Читать книгу Gerry Christmas - Kris Felti - Страница 6
ОглавлениеEs war einmal in Weihnachtsstadt
»Kinder, Kinder!«, schallte es durch den großen Raum, der mit wohliger Wärme, dem Duft nach Bratapfel und Zimt und allerlei Geplapper erfüllt war. Stimmen von großen und kleinen Kindern, tiefe und hohe Stimmen. Die Piepsigste war eindeutig die von Pekka, dem aufgeweckten blondgelockten Jungen aus der ersten Reihe. Gerry schmunzelte bei dem Gedanken an dessen zuweilen ausbrechenden Jähzorn, der so gar nicht zu seinem engelhaften Aussehen passen wollte. Die Freude dieses Burschen am Lernen war jedoch so unendlich groß, dass Gerry all die kleinen Wutausbrüche als das abtat, was sie waren: der Versuch, mit all den unruhigen Geistern, die in dem Elfenkind tobten und ständig hungrig nach neuem Wissen waren, zurechtzukommen. Diese Art der Organisation dieser inneren Geister war für jedes Kind eine Herausforderung. Meistens waren diese Geister jedoch wie gute kleine Dienstleister, die dem Kind halfen, alles Wissen in die eigens dafür vorgesehenen Schubfächer zu packen. Bei manchen Kindern funktionierte dieser Service jedoch nicht so gut. Die Wissenschaftler waren sich noch nicht einig, woran das hätte liegen können. Entweder hatte das Kind einfach Pech und seine inneren Geister waren noch in der Ausbildung für einen guten Dienst gewesen. Oder aber, das Kind war offen für so viele Eindrücke und Wissen, dass seine Geister die Fülle des Erlernten nicht schnell genug organisieren konnten. Obwohl sich dieser Prozess im Inneren des Kindes abspielte, berührte er sein Verhalten und damit seine Außenwirkung. Es schien, als ob das Kind im Chaos versinken und mit sich und der Welt nicht im Einklang stehen würde. Gerry wusste, dass Pekka zu den Kindern gehörte, dessen innere Geister sich permanent unterbesetzt fühlten. Sie mussten lernen, sich auf die Besonderheit des Jungen einzustellen, um ihn bestmöglich zu unterstützen. Oft sagen die Leute über ein Kind: »Der Knoten ist noch nicht geplatzt.« So war es auch bei Pekka. Sein Knoten brauchte noch ein Weilchen. Bis dahin war es die Aufgabe der liebevollen Eltern und des Lehrers, dem Jungen behutsam die Richtung zu weisen. Gerry ließ sich in den großen Lehnsessel fallen, der direkt am lodernden Kamin hinter einem wuchtigen Schreibtisch stand. Es machte ein merkwürdiges Geräusch. Wie an jedem Tag fing Gerry in diesem Moment die ganze Aufmerksamkeit seiner Klasse ein. Die dreißig Kinder lachten, ordneten ihre Hefte und Bücher auf ihren Schulbänken und richteten ihre Augen auf ihn. Augen hinter Brillengläsern, braune Augen, blaue, grüne, rote Augen. Beinahe alle Farben schmückten die Augen der Kinder. »Wie ein bunter Blumenstrauß«, dachte der Lehrer bei sich. Auf allen kleinen Gesichtern war dieses Lächeln gezeichnet, das sich wie bei einer Urlaubsreise in einen Liegestuhl ihrer Herzen legte und sich nicht wegrührte. Für Gerry war es der wichtigste Augenblick des Tages. Es war wie ein Ritual und sowohl er als auch seine Schüler liebten diesen Moment, wenn sein Sessel pupste und damit signalisierte: Augen und Köpfe aufgepasst!
Am Nachmittag, wenn die Schneeflocken sich zu ihrem alltäglichen Tanz versammelten, verließ das letzte Kind den Klassenraum, nachdem es die grüne Tafel fein säuberlich geputzt und den Schwamm zum Trocknen an den Kamin gelegt hatte. Gerry blickte über seinen Brillenrand lächelnd in das Gesicht der hilfsbereiten Schülerin. Ylva war ein ruhiges Mädchen, sehr intelligent, aber auch sehr ängstlich und verschlossen. »Vielen Dank, Ylva. Was würde ich nur ohne dich tun?«, fragte er. Mit ihren grünen wachen Augen, die den Schein kleiner Sterne eingefangen hatten, blinzelte sie ihn an. »Sie wissen, wie sehr ich die Ruhe im Klassenzimmer mag, wenn im Kamin das Feuer prasselt und ich Ihren Stift auf dem Papier kratzen höre. Es ist die schönste Art, den Schultag ausklingen zu lassen.« Leichtfüßig verließ sie daraufhin das Zimmer. Gerry lauschte dem Knistern der Flammen und dem Schreibgeräusch seines Stiftes. Er liebte sie auch, diese Ruhe nach einem lauten Tag. Nicht, dass er sich beschweren würde. Die tönende Fröhlichkeit seiner Schüler war sein Lebenselixier. Dieses unbeschwerte Lachen tauchte die ganze Welt in einen großen Farbtopf. Glück hatte die Farben des Regenbogens in all seinen Nuancen und der ihm eigenen Leuchtkraft. Gerry nahm seine Stiefel vom Bänkchen neben dem Kamin, zog seine dicke Jacke, Mütze und Handschuhe an und stapfte durch den hohen Schnee.
Nur wenige hundert Schritte entfernt war sein kleines Häuschen. Aus dem Schornstein stieg dunkler Rauch. Der Hausmeister der Schule, der alte Jonte, ging jeden Nachmittag vor Unterrichtsschluss zum Haus des Lehrers, um den Kamin in der Stube und den kleinen Ofen in der Küche anzuheizen, auf den er den Wasserkessel mit frischem Wasser stellte. Gerry sollte es gemütlich warm haben und heißes Wasser für den Tee, wenn er heimkam. Die Hausmeisterfrau, Ragna, gab ihrem Mann jeden Tag einen kleinen Topf von ihrem frisch gekochten Essen für den Lehrer mit. Sie wusste, wie sehr Gerry ihre Suppen liebte. Besonders wenn sie ihre berühmte Kürbisblattsuppe mit Erbsen und Möhren kochte, nahm sie einen sehr großen Topf und stellte den Rest in den Eisschuppen neben ihrem Haus. So blieb das Essen viele Tage frisch und konnte im wahrsten Sinne »Stück für Stück« aufgewärmt und gegessen werden. In ihrem Eisschuppen war allerlei Gemüse säuberlich gelagert. Ragna ließ sich jeden Monat ein großes Paket mit Karotten, Erbsen, Kürbissen, Kürbis- und Weinblättern schicken, das pünktlich, ohne Unterbrechung der Kühlkette, von UPS angeliefert wurde. In dem kleinen Städtchen am Nordpol wurde kein Fleisch gegessen. Woher sollte man es auch nehmen? Die Rentiere waren keine Nutztiere, sondern lebten als Bewohner mit den Elfen zusammen. Sie zogen die schweren Schlitten, die mit Holz beladen ohne sie nicht den Weg aus den entfernten Wäldern zu den Häusern im Städtchen finden würden. Niemand dachte auch nur im Traum daran, einen seiner geliebten Rentier-Freunde in einen Kochtopf zu stecken. Ragna und die anderen Elfen- und Wichtelfrauen wussten die köstlichsten Speisen aus Gemüse und Korn zuzubereiten. Wenn Gerry in die warme Stube trat, überkam ihn ein heimeliges Gefühl. Er hörte den leisen Singsang des Wasserkessels und beeilte sich, seine Stiefel ins Regal zu stellen und in die Küche zu eilen. Im Hängeschrank bewahrte er verschiedene Tees in großen Gläsern auf: Hagebutte, Kamille, Salbei, Pfefferminze, getrocknete Ingwerwurzel. Heute entschied er sich für eine Mischung aus Hagebutte und Kamille. Er stellte Ragnas Töpfchen auf den Herd, gab zum Tee einen Löffel Honig und lief zurück in die Stube. Vor dem Kamin stand sein Lehnsessel, in dem sein Großvater einst gesessen hatte und später auch sein Vater. Er stellte den Pott Tee auf das kleine Tischchen neben dem Sessel, nahm sich eine kuschelige Decke und breitete sie sich über seinen Beinen aus, nachdem er Platz genommen hatte. Auf dem Tischchen lagen sein Pfeifchen und der köstlich nach Apfelkuchen duftende Tabak. Als das Aroma aus seinem Pfeifchen und seinem Tee den Raum erfüllten, lehnte Gerry sich zurück, schloss seine Augen und verlor sich mit seinen Gedanken in der Vergangenheit. Er tauchte ein in eine Zeit, lange bevor er geboren worden war.