Wenn das so weitergeht reißt er ganz ab.«
Mit einem Ruck brachte Petrakes den Wagen zum Stehen.
»Wir gehen zu Fuß weiter!«, befahl Petrakes. »Bleiben Sie hier und halten Sie den Kontakt aufrecht!«
Petrakes und Johnson liefen im Laufschritt in den Wald. Als sie sich der Stelle näherten, wo sie das Leuchten gesehen hatten, sahen sie zwischen Bäumen ein metallisches Objekt in Form eines Dreiecks. Petrakes und Johnson hielten die Luft an und gingen auf Zehenspitzen weiter. Und dann sahen sie sie ...
28. Dezember 1980 Bentwaters-Woodbrigde, England.
Lieutenant General John Penniston war sauer. Er war am Vortag von Area 51 in Nevada aufgebrochen und hatte in einer lauten und unbequemen Militärmaschine den Atlantik überquert, um dieser lächerlichen Meldung dreier, wahrscheinlich unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stehender, Airmen nachzugehen, die behaupteten, sie hätten ein UFO sowie mehrere extraterrestrische Lebensformen in der Nähe ihres Stützpunkts gesehen.
Solche Meldungen gab es immer wieder und normalerweise zählte es nicht zu Pennistons Aufgaben ihnen nachzuspüren. Doch diesmal hatten es seine Vorgesetzten offenbar für angebracht gehalten, einen Fachmann hinzuzuziehen.
Häufig handelte es sich bei derartigen Meldungen, um Aussagen von Zivilisten, die Lichterscheinungen am Himmel falsch interpretiert hatten. In der Regel waren es Positionslichter von Luftfahrzeugen, die sie fehlgedeutet hatten; oder es hatte sich um das normale Flackern von Sternen gehandelt – eine optische Täuschung, die auf ein Zusammenspiel mit dünnen Wolken zurückzuführen war. Aufgefundene Gegenstände entpuppten sich meist als verlorengegangene Teile von Flugzeugen. Besonders oft wurden auch Überreste von Drachen oder Wetterballons entdeckt, manchmal auch Teile von Satelliten. Und in noch selteneren Fällen handelte es sich um Meteoriten, die beim Eintritt in die Erdatmosphäre für eine Leuchterscheinung gesorgt hatten.
Dass aber gleich drei Militärangehörige, unter ihnen ein Sicherheitsoffizier, die Meldung absetzten, sie hätten kleine humanoide Wesen in Nähe eines seltsamen dreieckigen Flugobjekts beobachtet, die miteinander kommunizierten, war erstmalig.
Lieutenant General John Penniston hatte 1971 einen Bachelor in Molekularer Biologie an der University of California, Los Angeles erworben. 1976 folgte der Ph.D. in Biochemie. Anschließend wurde ihm eine Stelle als Post-Doktorand am Massachusetts Institute of Technologie angeboten, dort war er zunächst als Assistent Professor tätig, dann als Associate Professor. Doch dann erhielt seine Karriere, zum Unverständnis seiner Kollegen, einen Knick. Er gab seine Stelle auf und ging nach Atlanta, Georgia, um sich um eine kranke Tante zu kümmern. In Wirklichkeit jedoch hatte ihn die Central Intelligence Agency abgeworben. Penniston wechselte ins DS&T – Directorate of Science & Technology – eine Unterabteilung des CIA, wo er die Karriereleiter zügig nach oben gelangte. Inzwischen gehörte er weltweit zu den zehn führenden Kapazitäten was extraterrestrische Lebensformen betraf und die Hälfte dieser Experten arbeitete auf seinem Stützpunkt. Dort war er inzwischen zum Leiter einer Forschungsabteilung aufgestiegen, mit einem Dutzend untergebener Wissenschaftlern, und zwei weiteren Dutzend Militärangehörigen, die ebenso unter seinem Befehl standen.
Jetzt stolperte er, in einen weißen Schutzanzug gekleidet, mit den beiden Airmen Petrakes und Johnson, die ebenfalls einen Schutzanzug trugen, durch ein Waldstück im Rendlesham-Forest, auf der Suche nach auswertbaren Materialien von was-auch-immer. In der rechten Hand trug er einen schweren Aluminiumkoffer, in dem sich allerlei Werkzeuge und Utensilien befanden, falls sie einen Fund tätigten und Proben zu entnehmen waren. Mit seiner freien Hand schob er Zweige und Äste zur Seite, die im Weg waren. Die Temperatur betrug 2 Grad, es war ein nasskalter Tag mit immer wieder kleinen Nieselschauern. Über den Bäumen hing leichter Nebel und der Himmel war grau verhangen.
Penniston fühlte sich miserabel, der lange Flug hatte ihn ausgelaugt. Er war übermüdet und es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. Dazu fror er bis auf die Knochen, in Nevada war es um mindestens zehn Grad wärmer gewesen. Ein widerspenstiger Ast, den er mit der Hand seitwärts gedrückt hielt, entglitt seinen Fingern und peitschte ihm ins Gesicht. Penniston stieß einen Fluch aus. Er fasste sich an die Stelle, wo ihn der Ast getroffen hatte und stellte eine Schramme fest. Unbeirrt stapfte Penniston weiter zwischen den Bäumen hindurch. Auch wenn er sich das ganze Gesicht zerkratzte, wollte er sich nicht aufhalten lassen. Je schneller er die Sache hinter sich bringen konnte, umso eher würde er in den Staaten zurück sein, wo er an einer wichtigen Forschung weiterarbeiten konnte. Inzwischen hatten sich er, Petrakes und Johnson aufgeteilt. Auf diese Weise konnten sie den Wald schneller und großflächiger absuchen. Petrakes und Johnson bahnten sich linker Hand von ihm einen Weg durch das Gehölz. Die Bäume standen dicht aneinander und es ließen sich nur noch ihre entfernten Schritte vernehmen, die durch das Laub pflügten.
Wenige Meter von sich entfernt sah Penniston, zwischen ein paar Bäumen hindurch, ein metallisches Glitzern. Genauso wie er es sich vorgestellt hatte, fand er die Überreste eines Wetterballons. Dreieckig und etwa 2 mal 2,5 Meter groß. Es gehörte schon viel Phantasie dazu, darin ein UFO zu sehen. Penniston hielt nach weiteren Teilstücken Ausschau. Weiter vorne war eine Lichtung, er hielt darauf zu. Als er aus dem Wald ins Freie trat, sah er, umgeben von einer grasbewachsenen Insel, eine einfache Blockhütte auf einer Lichtung stehen. Penniston stapfte durch das taunasse Gras auf die Hütte zu. Als er die Waldwiese zur Hälfte überquert hatte, waren ihm Schuhe und Hose bis zu den Waden rauf nass geworden.
Die Hütte wirkte baufällig und verlassen. Das Fenster neben dem Eingang war mit Holzplatten vernagelt. Penniston wollte prüfen, ob es weitere Möglichkeiten gab, von wo aus er einen Blick ins Innere werfen konnte. Er umrundete die Hütte, auf der Suche nach einem Fenster. Aber die Rückseite, wie auch beide Flanken, waren vollkommen tür- und fensterlos.
Wieder vorne angelangt, entschloss er sich nachzusehen, ob nicht abgeschlossen war. Entgegen seiner Erwartung ließ sich die Klinke, begleitet von einem Knarzen, herunterdrücken. Penniston schob die Tür auf, die widerspenstig nachgab, und ging ein paar Schritte hinein. Er wischte sich Spinnweben aus dem Gesicht, die von der Decke gehangen hatten und an ihm kleben geblieben waren.
Das Innere war spärlich mit wenigen Möbeln eingerichtet. Nah des Eingangs befand sich links ein einfacher rechteckiger Tisch, davor, an der Längsseite standen zwei Stühle, einen Meter entfernt eine alte Küchenvitrine. Ansonsten war die Hütte leer, bis auf eine dicke Staubschicht, die alles bedeckte. Penniston wollte schon kehrt machen, da bemerkte er eine schwache Bewegung in der gegenüberliegenden Ecke. Penniston ging darauf zu, was er zu sehen bekam, ließ ihn schlagartig hellwach werden. Ein kleines Männchen, etwa 8 cm groß. Als Penniston seine Hand danach ausstreckte, war es vor Schreck ganz starr.
Mitte August 2013, Irvine, Orange County (Kalifornien)
32 Jahre später
Der San Bernadino Forest mit seinen bewaldeten Hügeln, in orange- und feuerrotes Licht der Abendsonne getaucht, erhob sich hinter den Dächern von Irvine wie auf einer kitschigen Postkarte.
Obwohl die Temperatur seit der Mittagszeit nachgelassen hatte, war es noch immer so heiß, dass sich die Bewohner seit Tagesanbruch in ihren klimatisierten Wohnungen verbarrikadiert hielten. Diejenigen, die ihre Einkäufe aufgeschoben hatten, würden erst rauskommen, wenn die Nacht hereingebrochen war.
Über dem alten Wohnhaus in der Main Street lag eine träge Stille, weitab dem Großstadtgetriebe, der nur knapp zweiundvierzig Meilen entfernten Millionenmetropole, Los Angeles.
Mrs. Brownington kehrte aus ihrem Garten zurück, den sie ein paar Meter abseits von ihrer Wohnung gemietet hatte, und wo sie Gemüse und Salate anbaute. Trotz der anhaltenden Hitze war sie noch raus, die Pflanzen gießen, bevor sie eingingen. Mrs. Brownington war Ende siebzig und nicht mehr gut zu Fuß. Sie schob einen Rollator vor sich her. Linkseitig des Rollators war mithilfe eines Klettverschlusses eine Krücke befestigt, davor ein Korb, in dem Gartenwerkzeug und frisch geerntetes Gemüse lag. Mrs. Brownington lenkte den Rollator durch den Hauseingang und ließ ihn dann vor dem Treppenaufgang stehen. Sie öffnete den Klettverschluss und nahm die Krücke vom Gefährt.
Mit der freien Hand griff sie sich den Korb und mühte sich dann Stufe für die Stufe die Treppe zu ihrer Wohnung in den ersten Stock hoch.
*
Indessen wurde das geschäftige Treiben, das in der Wohnung herrschte, von Warnrufen durchbrochen.
»Mrs. Brownington kommt! Mrs. Brownington kommt!«, rief ein kleines Männchen, das kaum größer war als ein Daumen, während es vom Flur in Richtung Küche rannte. Es rannte eine etwa fünfzig Zentimeter breite Schneise entlang, hindurch zwischen meterhohen Stapeln kleinerer und größerer Kartons und aufgeschichteter Kleidung – vorbei an Bergen mit alten Zeitschriften und Werbeprospekten aus vergangenen Tagen – es wich geschickt einem Kleiderbügel aus, der auf den Boden gefallen war, und sprang mit gedehnten Schritten über im Weg befindliche Teppichfalten, blieb aber dann, noch vor der Türe zum Wohnzimmer, mit dem Fuß am Telefonkabel hängen. Der Wicht geriet ins Trudeln, flog in hohem Bogen hin und schlitterte zwanzig Zentimeter auf dem Bauch, bis er liegen blieb. Sofort sprang er wieder auf die Beine und lief noch schneller weiter.
»Mrs. Brownington kommt!«, keuchte er.
Mrs. Brownington war ein Messie und unterhielt in ihrer Wohnung chronische Unordnung. Links und rechts des Korridors befanden sich unterschiedlich hohe Berge aufgetürmter Wäsche, neben Stapeln an aufgeschichteten Zeitschriften und Kartons. Über diesen Stapeln befanden sich an Regalen, Hängeschränken und Türpfosten, aus der Mode gekommene Kleidungsstücke: Jacken, Mäntel, Nachthemden und Blusen, die an Bügeln hingen und ihre beste Zeit längst hinter sich hatten, aber jetzt als nutzlose Staubfänger den Platz wegnahmen. Die Wohnung war düster und das meiste Licht drang spärlich durch das von altertümlichen Vorhängen zu zwei Dritteln verhängte Fenster im Wohnzimmer. Der Geruch von verbranntem Fett und angebrannten Essen hing in der Luft. Und in der Küche ragte, durch einen Rauchschleier hindurch, der bedrohliche Umriss eines schweren eisernen Topfes, der auf dem Herd stand und dessen Inhalt, grüne Bohnen, munter vor sich hin dampften.
Jetzt kam der kleine Wicht, der mit Namen Sirius hieß, in die Küche gerannt. Er war ganz außer Atem.
»Mrs. Brownington kommt!«, rief er panisch. »Sie hat schon den Schlüssel ins Schloss gesteckt!«
Aufregung machte sich breit. Ein paar ebenso kleine Wichte wuselten neben dem Herd über die Arbeitsplatte. Sie verschwanden in einem kleinen Spalt hinter einem Berg mit Lebensmitteln – bestehend aus Backmischungen, Fertigsuppen, Gewürzen und diversen Kekspackungen. Zuletzt sah man einen dicklichen Wicht, der sich eine der dampfenden Bohne geschultert hatte und unter dessen Last er schnaubend wie eine Lokomotive über die Arbeitsplatte hastete. Sekundenbruchteile darauf war auch er im Spalt verschwunden. Dann war der Spuk zu Ende.
Etwa eine halbe Minute später kam Mrs. Brownington in die Küche.
»Oh je«, stöhnte sie entsetzt, als sie den Qualm sah, »ich hab wohl mal wieder vergessen den Herd auszumachen«,
Mrs. Brownington drehte den Schalter, bis die Markierung mit der Null nach oben zeigte, und schob den Topf von der Herdplatte. Danach ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich in ihren Fernsehsessel sinken. Sie hatte zwei anstrengende Stunden im Garten verbracht und fühlte sich jetzt mehr als entkräftet. Ein paar Minuten später war sie vor Erschöpfung, mit einem Werbeprospekt in der Hand, eingenickt.
Einige Meter entfernt befand sich in der Wand ein alter Kabelschacht, folgte man ihm hindurch gelangte man in den hinteren Bereich der Wohnung. Dieser Schacht maß nur wenige Zentimeter, und war gerade hoch und breit genug, dass die Wichte durchpassten. Wollte Mrs. Brownington in diesen Teil der Wohnung, führte gegenüber dem Schlafzimmer ein schmaler Gang zu dem abgelegenen Raum, der bis obenhin vollgestellt war. Nur an der vorderen Seite befand sich ein freigebliebener Bereich, der zu einem Fenster führte, das sich aber nur noch kippen ließ, da der Griff nicht mehr vollständig herumzudrehen war.
Linker Hand des Durchgangs befand sich noch der Gefrierschrank, in dem Mrs. Brownington dann und wann Essen einfror. Doch auch diesen benutzte sie selten. Eigentlich nur in den Wintermonaten, wenn es kein frisches Gemüse aus dem Garten gab.
Der hintere Teil des Raumes, etwa fünf mal fünf Meter, also vom Gefrierschrank bis zur Wand, war von verschiedensten Mobiliar, Kisten, Kartons und Krimkrams zugestellt. Und genau dort, in der hintersten Ecke, in jenem Abschnitt den Mrs. Brownington schon Jahrzehnte nicht mehr betreten hatte, weil ein Durchkommen schlicht unmöglich war, hatten sich die Wichte ihr Zuhause eingerichtet.
Aus übereinander gestapelten Kartons, einigen anderen Behältnissen wie Keks- und Lunchdosen, sowie zwei großen Puppenhäusern – welche noch von Mrs. Browningthons Töchtern stammten, die längst aus dem Haus waren –, hatten sie sich ein Domizil erschaffen, das sich über mehrere Etagen erstreckte. Im zweiten Geschoss, zwischen den Puppenhäusern, befand sich ein Bereich, der als Gemeinschaftsraum genutzt wurde. Hier standen zwei zerschlissene knuddelige Sofas, einige Sessel, ein paar Stühle, wie auch andere Sitzgelegenheiten, mit wackeligen Tischen davor. In einer der Ecken stand ein gebrechlicher Schaukelstuhl. Ein paar der Wichte lümmelten in den Sesseln und Sofas, und einer hatte es sich in dem Schaukelstuhl bequem gemacht.
Es waren etwa zwanzig der seltsamen Geschöpfe.
»Wir müssen besser aufpassen«, sagte Sirius. Er war der kleine Wicht, der zuvor die anderen vor der nahenden Mrs. Brownington gewarnt hatte.
Sirius sah zornig drein. Immer wenn Mrs. Brownington vom Garten erwartet wurde, fiel einigen plötzlich ein, dass sie Hunger hatten, und noch in die Küche mussten. Dem nicht genug, wurde meist der Herd angestellt, um Essen aufzuwärmen.
So war es nicht das erste Mal passiert, dass sie von Mrs. Brownington überrascht wurden, und sie gezwungen waren, alles liegen und stehen zu lassen. Ohne vorher Gelegenheit zu haben, die Spuren zu beseitigen.
Bisher hatte es Mrs. Brownington immer auf ihre Vergesslichkeit geschoben, wenn sie eine der Herdplatten angeschaltet vorgefunden hatte, doch was, wenn sie eines Tages Verdacht schöpfte?
»Auch wenn Mrs. Brownington schon etwas altersschwach ist und nicht so schnell zu Fuß, heißt das nicht, dass sie uns eines Tages nicht entdecken könnte«, schimpfte Sirius.
»Ach, lass mal«, sagte der Wicht, der im Schaukelstuhl saß. Es handelte sich um den Dicken – derjenige, der sich zuvor mit der Bohne abgeplagt hatte. Er hörte auf den Namen Harley.
Harley stopfte sich demonstrativ ein großes Stück Bohne in den Mund, kaute genießerisch darauf herum, und nachdem er heruntergeschluckt hatte, rülpste er laut.
»Wenn wir gelegentlich mal kochen, ist das nicht minder so gefährlich, wie deine stümperhaften Versuche Erfindungen zu machen. Das letzte Mal hast du die ganze Kolonie unter Wasser gesetzt – schon vergessen?«
»Das war nicht meine Schuld«, wies Sirius die Anschuldigung zurück, »der Schlauch ist von der Kupplung abgegangen. Es war ein Materialfehler!«
»So so – Materialfehler – nennt man das also«, lachte Harley gehässig.
* * *
Es war im letzten Winter. Nachdem die Anzeige des Thermometers tagelang unter zehn Grad zeigte, war Sirius auf die Idee gekommen, in der Kolonie eine Zentralheizung zu installieren. Nach einigem Stöbern fand er in Mrs. Browningtons Sammelsurium einen alten Aquarium-Schlauch und schloss diesen an der Entlüftungsschraube des Heizkörpers an. Doch als das heiße Wasser durchlief, dehnte sich der Schlauch und löste sich von einem Verbindungstück. In kürzester Zeit war der Gemeinschaftsraum überflutet und alle standen bis zu den Knien im Wasser und waren stundenlang damit beschäftigt, das schwarze und übelriechende Heizungswasser herauszubekommen.
* * *
Harley nahm demonstrativ einen weiteren Bissen von der Bohne, er wusste, dass es Sirius fuchsteufelswild machte, wenn er ihn mit Nichtbeachtung strafte.
»Seit sie einen Garten hat, schmeckt es viel besser«, gab er mit aufgesetzter Zufriedenheit von sich.
»Du hasst doch nur dein Essen im Kopf!«, schimpfte Sirius.
Essen war Harleys wunder Punkt und ein Thema, auf das er äußerst empfindlich reagierte, wenn es ihm jemand vorhielt. In sekundenschnelle geriet er in Zorn.
»Na und – mir schmeckt’s halt!«, knurrte er. »AUSSERDEM GEHT’S DICH GAR NICHTS AN, WENN WIR UNS WAS ZU ESSEN MACHEN!«
Die letzten Worte hatte Harley nur so heraus geschrien.
»DAS IST MIR AUCH EGAL. IHR SOLLT NUR AUFPASSEN, DASS EUCH MRS. BROWNINGTON NICHT SIEHT«, plärrte Sirius zurück.
»DIE IST DOCH SOWIESO BLIND«, brüllte Harley.
»Nein, Sirius hat in diesem Punkt recht«, ertönte nun eine Stimme, die sich gesetzter anhörte als die der anderen. Rukbath, ein Männlein mit dicken Wanst, ergrautem Haar und noch grauerem Bart, hatte die Auseinandersetzung mit angehört und war zwischen die Streithähne getreten. Er hatte einen sehr ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»Wir dürfen die Gefahr entdeckt zu werden, nie außer Acht lassen«, mahnte er.
Rukbath gehörte zur älteren Generation der Kolonie. In früherer Zeit hatte er sich einen Ruf als Draufgänger und Abenteurer eingehandelt. Inzwischen galt er als gesetzt, und genoss allseits großes Ansehen. Er war gebildet und ein hervorragender Erzähler, der hunderterlei Anekdoten und Legenden zum Besten geben konnte. Seine Schilderungen waren stets so spannend, dass fast nie Langeweile aufkam, und wenn doch, konnte man davon ausgehen, dass die Pointe noch folgte. Jung und Alt drängte sich um ihn, sobald er sich irgendwo niederließ und zu erzählen begann. Jetzt, auf die alten Tage, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sich ein wenig um die Jüngeren zu kümmern, ihnen etwas Bildung beizubringen, wie er hoffte, die er geschickt in seine Erzählungen mit einflocht.
»Ich meinte ja nur«, schob Harley kleinlaut geworden hinterher, nachdem ihn Rukbath mit einem ernsten Blick bedachte.
»Wir könnten uns später noch treffen«, seufzte Rukbath, »vielleicht gelingt es mir, euch die Gefahr, in der wir uns befinden, etwas deutlicher zu machen?«
»Oh ja«, war die allgemeine Zustimmung zu hören.
»Gut, dann sehen wir uns in etwa einer Stunde hier«, sagte Rukbath und entfernte sich, blieb aber nach einigen Schritten noch einmal stehen und sah sich um, ob die beiden mit dem Streit aufgehört hatten. Doch Sirius und Harley waren auseinander gegangen.
Während man zuvor eine Nadel hätte fallen hören, war nun, nachdem Rukbath sich entfernt hatte, allgemeines Aufatmen zu vernehmen. Sie alle hatten großen Respekt vor Rukbath und niemand verspürte Lust, es sich mit ihm zu verscherzen.
Nun meldete sich ein neuer zu Wort. Es war Olli. Olli wirkte ebenfalls etwas beleibt, war aber noch weit davon entfernt, als dick zu gelten.
»Ich weiß gar nicht was die Aufregung soll«, sagte er bestgelaunt. »Solange man positiv denkt, kann gar nichts schiefgehen, man muss nur dran glauben. Und bislang gab es nie Grund für Beschwerden – es gibt immer genug zu Essen, wir haben ein Dach über den Kopf und alles was wir benötigten!«
»Dieser Optimist schon wieder«, kam es von einigen wie aus einem Munde.
»Ich glaub, er hat noch nie etwas anderes gesagt.«
Sirius schüttelte den Kopf, wie konnte man nur so naives Zeug daher schwatzen.
Er fand es an der Zeit, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
Wenig später kam Rukbath zurück. Er nahm sich in der Mitte des Raumes einen Sessel und wartete, bis sich alle um ihn gesammelt hatten. Das Groh der Jüngeren ließ sich zu seinen Füßen auf Decken und Kissen nieder; die Älteren, die sich schwer damit taten, knapp über dem Boden zu sitzen, schoben Hocker und Stühle heran und fanden dort Platz. Und auch Harley zerrte den Schaukelstuhl in Rukbaths Nähe, damit ihm nichts entging.
Dieser ließ den Blick umherschweifen und lächelte zufrieden, als er sah, dass alle ihm zugewandt warteten, was er nun für eine Geschichte zum Besten geben würde.
»Wie ihr wisst«, begann Rukbath, »lebten unsere Vorfahren in Norwegen. Ihre Heimat waren die Wälder und Hänge an den Ausläufern des Vestfjord-Tals. Sie lebten ein hartes und entbehrungsreiches Leben, das vorwiegend von der Natur bestimmt war. Sie kämpften mit lang anhaltenden und strengen Wintern, wo Temperaturen zwischen zwanzig und dreißig Grad unter Null nicht selten waren, und in manchen Nächten die Temperatur sogar bis auf minus fünfzig Grad sank. Eine Kälte, in der selbst der Atem als knisternder Reif zu Boden fiel, die Augenbrauen zu Eiskristallen froren und die Haare zu einer zottligen eisigen Kruste wurden. Die Sommer des Vestfjord-Tals waren dagegen kurz. Und im Herbst, wie auch im Frühling, gab es Regenzeiten, wo es Wochen und Monate hindurch regnete, bis sie ihre Kleidung nicht mehr trocken bekamen. Aber auch sonst barg das Leben in freier Wildbahn alle möglichen Gefahren, sie mussten sich vor wilden Tieren und auch dem Menschen in Acht nehmen.
Letzteren, bekamen sie fast nie zu Gesicht.
Es war an einem Herbsttag, gegen 1690, als ein Knecht, beim Holzsammeln im Wald, auf einen der Unsrigen stieß. Beide erschraken fürchterlich und liefen aufgeschreckt auseinander. Der Knecht rannte ins Dorf, wo er am Marktplatz Stein und Bein schwor, im Wald einen Zwerg gesehen zu haben. Eirik, so hieß derjenige, der dem Knecht begegnet war, lief zu seiner Sippe, wo er berichtete, einem Menschen Auge in Auge gegenüber gestanden zu haben. Der damalige Anführer unserer Kolonie, ein gewisser Thordis, hatte Sorge, dass weitere Menschen kommen und nach ihnen suchen könnten. Er war ein sehr weiser und umsichtiger Anführer, den das vermehrte Auftauchen von Menschen im Wald, schon längere Zeit beunruhigt hatte. Um die Gefahr besser einschätzen zu können, hatte er ein paar seiner Leute gebeten, die Sprache der Menschen zu erlernen. Wie ihr alle wisst, zeigt sich unsereins, im Vergleich zum Menschen, erfreulich gelehrig. So entsandte Thordis Sprachkundige ins Dorf, die in Erfahrung bringen sollten, ob nun Gefahr drohte.
Als sie nach einer Woche zurückkehrten, erzählten sie, in dem Moment, als sie im Dorf eintrafen, habe der Pfarrer mit einer Peitsche eine Teufelsaustreibung an dem Knecht vorgenommen, die erst Stunden später ein Ende fand, als der Knecht ohnmächtig zusammenbrach. Am nächsten Morgen zeigte sich der inzwischen arg geschundene Knecht etwas einsichtiger. Er warf sich vor den Dorfbewohnern auf die Knie und flehte sie an, sie mögen mit ihm kommen, zu der Stelle, an welcher er den Zwerg gesehen hatte. Darauf legte man ihn in Ketten und brachte ihn in die nächste Stadt, wo er in einen Kerker geworfen wurde. Als der Morgen graute, widerrief er seine Aussage, doch es half nichts, unter Folter gestand er erneut. Am Mittag des folgenden Tages verbrannten sie den Knecht auf dem Scheiterhaufen.«
Während Rukbaths Erzählung waren noch ein paar der Ältesten gekommen und hatten sich still dazugesetzt. Obwohl einige die Geschichte schon kannten, schauerte auch ihnen.
»Warum sind die Menschen so gewalttätig untereinander?«, fragte einer der Jüngeren.
»Das war noch gar nichts«, erwiderte Rukbath und machte eine abwertende Bewegung.
»Keinen Deut besser erging es der Bäuerin Jolande Nilsdotter, die beim Pilzsammeln auf einen von uns getroffen war. Sie hätte es besser für sich behalten, erzählte es aber ihrem Ehemann. Der glaubte, sie sei vom Teufel besessen und schleifte sie zum Pfarrer. Der Pfarrer konnte es ihr auch nicht ausreden und sie landete vor Gericht. Der Richter ließ sie in den Kerker werfen. Wo der Folterknecht, um ihr ein Geständnis zu entlocken, seine Arbeit an ihr verrichtete. Er riss ihr die Brüste heraus und traktierte sie anschließend auf der Streckbank, bis ihr die Gelenke aus den Pfannen sprangen. Sie unterschrieb ein zehnseitiges Eingeständnis, worin unter anderem zu lesen war, dass sie es mit dem Teufel getrieben hatte. Als sie am nächsten Tag auf den Scheiterhaufen gebracht werden sollte, war sie bereits tot. Das Volk geriet darüber so in Wut, dem Schauspiel beraubt worden zu sein, dass sie statt ihrer den Folterknecht auf den Scheiterhaufen führten und ihn unter dem Jubel der Allgemeinheit verbrannten.«
Rukbath hatte aufgehört zu erzählen und sah in die Runde.
»Oh Gott«, stöhnte Luna, »was für Bestien sie sind.«
»Das war im Mittelalter«, sagte Olli, »heutzutage gehen die Menschen gesitteter miteinander um.«
»Das stimmt so nicht ganz«, wiedersprach Rukbath und richtete sich auf.
»Zu allen Zeiten, jetzt und in ferner Zukunft, gibt es immer wieder Orte an denen ähnliche Gräueltaten, wie die eben erwähnten, und noch Schlimmeres passiert.
Menschen sind sehr streitbare Wesen, die in unterschiedlich großen Staaten organisiert leben. Häufig gehen einzelne Staaten Bündnisse miteinander ein, um gegen andere Staaten Krieg zu führen. Und in diesen Kriegen morden sie sich dann zu Zehntausenden, zu Hunderttausenden und zu Millionen. Auch führen sie immer wieder Säuberungsaktionen innerhalb ihrer Gemeinschaften durch, wobei schon ganze Volksstämme ausgerottet wurden. Der nächstliegende Vergleich ins Tierreich wäre der zu Ameisenvölkern: Auch diese Gattung lebt in Staaten geordnet, zeitweilig gründen sie sogar Superkolonien von mehreren Milliarden Individuen, verhalten sich aber gegen Artgenossen anderer Staaten kriegerisch. Auch gibt es unter ihnen Jäger, Sammler und Züchter – sogar Sklaverei ist unter einigen Arten bekannt. Doch im Gegensatz zu den Ameisen fehlt den Menschen eine kollektive Intelligenz. Stattdessen denken sie ichbezogen und unterliegen allenthalben ihrer Gier – ein Wesenszug, der im Tierreich fremd ist.
Befasst man sich mit der Geschichte der Menschheit, lässt sich zwar feststellen, dass es immer wieder Zeitspannen und Orte gab, wo sie in Frieden miteinander auskamen. Doch die Friedensphase hält meist nicht länger als wenige Generationen, dann führen sie erneut gegeneinander Krieg.«
Rukbath wartete einige Momente, ehe er weitersprach. Inzwischen hatte sein Gesichtsausdruck an Ernsthaftigkeit zugelegt.
»Das ist es, was ich euch sagen wollte. Der Mensch ist unberechenbar und über alle Maßen gefährlich. Die Gefahr die von ihm ausgeht hat sich inzwischen noch gesteigert. Im Mittelalter glaubten die Menschen noch an Hexen und Zauberer. Jemand der angab einen Zwerg gesehen zu haben, lief Gefahr auf dem Scheiterhaufen zu enden. Heute würde mit großer Sicherheit die Wissenschaft herangezogen werden.
Wir leben in ständiger Gefahr von den Menschen entdeckt zu werden. Wie ihr alle wisst, ist der Homo-sapiens-Maximus, wie wir ihn getauft haben, das gefährlichste Wesen, das es auf diesem Planeten gibt. Zahlreiche Wesen wurden bereits von ihm ausgerottet. Etliche sind derzeit von Ausrottung bedroht. Wieder andere werden um den immensen Fleischkonsum des Homo-sapiens-Maximus abzudecken in Mastanstalten herangezüchtet und anschließend getötet.
Es sind jährlich etwa 60 Milliarden Tiere, also in etwa 1.643.000 Lebewesen täglich, welche ein derartiges Schicksal erleiden.
Ein weiterer Teil der Lebewesen wird in den Laboratorien der Pharma- und Kosmetikunternehmen von den Homo-sapiens-Maximus in der niederträchtigsten Art und Weise in Gefangenschaft gehalten und bei Tierversuchen aufs abscheulichste misshandelt. Und falls sie die Versuche überleben, töten sie die Menschen, wenn sie nicht mehr benötigt werden.
Rukbath machte eine Pause und blickte sich um. Er hielt es für angebracht, immer wieder vor Augen zu führen, wie gefährlich die Gattung Homo-sapiens-Maximus war.
Und seine Beschreibungen zeigten Wirkung: Die Jüngeren sahen ihm mit erschrockenen Mienen entgegen, die Älteren nickten zustimmend mit dem Kopf. Sirius saß da, den Mund aufgeklappt und mit weit aufgerissen Augen. Finley, der neben ihm saß, war mit seinem Stuhl nach hinten gewichen und hielt seinen verängstigten Blick zu Rukbath gerichtet. Und auch alle anderen hatten bedrückte Gesichter.
Nur Ollis wirkte nicht ganz so verstört, und man merkte, dass er was sagen wollte.
»Aber Mrs. Brownington ist doch ganz nett«, stammelte er.
Rukbath räusperte sich und zog dann die Mundwinkel Missfallen ausdrückend nach unten.
»Nett?«, fragte Rukbath und gab die Antwort sogleich selbst. »Ja, mag sein, doch die Homo-sapiens-Maximus gelten im allgemeinen nicht gerade als intelligent, das trifft auch auf Mrs. Brownington zu. Falls sie einen von uns zu Gesicht bekäme, wäre es denkbar, dass sie ihren Nachbarn davon erzählt.
Daraufhin könnten alle möglichen Szenarien geschehen. Vielleicht würden die Nachbarn mit Besorgnis reagieren und folgern, Mrs. Brownington sei geisteskrank geworden. Dann käme sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine psychiatrische Anstalt. Oder sie gelangen zu der Ansicht, Mrs. Brownington habe Ungeziefer in ihrer Wohnung, was aufgrund der herrschenden Unordnung der Wohnung naheliegend wäre. Dann würden sie mit großer Sicherheit mit einem Kammerjäger anrücken oder selbst zu Werke gehen. Die gutmütige Mrs. Brownington ließe sie gewiss ohne große Bedenken in die Wohnung.
In beiden Fällen wären wir gezwungen unsere Wohnstätte aufzugeben und müssten uns ein neues Zuhause suchen.«
Rukbath ließ wieder eine Zeit verstreichen und fuhr dann fort.
»Es gilt als ein Wunder und auch als ein Rätsel, dass sich der Homo-sapiens-Maximus in den Kriegen, die er gegen seinesgleichen führt, sich noch kein Ende gesetzt hat.
Solange es den Homo-sapiens-Maximus gibt, müssen wir größte Vorsicht walten lassen, nicht entdeckt zu werden. Sonst brächten sie uns mit großer Wahrscheinlichkeit in die Folteranstalten ihrer Versuchslabore.
Die Tatsache, dass wir ebenfalls intelligente Wesen sind, wird nicht das Mitgefühl der Homo-sapiens-Maximus hervorrufen, sondern seine Forscherlaune heben.
Die Tatsache, dass wir einen weitaus robusteren Organismus besitzen und von ein paar Zipperlein abgesehen, keine anderen Erkrankungen kennen als die Influenza, welche uns mitunter plagt, wäre ein weiteres, um die Forscherlaune des Homo-sapiens-Maximus zur Höchstleistung anzuhalten.
Doch die Tatsache, dass wir um einiges älter werden, als sie selbst – manche von uns erreichten ein Alter von annähernd 140 Jahren – würde sie solange an uns forschen lassen, bis sie das Rätsel unserer Langlebigkeit entschlüsselt hätten – eher würden sie nicht ablassen – zuvor würden sie in Kauf nehmen, uns auszurotten.
Wir wären die Jahrtausendentdeckung des Homo-sapiens-Maximus ... Stellt euch nur mal vor, wir auf den Seziertischen dieser Folterknechte ...
Das darf nie passieren!«
Jetzt zeigten Rukbaths Worte so richtig Wirkung. Während die Mienen der Zuhörer zuvor noch einen verängstigten Eindruck erzeugt hatten, wirkten sie nun bedrückt und nachdenklich.
»Rukbath hat Recht«, rief einer der Ältesten und erntete von jedem der Anwesenden anhaltenden Beifall, »niemals dürfen wir ihnen in die Hände geraten.«
Als sich die Zusammenkunft auflöste, nahm sich jeder im Stillen vor, alles dafür zu tun, dass so etwas nicht zur Wirklichkeit werden konnte. Sie durften keinerlei Risiko eingehen und mussten freie Wesen bleiben.
*
Am nächsten Morgen war es drückend heiß. Seit Sonnenaufgang brannte der Planet wieder erbarmungslos vom Himmel. Das Fenster des hinteren Zimmers hatte sich so mit Hitze aufgeladen, dass man auf der Scheibe hätte Spiegeleier braten können.
Sirius und Luna begaben sich in den Gemeinschaftsraum. Zu ihrer Enttäuschung fanden sie ihn leer vor. Die anderen waren wohl wegen der drückenden Hitze in ihren Behausungen geblieben. Da bemerkten sie, dass der Gemeinschaftsraum doch nicht ganz leer war, in einer Ecke saß Rukbath und fächerte sich mit einem Stück Karton Luft zu. Als er Sirius und Luna erblickte, richtete er sich auf und legte den Fächer beiseite.
»Na, was treibt euch denn bei dieser Hitze raus?«, fragte er.
»Uns war langweilig«, erwiderte Sirius, »wir dachten, Colin und Dick seien hier, doch scheinbar sind sie zuhause geblieben.«
»Setzt euch doch«, sagte Rukbath und zeigte auf zwei Sessel, die ein paar Schritte entfernt standen. Sirius und Luna schoben die Sessel heran und ließen sich darauf nieder. Eine Zeit saßen sie still da und niemand wusste so recht, was er sagen sollte.
Da fiel Luna wieder eine Frage ein, die sie Rukbath schon länger stellen wollte. Sie hatte die Frage schon einmal an ihre Eltern gerichtet, aber nur eine unbefriedigende Antwort erhalten, mit der sie nichts anzufangen wusste.
»Warum leben wir eigentlich inzwischen bei den Menschen und nicht mehr im Wald?«, fragte sie.
Rukbath verschränkte die Hände vor dem Bauch und überlegte kurz.
»Ich kann nur auf Erzählungen zurückgreifen, die mir so zugetragen wurden. Ich selbst wurde erst geboren, als wir schon in Amerika lebten«, begann er. »Es war im Winter 1939/40, als infolge eines regnerischen Sommers die Ernten auf den Feldern verrotteten, der darauffolgende Winter streng wurde und der Frühling erst spät kam, da herrschte unter unseren Leuten eine fürchterliche Hungersnot. Mit letzter Kraft schleppten sie sich zu einem Bauern.«
Rukbath zog die Augenbrauen nach oben und sah zu Sirius.
»Auf diesem Hof kam übrigens dein Großvater zur Welt.«
»Rasfarent?«, fragte Sirius.
»Ja Rasfarent«, Rukbath nickte.
»Seit damals leben wir in der Nähe von Menschen.«
»Aber warum sind sie nach dem kalten Winter, nicht wieder zurück in den Wald?«, fragte Sirius.
»Inzwischen hatte der 2. Weltkrieg begonnen. Norwegen war von Hitlerdeutschland besetzt und Untergrundkämpfer waren in ihren Wald gezogen. Daher konnten sie nicht zurück«, antwortete Rukbath.
»Außerdem hatten sie sich an das Leben bei den Menschen gewöhnt. Anfangs war es um ein Vielfaches leichter für sie. Die Vorratskammern des Bauern waren gefüllt und das Speicherabteil, wo sie sich eingerichtet hatten, lag über der gut beheizten Wohnstube. So hatten sie es warm und immer genug zu essen – zumindest was die erste Zeit anging.
Doch während der Besatzungszeit machte sich dann der Hunger auch unter der Bevölkerung breit und hatte bald alle Teile des Landes erfasst. Die Nazis hatten die Nahrungsmittelrationen zu knapp bemessen. Gegen Ende des Krieges hungerte die Bauernfamilie so schlimm, dass sie ihre Schuhe aßen, die sie zu Streifen geschnittenen hatten und auf einem Stück Holz kauten, das vorher das Stuhlbein war. Da wurde auch das Essen für die Unsrigen zu wenig.«
»Und als der Krieg vorüber war, konnten sie da nicht wieder zurück?«, fragte Sirius.
»Von ihrem Wald waren nur noch ein paar dürre Stämme stehengeblieben, die sich für die Dorfbewohner nicht gelohnt hatten sie abzuholzen. Der restliche Wald aber war, aufgrund von Brennholzmangel, beinahe kahlgeschlagen worden.«
»Wie ging es dann weiter?«, fiel Luna ungeduldig ins Wort.
»Nach Kriegsende bot der Hof einen Anblick des Jammers. Die Ställe standen leer und es existierte kein Stück Vieh mehr. Die Felder lagen seit Jahren brach und sämtliche Gerätschaften wie Pflug und Traktor waren defekt. Und nichts anderes war es bei den Gebäuden, sie waren zerfallen oder bedurften dringend einer Instandsetzung. Der Bauer sah keinen Weg, wie er den Hof erhalten und seine Familie ernähren sollte. Über einen Onkel, der Prokurist einer großen Gesellschaft war, wurde ihm eine Arbeit in einer Fabrik in Aussicht gestellt. Das Angebot wirkte auf den Bauern wie ein Segen – allerdings lag die Fabrik über hundert Kilometer entfernt. So entschloss er sich, das Anwesen zu veräußern und mit seiner Familie in Nähe der Fabrik zu ziehen. Jede Woche kamen nun Interessenten auf das Anwesen, um es sich anzusehen.
Wieder einmal war die Zukunft für unsere Leute ungewiss. Während der Zeit am Hof hatte sich ein Großteil von ihnen verschiedene Fähigkeiten des Menschen angeeignet, so auch das Lesen ihrer Schriften. In dem Speicher, wo sie Unterschlupf gefunden hatten, stand ein Schrank mit alten Büchern. Es dauerte nicht lange, bis sie die Schriftzeichen entziffern konnten. Ein Buch handelte von Amerika. Fast jeder der lesen konnte hatte es während der Kriegsjahre gelesen und Feuer gefangen. Die anderen hatten sich die Bilder angesehen und waren ebenso begeistert. Amerika, ein Land das von zwei Ozeanen umgeben war, wo das Klima je nach Region von arktisch bis tropisch reichte und wo die Möglichkeiten grenzenlos schienen. Das Buch war so geschrieben, dass man glaubte, in dem Land flossen wahrhaftig Flüsse aus Milch und es gäbe Seen aus Honig. Viele hegten den Wunsch, in dieses Land auszuwandern.
Und wie es der Zufall wollte, kam in diesen Tagen ein jüdischstämmiger Kaufmann an den Bauernhof. Er war zu Kriegsbeginn vor den Nazis nach Schweden geflohen. Zuvor hatte er allerdings mehrere Kisten mit Waren in einer Scheune des Bauern untergestellt, die er auf der Flucht nicht hatte mitnehmen können.
Jetzt, nach dem Krieg, hatte er den Entschluss gefasst, nach Amerika zu gehen und war vorbeigekommen, um die Kisten abzuholen. Unsere Leute hörten von seinem Vorhaben, und plötzlich schien Amerika gar nicht mehr soweit entfernt zu sein. Dazu kam, dass der Bauer inzwischen einen Käufer hatte, der bereits den Abriss des Wohntrakts plante. Ein Bagger stand schon auf dem Hof. Praktisch über Nacht richteten sich unsere Leute in zwei Truhen, die Kurzwaren enthielten, ein Versteck ein. So gelangten sie auf abenteuerliche Weise nach Oslo.
Da war es, als das große Unglück geschah und sie getrennt wurden. Der Kaufmann hatte einen Bruder, der während der Besetzung Norwegens nach England geflohen war. Die beiden Truhen mit Kurzwaren wurden auf verschiedene Schiffe verladen. Eine Kiste ging mit dem Schiff nach Amerika, die andere sandte der Kaufmann an seinen Bruder nach England.«
»Unsere Leute wurden getrennt?«, rief Luna.
Rukbath nickte.
»Es handelte sich um die Familie eines entfernten Verwandten. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört.«
»Gab es keine Möglichkeit, mit ihnen Kontakt aufzunehmen?«, fragte Sirius.
Rukbath zuckte mit den Achseln.
»Wie hätten sie das bewerkstelligen sollen?«
26. August 2013 Area 51, Nevada, Vereinigte Staaten.
Lieutenant General John Penniston war alt geworden. Seit den Ereignissen, Ende Dezember 1980, im Rendlesham-Forest, in Großbritannien, waren nun beinahe 33 Jahre vergangen.
Damals, mit fünfunddreißig, befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere und es hätte ihm eine glorreiche Zukunft bevorgestanden, doch der Fund hatte ihn verändert. Zuerst glaubte er tatsächlich, ein außerirdisches Lebewesen entdeckt zu haben. In Bruchteilen von Sekunden entschied sich Penniston dafür, den Fund vor den anderen beiden Airmen geheim zu halten.
Falls etwas zu den britischen Behörden durchgesickert wäre, hätten sie den Fund, mit dem Verweis der örtlichen Zuständigkeit, für sich beansprucht. Nicht einmal die Hütte, in der er die Entdeckung gemacht hatte, erwähnte er Petrakes und Johnson gegenüber.
Unterdessen waren Petrakes und Johnson weiter in den Wald vorgedrungen und hatten an zwei Bäumen, die nah aneinander standen, jeweils ein Stück beschädigte Rinde festgestellt. Zwei Meter entfernt sahen sie ein paar frische Holzsplitter liegen. Daneben einen dunklen Fleck am Waldboden, vermutlich Brandspuren – die vermeintlichen Landungsspuren eines unkonventionellen Flugkörpers? Sie waren sofort davon überzeugt, dass ein Ufo die Bäume gestreift und anschließend die Spuren am Boden hinterlassen hatte. Aufgeregt riefen sie nach Penniston, er solle kommen, sich die Sache ansehen. Als Penniston ihre Rufe aus dem Wald hörte, steckte er schnell das kleine Lebewesen in seine Lunchbox und verstaute diese an der untersten Stelle in seinem Koffer. Danach lief er eilends zurück in den Wald, den Koffer führte er wie einen Karton roher Eier mit sich. Als er auf Petrakes und Johnson stieß, war er verschwitzt und ganz außer Atem. Doch es war nicht die körperliche Anstrengung, die seinen Puls hatte nach oben schnellen lassen, sondern der Fund, der sich in seinem Koffer befand.
Penniston versuchte seine Aufregung herunterzuspielen, er wollte keinen Grund liefern, dass sie Verdacht hegten, er könne ihnen Informationen oder aufgefundene Dinge vorenthalten. Stattdessen verlegte er sich darauf, die Sache systematisch nach Lehrbuch anzugehen. Bereitwillig hörte er sich die These einer Ufo-Landung an und ließ sich die verschiedenen Spurenarten zeigen. Dann begann er mit seiner Arbeit. Den Aluminiumkoffer stellte er etwas abseits und beförderte einige Gegenstände daraus hervor: Eine Kamera, ein Photometer, mehrere Objektive, ein Stativ, Verpackungsmaterial und Absperrbänder. Petrakes und Johnson wies er an, die Fundstelle großzügig mit Absperrband abzugrenzen. Dann schraubte er ein Weitwinkelobjektiv auf die Kamera und befestigte sie auf dem Stativ. Danach schoss er einige Fotos so, dass auf den späteren Aufnahmen, die dunkle Stelle am Waldboden, die daneben liegenden Holzsplitter und die Beschädigungen an den Bäumen zu sehen waren.
Anschließend streifte er ein paar Latexhandschuhe über seine Hände und sammelte gewissenhaft die am Boden befindlichen Holzsplitter ein. Er untersuchte alle gründlich und packte sie in eine Plastiktüte. An den beiden Bäumen entnahm er ebenfalls Proben, die er mit einem Messer abschabte und in weitere Tüten steckte. Ebenso entnahm er vom Waldboden etwas Erde und tütete sie ein. Zwischendrin knipste er noch haufenweise Fotos von den Dingen die er eintütete und von der Umgebung. Und zuletzt berechnete er den Winkel, mit dem das vermeintliche Flugobjekt die Bäume gestreift und die dunklen Spuren auf der Erde hinterlassen hatte.
Währenddessen verfolgten Petrakes und Johnson jede seiner Bewegungen. Mit Wohlwollen registrierten sie, mit welcher Sachkunde und Akribie der amerikanische Airman bei ihrer Entdeckung vorging.
Nachdem sie wieder in die Kaserne zurückgekehrt waren, hielt Penniston noch ein bisschen Smalltalk mit Petrakes, Johnson und einem ihrer Vorgesetzten. Wenig später entschuldigte er sich damit, dass er übermüdet sei und ging frühzeitig auf sein Zimmer. In der Unterkunft angekommen, verriegelte er die Tür und zog die Jalousien herunter.
Als er das kleine Lebewesen vorsichtig aus der Lunchbox hob und es gerade in ein mit Zellstoff präpariertes Marmeladenglas setzen wollte, in dessen Deckel er mit einer Schere ein paar Luftlöcher gestochen hatte, sah er wie das filigrane Wesen seine Lippen bewegte. Penniston führte das Männchen an sein Ohr.
»Bitte lass mich wieder frei«, hörte er es mit flehender Stimme wimmern.
»Das kann ich nicht«, murmelte Penniston, »ich bin Wissenschaftler.«
Behutsam setzte er das Wesen in das Glas.
Und an dieser Stelle war es, als Penniston zu der Gewissheit gelangte, dass es sich bei seinem Fund, um kein außerirdisches Wesen handeln konnte. Nein, so verrückt es auch war, es musste ein irdisches Wesen sein.
Nicht, dass Penniston das Vorhandensein extraterrestrischer Lebensformen nicht für möglich gehalten hätte. Nein. Er war sich sogar sicher, dass es irgendwo da draußen, in den Weiten des Universums, Leben geben musste. Aber Penniston war ein nüchterner Mensch und niemand der spekulativen Theorien anhing, weil er Entdeckergeist und Entdeckerwille nicht auseinanderzuhalten vermochte. Er wusste: Leben auf der Erde existierte nur aufgrund des einzigartigen Zusammenspiels verschiedenster Bedingungen, die vorherrschten. Das waren in Kurzform: Eine beständige Planetenbahn, die Gravitation, die Nähe zur Sonne, und ausreichende Mengen an Wasser und Sauerstoff.
Aussehen und Art der Lebewesen, bestimmte die Evolution.
Anzunehmen, außerirdische Wesen würden eine Ähnlichkeit mit dem Menschen aufweisen, war mehr als naiv. Da konnte man genauso gut an die Existenz des Weihnachtsmannes glauben, und die war im Verhältnis um einiges wahrscheinlicher.
Aber was ihn wirklich zu der Überzeugung brachte, war die Tatsache, dass das Männchen in einem alten ostenglischen Dialekt geredet hatte, den man südlich von Colchester sprach. Brayden Tucker, ein Mitstudent an der University of California, der aus dieser Gegend stammte, hatte während ihrer studentischen Trinkgelage zuweilen anrüchige Gedichte in diesen Dialekt vorgetragen. Penniston hatte ihn jedes Mal nicht verstanden, so dass Tucker die Reime ein paar Mal hintereinander wiederholen musste, bis Penniston deren Sinn verstand.
Auch erinnerte er sich an dieser Stelle wieder an den Bericht eines Forschers, der jüngst in einem dieser pseudo-wissenschaftlichen Journale gestanden hatte. Der Forscher behauptete, in Sumatra einen »Orang Pendek« (kleiner Mensch) gesehen zu haben. Berichte über den Orang Pendek, ein kleinwüchsiges menschenähnliches Wesen, das einen aufrechten Gang haben sollte, gab es immer wieder. Inzwischen existierte eine große Anzahl von Augenzeugenberichten, darunter namhafte Wissenschaftler, die den Orang Pendek gesehen haben wollten.
Ähnliche Berichte gab es auch von australischen Einheimischen, die von einem kleinen menschartigen Wesen erzählten, dem »Ebu Gogo«. Was übersetzt in etwa bedeutete, Großmutter, die alles isst. Diese Art sollte jedoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgestorben sein.
Die Berichte vom Orang Pendek und vom Ebu Gogo ließen zwar vermuten, dass beide etwa eine Größe von einem Meter aufwiesen, doch auf der anderen Seite ließen sie auch den Schluss zu, dass es eben noch kleiner ging. Warum nicht? Die Natur war ein Alleskönner.
Und der Beweis hierfür befand sich nun seit über 32 Jahren in einem geheimen Versuchslabor, in Area 51, Nevada, in den Vereinigten Staaten.
* * *
Penniston stieg aus dem Aufzug. Jetzt befand er sich 90 Meter tief unter dem Groom Lake, einem ausgetrockneten Salzsee. Im siebten Untergeschoss einer unterirdischen Top-Secret-Forschungsstation, die vom Militärflugplatz aus, in Area 51, nur über eine elektromagnetisch angetriebene Bahn, den »Subshuttle Vehikel« erreichbar war. Das waren Züge die in kilometerlangen unterirdischen Röhren mit hoher Geschwindigkeit verkehrten.
Er machte ein paar Schritte zu einem Chipkartenleser und hielt seinen Identifikationsausweis daran. Begleitet von einem beinahe geräuschlosen Surren bewegte sich eine zuvor nicht sichtbare Tür ein paar Zentimeter nach hinten und glitt dann seitwärts auf. Ein CIA-Sicherheitsbeamter befand sich jenseits der Tür. »Guten Morgen, Sir«, grüßte er und trat zur Seite. »Morgen«, brummte Penniston und ging einen etwa fünf Meter langen Korridor entlang, bis er wieder vor einer metallenen Tür stehenblieb. Seinen Identifikationsausweis hatte er in der Hand behalten, wiederum hielt er ihn an einen Chipkartenleser. Penniston drehte seinen Kopf und sah in einen Iris-Scanner, die Tür der Sicherheitsschleuse-2 glitt zurück. Nun befand er sich in einem großen Raum, in dem sich etwa zehn Personen befanden, die geschäftig verschiedenen Tätigkeiten nachgingen.
Penniston hielt auf eine riesige Wand mit Computerbildschirmen zu, über die Grafiken und Zahlenkolonnen flimmerten. Doch daran zeigte er kein Interesse, gewohnheitsmäßig ging er zu einem der Arbeitstische und bewegte seine Finger über ein Touchpad, das in die Arbeitsplatte integriert war. Auf dem Bildschirm über ihm erschien das aktuelle Wetter. Seit beinahe zwei Wochen hatte er kein Tageslicht mehr zu Gesicht bekommen. Auf dem Bildschirm war abzulesen, dass draußen die Sonne schien und es 34 Grad hatte. Penniston seufzte innerlich, aber es waren nur noch zwei Monate bis zu seiner Pensionierung, dann konnte er in seinem Häuschen, in Bridgeport, Kalifornien sitzen und jeden Tag Angeln gehen, wie es ihm gefiel. Nun ging Penniston zu einer Tür, die sich an der Längsseite des Raumes befand, linker Hand saß ein Sicherheitsbeamter in einer mit Panzerglas verkleideten Kabine.
»Morgen, Sir«, klang die Stimme des Sicherheitsbeamten durch einen Lautsprecher, der außerhalb der Kabine angebracht war.
»Tag, Al«, erwiderte Penniston in einem freundschaftlichen Ton. Al setzte ein breites Grinsen auf. Mit seinem Finger tippte er lässig auf einen schwarzen Knopf und die Tür glitt zur Seite.
Der Raum, in dem sich Penniston nun befand, war etwas kleiner. Nur einer Handvoll Personen war es gestattet ihn zu betreten. Links des Raumes gab es wieder eine Wand mit Computerbildschirmen, wo Zahlenkolonnen und Grafiken angezeigt wurden. Die anderen Wände waren mit Edelstahlverkleidungen versehen, vor die einige Arbeitstische gestellt waren. In der Mitte des Raumes standen zwei unterschiedlich große Behältnisse aus Glas, die durch einen Glastunnel verbunden waren. Das eine war etwa einen Meter lang und ungefähr 80 Zentimeter breit. Darin gab es mehrere Boxen, in denen sich Ratten befanden. Das andere Glasbehältnis war von beeindruckender Größe. Es maß etwa fünf Meter in der Länge, zwei Meter in der Breite und die Höhe betrug circa eineinhalb Meter.
Bei diesem Behältnis handelte es sich um eine Art Habitat, für das seltenste aller Wesen. Eine Miniaturlandschaft samt Wohneinheit und Arbeitsstätten waren darin aufgebaut. Man sah einen Sportplatz, ein Wäldchen mit weit auseinanderstehenden Miniaturbäumen, sogar einen kleinen See, Wiesen und kleine Hügel. Am vorderen Ende des Kastens war eine Miniatur-Villa errichtet, daneben eine Werkstatt und ein Labor. Ringsum fehlten jedoch die Wände, so dass sich von allen Seiten hineinsehen ließ. Penniston ging zum vorderen Ende des Glaskastens und hob seinen Kopf an ein Vergrößerungsfeld, das nahtlos ins Glas integriert war. Er richtete seinen Blick in einen Teil der Villa, wo ein kleiner Computermonitor zu sehen war, nicht größer als der eines Smartphone. Vor dem Bildschirm stand ein Miniaturdrehstuhl.
»Guten Morgen«, sagte Penniston, »wie geht es uns heute?«
Der Drehstuhl schwenkte herum. Ein kleines Männchen saß darauf.
»Lass mich frei«, erklang es, in einer gelangweilten Tonlage, die einen Hauch von Sarkasmus erahnen ließ, aus einem winzigen Verstärker, oberhalb des Vergrößerungsfeldes.
Diesen Satz wiederholte das Männchen allmorgendlich, seit jenem Tag, wo es Penniston, im Rendlesham-Forest, in die Hände gefallen war. Doch zwischenzeitlich war es zu einer Art Spiel zwischen den beiden geworden. Penniston fragte, wie es ging und das Männlein sagte immerzu den gleichen Satz auf.
»Fragen Sie Forrest-1 einfach nicht mehr«, tönte hinter Penniston eine genervte Männerstimme, »dann ersparen Sie sich das ewige, lass-mich-frei Gewinsel.«
Milton stand hinter ihm, seine zweite Hand. Penniston mochte ihn nicht. Man hatte ihm damals, als er von seiner Reise aus Bentwaters-Woodbrigde zurück war, den zehn Jahre jüngeren Milton, als Assistent, zur Seite gestellt. Zu dieser Zeit war Pennistons mit der Entscheidung seiner Vorgesetzten ganz zufrieden gewesen.
Obwohl sich Penniston von Anfang sicher war, dass es gar nicht um eine helfende Hand ging, sondern man Milton die Aufgabe erteilt hatte, ihn zu überwachen. Milton war nicht der Directorate of Science & Technology unterstellt, er arbeitete für den National Clandestine Service, eine Abteilung innerhalb des CIA, die sich um die Beschaffung von Informationen kümmerte. Was nahelegte, dass Pennistons Vermutung zutraf. Wenngleich man Milton einige medizinische Grundkenntnisse nicht absprechen konnte und er sogar Diplome über seinem Arbeitsplatz hängen hatte, welche aber – so mutmaßte Penniston – vom CIA frisiert waren.
Damals, nach dem Fund, hatte Penniston schon befürchtet, dass man ihm den Fund wegnehmen, und in die Obhut anderer Forscher geben könnte. Stattdessen hatte man Milton an seine Seite beordert und Penniston war erleichtert gewesen.
Penniston hatte sein Herzblut der Wissenschaft verschrieben. Er war Wissenschaftler mit Leib und Seele, und das war auch der Grund warum er in den Staatsdienst gewechselt war. Schon als Student hatte er es störend empfunden, dass der Forschung ethische Grenzen auferlegt waren. Nach Pennistons Meinung ein Unding. Schließlich kam das Ergebnis der Forschung der Allgemeinheit zugute. Forschung musste man aus diesem Blickwinkel betrachten, da war die Einhaltung allgemeingültiger Normen und Werte nicht immer möglich.
Wollte man einen Blick hinter die Rätsel werfen, musste man bereit sein, entweder Gesetze zu übertreten, oder eben dort arbeiten, wo einzig Ergebnisse zählten, und niemand sich darum scherte, wie man an sie gekommen war. Als Forscher durfte man sich nicht von menschlichen Gefühlen leiten lassen, man musste den Fortschritt im Auge haben. Es ging es nicht um Gefühlsduseleien, sondern um Erkenntnis.
Und das war es, was Penniston und Milton unterschied. Penniston hatte immer ein Ziel vor Augen gehabt, während Milton einfach nur aalglatt war und über Leichen gehen konnte.
Als einmal Ernie Harrington, ein mit dem Projekt »Forrest-1« betrauter Kollege, schlimmen Liebeskummer wegen einer russischstämmigen Migrantin hatte – da war es folgender Satz, den Milton sagte und der Penniston in Erinnerung geblieben war.
»Wer weiß, was der alles imstande wäre seiner Liebsten ins Ohr zu flüstern, wenn sie ihn nur ein bisschen bittet?«
Zuvor hatte das Teufelsweib den gutgläubigen Ernie nach Strich und Faden ausgenommen und als nichts mehr zu holen war, sich dem nächstbesten Vermögenderen an den Hals geworfen.
Daraufhin war Ernie tagelang kopflos durch die Gegend gerannt, war unrasiert zur Arbeit erschienen und hatte nicht mehr gewusst, welches Datum gerade war. Dem nicht genug hatte er Milton mit Penniston angeredet und zu guter Letzt vor lauter Schusseligkeit seinen Identifikationsausweis in den Kühlschrank gelegt – wo ihn Milton nach stundenlanger Suche aus dem Eisfach zog.
Am nächsten Tag hieß es, Ernie Harrington habe Anzeichen einer frühzeitigen Demenz gezeigt und sei zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik gebracht worden.
Penniston hatte ihn seither nie wieder zu Gesicht bekommen. Es war allgemein bekannt, dass potentielle Verräter vom CIA mundtot gemacht wurden. Und Ernie hatte noch Glück gehabt. Er war nicht wie bei der Olson-Affäre, die es während der fünfziger Jahre gegeben hatte, als potentieller Geheimnisverräter durch ein geschlossenes Fenster aus dem 23. Stockwerk eines Hotels geflogen. Inzwischen ging die CIA geschickter vor. Man hatte ihn lediglich in eine geschlossene Anstalt gesperrt, wo eine ganze Abteilung für einstige Geheimnisträger und mögliche Staatsfeinde zur Verfügung stand, die mit Haloperidol ruhiggestellt wurden.
Auch war sich Penniston sicher, dass ebenso er vom CIA überwacht wurde. Es war ja nicht nur Milton, sondern mit Sicherheit gab es noch weitere CIA-Mitarbeiter, die ihn im Auge behielten; und das würden sie auch noch tun, nachdem er in Pension gegangen war. Penniston war nicht blauäugig in den Staatsdienst gegangen. Nein, er war sich all dieser Dinge bewusst gewesen. Bei ihm war es die Idee gewesen, in der Forschung etwas bewirken zu können, was das genau sein sollte, wusste er zur damaligen Zeit noch nicht so recht, aber es sollte etwas Großes sein. Und nachdem Fund Rendlesham-Forest hatte er geglaubt, diesem Ziel ein entscheidendes Stück näher gekommen zu sein. Doch inzwischen, nach über 30 Jahren, bereute er viele seiner damaligen Entscheidungen. Rückblickend hatte er jahrelang in die falsche Richtung geforscht.
Rückblende,
was vor 32 Jahren geschah.
Zurück in Area 51 machte sich Penniston mit seinem Team an die Erfassung von – Forrest-1 –, so hatten sie das Wesen aufgrund seines Fundorts in einem Wald genannt.
Forrest-1 wurde genauestens vermessen, gewogen und vielfach fotografiert. Haar-, Gewebe- und Speichelproben wurden entnommen, um Vergleiche mit Menschen und Primaten anzustellen. Anschließend brachten sie das Wesen behelfsmäßig in einem Glasterrarium für kleinere Reptilien unter – Penniston hatte bereits Order erteilt, ein entsprechendes Behältnis anzufertigen. Umso schneller es zur Verfügung stand, desto eher konnte eine Eingewöhnung stattfinden. Denn jetzt saß es nur da, stumm wie ein Fisch und rührte sich nicht. Sobald man es herausnahm, starrte es Penniston und seinen Mitarbeitern mit angsterfüllten Augen entgegen und verkroch sich apathisch in die nächstbeste Ecke, wenn man es wieder ins Terrarium entließ. Penniston glaubte einen Akinetischen Mutismus zu sehen, ein Krankheitsbild, das beim Menschen bekannt war und nach schweren Schicksalsschlägen auftreten konnte. Die Betroffenen zeigten eine hochgradige Bewegungsarmut und sprachen nicht, genau wie Forrest-1.
Seit Pennistons Rückkehr erhielt er mehrmals hohen Besuch im Labor. Der Leiter des DS&T kam die erste Zeit fast täglich und einige Male war sogar der Direktor des CIA mit dabei. Sie drängten Penniston herauszufinden, wie viele es von seiner Art gab und wo genau sie zu aufzuspüren waren. Zu groß sahen sie die Gefahr, ein gleichartiges Wesen könne in den Besitz der Briten oder gar einer anderen Macht gelangen. Penniston erhielt den Auftrag, Versuche mit Wahrheitsserums an Forrest-1 durchzuführen.
In Folge verabreichte Penniston Forrest-1 geringe Mengen an Thiopental und Meskalin, welche er ihm jeweils in die Nahrung mischte.
Nachdem beide Experimente jedoch ohne nennenswertes Ergebnis blieben, verwendete Penniston LSD-25. Von LSD-25 gab er Forrest-1 die gleiche Dosierung, die auch bei Versuchen mit Mäusen üblich war, 46mg/kg. Dieser Versuch konnte zumindest als Teilerfolg gewertet werden. Während das Wesen bei den Versuchen zuvor nur wirres oder unverständliches Zeug dahergeredet hatte, antwortete es auf die Frage, welche Krankheiten es schon gehabt habe, dass es nur eine einzige Krankheit bekommen könne, die anhand der beschriebenen Symptome: frösteln, triefende Nase, Schluckbeschwerden – auf eine Influenza schließen ließ. Die Kehrseite der bisherigen Versuchsreihe war, dass Forrest-1 infolge der Experimente eine ganze Woche lang Anzeichen äußerster Wirrnis zeigte, immer die gleichen Fragen wiederholte, die man ihm zuvor gestellt hatte und nach dem Versuch mit LSD-25 die Nahrungsaufnahme verweigerte. Penniston war gezwungen, seine Forschungsarbeit zwei Wochen ruhen zu lassen.
Nach etlichen Gesprächen mit gleichgestellten Wissenschaftlern und dem Leiter des DS&T, wo Penniston einige Überzeugungsarbeit leistete, erhielt er die Genehmigung, die Versuche mit psychoaktiven Substanzen auszusetzen und begann – gemäß Forrest-1 Angabe, er würde nur die Influenza kennen – Experimente mit Krankheiten. Ein Gebiet das Penniston weitaus mehr zusprach. Er prüfte die Widerstandsfähigkeit von Forrest-1 gegen Parasiten und Infektionen, in entsprechenden Testreihen.
Er trug ihm Humane Papillomviren auf die Haut auf und war erstaunt, wegen der Resistenz die Forrest-1 zeigte. Im Laufe der Zeit setzte Penniston bei seinen Experimenten immer gefährlichere Viren ein, den West-Nil-Virus injizierte er Forrest-1 selbst, nur um festzustellen, dass er auch dagegen immun war.
Da geschah es zum zweiten Mal, dass Forrest-1 für mehrere Tage seine Nahrung verweigerte; die Injektionsnadel hatte ihm Angst eingejagt.
Wiederum sah sich Penniston gezwungen die Versuche zu unterbrechen.
Doch inzwischen war er nicht mehr zu bremsen. Er hatte gesehen wie der Einstich an Forrest-1 Arm nach Sekunden wieder verschlossen und Minuten darauf gar nicht mehr festzustellen war.
Forrest-1 Immunsein gegen jede Art von Krankheiten war ein Phänomen und seine Wundheilkräfte grenzten an ein Wunder. Penniston befand wie in einem euphorischen Rausch. Er sah sich an der Schwelle zu einem gewaltigen, wissenschaftlichen Durchbruch. Und den Schlüssel dazu – Forrest-1 – hielt er buchstäblich in der Hand. Schon bald wäre man genötigt, die Geschichte der Medizin neu zu schreiben. Im Hinblick dieses Ziels forschte Penniston mit dem Eifer eines Besessenen. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie am schnellsten Ergebnisse zu erzielen waren.
Die Ähnlichkeit von Forrst-1 mit einem Homo sapiens, war verblüffend. Nun musste Penniston noch herausfinden, ob sich diese Gemeinsamkeit auch in der Anatomie fortsetzte.
Ungeduldig wartete er, bis sich Forrest-1 wieder etwas erholt hatte. Dann begann er eine Serie von Operationen an Forrest-1 durchzuführen, um Kenntnisse über seinen Körperbau zu erhalten. Jedes Mal mit örtlicher Betäubung. Zu gefährlich sah er mittlerweile den Einsatz einer Vollnarkose, da Forrest-1 ja bereits bei der Verwendung von Drogen äußerst empfindlich reagiert hatte und tagelang nach deren Verabreichung nicht ansprechbar gewesen war.
Um den Ängsten von Forrest-1 vor Spritzen und Operationsbesteck vorzubeugen, wandte Penniston einen simplen Trick an. Er fixierte Forrest-1 vor den jeweiligen Eingriffen mit verbundenen Augen auf dem OP-Tisch und setzte ihm einen speziell in einem Techniklabor gefertigten Kopfhörer auf.
Während Forrest-1 dann Klaviersonaten von Mozart hörte, öffnete ihm Penniston den Unterarm, um einen Blick auf die filigranen Muskeln, Adern und Sehnen zu werfen. Hinterher stellte er fasziniert fest, wie schnell die Wunden von Forrest-1 wieder heilten, denen kein Keim etwas anhaben konnte. Nach zwei Tagen war selbst die Operationsnarbe nicht mehr sichtbar. Nur mithilfe einer starken Lupe, fand man einen mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennbaren Strich.
Weitere Operationen an Beinen und Füßen folgten, deren Narben ähnlich schnell abheilten.
Und zuletzt wagte er sich an den gefährlichsten, der bisherigen Eingriffe, er beabsichtigte einen Blick auf sein schlagendes Herz zu werfen und wollte ihm dazu den Brustkorb öffnen.
Doch diesmal ging es schief.
An jenem Tag hatte es einen Alarm gegeben. Ein Vogel war in einen der riesigen Ventilatoren geraten, der die unterirdische Anlage mit Sauerstoff versorgte, und der Ventilator war ausgefallen. Darauf hatten sie Stunden in einem Schutzraum zugebracht, und als die Anlage wieder in Betrieb genommen werden konnte, war es bereits zu spät, die Operation durchzuführen. Milton drängte, sie auf den nächsten Tag zu verlegen. Doch Penniston war voller Ungeduld und wollte nicht warten.
Monatelange Vorbereitungen waren vorangegangen. Spezialisten hatten die komplette Einrichtung eines hypermodernen Operationssaals in Miniatur nachgebildet. Und aus der Nanotechnologie lagen kleinste Werkzeuge bereit, die sie von einer anderen Abteilung beordert hatten. Penniston befahl seinen Mitarbeitern, eine Nachtschicht einzulegen.
Er nahm die vorbereitete Dosis für die örtliche Betäubung. Diesmal verwendete er als Anästhetikum Bupvacain, ein Mittel, das einen langsameren Wirkungseintritt, dafür aber eine längere Wirkdauer, von bis zu 12 Stunden hatte – anstatt wie bislang, Prilocain, das schneller, aber kürzer wirkte.
Am Abend zuvor, als Penniston noch einmal alles durchgegangen war, hatte er sich auch darüber belesen, doch aufgrund der Auseinandersetzung mit Milton, der zwar widerwillig mitmachte, aber keine Gelegenheit ausließ seinen Unmut kundzutun, geriet er unter solchen Stress, dass ihm der Unterschied wieder entfallen war. Als er schließlich Forrest-1 das Bupvacain punktuell entlang des Corpus sterni und der Brustwirbelsäle injiziert hatte, vergaß er nach der Vergabe lange genug abzuwarten und begann den Eingriff ein paar Minuten verfrüht.
Penniston hatte bereits die Sternotomie durchgeführt, das Brustbein längs durchtrennt und war gerade dabei ein spezielles Werkzeug zum Spreizen der Rippen anzubringen, als Forrest-1 schreiend inmitten der Operation hochgeschreckt kam. Er hatte mit solchen Kräften an den Fesseln seiner Handgelenke gezerrt, dass sie gerissen waren. Kaum hatte er die Hände frei, riss er sich die Augenbinde herunter. Entsetzt starrte er in Pennistons Gesicht. Dann ging sein Blick an seinem Körper herunter und er sank ohnmächtig auf den OP-Tisch zurück. Im selben Moment fiel Penniston der Unterschied zwischen Bupvacain und Prilocain wieder ein. Er hätte nach der Narkose länger abwarten müssen. Ein unverzeihlicher Fehler war ihm unterlaufen. Er überlegte, ob er nun abbrechen oder weitermachen sollte. Da bemerkte er unterhalb der Körpermitte von Forrest-1, dort wo die Beine anfingen, einen nassen Fleck auf dem Kunststoffbelag des Operationstisches. Forrest-1 hatte sich eingenässt. Penniston brach die Operation ab. Die Aufnahmen, die seine Mitarbeiter während des Eingriffs gemacht hatten, würden auch so zur Dokumentation genügen.
Zwei Tage nach der Operation waren ebenso wie bei den Eingriffen zuvor, nahezu keine Narben mehr feststellbar.
Dennoch hatte sich etwas verändert. Wie die anderen Male, wo sich Forrest-1 erschrocken hatte, aß er nicht mehr, das kannte Penniston schon, doch diesmal war es nicht dasselbe, und Penniston ahnte es. Aus den einst leuchtenden hellblauen Augen von Forrest-1 war jeder Glanz gewichen. Apathisch lag er zusammengekrümmt in dem Glaskasten, in dem sie ihn seit dem Fund untergebracht hatten und rührte sich nicht. Aus der sonst so fidelen Erscheinung, war jede Spannkraft verschwunden.
Auch Milton schien bemerkt zu haben, dass mit Forrest-1 etwas nicht stimmte. Mit jedem Tag, wo er keine Nahrung zu sich nahm, wurde Milton unruhiger.
»Was ist mit ihm«, fragte Milton zu Penniston gerichtet.
Penniston zuckte mit den Schultern.
»Es wird vorübergehen«, murmelte er.
Am fünften Tag nach Forrest-1 Nahrungsverweigerung erhielten sie Besuch in ihrer Forschungsabteilung. Eine Gruppe von fünf Männern war gekommen. Drei der Männer trugen teure Businessanzüge, unter ihnen befand sich der Direktor des CIA. Die anderen beiden Männer hatten reichdekorierte Uniformen. Penniston registrierte, wie Milton um die Gruppe wie ein unterwürfiger Hund herumschlich. Einer der Anzugträger fixierte Penniston mit einem unangenehm stechenden Blick.
»Was fehlt Forrest-1?«, fragte er.
Obwohl es nur eine einfache Frage war, fühlte sich Penniston, als hätte man ihn einer Schuld bezichtigt. Aber er hatte ja nur das getan, was man von ihm erwartet hatte.
»Er nimmt keine Nahrung zu sich«, antwortete er.
»Können wir daran etwas ändern?«
»Wir sollten noch warten, bis wir einschreiten«, sagte Penniston. »Noch besteht keine Gefahr.«
»Wir dürfen ihn nicht verlieren, er ist wichtig für uns«, sagte jetzt einer der Männer in Militäruniform und trat nach vorne. Er war der ranghöchste Militärbeamte, dem Penniston je gegenübergestanden hatte, auf seinen Schulterstücken waren fünf Sterne im Kreis abgebildet.
Penniston nahm an, dass er direkt aus Washington angereist war.
»Ich bin mir dessen bewusst«, sagte er.
Doch auch die nächsten Tage rührte Forrest-1 keine Nahrung an. Penniston schaffte es lediglich, ihm zwangsweise, etwas Flüssigkeit einzuflößen.
Sogar der aalglatte und sonst gefühlslose Milton zeigte sich impulsiv.
»Tun sie endlich etwas«, zischte er Penniston ins Ohr.
Achtundzwanzig Tage später waren sie gezwungen Forrest-1 eine Magensonde zu legen. Doch trotz der künstlichen Ernährung, nahm Forrest-1 immer weiter ab. Nach siebenunddreißig Tagen glaubte Penniston eine Metabolische Azidose zu sehen. Die Atmung von Forrest-1 war tiefer geworden und er zeigte deutlich die typische Kußmaul-Atmung, die unmittelbar vor dem Exitus eintrat. Forrest-1 drohte ins Koma zu sinken.
Mittlerweile bekamen sie täglich Besuch in der Forschungsabteilung. Diesmal waren sie zu dritt. Die zwei Männer in teuren Anzügen, von denen Penniston annahm, dass sie hinter den Kulissen des Geheimdienstkonstrukts die Fäden zogen. Und jener in Militäruniform, bei dem Penniston glaubte, dass man ihn 2500 Meilen quer über den Kontinent, von Washington nach Nevada gescheucht hatte, um nach dem Rechten zu sehen.
»Sieht nicht gut aus«, kommentierte einer der Anzugträger, mit Blick auf Forrest-1. »Wenn das hier schiefgeht, können Sie einpacken!«
Penniston war bemüht, sich die Anspannung nicht anmerken zu lassen. Jetzt musste er einen kühlen Kopf bewahren. In dem Zustand, in dem er sich befand, konnte das Temperament schnell mit einem durchgehen. Er war übermüdet, fühlte sich dünnhäutig und leicht reizbar. Inzwischen war es die zweite Woche in Folge, wo er auch die Nächte im Labor zubrachte. Erst während dieser Zeit war ihm bewusst geworden, wie wichtig ihm die Arbeit an Forrest-1 war und welchen unverzeihlichen Fehler er begangen hatte. Wie ein Besessener hatte er die Erforschung von Forrest-1 vorangetrieben, als ob es nichts zu verlieren gäbe. Doch nun war er drauf und dran, alles zu verlieren. Aufgrund der außergewöhnlichen Wundheilkräfte hatte er sich auf der sicheren Seite gewähnt und sich hinreißen lassen, zu immer riskanteren Versuchen. Dass dieses Wesen sich aber dazu entschließen könnte, nicht mehr leben zu wollen, mit dieser Möglichkeit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Und jetzt stand sein eigenes Schicksal mit auf dem Spiel – was wenn Forrest-1 starb und er als Forscher versagt hatte? Die CIA ließ sich mit einem Löwenrudel vergleichen, schwächelte einer, lief er Gefahr geschasst zu werden. Und Penniston war mitnichten willens, das Schicksal von Ernie Harrington zu teilen.
»Wessen Einverständnis hatten sie eigentlich zu diesem Eingriff?«, redete der Typ im Anzug weiter, »oder haben Sie eigenmächtig gehandelt?«
Penniston traten kleine Schweißperlen auf die Stirn.
»Ich habe nur meine Anweisungen befolgt«, erwiderte er, »sämtliche Details des Eingriffs sind mit den beteiligten Wissenschaftlern erörtert gewesen und waren mit dem Leiter des DS&T abgesprochen.«
Jetzt kam der Mann in Uniform näher. Er legte ihm einen Arm um die Schulter und gab den anderen beiden mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie Abstand nehmen sollten.
»Es ist sicher nicht Ihre Schuld«, sagte er, »gehen wir einmal davon aus, dass sich die Situation nicht vorhersehen ließ. Wir alle haben den Fehler gemacht und die Wichtigkeit von Forrest-1 unterschätzt. Tot nützt er nicht viel, aber lebend ist er von unvorstellbarem Wert für uns. Er ist der Einzige seiner Art. Vielleicht gibt es etwas, das Sie bisher noch nicht versucht haben, denken Sie nach, Sie haben freie Hand!«
Die kommende Nacht blieb Penniston wieder im Labor. Alle paar Minuten sah er nach Forrest-1, ob sich dessen Brustkorb noch hob und senkte. Hoffnung hatte Penniston keine mehr – wenn der Prozess des Hungerns zu weit gegangen war, ließ er sich nicht mehr umkehren. Die Organe versagten, eines nach dem anderen und anschließend hörte das Herz auf zu schlagen. In manchen Fällen trat auch ein Herzinfarkt ein, ohne dass zuvor ein Organversagen stattgefunden hätte. Das Ergebnis aber war dasselbe: Exitus. Dann kam ihm wieder in den Sinn, in welcher anormal kurzen Zeit die Wunden von Forrest-1 verheilt waren und er war sich nicht mehr so sicher. Forrest-1 war kein Mensch.
Inzwischen war es vier Uhr morgens. Penniston hatte sich auf einen harten Holzstuhl vor dem Glaskasten niedergelassen. Den Stuhl hatte er sich eigens von Al, dem neuen Wachmann, ausgeliehen, der mit dem Kreuz Probleme bekam, wenn er zu weich saß. Jetzt half der Stuhl Penniston nicht einzuschlafen.
Ein paar Meter entfernt saß Milton. Dieser aber hing schlaff in einem Luxus-Bürostuhl. Die Knie lagen in Höhe des Kinns, die Augen halb geöffnet, hielt er den Blick auf den Glaskasten gerichtet. Doch Penniston war sich nicht sicher, ob er nicht trotz der offenen Augen schlief.
Penniston ging zu dem Glaskasten und hob den Deckel ab. Eine Prozedur die er beinahe stündlich wiederholte. Vor ihm lag Forrest-1. Schon die Nächte davor hatte Penniston begonnen, Forrest-1 gut zuzureden.
»Bitte lebe«, flüsterte Penniston wieder und wieder.
Nach ein paar Minuten wiederholte er die Worte mechanisch, es war das einzige was er noch tun konnte, alles andere war schon getan.
»Bitte lebe ... Bitte lebe ... Bitte lebe«, flüsterte er. »Du musst essen! Verstehst du, essen! Ich werde dich in Zukunft auch anständig behandeln! Wenn du wieder gesund wirst, soll es Dir an nichts fehlen. Du musst nur leben.«
Gegen fünf Uhr glaubte Penniston eine leise Bewegung des Kopfes bei Forrest-1 zu sehen. Doch er war sich nicht sicher, ob ihm sein Gehirn nicht einen Streich spielte, schon zulange war er ohne Schlaf.
»War das ein Nicken?«, fragte Milton und richtete sich in seinem Sessel auf.
Penniston ging zu einem Medizinschrank und holte ein Fläschchen mit einer speziellen Lösung aus Glucose, Natriumcitrat, Natriumchlorid und Kaliumchlorid.
Diese Lösung hatte ihm Penniston immer wieder versucht in den Mund zu träufeln. Anfangs hatte Forrest-1 noch seinen Kopf zur Seite gedreht und die Aufnahme verweigert. Doch zuletzt war er so geschwächt, dass er sich nicht einmal mehr zur Wehr gesetzt hatte. Aber dann hatte er nicht geschluckt, und die Lösung war ihm in die Luftröhre geraten, dass er beinahe daran erstickt wäre. Daraufhin hatte Penniston es sein lassen.
Er sog ein wenig der Lösung in eine Pipette und tropfte sie ihm auf den Mund. Forrest-1 öffnete leicht die Lippen. Sekunden später sahen sie, dass der Adamsapfel an Forrest-1 dünnem Hals eine leichte Vor- und Zurückbewegung machte, und deuteten es als einen Schluckreflex. Milton atmete auf. Auch Penniston fiel ein Stein vom Herzen. Es war noch kein Sieg errungen, aber es war ein Weg.
»Ich glaube, er nimmt wieder Nahrung auf«, sagte Penniston.
»Ich werde mich schlafen legen«, sagte Milton und nahm sein zerknittertes Jackett vom Stuhl, das er sich als Kopfstütze unter den Nacken geschoben hatte. Er strich ein paarmal mit der flachen Hand darüber, damit die Falten halbwegs herausgingen. Dann streifte er sich die Jacke über.
Penniston nickte. »Ich bleibe noch etwas«, sagte er.
Zwei Stunden später erschien der hochrangige Militärbeamte. Diesmal war er alleine gekommen. Penniston registrierte, seinen erleichterten Gesichtsausdruck.
»Gute Arbeit«, sagte er und klopfte Penniston Lob bekundend auf die Schulter. Er drückte ihm ein Kärtchen in die Hand.
»Ich erwarte einen wöchentlichen Bericht von Ihnen.« Als er weg war, sah Penniston auf die Karte, wie er vermutet hatte, war als Adresse ein Büro im Weißen Haus, in Washington, D.C., angegeben.
Nach zwei Tagen hatte sich das Aussehen von Forrest-1 kaum merklich verändert, doch Penniston spürte, dass die Gefahr vorüber war. Zur Sicherheit verbrachte Penniston noch immer die Nächte im Labor. Er wollte zur Stelle sein, wenn ein Problem auftauchte. In der dritten Nacht sah er wie Forrest-1 seine Lippen bewegte. Er sagte etwas. Penniston stellte den Lautsprecher, der die Geräusche aus dem Glaskasten an die Außenwelt übertrug, auf maximale Lautstärke. Doch er hörte nichts als ein Knistern und Atemgeräusche. Also schob er die Abdeckung des Glaskastens beiseite und hielt seinen Kopf hinein.
Forrest-1 sprach mit schwacher, kaum zu vernehmender Stimme. Penniston musste genau hinhören, damit er etwas verstand.
»Du hast gesagt, dass du mich in Zukunft anständig behandeln willst.«
Penniston nickte. »Wir werden dich wie einen Menschen behandeln«, sagte er.
Eine kurze Pause entstand, ehe Forrest-1 weiterzusprechen versuchte.
»M ... Menschen behandeln einander nicht gut – behandle mich, wie du dich selbst behandeln würdest.«
»Ich werde mir Mühe geben«, antwortete Penniston und öffnete sich den obersten Knopf seines Hemdkragens, ihm war in dem engen Glaskasten heiß geworden.
Am nächsten Tag sah Penniston wie Forrest-1 wieder seine Lippen bewegte und etwas sagen wollte. Wie am Tag zuvor entfernte er die Abdeckung und hob seinen Kopf hinein. Forrest-1 Stimme war kaum hörbar und man merkte, dass ihm das Sprechen allerhöchste Anstrengungen bereitete.
»Als du mich damals mitgenommen hast, sagtest du, dass du mich nicht freilassen könntest, weil du ein Wissenschaftler seist.«
Forrest-1 richtete mühsam seinen Kopf auf. Seine Wangen waren eingefallen und die Augen lagen in tiefen Höhlen, doch die Augen selbst wirkten wieder klar.
»Was ist das, ein Wissenschaftler?«, fragte er mit dünner Stimme.
Penniston überlegte.
»Jemand der viel gelesen und dann darüber nachgedacht hat.«
»Was ist das, Lesen?«
Penniston ging zu einem der Arbeitstische und kehrte mit einem beschriebenen Blatt zurück, er zeigte auf die Schriftzeichen.
»Die Zeichen haben eine Bedeutung«, sagte er, »das Entziffern nennt man Lesen.«
»Bring es mir bei«, flüsterte Forrest-1 mit letzter Kraft und ließ seinen Kopf erschöpft auf das kleine Zellstoffkissen sinken, das man ihm untergelegt hatte.
Diese Ereignisse lagen nun 29 Jahre zurück.
Seither hatte sich die Situation grundlegend geändert.