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ОглавлениеIm fernen Land der Pharaonen
Vor vielen, vielen Jahren führten in einem fernen Land Mohamed und seine Frau Abeer ein beschauliches Leben. Während am Nordpol der Malermeister Winter auf seiner Leiter steht, um in zwei Farbtöpfen weiße und blaue Farben zu den schönsten Blautönen zu mischen und den eisigen Zauber der Winterlandschaft zu unterstreichen, scheint die Welt weiter südlich in Orange getaucht. Ägypten ist ein Land im Norden von Afrika. Farben von hellem Gelb bis zu dunklem Ocker kennzeichnen eine Landschaft, die beinahe schon karg ist. Doch Palmen zieren große Flächen oder säumen Wege. Bei fürsorglicher Bewässerung kann auch hier und da vor manchem Haus das Grün der Wiesen und Sträucher die warmen Sonnenstrahlen genießen. Die Temperaturen steigen im Sommer bis zu fünfzig Grad Celsius und in den Wintermonaten sinken sie nie unter zwölf Grad. Ägypten ist ein Land für Sonnenanbeter, Archäologen und Urlauber, die von der Wärme und Herzlichkeit der Einheimischen berührt sind. Ägypten war auch die Heimat von Mohamed und Abeer. Aber sie waren weder Sonnenhungrige, noch Forscher oder Urlauber. Sie waren keine Menschen, sondern gehörten zur Gattung Coccinella septempunctata, dem Siebenpunkt-Marienkäfer. Sie waren hier geboren worden, wie auch ihre Eltern und Großeltern. Wann ihre Vorfahren von Europa nach Afrika gekommen waren, war nicht überliefert. Es musste irgendwann passiert sein, als der Winter mit seinen kalten Händen nach den kleinen Käfern gegriffen hatte und sie Schutz in den Häusern der Menschen suchten. Vermutlich verkrochen sich einige von ihnen in einem Schuppen, in dem Kisten mit Waren lagerten, die zum Export nach Ägypten bestimmt waren. Nach dem Winterschlaf erwachten sie in ihrer neuen Heimat und fühlten sich schnell heimisch. Sie konnten für ihre Familien sorgen und führten ein glückliches Leben. Einziger Wermutstropfen war der schwierige Kontakt zu ihren Familien in Europa. Sie hatten noch kein Telefon und die Briefe, die mit der Post versendet wurden, brauchten mehrere Wochen. Neuigkeiten waren dann eigentlich keine Neuigkeiten mehr. Aber es war, wie es war. Und keiner beschwerte sich darüber. Ihre Kinder gingen zur Schule, lernten einen Beruf und konnten wiederum für ihre Familien sorgen. Ägypten war ein Land, in dem zu leben ein Glück war. Wenn Mohamed am Morgen das Haus verließ, um zu seiner Arbeit auf die Baustellen zu surren, führte ihn sein Weg vorbei an den drei Pyramiden. Diese waren für ihn nicht nur wie ein Kompass, um ohne Schwierigkeiten aus allen Himmelsrichtungen kommend nach Hause finden zu können. Sie waren auch ein Symbol dafür, dass Bauwerke viele tausend Jahre von der Kunstfertigkeit, Intelligenz und Kultur eines Volkes erzählen konnten. »Bauwerke für die Ewigkeit«. Für Mohamed war es eine Ehre, Bauunternehmer zu sein. Zugegeben, er war nur ein kleiner Bauunternehmer für seinen Stamm. Aber ebenso, wie es sein Großvater Ehab und sein Vater Ibrahim getan hatten, fühlte er sich als Teil von etwas Großem. Den unzähligen Familien Häuser zu bauen, die im Regen und Sandsturm Schutz boten, erfüllte ihn mit Stolz. Wenn er am Morgen zu seinen Baustellen flog, um die Arbeiter einzuweisen, ihnen Rat zu geben und dafür zu sorgen, dass sie ihr Mittagessen zur Baustelle geliefert bekamen, saß sein Vater Ibrahim im Liegestuhl auf der kleinen Terrasse vor dem Haus. Deren Dach bot Schutz vor den heißen Sonnenstrahlen. Aber der alte Mann liebte es, einfach dazusitzen, seine schmerzenden Gelenke zu kühlen und zu den Pyramiden zu blicken, wie es vor ihm auch sein Vater Ehab tat und wie es nach ihm sein Sohn Mohamed tun würde, während einer seiner künftigen Söhne sein Unternehmen weiterführte. So würde es weitergehen, immer und immer wieder. Doch da hatte Großvater Ehab sich leider geirrt. Er saß wieder einmal gemütlich im Schatten auf seiner Terrasse, als Abeer aufgeregt vom Markt zurückkam. »Wenn du wüsstest, was ich heute erfahren habe!«, rief sie bereits aus der Küche und beeilte sich, auf die Terrasse zu kommen. Großvater Ehab hatte die Frau seines Enkelsohnes noch nie so aufgelöst erlebt. »Habibti, mein Liebe, setze dich erst einmal hin. Und dann erzähle mir alles von vorn.« Abeer zog den Schemel näher an den Liegestuhl des alten Mannes heran. »Ich habe gerade mit Ghada gesprochen. Du weißt, wir sind zusammen zur Schule gegangen.« Ihre Stimme zitterte noch immer und Großvater Ehab legte seine Hand beruhigend auf ihren Arm. »Ghada hat ihren Mann vor ein paar Monaten verloren, nachdem dieser in einen Sandsturm geraten war.« Ehab nickte. »Ja, mein Kind, ich erinnere mich. Ist er nicht in einen Fluss gefallen und ertrunken?« Abeer begann zu schluchzen und fuhr fort. »Gestern kamen die Harlekine in ihre Wohnsiedlung und benahmen sich, als wären sie dort zu Hause. Sie schlugen die Männer und zertrampelten die Gärten.« Die Harlekine waren eine andere Gattung der Marienkäfer. Man nannte sie auch asiatische Marienkäfer oder Harlekin-Marienkäfer. Diese Art war größer als die Siebenpunkt-Marienkäfer. Aber was sie ganz besonders von den Siebenpunkt-Marienkäfern unterschied: Sie bildeten die Armee ihres gewählten Präsidenten, Har-Lekin. Dieser war einst ein General in der Armee gewesen, bis er zum Präsidenten gewählt worden war. Jedoch war sein Geltungsdrang so groß, dass er sich überall Paläste bauen ließ, und weil er den Platz dafür brauchte, die Bewohner aus ihren Häusern vertrieb. Mit schwerem Gerät kamen sie in die Siedlungen und rissen die Wände der Häuser ein. »Der Bau war nicht genehmigt«, behaupteten die Soldaten. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs und Har-Lekin wusste, dass nur seine Armee ihn noch schützen konnte. Für die Soldaten ließ er Kasernen in Kairo bauen. Doch auch die Generäle und deren Familie brauchten ein Zuhause. Wie alle Bauunternehmer in Kairo freute sich Mohamed über diese für sein Gewerbe glückliche Fügung, die eine große Anzahl an Aufträgen bedeutete. Noch nie war er so zufrieden gewesen. Mit Abeer malte er sich die Zukunft in den farbenprächtigsten Bildern aus. Sie würden eine große Familie haben mit vielen glücklichen Kindern. Seine Sprösslinge würden die besten Schulen im Land besuchen, eigene Familien gründen und für ihre Eltern und Großeltern sorgen. An jedem Abend saßen Mohamed, sein Vater Ibrahim und sein Großvater Ehab auf der Terrasse, sahen dem Sonnenuntergang hinter den Pyramiden zu und ihre Ideen und Träume wuchsen in den Himmel. Jeden Morgen inspizierte er die Baustellen, motivierte seine Arbeiter, die bei sengender Hitze von morgens bis in den Nachmittag hineinarbeiteten, um rechtzeitig zum Termin fertig zu werden. Manchmal musste Mohamed seine Arbeiter bitten, bis spät in die Nacht zu schuften, damit er seine Verträge einhalten konnte. Dann bezahlte er ihnen einen höheren Tagelohn. Wer weiß, wie lange die Auftragslage anhalten würde. Und was würde sein, wenn Mohamed die Fristen nicht einhalten konnte? Würde er weiterhin Verträge aushandeln können? Dank seiner Arbeiter hielt er die Termine. Auch der letzte Großauftrag, ein weitflächiger Wohnkomplex für die Angehörigen der Regierung und der Armee, konnte zum vereinbarten Datum fertiggestellt werden. Am Tag der Abnahme war Mohamed zuversichtlich, dass die Beamten und Generäle die Kunstfertigkeit seiner Arbeiter hoch loben würden. Aber es kam anders. Die Generäle übernahmen die Häuser ohne ein Wort und ohne Bezahlung des vereinbarten Lohnes. »Die Regierung und ihre Armee sind die Sicherheit und das Rückgrat unseres Volkes«, sagte ein Beamter achselzuckend, während Mohamed von zwei Soldaten gepackt und nach draußen gebracht wurde. Sie warfen ihn in den Sand, lachten und gingen zurück durch die große Eingangstür. Mohamed war fassungslos. Wie konnte er nun seine Arbeiter entlohnen? Wie konnte er seine Familie ernähren? Für die Baustoffe hatte er sein gesamtes Vermögen aufgebraucht. Denn er hatte ja angenommen, dass sich seine Mühe und sein Opfer auszahlen würden. Und jetzt? Mohamed konnte nicht aufgeben. Vater Ibrahim und sein Großvater Ehab waren auf ihn angewiesen. Aber sie hatten keine hohen Ansprüche. Er und Abeer würden noch warten müssen, bis sie eigene Kinder haben würden. Sie hatten ihr Zuhause. Das war das Wichtigste. Doch jetzt machte sich Furcht unter den Siebenpunkt-Marienkäfern breit. Wenn die Soldaten in ihre Wohnsiedlungen kamen, um die Männer zu schlagen und die Gärten zu zerstören, was würde als Nächstes folgen? Großvater Ehab blickte ratlos in Abeers tränennasses Gesicht. »Ich glaube nicht, dass es schlimmer wird. Unser Präsident wird unsere Rechte schützen. Das haben alle Präsidenten vor ihm auch getan.« Leider täuschte sich der alte Mann. Bereits einige Tage später waren fast alle Wohnsiedlungen dem Erdboden gleichgemacht. Auch Mohameds Haus fiel dem Abriss-Kommando der Armee zum Opfer. Für die Siebenpunkt-Marienkäfer wurde das Leben in Kairo immer unerträglicher. Die braven Leute versuchten, sich den Gegebenheiten anzupassen. Aber immer mehr von ihnen starben an Hunger und Krankheiten oder sie ertranken, weil sie dem Regen und den Sandstürmen schutzlos ausgeliefert waren. Viele Familien wurden ausgelöscht. Bei dem Versuch, sich gegen die Armee und Har-Lekin aufzulehnen, wurden die Anführer inhaftiert und zum Tode verurteilt. Es gab keine Hoffnung mehr, kein Zuhause, keine Arbeit und nichts zum Essen. Mohamed musste an seine ersehnte Familie denken. Er wollte Kinder haben, die in einer glücklichen Welt aufwachsen sollten. Ägypten konnte ihm diese Perspektive nicht mehr bieten. Als sein Großvater Ehab an gebrochenem Herzen starb und er befürchten musste, dass auch sein Vater Ibrahim nicht mehr lange leben würde, überredete er ihn und Abeer, in ein anderes Land auszuwandern, um dort ein neues Zuhause zu finden, wo sie miteinander in Frieden und in Sicherheit leben konnten.