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DIENSTAG, 8. MAI 2007

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1.

Dr. Deborah Ashcroft war in Eile – wie immer, wenn ihr Boss einen Vortrag hielt. Daran änderte auch ihr eigener beruflicher Erfolg nichts. Für ihre jungen einunddreißig Jahre waren ihre Forschungen im Bereich der Virologie bereits überaus fortgeschritten und gewannen zunehmend auch international Anerkennung, doch wenn der berühmte Epidemiologe Professor Wang Dadong einen Vortrag hielt, dann war sie wieder seine kleine Assistentin, sein Mädchen für alles.

Bei reibungslosem Ablauf erlaubte er ihr, sich kurz mit ihm in seinem Ruhm zu sonnen. Wenn zu dem guten Ablauf auch noch gute Laune bei Wang kam, erwähnte er sogar kurz ihren Namen und ihre Arbeit. Lief hingegen auch nur das kleinste Detail schief, so sprach er eine Woche nicht mit ihr und überhäufte sie im Institut mit Aufgaben, um sie von ihren eigenen Forschungen abzuhalten.

Zwar handelte es sich bei ihrer Arbeit um ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in dem sie als Virologin mit dem Epidemiologen zusammen – und nicht für ihn – arbeiten sollte, doch das schien sich mit Wangs Selbstverständnis schwer zu vertragen.

Zudem war ein gutes Gelingen nie so wichtig gewesen wie heute. Vor einem illustreren Publikum hatte der Professor lange nicht gesprochen. Nicht nur die absolute Weltelite aus Virologen und Epidemiologen würde zugegen sein, auch die Regierungschefs der acht selbsterklärten größten Wirtschaftsmächte dieser Erde würden dem Vortrag beiwohnen. Immerhin war dies nicht irgendein Kongress, sondern der G8-Gipfel.

Wangs Einsatz war es hauptsächlich zu verdanken, dass die weltweite Gefahr von Epidemien zu einem der Hauptthemen des Gipfels erklärt worden war. Seit der großen weltweiten SARS-Epidemie von 2003 hatte er dafür gekämpft. Jederzeit konnte ein noch gefährlicheres Virus auftauchen – mit ein wenig Pech sogar eins, dem die Menschheit nicht gewachsen war. Man musste Notfallpläne ausarbeiten und zwar auf internationaler Ebene.

Debbie vermutete allerdings, dass die Rettung der Menschheit nicht Wangs primäres Ziel war. Sie kannte ihn gut und wusste ob seiner Eitelkeit. Die Vermutung lag nahe, dass die Vorstellung, vor den mächtigsten Menschen der Welt zu sprechen, die wahrscheinlichere Triebfeder des Professors gewesen sein dürfte.

Doch Wangs Motive spielten in diesem Moment keine Rolle. Die einmalige Chance, die Weltöffentlichkeit auf eine ernstzunehmende Bedrohung aufmerksam zu machen, durfte nicht ungenutzt bleiben. Nein, bei diesem Vortrag durfte wirklich nichts schief gehen.

Der Weg vom Hotel bis zum Kongresszentrum war nicht weit. Dennoch verdammte Debbie nach wenigen Schritten ihre Entscheidung, kein Taxi genommen zu haben. Sie mochte das deutsche Wetter nicht, speziell an der Küste. Während ihrer fünf Studienjahre in Köln hatte sie Land und Leute lieben gelernt – aber nie das Wetter. Gewiss waren die Winter in Minnesota zu kalt und die Sommer zu heiß, aber wenigstens hatte man rund ums Jahr Sonnenschein. Sie wusste, dass das nicht ganz stimmte, aber im Vergleich mit Deutschland kam es einem so vor. Besonders an diesem verregneten Nachmittag.

Dieser fünfminütige Fußmarsch würde sie noch mindestens fünfzehn weitere Minuten vor einem Spiegel kosten, bevor sie vor Menschen treten konnte. Ihr nackenlanges blondes Haar war zu kurz für einen Pferdeschwanz. Das würde sie nach diesem Sturm noch bändigen müssen. Sie war nicht eitel, sich aber durchaus der Tatsache bewusst, dass sie mit ihrer schlanken, sportlichen Figur und ihrem gewinnenden Lächeln Blicke auf sich zog. Und wer wollte da schon aussehen wie nach einem fünfminütigen Spaziergang an der Ostsee?

Die ‚Seemöwe’, das Hotel, in dem die Wissenschaftler, die Journalisten und die übrigen less important persons untergebracht waren, war ein etwas bodenständigerer Ableger des luxuriösen ‚Seeadlers’, in dem die Regierungschefs, ihre engsten Berater, die Sicherheitsleute und die übrigen very important persons residierten.

Der gesamte Komplex war erst vor wenigen Jahren direkt an der Ostseeküste entstanden. Man hatte sich für eine moderne Architektur mit viel Glas entschieden. Dieser Vorschlag eines Berliner Architekten hatte sich gegen die zunächst favorisierten Einreichungen anderer Büros im Landhaus- oder Kolonialstil durchgesetzt, weil er weniger prätentiös war, sich selbst nicht so wichtig nahm und somit die wunderschöne Dünenlandschaft der Ostseeküste nicht in den Hintergrund drängte. Ganz im Gegenteil reflektierte das viele Glas die Ostsee, den Himmel und die Dünen sogar noch.

Neben den beiden Hotels umfasste die Anlage einen 18-Loch Golfplatz, der sich im Stil britischer Links Courses in die Dünen schmiegte, und genau zwischen den beiden Hotels lag. Als Debbie den Platz passierte, dachte sie kurz an die Golfspieler, die hier regelmäßig mit dem Ostseewetter zu kämpfen hatten, und sie empfand eine kurze grimmige Schadenfreude.

Zudem gehörte das Kongresszentrum zu dem riesigen Komplex. Hier würden während des Gipfels die wissenschaftlichen Vorträge stattfinden. Natürlich grenzte es direkt an den Luxustempel an. Die Mächtigen dieser Welt würden sich nicht durch Wind und Regen kämpfen müssen. Debbie hätte ein Taxi nehmen sollen.

Shit!” sagte sie laut, als der Sturm einen weiteren Versuch, ihren Regenschirm zu öffnen, vereitelte. In dem Moment klingelte ihr Handy. Das Display zeigte Wangs Namen. Wütend rammte sie den Regenschirm in einen Mülleimer und nahm ab.

Professor. What do you want?”

Debbie. Where you? Hurry.”

Es klang mehr wie ‚Hully’, denn noch immer hatte Wang große Probleme, ein ‚r’ auszusprechen. Debbie hatte nie verstehen können, wie ein Mann von seinem Intellekt, der seit dreißig Jahren internationale Kongresse besuchte und inzwischen auch seit drei Jahren in den USA lebte, noch immer so schlecht Englisch sprechen konnte.

Listen”, sagte sie genervt. „Ich komme, sobald der scheiß Sturm mich durchlässt. Ich bin da, wenn ich da bin.”

„Beeile. Ich Frage mit Vortrag.”

„Ich fliege.” Sie gab sich keine Mühe, den aufsteigenden Sarkasmus in ihrem Tonfall zu unterdrücken. Sie wusste, dass der Professor ihre direkte, offene Art nicht immer schätzte, aber es war ihr egal.

Was sie viel mehr störte, war dieses Wetter. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Das Dunkelgrau des Himmels, der peitschende Regen und das Tosen der im Sturm wütenden Brandung schienen nichts Gutes zu verheißen.

2.

Scheiß Wetter, dachte Passe Hausmann. Es konnte beim besten Willen nicht zur Besserung seiner Laune beitragen. Er hatte sich die ganze Geschichte anders vorgestellt.

Das hier war Kindergeburtstag, Grillen mit Freunden. Er hatte die Videos vom letztjährigen G8-Gipfel in Genua gesehen, doch hier schien niemand bereit, soweit zu gehen. Wo war der Schwarze Block, die Gewaltbereitesten unter den Globalisierungsgegnern? Woran würde er sie erkennen? Wie würde er ihnen vermitteln, dass er einer von ihnen sein wollte?

Diese Jungs trauten sich noch, ihre Meinung zu zeigen. Was half es schon, Transparente zu bemalen, und Sitzblockaden durchzuführen? Wenn man etwas aussagen wollte, dann brauchte man Aufmerksamkeit, und die kriegten sie hier nicht.

In Genua hatten sogar die Spezialeinheiten der Polizei Respekt vor dem Schwarzen Block gezeigt. Gewaltfreie Demonstranten waren brutal zusammengeknüppelt worden – wenn sie überhaupt in die Stadt gelassen worden waren. Aber als die Mitglieder des Schwarzen Blocks durch die Straßen gezogen waren, Autos angezündet und randaliert hatten, da war weit und breit kein Polizist zu sehen gewesen, der sich ihnen in den Weg zu stellen gewagt hätte. Die Aufnahmen waren in den Nachrichten auf der ganzen Welt ausgestrahlt worden, man hatte Aufmerksamkeit erzeugt. Nur so ließ sich etwas bewegen.

Nicht so hier.

Fast ärgerte Passe sich, dass er überhaupt hergekommen war. Er hatte geahnt, dass nicht viel passieren würde. Seine Freundin Dora hatte ihn überredet; aber die fand ja auch Sitzblockaden dufte.

Man kam noch nicht mal in die Nähe des eigentlichen Gipfels. Um Globalisierungsgegner fernzuhalten und die Sicherheit der Staatsoberhäupter zu gewährleisten, war im Vorfeld des Gipfels ein zwölf Kilometer langer Zaun im Halbkreis um die Küste und den Versammlungsort errichtet worden. Im Polizeijargon nannte man so etwas eine technische Sperre. Zwölfeinhalb Millionen Euro hatte die Bundesregierung investiert, um aus Stahlgittern und Beton ein nahezu unüberwindliches Hindernis zu schaffen. Der ganze Zaun reichte einen Meter tief in die Erde, um Untertunnelungen zu verhindern. Er war zweieinhalb Meter hoch und komplett mit Stacheldraht umwickelt. Zu guter Letzt sorgten Überwachungskameras in regelmäßigen Abständen für Sicherheit. Dies war in der Tat eine technische Sperre.

Auf der anderen Seite des Halbkreises begrenzte die Ostsee den Gipfelschauplatz. Doch auch von hier aus waren Aktionen nicht möglich. Über fünfzig Schnellboote der Polizei bewachten dicht gestaffelt und unterstützt von fünf Fregatten der Marine die Küste, während regelmäßige Polizeipatrouillen den Strand sicherten. Zudem lagen zwei Kriegsschiffe der U.S. Navy vor der Küste – die Sicherheitsverantwortlichen des Weißen Hauses hatten darauf bestanden. Während sie die Seeraumüberwachung der deutschen Marine durchaus zutrauten, wollten sie die Luftabwehr nicht in fremde Hände geben, und hatten neben einem Zerstörer einen Kreuzer der Ticonderoga-Klasse in die Ostsee verlegt. Kreuzer dieser Klasse waren mit AEGIS-Lenkwaffentechnologie ausgestattet, dem modernsten Luftabwehrsystem der Welt.

In Passes Augen machten die Amerikaner sich mit ihrer Paranoia lächerlich. Er jedenfalls hatte einen Angriff aus der Luft nie in Erwägung gezogen.

Der Zaun um den Versammlungsort hatte den Globalisierungsgegnern natürlich nur weiter Wasser auf ihre Mühlen gegossen. Hier wurde sinnlos und mit beiden Händen das Geld aus dem Fenster geworfen, während auf der anderen Seite der Erde Menschen verhungerten. Die Gruppe der Acht gab vor, die Länder der Dritten Welt zu unterstützen, doch in Wirklichkeit trieb sie die armen Nationen in Abhängigkeiten, um an deren Bodenschätze zu gelangen und immer neue Anlagemöglichkeiten für westliches Kapital und Absatzmöglichkeiten für westliche Produkte zu finden. Wenn man so wollte, war dieser Zaun mit Mitteln gebaut worden, die man von den ärmsten Ländern der Erde genommen hatte. Er symbolisierte die mafiöse Doppelmoral der G8.

Doch der Zaun war nicht das Einzige, was hier vernünftige Proteste erschwerte. Auch der Austragungsort des Gipfels an sich eignete sich denkbar schlecht für aufmerksamkeitsstarke Aktionen. Während der Schwarze Block in Genua noch mehr oder weniger eine ganze Stadt verwüstet und somit seiner Meinung imposant Nachdruck verliehen hatte, gab es hier nichts, was man auch nur hätte anzünden können.

Unmittelbar um den Zaun zog sich ein breiter Gürtel wilder Wiesen. Hier campten die Globalisierungsgegner. Dahinter gab es mehrere kleine Wäldchen, zumeist aus Eichen und Buchen. Bäume, die zu dicht am Zaun gestanden hatten, waren abgeholzt worden, um ein Überwinden des Zauns von einem Baum aus unmöglich zu machen. Wälder und Wiesen. Was für Randale konnte man hier schon veranstalten?

Nur wenige hundert Meter vom Zaun entfernt befand sich dann der eigentliche Dorfkern. Petersdamm war ein beschauliches kleines Ostseedörfchen mit viel alter Bausubstanz und viel Fachwerk. Hier Verwüstungen anzurichten hätte absolut die Falschen getroffen. Wahrscheinlich hätte sich die Bundesregierung nicht einmal um die Beseitigung der Schäden gekümmert. Wen interessierte dieses Kaff nach dem Gipfel schon noch? Außerdem würde es schlicht und einfach nichts bringen, hier etwas zu zerstören. Petersdamm war nicht Genua.

Auf einer Wiese in der Nähe des Zauns hatten unzählige Übertragungswagen von Kamerateams vorläufig Posten bezogen. Im eingezäunten Bereich selbst waren keine Fernsehteams zugelassen. Kameraleute der Bundesregierung filmten hier und gaben das Material nach eingehender Prüfung durch den BND an die Fernsehsender dieser Welt weiter. Die Fernsehteams, die am Zaun entlang Quartier bezogen hatten, hofften, durch die Gitter hindurch etwas Sehenswertes zu erwischen. Zudem erwarteten ihre Zuschauer Vor-Ort-Berichterstattung. Ob die Bilder nun selbst produziert waren oder nicht.

Natürlich hätte man die Übertragungswagen anzünden können. Immerhin nahm das Areal, das für sie vorgesehen war, etlichen Autonomen den Platz zum Campen. Doch auf die Medien war man eben angewiesen, wenn man eine Botschaft in die Welt zu tragen hatte. Erstens musste man ihnen die technischen Möglichkeiten zum Senden belassen und zweitens sollte man sie sich nicht zum Feind machen.

Nein, es gab hier wirklich nicht viele Möglichkeiten, aufmerksamkeitsstarke Aktionen durchzuführen.

Und Dora freute sich auch noch darüber. Unzählige Male hatten sie dieselbe Diskussion geführt. Dora vertrat die Meinung, gewaltfreier Protest würde ernster genommen. Die Öffentlichkeit würde sehen, dass die Demonstranten vernünftige Menschen mit klaren Vorstellungen waren und nicht Rowdies, die mehr wegen der Randale als wegen der politischen Aussage gekommen waren. So ein Schwachsinn. Was für eine Öffentlichkeit denn? Die würden doch gar nichts von den Protesten mitbekommen. Welcher Nachrichtensender sendete denn ein paar Hippies, die sich irgendwo auf eine Straße setzten, über die vielleicht einmal eine wichtige Person fahren würde, vielleicht auch nicht?

Es war Quatsch. Und Doras Überheblichkeit kotzte ihn auch an. Natürlich hatte er sich, bevor er sie kennengelernt hatte, nicht sonderlich für Politik interessiert. Das hatte erst durch sie begonnen. Aber das hieß ja nicht, dass er nicht in der Lage war, sich seine eigene Meinung zu bilden. Besonders, wenn es so offensichtlich war, dass die gewaltfreien Proteste rein gar nichts einbrachten. Dass er mit seinen dreiundzwanzig Jahren zwei Jahre jünger war als sie, stärkte seine Position natürlich auch nicht.

Zwei Kamerateams hatten sie am Vortag gefilmt. Zwei!

Am Tag vor dem Gipfelbeginn hatten sich die Globalisierungsgegner in der Hoffnung, die Mächtigen am Bezug ihres Quartiers hindern zu können, zu einer Sitzblockade auf der einzigen Zufahrtsstraße zum eingezäunten Bereich eingefunden. Von den geschätzten fünfhundert Fernsehsendern vor Ort hatten exakt zwei sie gefilmt. Und dann hatte es die ganz große Überraschung gegeben – etwas, womit wirklich niemand hatte rechnen können: Ihre Zielobjekte waren per Hubschrauber angereist. Passe hatte ernsthaft begonnen, am Verstand seiner Mitstreiter zu zweifeln.

Und jetzt dieses Wetter. Bis hierher konnte er das Tosen der Brandung hören. Das Wüten des Meeres verbunden mit dem landeinwärts wehenden Wind verstärkte den Salzgeruch in der Luft. Der Geruch des Meeres verursachte immer eine leichte Übelkeit bei Passe, seit er als kleiner Junge mal entsetzlich seekrank geworden war. Selbst der Regen vermochte den Salzgeruch nicht aus der Luft zu spülen – nicht einmal dafür war er zu gebrauchen!

Vor zwei Tagen waren sie angereist. Es war ganz nett gewesen. Man hatte gezeltet, gegrillt, Leute kennengelernt. Ganz nett! Aber dafür war er nicht hier. Hatte er vielleicht schon Leute getroffen, die genauso dachten wie er? Mitglieder des Schwarzen Blocks, die sich nur nicht zu erkennen gaben? Er wusste, dass sie stets vermummt waren, wenn sie Randale machten. Vielleicht hatten sie auf dem Zeltplatz Angst, von verdeckten Ermittlern ausgemacht zu werden. Vielleicht gaben sie sich ihm deshalb nicht zu erkennen. Sah er vielleicht aus wie ein verdammter Bulle?

Am liebsten wäre Passe im Zelt geblieben. Aber nach den Regengüssen der letzten zwölf Stunden war es darin auch nicht mehr viel trockener als draußen. Also hatte er sich den anderen angeschlossen und sich zum Kongresszentrum aufgemacht. Dort würde heute der Eröffnungsvortrag des Gipfels stattfinden. Natürlich konnte man nicht bis ganz an das Zentrum heran, doch es war das dem Zaun am nächsten stehende Gebäude, das während des Gipfels genutzt wurde. Tatsächlich trennte lediglich ein großer Parkplatz das Kongresszentrum vom Zaun.

Aber was sollte hier schon groß passieren? Am Zaun entlang hatten unzählige Kamerateams Stellung bezogen. Doch die würden natürlich in der Hoffnung, einen der Mächtigen dieser Welt zu erwischen, ihre Kameras nicht von dem Gebäude abwenden.

Passe seufzte. Hier war einfach nichts zu machen. Kein Wunder, dass sich der Schwarze Block nicht blicken ließ.

3.

Professor Wang Dadongs großer Augenblick war fast gekommen. Sechs Jahre lang hatte er dafür gekämpft, dass die Gefahr von Epidemien auf einem G8-Gipfel thematisiert würde. Nun stand der Moment, auf den er so lange gewartet hatte, unmittelbar bevor. Man würde die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam machen. Man würde Notfallpläne erarbeiten. Es würden Forschungsgelder in astronomischen Höhen fließen. Und das Ganze würde verbunden sein mit seinem Namen.

Er war der Eröffnungsredner. Dies würde seine große Stunde werden, er würde Ruhm ernten wie nie zuvor. Und das war schließlich das Einzige, wonach die verlogene Gemeinschaft der Forscher strebte. Forscher gaben vor, dem Fortschritt verpflichtet zu sein, der Wissenschaft dienen zu wollen, und doch lag ihr eigentliches Ziel nur in Ruhm und Rampenlicht. Nicht einen Forscher hatte Wang in seiner langen Laufbahn kennengelernt, der sich nicht gerne selbst reden hörte, und deshalb war er sich sicher, mit Recht von sich auf alle schließen zu dürfen. Er belog wenigstens sich selbst nicht. Er wusste, dass es der Ruhm war, nach dem er strebte, und nicht die Rettung der Menschheit. Aber er würde es niemals jemanden wissen lassen.

Er warf noch einen letzten Blick in sein Manuskript und war zufrieden. Debbie hatte gute Arbeit geleistet – wie eigentlich immer. Sie war die beste Assistentin, mit der er je zusammen gearbeitet hatte, und mit seinen zweiundsechzig Jahren hatte er deren schon einige gehabt. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er in seiner Heimat China geforscht und gelehrt, bevor er einen Forschungsauftrag der University of Minnesota erhalten hatte. Doch selbst in puncto Fleiß und Eifer stach Debbie seine jungen, ambitionierten Landsleute aus – von ihrem Talent ganz zu schweigen. Ihre Art war manchmal ein wenig zu offen, ein wenig zu direkt, doch zumindest war die Zusammenarbeit dadurch stets unkompliziert und Missverständnisse kamen nicht auf.

Trotz der unzähligen Vorträge, die er in seinem Leben bereits gehalten hatte, ergriff Wang eine leichte Nervosität. Er hatte schon vor Regierungschefs und Staatsoberhäuptern gesprochen, aber noch nie vor einer so gebündelten Verdichtung purer Macht wie hier. Sein Puls legte einen Schlag zu und kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn. Irgendwie schien es warm zu sein im Kongresszentrum.

–––––

Andreas Hanke überprüfte den ovalen Raum ein letztes Mal mit geschultem Blick. Er mochte den Hauptveranstaltungssaal des Kongresszentrums, weil er eingeschossig und nahezu freistehend war. Das erleichterte eine Überwachung enorm, und Überraschungen aus oberen Stockwerken konnten ausgeschlossen werden. Eine zweite Etage hätte man auch schlecht auf den Saal setzen können, denn die Decke war ebenso rund wie der ganze Raum. Im Prinzip glich das Gebäude von außen einem der Länge nach aufgeschnittenen hartgekochten Ei, das auf der Schnittfläche lag. Aufgrund der Nähe zur Ostsee wurde es häufig mit einem gestrandeten Wal verglichen und so hatte sich nach und nach der Spitzname ‚Walfisch’ für das Gebäude eingebürgert.

Der Architektur des gesamten Komplexes angepasst, bestand der ‚Walfisch’ hauptsächlich aus Glas und Stahl und wurde im vorderen Bereich, in dem die Bühne stand, von einer Halbkuppel aus Stahl und Beton abgeschlossen. Diese Halbkuppel diente dem einfachen Zweck, kein natürliches Licht von hinter der Bühne zuzulassen. Zudem vereinfachte sie die Installation der nötigen Lichttechnik und das elegante Verbergen der Kilometer von Kabel.

Um eine völlige Überhitzung bei massiver Sonneneinstrahlung zu verhindern und Beamerprojektionen auch am Tage zu ermöglichen, konnte jede der über vierhundert Glasscheiben individuell mit Jalousien verdunkelt werden. Zwar ließ das Dunkelgrau des Himmels an diesem Dienstagnachmittag nicht allzu viel Licht durch, während der impertinente Dauerregen für genug Abkühlung sorgte, doch auch heute waren sämtliche Jalousien zugezogen. Zu nah stand das Gebäude am Zaun und damit an den gierigen Kameras der Nachrichtenteams. Künstliches Licht erhellte den Saal.

Hanke war mit den Kollegen alles zigmal durchgegangen. Der ovale Saal war leicht zu überblicken. Vorne befand sich die Bühne, nach etwa fünf Metern fingen die Sitzreihen an. In der ersten Reihe würden die Regierungschefs sitzen, zwei Reihen dahinter er und seine ausländischen Kollegen. Aber das würde niemandem auffallen. Die Personenschützer der Staatsoberhäupter fielen überhaupt nie jemandem auf, der kein geschultes Auge dafür hatte. Sie waren nahezu unsichtbar und doch immer in der Nähe.

Die Personenschützer des BKA konnte man nicht mit Bodyguards von Prominenten oder gar mit Türstehern einer Diskothek vergleichen. Ihre Körperkraft zeigte sich nicht in Muskelbergen und ihr Haarschnitt war unauffällig und durchschnittlich, anstatt angsteinflößend und bedrohlich. Sie trugen gut sitzende Anzüge und fügten sich stets perfekt in das übliche Bild eines gewöhnlichen Staatsempfangs ein.

Rechts neben der Bühne war der Notausgang für den Fall der Fälle. Er war nicht als solcher gekennzeichnet und niemandem außer den Regierungschefs und ihren Bewachern bekannt. Dies war der Fluchtweg für die Mächtigen.

Es gab immer einen Notfallfluchtplan, der die üblichen Fluchtwege der Massen umging, aber schon lange hatte Andreas Hanke nicht mehr darauf zurückgreifen müssen. Natürlich hatte es Attentatsversuche gegeben, aber immer waren seine Kollegen frühzeitig zur Stelle gewesen und hatten den Attentäter ausgeschaltet, lange bevor er seinen Anschlag versuchen konnte. Obwohl er sich sicher war, dass sich daran auch heute nichts ändern würde, waren seine Konzentration und Anspannung voll da, denn ein einziger Fehler von ihm könnte im Ernstfall den Tod der Kanzlerin bedeuten.

Doch das würde nicht passieren. Es gab nichts, was ihn noch überraschen konnte, dafür war er einfach schon zu lange dabei. 1995 hatte er sich um die Stellung eines Personenschützers beworben. Man hatte ihn angenommen und ihm erlaubt, das knüppelharte Training zu durchlaufen. Nach ein paar Jahren des Profilierens hatte er 1998 mit der Wahl des neuen Kanzlers dessen Schutz übernommen, und als dieser 2005 abgelöst wurde, hatte die neue Kanzlerin Hanke wegen seines exzellenten Rufs in ihren Stab an Personenschützern aufnommen.

Die Gefahr hatte sich ein wenig gewandelt. Während der Ex-Kanzler sich mit seiner Politik und den nicht eingelösten Wahlversprechen eher Feinde im eigenen Land gemacht hatte, setzte sich die neue Kanzlerin mit ihrer freundlichen Haltung gegenüber Amerika eher dem Hass internationaler Terroristen aus. Die Aufgabe jedoch war die gleiche geblieben: ein Leben beschützen – zur Not im Tausch gegen das eigene.

Er testete ein letztes Mal die Funkverbindung.

„Am Eingang alles klar?” Er flüsterte die Frage unauffällig und nahezu ohne seine Lippen zu bewegen in ein winziges Mikrofon in seinem Revers.

„Alles klar”, war die prompte Antwort auf seinem kleinen, unsichtbaren Knopf im Ohr.

„Wie sieht’s auf dem Dach aus?”

Fünf Scharfschützen waren auf dem Dach des ‚Seeadlers’ postiert und überwachten von hier aus das Dach des ‚Walfischs’ und die Umgebung.

„Hier oben ist auch alles klar.”

Befriedigt blickte Hanke zur Bühne, die soeben vom Moderator betreten wurde. Es ging los.

–––––

Das Stimmengewirr, das gedämpft hinter die Bühne drang, ebbte ab. Nur noch Augenblicke. Wang tupfte sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn. Dann hörte er, wie er angekündigt wurde, gefolgt von höflichem Applaus. Seinem Applaus. Er fühlte, wie ihn eine Gänsehaut überkam, eine Gänsehaut der angenehmen Art.

Debbie rückte seinen Krawattenknoten zurecht.

Good luck, Professor.”

Er trat auf die Bühne. Seine Bühne. Sein großer Auftritt. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Wang warf einen ausschweifenden Blick in die Runde und sog die Atmosphäre in sich auf. Er konnte die Macht förmlich fühlen, die sich hier versammelt hatte, und die Tatsache, dass die Mächtigen sich seinetwegen hier eingefunden hatten, gab ihm ebenfalls Macht. Er absorbierte sie, fühlte sie durch seinen Körper strömen und genoss sie für einen Moment. Er wollte sichergehen, dass er dieses Gefühl niemals vergessen würde.

Im Saal erkannte er neben der versammelten Macht der Gruppe der Acht auch Vertreter aus einigen asiatischen Ländern, denn das Zusammenleben von Hühnern, Schweinen und Menschen in vielen asiatischen Kulturen war ein nicht zu verachtender Faktor für die Mutation und Verbreitung gefährlicher Viren. Zudem blickte er auf die Crème de la Crème seiner Kollegen herab, ihre neidvollen Gesichter, voller Eifersucht, Missgunst und vielleicht sogar Hass. Ihr Neid verstärkte sein Gefühl von Macht noch. Trotz ihres Hasses waren sie gezwungen, zu ihm aufzublicken.

Zu guter Letzt sah Wang einige Journalisten, nicht viele allerdings. Ausschließlich handverlesene Wissenschaftsjournalisten hatten eine Akkreditierung für diese Veranstaltung erhalten. Die gemeine Presse war im gesamten eingezäunten Bereich ebenso wenig zugelassen wie Fernsehsender. Doch während diese durch das Kamerateam der Regierung mit Material versorgt wurden, war die schreibende Zunft ausschließlich auf Pressemitteilungen angewiesen.

Wang atmete tief durch. So schlecht sein eigenes Englisch auch war, so gut vermochte er doch, mit einem einstudierten Vortrag seine Zuhörer zu fesseln. Es war Routine für ihn. Er trat ans Mikrophon in der Mitte der Bühne. Nur etwa anderthalb Meter über ihm hing eine zur Lichtinstallation gehörige Metallkugel von der Größe eines Basketballs. Der Spot war auf ihn gerichtet.

Er räusperte sich, doch in eben jenem Augenblick erschütterte ein gewaltiger Donnerschlag das Gebäude. Ein Murren ging durch das Publikum. Wang war zu routiniert, um sich diese Gelegenheit für einen kleinen Scherz entgehen zu lassen. Es ging nichts über ein lockeres Publikum.

Er klopfte sich auf die Brust, räusperte sich erneut und sagte in gebrochenem Englisch: „Klingt wie Erkältung kommen.”

Das Publikum lachte laut auf. Er hatte die Menschen im Griff.

Doch mitten in dieses kurze Gelächter hinein ertönte plötzlich ein langgezogener, lauter Ton – ein Ton, wie ihn keiner der Anwesenden je gehört hatte. Er war schrecklich und wundervoll zugleich, am ehesten vielleicht noch mit dem einer Posaune vergleichbar, aber doch anders. Ein unbeschreiblich schöner Klang, doch durch seine Fremdartigkeit und Deplatziertheit auch ebenso grauenvoll wie Angst einflößend. Es war unmöglich, dass auch nur einer der Anwesenden keine Gänsehaut hatte.

Wang verstand nicht. Dies war sein großer Auftritt, sein Moment. Was passierte hier? Gerade noch hatte das Publikum über seinen Witz gelacht und jetzt dieser Ton. Eine Sirene? Ein übler Scherz eines neidischen Konkurrenten? Fassungslos blickte er zu Debbie hinunter, die am Rand der Bühne stand. Doch Debbie zuckte nur die Schultern. Auch sie wusste den Ton nicht einzuordnen.

–––––

Andreas Hanke blickte sich alarmiert und mit geübtem Auge um. Der Personenschützer war geschult worden, nicht bei der kleinsten Unplanmäßigkeit in Panik zu verfallen, aber dieser Ton war angsteinflößend. Was passierte hier? Ein Alarm? Eigentlich auszuschließen. Man hätte ihn über Funk sofort informiert, zudem war man alle Notfallsignale vorher durchgegangen. Aber dieser Ton war ihm fremd. War die Funkverbindung ausgefallen?

„Was ist das?” flüsterte er kurz und knapp in sein Revers.

„Keine Ahnung. Wachsam bleiben!” war die prompte Antwort in seinem Ohr. Der Funk funktionierte also. Hier vorne war Hanke ganz alleine für die Sicherheit der Kanzlerin zuständig. Kein anderer Personenschützer oder Geheimdienstler war ihr so nah. Er musste sich ein Bild machen und im Zweifelsfall in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung treffen. Er blickte zur Kanzlerin, die von dem Ton ebenso ergriffen war, wie jeder andere im Raum.

–––––

Jo Somniak war einer der wenigen Wissenschaftsjournalisten, die eine Akkreditierung für den Gipfel erhalten hatten. Er saß in einer der hinteren Reihen. Obwohl er von seinem Platz aus nicht den besten Blick auf die Bühne hatte, wusste er, dass hier etwas Unglaubliches passierte.

Er legte seinen Laptop auf den Boden, richtete seine Nikon auf die Bühne und drückte auf den Auslöser.

–––––

Professor Wang Dadong blickte in die in Verzückung und Schrecken zugleich erstarrten Gesichter seiner Zuhörer. Etwas lief hier schief. Gewaltig schief – dies hatte sein großer Auftritt sein sollen.

Und er wurde es. Urplötzlich schoss ein gigantischer Blitz aus der Metallkugel über seinem Kopf auf ihn nieder. 500.000 Volt strömten durch seinen Körper in den Boden. Wang Dadong war tot, bevor der Blitz vorbei war.

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Die durchschnittliche Reaktionszeit eines Menschen liegt bei etwa sieben zehntel Sekunden. Drei zehntel Sekunden nachdem der Blitz begonnen hatte, setzte Andreas Hanke mit einem gewaltigen Sprung über zwei Stuhlreihen hinweg, stieß dabei Menschen, zwischen denen er hindurch sprang, unsanft zur Seite, riss die Kanzlerin zu Boden und warf sich schützend auf sie. Halb sah, halb spürte er, wie neben ihm die anderen Regierungschefs von ihren Personenschützern auf gleiche Weise von dem Blitz abgeschirmt wurden. Dann wanderte sein Blick zur Bühne. Was er sah, ließ ihn zum ersten Mal in seinem Berufsleben für wenige Augenblicke seine Aufgabe vergessen.

–––––

Debbie merkte, wie ihre Knie nachgaben. Etwas Schrecklicheres hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie lange ein Blitz dauern konnte. Normalerweise sah man Blitze nur aus weiter Ferne und normalerweise sah man niemanden, der von dem Blitz getroffen wurde. Dieser Blitz schien eine Ewigkeit zu dauern.

Er hielt den leblosen, in entsetzlichen Spasmen zuckenden Körper des Professors in seinem Bann gefangen. Sein teurer Maßanzug hatte sofort Feuer gefangen, unkontrollierte Nervenimpulse ließen sämtliche Muskeln seines Körpers wieder und wieder kontrahieren, sein Gesicht war zu einer widerlichen Fratze verzogen, seine heraustretenden Augen sendeten schon jetzt kein Leben mehr aus, und eine Nebelwolke schlagartig aus seinem Körper verdampfender Flüssigkeit stieg von ihm empor.

Doch all das war nicht einmal das Schlimmste an diesem Bild.

Mit dem ersten Auftreffen des Blitzes hatte sich eine Art Feuerspur entzündet und sich schnell und geradlinig zur rückwärtigen Wand durchgefressen. Die Wand brannte nun, allerdings nicht überall. Es wirkte fast wie ein Bild. Eine Schrift. Ganz eindeutig. Auf der Wand hinter dem Professor stand in flammenden Lettern der Schriftzug ‚A87’.

Debbie konnte die Schrift lesen, aber keinen klaren Gedanken dazu fassen. Zu schrecklich war das gesamte Szenario. Im Vordergrund der immer noch vom Blitz gefangene, entsetzlich zuckende und brennende Professor, im Hintergrund die flammende Schrift und dazu über allem dieser schreckliche Ton, der angesichts des Bilds, das er untermalte, jegliche Schönheit verloren hatte.

Dann hörte der Blitz ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und mit ihm auch der Ton. Es hatte kaum drei Sekunden gedauert, doch Debbie war es vorgekommen wie eine Ewigkeit. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der qualmende, brennende und bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichnam des Professors auf den Bühnenboden auf. Hinter ihm brannte nun die gesamte Wand, und einzelne Zeichen waren nicht mehr zu erkennen. Doch das bemerkte Debbie in diesem Moment nicht mehr.

Wie lange dauert ein Blitz? war ihr letzter Gedanke, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie in sich zusammen sank.

–––––

Andreas Hanke verlor keine Sekunde. In dem Moment, als der Blitz vorüber war, riss er die Kanzlerin unsanft hoch und schob sie eilenden Schritts zum ausschließlich für die Regierungschefs vorgesehenen Fluchtweg rechts von der Bühne. Sie würde von seinem Griff vielleicht ein paar blaue Flecken am Oberarm als Erinnerung behalten, doch das störte ihn nicht. Bereits nach wenigen Schritten waren sie umringt von vier weiteren Personenschützern des BKA. 28 Sekunden, nachdem der Blitz aufgehört hatte, saß die Kanzlerin in ihrer gepanzerten Mercedes-Benz Limousine in der Tiefgarage und verließ den Ort des Geschehens.

–––––

Jo Somniak war kein gefühlloser Mensch. Das Schicksal des Professors ließ ihn nicht unberührt. Aber in diesem Moment hatte er wichtigere Gedanken. Er hatte im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt. Er hatte ein unglaubliches Foto geschossen. Die Zufriedenheit hierüber überwog jetzt über das Mitgefühl mit dem Professor.

Dieses Foto war der Grundstein zu seinem Moment des Ruhms. Er entnahm seiner Kamera die Speicherkarte, steckte sie in einen kleinen, extra dafür eingerichteten Schlitz in seiner Schuhsohle, und legte eine neue Karte in die Kamera ein.

4.

Holger Petersen schnarchte. Er wusste es nicht, und wenn es ihm jemand erzählt hätte, wäre es ihm egal gewesen, wie ihm fast alles egal war. Zudem schlief er alleine, aber wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht gestört, wenn jemand neben ihm gelegen hätte, denn Rücksichtnahme gehörte schon lange nicht mehr zu Holgers Tugenden.

Das Telefon klingelte, vermochte Holger aber höchstens halb zu wecken. Nach dem fünften Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter, doch der Anrufer legte auf. Dann klingelte das Telefon erneut. Diesmal wachte Holger ganz auf und Wut überkam ihn. Wer wagte es, seinen Mittagsschlaf zu stören? Wer nahm sich das Recht? Erneut legte der Anrufer auf, als sich der AB meldete, und versuchte es erneut. Holger würde das aussitzen müssen.

Er öffnete ein Auge und blickte auf den digitalen Radiowecker neben seinem Bett. 17:04 Uhr. Als der Anrufer es um 17:09 zum siebten Mal versuchte, griff Holger entnervt nach dem drahtlosen Telefon auf seinem Nachttischchen und nahm ab.

Er versuchte seinen Namen zu nennen und scheiterte kläglich. Ein heiseres Grunzen war alles, was aus seiner Kehle drang. Wann hatte er seine Stimmbänder das letzte Mal benutzt? Gestern? Vorgestern? Er wusste es nicht mehr.

„Holger, bist du das?” fragte der Anrufer. Es war Lars Metzger, Holgers ältester und inzwischen einziger Freund. Lars war bei der Kripo.

„Müsste ich für in den Spiegel gucken, keine Ahnung.” Holgers Stimme war ein kleines bisschen besser. Noch immer heiser und eingerostet, aber mit Wohlwollen und Konzentration durchaus verstehbar.

„Hör auf mit dem Scheiß und beweg deinen Arsch zum Kongresszentrum. Hier hat der Blitz eingeschlagen.”

„Na und?”

„Während eines Vortrags, Mann. Zweihundert Menschen waren in dem Saal und es gibt einen Toten. Die Umstände sind mehr als dubios.”

„Und was habe ich damit zu tun?” Holger versuchte, sich seine eingerosteten Stimmbänder zunutze zu machen und versoffen zu klingen. Vielleicht wollten sie ihn nicht da haben, wenn er zu unrasiert klang.

„Du bist in einer halben Stunde hier, das hast du damit zu tun!” Damit legte Lars auf. Er war der Einzige, der sich traute, so mit Holger zu sprechen. Erstens waren die beiden seit Kindergartenzeiten miteinander befreundet und zweitens konnte Holger es sich nicht leisten, ihn auch noch als Freund zu verlieren. Dann wäre niemand mehr da gewesen.

Holger legte das Telefon auf das Nachttischchen zurück und steckte sich eine Zigarette an. Es gab also einen Toten. Die Polizei brauchte ihn mal wieder. Natürlich. Und wenn die Polizei einen brauchte, dann musste man springen. Klar. Konnten sie denn keinen anderen fragen? Natürlich nicht. In diesem blöden Kaff gab es keinen anderen. Wer war überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, in diesem winzigen Ostseedorf einen G8-Gipfel abzuhalten? Manchen Menschen war wirklich nicht zu helfen.

Mit einem lauten Missfallensgrunz stand Holger auf und ging unter die Dusche. Jede mögliche Abstellfläche in seiner eigentlich schönen, hellen und großzügig geschnittenen Drei-Zimmer-Wohnung war vollgestellt mit leeren Bierflaschen und vollen Aschenbechern. Er ging nicht mehr viel vor die Tür, doch in Ordnung und Sauberkeit konnte er ebenfalls keinen übergeordneten Sinn ausmachen. Eigentlich war sein Leben – oder das, was man gemeinhin als Leben bezeichnete – längst vorbei. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er erst vierunddreißig Jahre alt war.

–––––

Holger ging zu Fuß. Er besaß zwar ein Auto, aber das nutzte er so gut wie nie. In diesem Kaff brauchte man kein Auto. Das Kongresszentrum lag keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt.

Holger war einer der wenigen Anwohner, die innerhalb des eingezäunten Bereichs wohnten. Angrenzend an das moderne Luxusresort mit seinem Golfplatz gab es eine kleine Siedlung unmittelbar an der Küste, die die Investoren der Anlage am liebsten dem Erdboden gleichgemacht hätten, wogegen sich die Anwohner aber erfolgreich gewehrt hatten. Die Siedlung war ursprünglich einmal ein winziges Fischerdorf gewesen, doch nachdem die Fischerei in der Ostsee mehr und mehr zurück gegangen war und die großen Trawler den kleinen Fischern den Fang streitig gemacht hatten, war die Siedlung zu einer guten, modernen Wohngegend in fantastischer Lage umfunktioniert worden. Der Zaun hatte aufgrund der Nähe der Siedlung zum Hotel diese mit einschließen müssen.

Als das Resort gebaut wurde, hatte Holger noch aktiv dafür mitgekämpft, dass die Siedlung bestehen bleiben durfte. Damals hatte es noch etwas gegeben, wofür zu kämpfen sich gelohnt hatte. Jetzt im Nachhinein erschien es sinnlos. Hätte er damals nicht gekämpft, wäre er jetzt nicht von einem Zaun eingeschlossen.

Der kurze Spaziergang tat allerdings gut. Der frische Wind und der Regen in seinem Gesicht halfen ihm, der Schlaftrunkenheit Herr zu werden und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nicht einmal die Kapuze seines Sweatshirts zog er über den Kopf. Zu ruinieren war an seiner Frisur sowieso nichts, denn gekämmt hatte Holger seine halbkurzen dunklen Haare seit Jahren nicht.

Nach wenigen Minuten erreichte er das Kongresszentrum. Er hatte mit Einigem gerechnet, aber mit so einem Aufmarsch nicht. Feuerwehrfahrzeuge, Mannschaftsbusse der Polizei und unzählige Ambulanzen standen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude und hüllten mit ihren zig Blaulichtern die Szenerie in ein unwirkliches Licht. Holger warf einen Blick auf die Nummernschilder der Krankentransportwagen. Einige waren sogar aus Rostock angefordert worden.

Unmittelbar hinter dem Parkplatz verlief der Zaun, belagert von unzähligen Kameraleuten und Journalisten. Letztere besaßen ein hochentwickeltes Sinnesorgan, das dem normalen Erdenbürger nicht zur Verfügung stand. Es nahm Sensationen wahr, noch bevor sie wirklich auftauchten. Die Medienmeute hatte Witterung aufgenommen und kreiste nun wie Geier über einem dinierenden Löwenrudel, in der Hoffnung, dass etwas für sie übrigblieb.

Noch hinter den Journalisten hatte sich eine ganze Horde von Globalisierungsgegnern eingefunden, die hochmotiviert und mit unerschütterlicher Moral ihre Parolen skandierten. Arme Irre, dachte Holger. Niemand interessierte sich für sie. Keine einzige Kamera war auf sie gerichtet und Politiker waren mit Sicherheit nicht mehr in der Nähe, wenn es einen Toten gegeben hatte. Doch Mitleid hatte Holger nicht mit ihnen. Er hasste dieses Pack.

Ein Streifenpolizist riss ihn jäh aus seinen Gedanken und brachte ihn wieder in die Realität zurück. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich hatte er ihn mal in der Kirche gesehen.

„Guten Tag, Herr Pastor”, sagte der Polizist.

5.

Im Kongresszentrum herrschte ein babylonisches Chaos. Menschen rannten hektisch durcheinander und ineinander, umkurvten oder verschoben willkürlich herumstehende Krankentransportliegen oder Teile der Saalbestuhlung, stolperten oder standen anderen im Weg. Untermalt wurde die Szenerie von einem beachtlichen Lärmpegel. Um sich verständlich zu machen, musste man brüllen. Feststellungen, Flüche, Fragen, Antworten, Anweisungen und Aufforderungen vermischten sich zu einem einzigen einheitlichen Brei. Dazu lag der beißende Geruch von Verbranntem, Verkohltem und Verschweltem in der Luft.

Die Mitarbeiter mindestens sechs verschiedener Institutionen gingen hier ihrer Arbeit nach und standen sich gegenseitig im Weg. Da war erstens die Feuerwehr, die den Brand auf der Bühne gelöscht hatte und nun seine Spuren untersuchte.

Ebenfalls anzutreffen waren die Notärzte und Sanitäter der umliegenden Krankenhäuser, die sich um die vielen Schock-Patienten kümmerten.

Dazu kamen Mitarbeiter unabhängiger Unfallhilfen wie der Johanniter, die hinzu gerufen worden waren, weil die Krankenhäuser nicht genug Personal zur Verfügung stellen konnten. Unglaublicherweise und obwohl eigentlich alle das gleiche Ziel verfolgen sollten, Leben zu retten, arbeiteten unabhängige Unfallhilfen in Konkurrenz zu einander und zu den Krankenhäusern. Es hatte sogar Fälle gegeben, wo Unfallopfer fast gestorben wären, weil sich verschiedene herbei gerufene Hilfsdienste nicht über die Zuständigkeit einigen konnten. Diese Konkurrenzsituation leistete geflissentlich ihren Beitrag zum Chaos.

Darüber hinaus waren natürlich das BKA und der BND anwesend. Beide Organisationen waren für die Sicherheit der Regierungschefs verantwortlich, wenn auch auf verschiedenen Gebieten. Während das BKA den Personenschutz leistete und nun zu ergründen hatte, ob die Sicherheit der Politiker in irgendeiner Weise gefährdet war, war es die Aufgabe des BND, nach möglichen terroristischen Hintergründen zu forschen.

Doch beide Organisationen mussten feststellen, dass es sich schwierig gestaltete, Erkenntnisse zu gewinnen. Unisono berichteten die Zeugen von einem seltsamen Ton und von dem Feuer.

Der Ton wurde von schrecklich bis wunderschön in allen möglichen Variationen beschrieben. Auch über das Feuer gingen die Meinungen auseinander. Während einige Zeugen von einem einfachen Brand durch den Blitz sprachen, wollten andere Zeichen erkannt haben – brennende Zeichen. Ob ihres Schocks konnten sich allerdings die Wenigsten genau erinnern, was für Symbole dort gestanden hatten. Diverse Zahlen-Buchstaben-Kombinationen wurden genannt.

Und zu guter Letzt rannte in dem Chaos natürlich auch noch die Kriminalpolizei umher. Sie war einerseits, weil lokal ansässig, für Fragen jeglicher Art zuständig und sollte BKA und BND in jeder erbetenen Form zuarbeiten. Andererseits war die Kripo natürlich für die Ermittlungen zum Tod des Professors verantwortlich.

–––––

Peter Wegmann sah das Chaos und malte sich die nächsten Tage aus. Als Hauptkommissar der zuständigen Kriminaldienststelle war er hauptverantwortlich für die Todesermittlungen. Der Gipfel hatte ihn sowieso schon seit einem halben Jahr mit Arbeit überhäuft. Er hatte kaum genug unter den Tisch kehren können, um Überstunden zu vermeiden. So hatte er sich seinen Beruf nicht vorgestellt, als er sich vor Urzeiten an der Polizeischule gemeldet hatte. Oder anfänglich doch? Er wusste es nicht mehr. Wer war überhaupt auf die stumpfsinnige Idee gekommen, den Gipfel in diesem gottverlassenen Kaff auszurichten?

Zumindest war er mit seinen dreiundfünfzig Jahren erfahren genug, um zu wissen, was jetzt zu tun war. Er musste besonnen handeln. Er musste um jeden Preis verhindern, dass man tiefgreifende Ermittlungen von ihm verlangte und dafür gab es nur eine Lösung. Er ließ seinen Blick schweifen und suchte den leichenschauenden Arzt. Am Bühnenrand wurde er fündig. Der Notarzt war mit dem Ausfüllen des Leichenschauscheins beschäftigt, was bedeutete, dass die Leichenschau bereits vorüber war. Höchste Zeit zu handeln. Er ging zu ihm.

„Tag, Herr Doktor”, sagte er freundlich. „Wegmann ist mein Name. Hauptkommissar Wegmann. Ich bin für diesen Fall verantwortlich.”

„Tag, Herr Wegmann. Schubert. Ein schönes Brikett haben Sie da”, gab der Notarzt zurück, ohne vom Leichenschauschein aufzublicken.

„Sie kennen das Prozedere?” fragte Wegmann scheinheilig.

„Das Ausfüllen eines Leichenschauscheins? Durchaus. Als Notarzt muss ich da leider manchmal durch.”

„Dann werden Sie also den natürlichen Tod ankreuzen?”

Dr. Schubert blickte überrascht von dem Klemmbrett in seiner Hand auf und sah Wegmann an. Er war noch recht jung, keine vierzig. „Das nennen Sie natürlich?”

„Sie sind noch nicht so lange dabei?” Wegmann verlieh seiner Stimme eine Überlegenheit, die signalisieren sollte, dass er sich auskannte.

„Ich glaube, ich verstehe nicht…”

„Sehen Sie, die Sache ist die”, begann er umständlich. „Wir haben hier den Arsch voll Arbeit, wenn ich das mal so sagen darf. Mehr können wir nicht gebrauchen. Und eines weiß ich ganz sicher: Mord war das nicht.”

„Das habe ich auch nie behauptet”, Dr. Schubert hatte offenbar keine Ahnung, worauf Wegmann hinaus wollte. Oder er wollte keine Ahnung haben.

Ein Feuerwehrmann zwängte sich zwischen den beiden durch und stieg auf die Bühne. Wegmann setzte erneut an: „Nun ist es aber so, dass wir verpflichtet sind, in diese Richtung zu ermitteln, wenn Sie den nicht-natürlichen Tod ankreuzen. Wir müssten eine Autopsie durchführen lassen, die zu keinem anderen Ergebnis führen würde, als dass dieser Mann durch einen Blitzschlag getötet wurde. Sie würde uns aber einen Riesenhaufen Papierkram kosten. In der Regel helfen uns Notärzte in diesen Situationen gerne aus. Eine Hand wäscht die andere.”

„Ich mache meine Arbeit und Sie machen Ihre.” Dr. Schubert fühlte sich sichtlich in seiner Ehre verletzt.

„Sie wissen, dass dies kein natürlicher Tod war, und ich weiß es auch”, sagte Wegmann beruhigend. Diese Nuss war härter, als er gedacht hatte. „Aber wir sehen auch beide, dass es kein Mord war. Nun können Sie Ihrer Polizei viel Arbeit ersparen, indem Sie den natürlichen Tod ankreuzen. Einen Unterschied macht das für Sie nicht.”

„Doch, den macht es. Ich setze meine Unterschrift darunter. Und meine Unterschrift kommt nur darunter, wenn der nicht-natürliche Tod angekreuzt ist.”

Verdammter Idealist! dachte Wegmann. Diese jungen Typen hatten einfach noch nicht begriffen, wie die Welt sich drehte. Er verlor die Geduld. Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als mit einem naiven Weltverbesserer zu diskutieren.

Er hatte es auf die freundliche Art versucht. Zeit für schwerere Geschütze.

„Was fahren Sie denn für ein Auto, Dr. Schubert?”

„Mercedes”, antwortete dieser unsicher. „Wieso?” Ihm war anzusehen, dass ihm diese Wendung des Gesprächs nicht gefiel. Instinktiv, als könne er auf diese Weise seine Einschätzung schützen, umklammerte er das Klemmbrett fester.

„Wir sind zu Ihrem Schutz da, Dr. Schubert”, sagte Wegmann. „Es kann so schnell passieren, dass Randalierer ein Auto beschädigen. Sie wollen es sich doch mit der Polizei nicht verscherzen?”

„Ich bin gut versichert.” Dr. Schuberts Stimme war wieder sicher und er war hörbar verärgert.

„Haben Sie Kinder?” fragte Wegmann.

6.

Holger hasste es, wenn man ihn ‚Pastor’ nannte. Er war kein guter Hirte für seine Herde mehr. Er hatte seinen kompletten Glauben verloren. Viel mehr noch war er sogar fest davon überzeugt, dass es keinen Gott gab. Seine Predigten waren uninspiriert und die Zahl der Kirchgänger in der Gemeinde nahm beständig ab.

Seine Verachtung für diese Welt, seine völlige Gleichgültigkeit ihr gegenüber und sein beißender Zynismus klangen stets in seinen Predigten durch. Richtig eskaliert war die Situation einmal, als Holger Nietzsches ‚Antichrist’ zitiert hatte. Bis heute stand seine feste Überzeugung, sein Argument, dass auch Christen und Kirchgänger nicht blind einem Buch folgen durften, sondern eigene Entscheidungen treffen mussten, sei richtig. Vielleicht war Nietzsche nicht die treffendste Referenz gewesen, zugegeben. Er hatte für Empörung gesorgt und sich vor der Kirchenkonferenz verantworten müssen.

Holger war es egal. Er machte den Job weiter, weil Pfarrer nun mal einfach kein Job war, den man einfach so aufgab. Und von irgendwas musste er ja schließlich leben. Zudem, so war er sich sicher, würde er binnen kürzester Zeit zu einem hemmungslosen Alkoholiker werden, wenn er auch seine letzte Aufgabe im Leben verlor. Auch ohne Glauben an Gott gab ihm das Amt des Pfarrers das letzte bisschen Halt, das er noch im Leben hatte.

Doch Aufgaben wie die heutige gehörten nicht zu seinen bevorzugten. Holger hatte schon jetzt keine Lust mehr. Wieso hatte dieser Blödmann ihn als ‚Herr Pastor’ anreden müssen? Es erinnerte ihn nur wieder daran, wie schlecht er in seinem Beruf war. Und dem sollte er jetzt nachgehen.

Bereits am Eingang zum Kongresszentrum stieß er auf das nächste Problem. Die ohnehin ausufernden Sicherheitsmaßnahmen während des Gipfels waren nach dem schrecklichen Ereignis am Nachmittag ins Unermessliche gestiegen.

„Sie können hier nicht rein.” Ein am Eingang postierter Polizist stellte sich Holger in den Weg, ohne ihn auch nur nach seinem Namen oder seiner Absicht zu fragen. Der Polizist war weitaus kleiner als die eins fünfundachtzig, die Holger maß, und leicht untersetzt.

„Ihr Freunde und Helfer seid doch zu amüsant”, erwiderte Holger. Wie immer verlieh er seinen Worten eine leiernde Gleichgültigkeit, die nicht selten als Arroganz fehlinterpretiert wurde. „Herbestellen und dann nicht rein lassen? Mordsidee! Köstlich! Mein Zwerchfell brennt. Was für einen Spaß lasst ihr euch wohl als Nächstes einfallen?”

Wer hat Sie herbestellt?” der Polizist ignorierte Holgers herablassende Haltung dienstbeflissen.

„Die Freunde vom Polizeigesangsverein Grün-Weiß Rostock”, antwortete Holger immer noch leiernd, doch inzwischen auch leicht gereizt.

„Klar. Und warum sollte ein Mensch, der klar bei Verstand ist, gerade Sie hierher bestellen?”

„Ich habe nie behauptet, es gebe in eurem Verein Mitglieder, die klar bei Verstand sind.”

„Vorsicht, Mann. Sonst hast du Handschellen an, so schnell kannst du nicht gucken.” Der Polizist wurde jetzt richtig sauer.

Was für ein Riesenarschloch! dachte Holger. Es war nervig, wenn einfache Polizisten mit Aufgaben betraut wurden, die sie überforderten. Hier musste selbständig geurteilt werden. Dem war der kleine Polizist nicht gewachsen. Alles, was ihm durch seinen kleinen, vermutlich relativ leeren Kopf ging, war, keinen Fehler zu begehen. Er arbeitete hier mit Geheimdienstlern und BKA-Leuten zusammen. Die würden ihn zusammenfalten, dass ihm Hören und Sehen verging, wenn er einem Unbefugten Zutritt gewährte. Nicht auszudenken, er würde auf den billigen Trick eines Boulevard-Journalisten hereinfallen.

Holger blickte sich genervt um. Das Chaos, das Gebrüll, die umherlaufenden Menschen, die Blaulichter, die Kamerateams, die Globalisierungsgegner – all das ließ darauf schließen, dass es drinnen nicht viel ruhiger sein würde. Ständig drückten sich Menschen mit wichtigen und gehetzten Mienen an ihm und dem untersetzten Polizisten vorbei. Er wollte nicht da rein. Doch er musste. Außerdem regnete es immer noch.

Er gab sein kleines Spielchen auf und startete einen ernsthaften Versuch.

„Ich bin der örtliche Pfarrer und soll hier psychologische Betreuung leisten”, sagte er, während er dem Polizisten seinen Ausweis unter die Nase hielt.

Der Polizist musterte ihn von oben bis unten. Ungekämmte Haare, die der Regen ihm an die Stirn geklebt hatte, darunter ein unrasiertes Gesicht, eine schlaksig drahtige Figur, ein verwaschenes hellblaues Sweatshirt mit Kapuze, Jeans und Sneakers.

Der Polizist lachte kurz auf. „Wo ist die Robe, eure Heiligkeit?” Dann wurde er ernst. „Presse hat hier nichts zu suchen, also verzieh dich! Sonst kannst du gleich mal unsere GeSa kennenlernen.”

Die GeSas waren die speziell für den Gipfel eingerichteten Gefangenen Sammelstellen. Natürlich waren sie nicht für Pfarrer, sondern für gewalttätige Demonstranten gedacht, doch Holger hatte keine Lust mehr zu diskutieren.

Besser hätte es ja fast nicht laufen können. Ohne lügen zu müssen, würde er Lars später berichten können, alles versucht zu haben. Man habe ihn einfach nicht rein gelassen.

Er zuckte mit den Schultern. „Oh, Ärger. Sie sind ein Meister der Kombinatorik. Was hat mich als Reporter enttarnt? Der Bleistift hinter meinem Ohr oder das Blöckchen in der Brusttasche?”

Damit drehte er sich um und ging. Er war schon fast wieder über den Parkplatz, als er hinter sich seinen Namen hörte. Er blickte über die Schulter. Lars sah gehetzt und gestresst aus. Schweiß stand auf seiner Stirn und seine leicht füllige Gestalt strahlte nicht die Ruhe aus, die Holger von ihm gewohnt war. Auch seine Stimme hatte ihre langsame nordische Gelassenheit verloren.

„Wo willst du hin, Mann? Wir brauchen dich hier drin”, rief er. Holger ging zum Eingang zurück.

„Deine investigativ exzellent geschulte Streifenkraft hier hat mich leider als Mitglied der schreibenden Zunft enttarnt. Da war nichts zu machen. Er hat einfach durch meine Camouflage hindurch geblickt”, antwortete Holger extra laut. „Er ist mir über.”

Lars zog eine Grimasse. Er mochte Holgers Sarkasmus, aber zu lachen wäre weder der Situation noch seinem Kollegen gegenüber angemessen gewesen.

„Gute Arbeit, ganz fantastisch”, raunte Holger dem Beamten zu, als er mit Lars zusammen das Gebäude betrat.

Das Chaos erschlug ihn fast. Noch nie hatte er ein solches Durcheinander gesehen – nicht einmal in seiner Wohnung. Doch es gab kein Zurück mehr. Da musste er jetzt durch. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

„Also, was genau ist passiert?” fragte er Lars.

„Hier sollte ein Vortrag stattfinden.” Lars sprach hektischer als sonst, ohne seine norddeutsche Ruhe. Der Akzent allerdings war trotzdem unüberhörbar. „Aber noch bevor der Redner angefangen hat, schlägt ein Blitz in das Gebäude ein und tötet ihn.”

„Mir kannst du die Wahrheit sagen”, raunte Holger ihm verschwörerisch zu. „Ich bin auf eurer Seite.”

Lars lachte kurz und freudlos auf. „Das ist die Wahrheit. Ich weiß auch, dass es unglaublich klingt. Aber es ist, wie es ist. Der Blitz ist durchs Dach geschlagen. Auf der Bühne hat es gebrannt. Alle aus dem Publikum faseln irgendwas von ‘nem komischen Ton.”

„Was für’n Ton?”

„Keine Ahnung. Sie sagen, sie hätten sowas noch nie gehört. Keiner weiß, wo es herkam, aber jeder hat es gehört. Sogar der Tonmeister. Der versichert allerdings, der Ton sei nicht aus seinen Lautsprechern gekommen. Er sagt, er hat sie sogar ausgeschaltet, aber der Ton ist geblieben.”

„Ein psychologisches Massenphänomen”, vermutete Holger. Jetzt war es also tatsächlich soweit. Seine erste Analyse. Er hatte zu arbeiten begonnen. „Selten, aber kommt vor. Der Schock trübt die Wahrnehmung, Halluzinationen sind nicht auszuschließen. Gleiche Umgebung und Umstände sorgen dafür, dass die Halluzination bei jedem ähnlich ist.”

„Ich hab keine Ahnung von dem Scheiß.” Lars war Kriminalist. Was ihn interessierte, waren Beweise und Fakten.

„Wo fange ich an?” fragte Holger.

„Die Assistentin des Professors hat es wahrscheinlich am schlimmsten erwischt. Erstens stand sie direkt neben der Bühne und zweitens kannte sie das Opfer sehr gut. Sie war sogar kurz ohne Bewusstsein. Sie steht unter Schock, will sich aber partout nicht helfen lassen. Faselt wirres Zeug.”

„Name?”

„Deborah Ashcroft.”

Holger seufzte tief. „Ihr seid zu gut zu mir. Nach der großzügigen Einladung gebt ihr mir jetzt auch noch die Gelegenheit, mein Schulenglisch aufzupolieren. Du siehst mich hocherfreut, mein Freund.”

Lars grinste und wies Holger mit ausgestrecktem Arm den Weg. Holger stellte sich auf Zehenspitzen, um über die durcheinander wuselnden Menschen zu blicken. Auf einer Trage nahe dem linken Bühnenrand lag eine hübsche junge Frau.

Doch Miss Ashcroft schien nicht an Ruhe und Bequemlichkeit interessiert. Ein Sanitäter neben ihr hatte alle Hände voll damit zu tun, sie in ihrer Position zu halten. Im Moment versuchte er vergeblich, ihr eine Beruhigungsspritze zu geben. Holger trat hinzu.

Miss Ashcroft? Hi, my name is Holger Petersen. I’m the...”

„Sie können Deutsch mit mir reden”, unterbrach sie ihn barsch. „Und es ist Dr. Ashcroft, bitte.”

Holger warf einen übellaunigen Blick zu Lars rüber. Der grinste kurz und wandte sich dann wieder seinen Aufgaben zu.

„Okay. Gut, eh, Dr. Ashcroft.” Holger musste sich sammeln. „Ich bin der Pastor dieser Gemeinde und man hat mich gebeten, ihnen psychologisch zur Seite zu stehen.”

„Ich brauche keine Hilfe”, erwiderte Ashcroft. „Es geht mir gut.”

„Sehen Sie, es ist eine völlig normale Reaktion nach einem Schock, zu glauben, es gehe Ihnen gut”, sagte Holger mit ruhiger Stimme.

„Was für ein Schock? Ich habe keinen Schock. Mein Boss ist gerade gegrillt worden und ich möchte wissen, warum. Das ist alles.” Eine gewisse Aggressivität lag in ihrer Stimme. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch der Sanitäter drückte ihre Schultern sanft nach unten.

„Natürlich wollen Sie das. Aber mit einer akuten Belastungsreaktion ist nicht zu spaßen. Wenn sie nicht verarbeitet wird, kann sie Ihnen für eine lange Zeit ernste Probleme bereiten und Ihre Arbeit wie auch Ihr Privatleben beeinflussen.” Er musste bei seinen eigenen Worten schlucken und hoffte, dass sie es nicht bemerkte.

„Sind Sie ein beschissener Psychiater?” ranzte sie.

Amerikaner! dachte Holger. Ohne Fluchen geht’s bei denen nicht.

„Nein, ich bin Pfarrer. Aber für solche Situationen bin ich…”

„Und welche Arroganz erlaubt es Ihnen, mir einen Schock zu unterstellen?” fiel sie ihm ins Wort. „Unterstelle ich Ihnen etwa einfach, dass Sie nach Alkohol stinken? Nein, ich behalte es für mich!”

Holger atmete tief durch. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Die Beleidigung, obwohl wahrscheinlich zutreffend, half wenig, sein Gemüt zu beruhigen. Er gab sich Mühe, seinen Ärger nicht zu zeigen. „Wenn Sie mich überzeugen wollen, hilft es Ihnen wenig, Schocksymptome offen zur Schau zur tragen. Und Unsachlichkeit kann leicht als Desorientierung…”

„Und wenn Sie mich überzeugen wollen, dass Sie mir helfen können”, fiel sie ihm ins Wort, „hilft es Ihnen wenig, Ihren Mangel an Sachverstand so offen zur Schau zu stellen. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich keinerlei physische Symptome zeige? Und auch keine Wahrnehmungsprobleme oder gar dissoziative Störungen? Ich bin Biologin! Und ich kann meine Gesundheit durchaus selber einschätzen!”

Holger blickte sich auf der Suche nach einer Beruhigung seines Gemüts und einem neuen Ansatz im Saal um, doch was er fand, schien wenig dienlich. Die Feuerwehrleute auf der Bühne waren jetzt damit beschäftigt, ihre Werkzeuge aufzuräumen, den Löschschaum zu entfernen und Proben der Brandrückstände zu entnehmen. Insgesamt schien sich der Saal langsam etwas zu leeren, weil mehr und mehr der Schockpatienten in Krankenhäuser abtransportiert wurden. Doch noch immer war das Chaos unbeschreiblich und zur Kühlung von Temperamenten wenig hilfreich.

Er seufzte tief und wandte sich wieder an Ashcroft. „Ganz unabhängig davon, ob Sie Schocksymptome haben oder nicht, möchte ich Ihnen raten, professionelle psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Sie dürfen die Ereignisse nicht verdrängen, sie müssen sie verarbeiten. Nach so einem schrecklichen Unfall…”

„Unfall?” Schon wieder schnitt Ashcroft ihm das Wort ab. Langsam wurde es nervig. „Was faseln Sie denn da von einem Unfall? Das war Mord!”

Holger hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Er war nicht mehr der besonnene Geistliche von früher. Immer häufiger kam es vor, dass er die Nerven verlor. Zwar zeigten sich seine Emotionen nicht durch lautstarke Ausbrüche, doch so Manchem wäre das wahrscheinlich lieber gewesen. Die leiernde Gleichgültigkeit seines Tonfalls erhielt er auch bei wütender Erregung aufrecht, doch inhaltlich wurden seine Aussagen feindseliger und nicht selten zutiefst beleidigend.

Er ballte eine kräftige Faust hinter seinem Rücken, um die emotionale Anspannung in Muskelspannung umzuwandeln. Sublimierung konnte man das wohl nennen und es klappte normalerweise nicht. Dann atmete er tief durch und wandte sich bemüht beherrscht wieder an die Amerikanerin. „Es war ein Blitz, Dr. Ashcroft. Ihr Chef wurde von einem Blitz erschlagen. Wenn es nicht jemand geschafft hat, sich die Mächte der Natur Untertan zu machen, ist Mord auszuschließen.”

„Und dieser Ton? Und die Schrift? Alles Zufall? Jemand hat hier manipuliert. Wie blind kann man denn sein?”

Was für eine Schrift? dachte Holger. Lars hatte ihm mal wieder nicht alles erzählt. Aber es war ihm fast egal. Wie eigentlich alles. Er überlegte kurz, wie er etwas über die Schrift erfahren konnte, ohne preiszugeben, dass er keine Ahnung hatte.

„Was genau, glauben Sie denn, hatte die Schrift zu bedeuten?”

„Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, dass sie da war. Geschrieben mit Feuer.”

„Geschrieben mit Feuer?” Holger war so überrascht, dass es einfach aus ihm raus platzte. Sogar sein gleichgültiges Leiern vergaß er.

Yikes! Scheiße, wenn einem keiner was sagt, oder? Dann wissen Sie ja jetzt, wie ich mich fühle.”

„Also, was war das für eine Schrift?” Holger gab den Versuch auf, vorzugeben, er wisse Bescheid.

„Eine Flammenspur hat sich bis an die Rückwand durchgefressen und plötzlich stand da klar lesbar ‚A87’. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber ich weiß, dass es da war.”

„Flammenausbreitung ist völlig arbiträr. Es wird sich zufällig ein Bild ergeben haben, das für Sie in ihrem Schockzustand…”

Erneut durfte er nicht ausreden. „Oh, ein Pyroexperte sind wir auch. Pfarrer, Psychiater und Pyroexperte. Wow, Sie kommen rum.”

Es brodelte in Holger. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er überkochte. „Liebe gute Frau! Ich versuche, Ihnen zu helfen. Sie würden mir die Sache signifikant erleichtern, wenn Sie mich gelegentlich einen Satz zu Ende…”

Auch diesen nicht.

„Wenn Sie mir helfen wollen, überzeugen Sie die Polizei davon, dass es Mord war”, fuhr Ashcroft ihm ins Wort. „Sagen Sie diesem jerk hier, er soll mich in Ruhe lassen.” Sie sandte einen giftgetränkten Blick zu dem Sanitäter, der immer noch versuchte, sie auf der Trage festzuhalten „Finden Sie heraus, wie lange ein Blitz dauert oder gehen Sie einfach Verstecken spielen. Aber vor allem: fuckin’ leave me alone.

Holger blickte sich um. Sublimieren. Den Ärger ausatmen, nicht aussprechen. Er wollte sich noch eine letzte Chance geben, sich zu beruhigen. Doch das hektische Gerenne um ihn herum, die vielen Menschen, die Lautstärke und die stickige, verbrannt riechende Luft ließen das nicht zu.

„Lassen Sie sie gehen”, sagte er dem Sanitäter. Dann wandte er sich zurück an Ashcroft. Seine Sprachmelodie war nach wie vor ruhig und leiernd, doch ein leichtes Zittern in seiner Stimme ließ seine Verärgerung erkennen. „Dr. Ashcroft, es war mir eine Qual. Ich werde Sie in meine Gebete einschließen und flehen, dass es sich um eine schwere Belastungsreaktion handelt. Mögen schlaffressende Alben und Mahren für den Rest Ihres Lebens Ihre Träume heimsuchen und Gleichgültigkeit zu Ihrer letzten Zuflucht machen. Meine besten Verwünschungen.”

Damit drehte er sich um und ging. Hinter sich hörte er Ashcroft die englische Bezeichnung für eine Öffnung in der rückseitigen Körpermitte murmeln.

Hysterische Besserwisserin! dachte er und suchte nach Lars.

Langsam wurde es etwas übersichtlicher in dem Saal. Polizeibeamte hatten damit begonnen, die Saalbestuhlung im rückwärtigen Teil des Raums zu stapeln. Zudem hatten mehr und mehr Menschen ihre Schockerstversorgung erhalten und wurden entweder in Krankenhäuser abtransportiert oder durften gehen. Die Zahl der im Weg stehenden Krankentransportliegen hatte stark abgenommen. Die Beamten des BKA schritten mit der Zeugenbefragung voran und ließen die Menschen ebenfalls gehen.

Nach wie vor allerdings gab es eine immense Menschenansammlung am Ausgang, denn jeder, der den Saal verlassen wollte, wurde von Polizeibeamten genauestens kontrolliert. Die Angst, jemand könnte Bildmaterial von dem schrecklichen Ereignis in Umlauf bringen, war enorm.

Holger fand Lars.

„Wie ist es gelaufen?” fragte dieser.

„Die Schrift, so nehme ich an, hattest du geplant, eines Tages nebenbei bei einem Bier zu erwähnen?” fragte Holger missmutig zurück. Seine Laune war jetzt noch schlechter als vor einer Stunde, als das Telefon geklingelt hatte.

„Was für eine Schrift?”

„Dieser Gegenentwurf zur sympathischen Gesellschafterin erwähnte eine Feuerschrift.”

Sie standen mehr oder weniger in der Mitte des Saals und wurden in regelmäßigen Intervallen entweder angerempelt, oder mussten Platz machen.

„Ach das. Ja”, sagte Lars. „Nach dem Blitzeinschlag hat es gebrannt. Einige Zeugen behaupten, das Feuer hätte die Form eines Schriftzugs gehabt.”

„A87?”

„A87. Ist natürlich völliger Quatsch. Feuer breitet sich zufällig aus. Es muss ein entsetzliches Bild gewesen sein. Stell es dir vor: Als die Wand hinten Feuer fängt, da hängt der Professor noch immer in dem Blitz und zittert wie bescheuert.”

Holger horchte auf. „Der Blitz dauerte noch an, als das Feuer sich bis hinten durchgefressen hatte?”

„So sagen es die Zeugen. Muss schrecklich gewesen sein. Ich glaube, da hätte ich auch Musik gehört und Schriften gesehen.”

Doch Holger achtete nicht mehr darauf, was Lars sagte. Ashcrofts Worte klangen in seinen Ohren nach. Finden Sie heraus, wie lange ein Blitz dauert oder gehen Sie einfach Verstecken spielen. Aufgrund des zweiten Satzteils hatte er angenommen, auch der erste sei schlicht eine metaphorische Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen. Aber hatte sie es vielleicht ernst gemeint? Hatte die Länge des Blitzes für sie etwas Auffälliges gehabt? Er schüttelte den Gedanken ab. Es interessierte ihn schlichtweg nicht.

„Braucht ihr mich noch?” fragte er Lars.

„Natürlich brauchen wir dich noch. Du fährst mit ins Krankenhaus und kümmerst dich dort um...”

Holger meinte, sich das Recht, andere unterbrechen zu dürfen, ersühnt zu haben. „Wie dem auch sei. Wenn ihr geplant habt, mein gewinnendes Naturell noch weiter zu verwenden, hättet ihr mir nicht diese Erinnye vorsetzen sollen. Ich bin jetzt indisponiert.”

Damit wandte er sich um.

„Hey, warte”, hörte er Lars rufen.

„In Rostock gibt es genug andere Pfarrer”, rief Holger über seine Schulter. „Und Psychologen. Ich bin krank.”

Eine spontane Lust auf Bier überkam ihn. Ging das überhaupt? Er fragte sich, ob es überhaupt noch vorkam, dass er Lust auf etwas hatte. Oder hatte er sich nicht vielmehr unterbewusst die Frage gestellt, was dagegen sprach, nun Bier zu trinken? Unabhängig davon, ob es wirkliche Lust auf Gerstensaft war oder der schlichte Mangel an Gründen, die dagegen sprachen – Holger registrierte, dass es in letzter Zeit häufiger vorkam. Und es war ihm egal.

Hatte er noch Bier im Kühlschrank? Wahrscheinlich nicht. Er beschloss, zu Hagen zu gehen.

7.

Die Demonstration der Globalisierungsgegner verlief ebenso unspektakulär wie unbeachtet. Die Demonstranten trugen Banner und Schilder und skandierten ihre Forderungen, doch keine einzige Kamera zeigte Erbarmen und wandte sich ihnen zu. Das war auch wenig verwunderlich, denn auf der anderen Seite des Zauns herrschte das pure Chaos.

Passe hatte in der letzten Stunde überhaupt nicht mehr an der Demonstration seiner Mitstreiter teilgenommen. Er hatte nur ungläubig auf den Parkplatz auf der anderen Seite des Zauns gestarrt und sich gefragt, was dort vorging. Unzählige Polizeiwagen, Mannschaftsbusse, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge waren nach und nach hier aufgefahren. Der vormals nahezu leere Parkplatz war jetzt überfüllt und es herrschte ein heilloses Durcheinander.

Eigentlich konnte es nur eine mögliche Erklärung für all das geben, nur eine Gruppe konnte während eines G8-Gipfels solch einen Aufruhr verursachen.

Der Schwarze Block.

Passe wusste nicht, wie die Mitglieder des Schwarzen Blocks in den eingezäunten Bereich gelangt waren oder was sie dort gemacht hatten, aber er war sich todsicher, dass nur sie für das verantwortlich sein konnten, was er hier sah. Diese Jungs waren einfach unschlagbar.

Es war perfekt geplant. Weil Journalisten im eingezäunten Bereich nicht zugelassen waren, hatte der Schwarze Block für seine Aktion eine Veranstaltung gewählt, die in unmittelbarer Nähe zum Zaun stattfand. Unzählige Fernsehteams aus aller Welt waren zugegen. Das war die Form von Aufmerksamkeit, die Passe meinte.

Aber was genau hatte der Schwarze Block gemacht? Man sah keine Ausschreitungen. Waren alle Randalierer verhaftet worden? Hatten sie vielleicht das Gebäude besetzt? Hatten sie möglicherweise sogar einen der Regierungschefs in ihre Gewalt gebracht? Mit diesen Gedanken hatte Passe die letzte Stunde zugebracht und gewartet, dass etwas passierte. Und viel war passiert. Es hatte hektisches Gerenne auf dem Parkplatz gegeben, unzählige Menschen hatten das Gebäude betreten und verlassen. Aber nichts war geschehen, das irgendwie darauf hindeutete, was in dem Gebäude vor sich ging. Passe musste es einfach wissen. Er suchte nach Mark.

Mark Wolf hatte er am Vorabend beim Grillen am Zeltplatz kennengelernt. Dieser hatte sich zwar nicht als Mitglied des Schwarzen Blocks zu erkennen gegeben, aber seinen Worten nach zu schließen, dachte er in etwa wie Passe. Passe hatte den vagen Verdacht, dass Mark vielleicht ein Mitglied der gefürchteten Vereinigung war und unauffällig nach Mitstreitern Ausschau halten sollte, die ebenfalls bereit waren, bis zum Äußersten zu gehen.

Er wandte sich um, um nach dem vermeintlichen Radikalen zu suchen, doch Dora hielt ihn am Ärmel fest.

„Wo willst du hin?”

„Ich suche Mark. Hast du Mark gesehen? Der große Kahlrasierte vom Zeltplatz. Ich muss wissen, was der Schwarze Block gemacht hat.”

„Der Schwarze Block?” Dora schmunzelte. „Es gibt keinen Schwarzen Block, Passe.”

„Natürlich gibt es den. Und er ist hier. Was glaubst du denn, wer hier für so ‘n Chaos sorgen kann?”

„Ich weiß nicht, was da los ist. Ich weiß nur, dass es nicht der Schwarze Block sein kann, weil es so etwas nicht gibt.”

„Natürlich, du weißt ja immer alles.” Da war wieder ihre Besserwisserei – der einzige Charakterzug, den Passe nicht an ihr mochte. Hatte Genua sich vielleicht selbst verwüstet? Genuesen sollte man mal erzählen, es gebe keinen Schwarzen Block.

„Wenn du immer alles so genau weißt, weißt du auch wo Mark ist?”

Dora schüttelte den Kopf. Passe riss seinen Ärmel aus ihrem Griff und machte sich auf die Suche. Bereits nach wenigen Schritten hatte er Mark gefunden.

„Mark, Mann, was geht hier ab?”

„Keine Ahnung.”

„Der Schwarze Block?”

Mark guckte Passe überrascht an. „Meinst du?”

„Wer sonst könnte so einen Aufruhr verursachen?”

Mark überlegte kurz. „Ich schätze du hast Recht”, sagte er schließlich und blickte sich unter den Banner tragenden, Parolen skandierenden Globalisierungsgegnern, in deren Mitte er stand, um. „Und wenn der Schwarze Block wirklich da drin ist”, fügte er nachdenklich hinzu, „dann schätze ich, die Jungs können vielleicht ein wenig Unterstützung gebrauchen.”

„Was meinst du mit Unterstützung?” fragte Passe, doch Mark antwortete nicht. Stattdessen zog er ein Halstuch aus einer Jackentasche und band es sich vor das Gesicht. Dann bückte er sich nach einem Stein, hob ihn auf und schleuderte ihn über den Zaun auf ein Polizeifahrzeug. Die Windschutzscheibe barst mit einem lauten Knall. Augenblicklich drehten sich einige der unzähligen Kameras in ihre Richtung.

Passe verstand sofort. Sie konnten ihren großen TV-Auftritt immer noch bekommen. Weltweite Aufmerksamkeit. Er zog sein eigenes Halstuch, das er stets trug, hoch, um sein Gesicht zu verbergen, und schleuderte ebenfalls einen Stein. Er traf die Seitenscheibe eines Mannschaftsbusses der Polizei. Sofort taten es ihnen andere gleich. Adrenalin löschte Angst und schürte Aggression. Munition wurde ge- und Zorn entladen. Es gab kein Halten mehr. Ein Hagel aus Wurfgeschossen ging auf der anderen Seite des Zauns nieder.

–––––

Dort brach sofort die Hölle los. Das Chaos von vorher war nichts im Vergleich zu dem jetzigen. Menschen hasteten so weit wie möglich vom Zaun weg, hielten sich schützend die Hände über die Köpfe, rannten ineinander, stolperten, brüllten Befehle, stießen Schmerzensschreie aus.

Dabei verband sich das Grau des Himmels mit den unzähligen flackernden Blaulichtern zu einer surrealen Stimmung. Die großen Tropfen des unbarmherzigen Regens reflektierten das Blaulicht und wirkten ihrerseits wie Geschosse.

Ein Feuerwehrmann rutschte in einer Pfütze aus und fiel mit der Schläfe gegen einen Polizeiwagen, wo er benommen liegen blieb. Ein BKA-Beamter wurde von einem Stein am Kopf getroffen und halb bewusstlos von zwei Kollegen zum Eingang des Kongresszentrums gestützt. Ein Sanitäter hatte hinter einem KTW Schutz gesucht, als ein Stein durch beide Seitenscheiben schlug. Von einer Sekunde auf die andere war er von Scherben und Schnittwunden übersät. Ein weiterer Sanitäter erlitt trotz seiner Ausbildung zum Umgang mit Extremsituationen einen Schock und wurde zu völliger Bewegungsunfähigkeit gelähmt. Er stand wie festgewurzelt in der Mitte des Parkplatzes, in der Mitte des Chaos’. Dem Steinhagel schutzlos ausgeliefert, glich es einem Wunder, dass er nicht getroffen wurde, bevor ein kräftiger Feuerwehrmann ihn sich mit grobem Griff über die Schulter warf und in das Gebäude schleppte.

Es wurde gerannt, geschrien, geblutet und geheult.

Doch auch auf der anderen Seite des Zauns entstand schnell eine schwer überschaubare Situation. Denn die Friedvollen, Gewalt Verabscheuenden unter den Globalisierungsgegnern waren bei Weitem in der Überzahl. Sie sahen ihre friedliche Demonstration durch eine kleine Gruppe von nicht mehr als siebzig Verrückten gefährdet und bemühten sich, dem Steinhagel Einhalt zu gebieten. Zwar gelang es ihnen, die Steinewerfer ein wenig zurück zu drängen, doch warfen diese fortan unbeeindruckt einfach über die Köpfe ihrer ursprünglichen Gesinnungsgenossen hinweg.

Die Kameraleute konnten sich kaum entscheiden, in welche Richtung sie filmen sollten. Ihre Reporterkollegen brüllten aufgeregte Aufforderungen. Film dies! Film das! Auf der einen Seite die größtenteils vermummten Gewalttäter, die von einer Sekunde auf die nächste eine friedliche Demonstration in einen Kriegsschauplatz verwandelt hatten, auf der anderen Seite Schrecken, Schmerzen und Verwüstung. Was war interessanter? Warum hatte der Sender nur einen Kameramann mitgeschickt?

Und in all dieser Qual der Wahl, was zu filmen die größere Sensation versprach, mussten sie ständig wachsam bleiben, um jederzeit Steinen ausweichen zu können. Immerhin standen sie exakt zwischen den Fronten.

Flucht hingegen war keine Option. Wenn man als Reporter oder Kameramann nicht den Mumm hatte, hier zu bleiben, dann hatte man definitiv den Beruf verfehlt. Doch das schien auf keinen der hier Anwesenden zuzutreffen.

–––––

Passe wollte gerade zu einem weiteren Wurf ansetzen, als jemand seinen Arm festhielt.

„Spinnst du jetzt komplett?” brüllte Dora ihn an.

„Endlich wird man uns ernst nehmen!” brüllte er zurück. Besessenheit schwang in seiner Stimme mit.

„Du hast sie nicht alle! Du bist krank! Krank!” Tränen der Enttäuschung schossen ihr in die Augen. Sie wandte sich ab und rannte davon.

Passe blickte sich um. Wenn gerade kein Zaun im Weg war, führte die kleine Straße, an der sie standen, direkt zum Kongresszentrum; doch an einen Verkehrsweg erinnerte hier plötzlich kaum mehr etwas. Mark hatte in der Zwischenzeit begonnen, mit einem Brecheisen das Kopfsteinpflaster aufzuhebeln. Wie besessen rissen die Gewalttäter die Pflastersteine aus der Fahrbahn, um ihnen als Wurfgeschosse eine neue Aufgabe zukommen zu lassen.

Passe bewunderte Marks Vorbereitung. Während er selbst zufällig immer ein Halstuch trug, hatte Mark extra eines zu Vermummungszwecken mitgebracht. Sogar an ein Brecheisen hatte er gedacht. Was mochte noch in Marks Rucksack verborgen sein?

Plötzlich war das aufgeregte Geschrei nicht mehr nur vom Parkplatz vor dem Kongresszentrum zu hören – plötzlich kam es auch von hinter ihnen. Passe drehte sich um. Polizisten in voller Kampfmontur waren eingetroffen und begannen, mit ihren Knüppeln die Globalisierungsgegner zu Boden zu prügeln und zu fesseln.

Nicht einmal eine Minute war vergangen, seit Mark den ersten Stein geworfen hatte.

Sofort flogen die Steine nicht mehr auf den Parkplatz, sondern auf die Polizisten. Diese hoben schützend ihre Schilde und versuchten, weiter vorzudringen.

Es wurden immer mehr und sie kesselten die Globalisierungsgegner ein. Alle, nicht nur die Steinewerfer. Wegen ihres Versuchs, die Gewalttäter von ihrem zerstörerischen Tun abzubringen, befanden sich die friedvollen Globalisierungsgegner immer noch im Pulk der Randalierer und waren nun nicht mehr von ihnen zu unterscheiden. Erbarmungslos knüppelten die Polizisten auf alles ein, was keine Uniform trug.

Wo war Dora? Passe musste sie beschützen! Er konnte nicht mehr klar denken. Unmengen von Adrenalin sorgten dafür, dass er die ganze Szene fast wie in Trance wahrnahm.

Plötzlich stand Mark neben ihm und drückte ihm einen brennenden Molotow-Cocktail in die Hand. Passe überlegte nicht lange, sondern warf ihn über den Zaun. Er traf einen Polizeiwagen, der augenblicklich in Flammen aufging. Passe frohlockte. Wenn der Tank erst explodierte, dann würden auch die umstehenden Autos Feuer fangen. Es würde ein Inferno geben. Die Welt würde Notiz von ihnen nehmen.

Dann spürte er einen scharfen Schmerz auf seinem Hinterkopf und sank zu Boden. Er war benommen, aber nicht bewusstlos. Er nahm wahr, wie der Polizist weiter auf ihn einprügelte und eintrat. Verschwommen sah er, wie überall um ihn herum Polizisten auf am Boden Liegende eintraten, wie diese verzweifelt versuchten, sich zu wehren, wie seine Leute auseinander gesprengt wurden und flohen.

Was sie jetzt brauchten, war eine Ablenkung. Wann würde der Tank explodieren? Es konnte nicht mehr lange dauern. Passe ertrug die Schläge und wartete auf den Knall.

Dann sah er den Schatten, der angeflogen kam. Eine vermummte Gestalt sprang dem Beamten, der auf ihn einprügelte, mit beiden Beinen voraus in den Rücken. Der Polizist fiel vornüber. Die kleine, zierliche Gestalt, riss Passe hoch und zerrte ihn weg. Sein Kontrahent rappelte sich schnell hoch. Wirklich verletzen konnte man sie nicht, wenn sie ihre Kampfmontur trugen. Doch die Zeit reichte. Passe hatte es in das kleine Wäldchen hinter der Wiese geschafft und befand sich auf dem Weg zurück zum Zeltplatz.

Er konnte der vermummten Gestalt kaum folgen. Sie war zwar relativ klein und zierlich, aber auf sie war auch nicht wie wild eingeprügelt worden. Wer war sein vermummter Retter? Er blickte die Gestalt näher an, während sie ihn an ihrer Hand durch den Wald zog. Dann erkannte er die Kleidung.

„Dora?” stieß er ungläubig und schwer atmend hervor?

Sie zog den Schal herunter, der ihr Gesicht verdeckt hatte. „Mach so etwas nie wieder!” sagte sie.

–––––

Martin Henkel war ein erfahrener Feuerwehrmann. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er für die Berufsfeuerwehr und seit über einem Jahr bekleidete er den Dienstgrad eines Hauptbrandmeisters. Hektik führte oft zu Unüberlegtheit, und Unüberlegtheit war selten ein guter Ratgeber, wenn es brannte. Aber es gab auch nicht den geringsten Grund zur Hektik.

Er hatte in seinem Leben schon viele brennende Autos gesehen. Bei Unfällen konnte das gefährlich werden, denn es konnten Kraftstoffleitungen oder Tanks beschädigt sein. Dann sollte man auf der Hut sein. Nicht so hier. Tanks waren so gebaut, dass ein Feuer sie nicht zur Explosion bringen konnte.

Vielleicht sollte das mal einer den Hollywoodregisseuren sagen! dachte Henkel, als er sich nur mit einem einfachen Feuerlöscher bewaffnet dem brennenden Auto näherte. Gefahr bestand nur, wenn die Reifen oder die pneumatischen Dämpfer der Heckklappe platzten, denn dann konnten Teile umherfliegen. Aber dafür hatte das Auto noch nicht lange genug gebrannt. Das passierte frühestens nach fünfzehn Minuten.

Mit wenigen kurzen Stößen aus seinem Feuerlöscher hatte er den Brand schnell im Griff. Er schlug das Fahrerfenster ein, entriegelte die Motorhaube, und sprühte durch den Spalt Löschpulver in den Motorraum. Hätte er die Haube zunächst geöffnet, hätte das dem Feuer neuen Sauerstoff gegeben. So war er sicher. Schließlich öffnete er die Motorhaube und setzte ein paar letzte gezielte Stöße aus seinem Löschgerät.

8.

Debbie musste sich sammeln. Dieser impertinente Pfarrer hatte ihr den letzten Nerv geraubt. Wie kleideten sich deutsche Pfarrer heutzutage eigentlich? Sie blickte an sich herab und stellte fest, dass ihre dunkelblaue Kombination aus Rock und Blazer ebenfalls nicht mehr zum Ausgehen taugte. Aber dafür gab es immerhin auch Gründe.

Die einzigen positiven Aspekte an dem Gespräch waren die Tatsache, dass der aufdringliche Sanitäter sie nun in Ruhe ließ, und die Erkenntnis, dass man den Tod des Professors als Unfall ansah. Letzteres bedeutete, dass sie handeln musste. Sie musste dafür sorgen, dass Mordermittlungen angestrengt wurden. Es konnte eigentlich nicht allzu schwer sein, die Polizei davon zu überzeugen. Schließlich lag es doch auf der Hand. Die Schrift, der Ton – jemand hatte hier etwas geplant, manipuliert, inszeniert. Natürlich konnte sie den Blitz nicht erklären. Vielleicht hatte jemand am Blitzableiter rumgespielt; sie wusste es nicht. Aber sie wusste, dass dies nicht einfach ein Unfall gewesen sein konnte.

In einem Punkt allerdings, wusste sie, hatte der Pfarrer nicht ganz unrecht gehabt. Sie durfte die Ereignisse nicht verdrängen, sondern musste sie verarbeiten. Aber nicht jetzt. Man gab ihr ja gar keine Chance dazu. Offenbar musste sie sich wohl sogar darum kümmern, dass vernünftige Mordermittlungen eingeleitet wurden.

Sie suchte nach einem Polizisten. Der Saal war inzwischen weitaus übersichtlicher als noch vor einer halben Stunde. Nicht einmal mehr halb so viele Menschen rannten umher, aber immer noch herrschte ein heilloses Durcheinander. Einen Polizisten zu finden, fiel nicht schwer. Sie ging auf einen zu, der damit beschäftigt war, die Saalbestuhlung im hinteren Teil des Saals zu stapeln.

„Entschuldigung. Wer bitte leitet die Todesermittlungen hier?” fragte sie.

„Das ist Hauptkommissar Wegmann”, antwortete der Polizist und blickte sich suchend um. Schließlich wurde er fündig und streckte seinen Arm in Richtung Bühne aus. „Der Mann da drüben bei dem Notarzt.”

Debbie folgte dem ausgestreckten Arm des Polizisten und sah Wegmann, der offenbar recht heftig mit dem Notarzt diskutierte. Dann plötzlich wurde der Notarzt bleich, unterschrieb ein Blatt und reichte es Wegmann, der sehr zufrieden darüber wirkte.

Debbie ging zu ihm.

„Leiten Sie hier die Todesermittlungen?” sprach sie ihn an.

„Ja. Wieso?” Wegmann drehte sich irritiert zu ihr um.

Gleich auf den ersten Blick empfand Debbie eine kaum erklärbare Antipathie gegen ihn. Es war etwas an seinem Aussehen, aber es musste subtil sein. Sie hatte andere Männer kennengelernt, die ähnlich groß und leicht füllig waren und die ebenfalls einen strengen, sauber getrimmten Vollbart trugen, die aber vom ersten Moment an sympathisch gewirkt hatten.

Nicht so Wegmann. Debbie entschied sich für die Augen. Es mussten seine Augen sein. Zu nervös wanderten sie umher, stellten keinen Blickkontakt mit Debbie her, zuckten überall hin, nur nicht auf sein Gegenüber. Sie waren klein, zu klein für seinen großen Kopf, und hatten etwas Linkisches, Kalkulierendes.

„Mein Name ist Dr. Deborah Ashcroft”, begann Debbie nichtsdestotrotz unbeirrt. „Ich bin… war die Assistentin des Verstorbenen.”

„Dann sollten Sie auf keinen Fall hier rumlaufen”, erwiderte Wegmann. „Sie stehen bestimmt unter Schock. Lassen Sie sich helfen. Wir haben Polizeipsychologen hier und auch extra einen Pfarrer herbestellt, um…”

Debbie ließ ihn nicht ausreden, sie war dieses Thema leid. „Mit dem habe ich schon gesprochen. Es geht mir gut. Ich wollte mich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen.”

„Nun ja, viel gibt es da für uns nicht zu ermitteln”, sagte Wegmann. „Die Experten von der Feuerwehr überprüfen den Brand, wobei die Brandursache jawohl recht offensichtlich ist. Sachverständige des Wetterdiensts checken die Gewitteraktivität und Elektroingenieure überprüfen, wieso der Blitzableiter nicht funktioniert hat und wie der Blitz durch das Dach schlagen konnte. Da sind Experten gefragt. Was soll die Polizei da groß ermitteln?”

„Wie wäre es mit dem Mörder?” fragte Debbie forsch.

„Was für ein Mörder?”

„Der Mörder des Professors. Wäre es nicht Ihre Aufgabe, ihn zu schnappen?” Debbie konnte sich nicht festlegen. War der Kommissar dumm oder faul? Konnte er tatsächlich das Offensichtliche nicht erkennen oder hatte er einfach keine Lust, Ermittlungen anzustellen?

„Ich kann absolut nachvollziehen, was Sie gerade empfinden, Dr. Ashcroft”, sagte Wegmann in beruhigendem Tonfall. „Aber sehen Sie, es handelt sich hier um ein tragisches Unglück. Der Professor wurde durch eine Naturgewalt getötet. Wenn Sie unbedingt einen Mörder haben wollen, dann kann ich Ihnen wohl nur Gott nennen.”

Debbie ignorierte die Blasphemie. Sie war zwar gläubig, hatte jetzt aber Wichtigeres im Kopf, als eine Diskussion über die Verwerflichkeit abfälliger Bemerkungen den Herrn betreffend anzustrengen.

Zudem verlor sie langsam die Geduld. Sie merkte, wie ihre Stimme lauter wurde und auch das Timbre eine gewisse Erregtheit nicht mehr verheimlichen konnte, als sie erneut ansetzte. „Wie oft haben Sie schon davon gehört, dass ein Mensch in einem geschlossenen Gebäude von einem Blitz erschlagen wurde?”

Mehr und mehr zufällig und immer geschäftig vorbeihastende Polizisten schienen einen interessanten Disput zu wittern und blieben nun in ihrer Nähe stehen. Sie gaben vor, in ihre Handys zu tippen, ihre Schnürsenkel zu binden oder sich Notizen zu machen, doch Debbie wusste, dass sie alle nur ihrer Diskussion mit Wegmann lauschten.

„Noch nie”, gab dieser zu. „Aber selbst, wenn es auf der ganzen Welt bisher noch nicht einmal passiert sein sollte – hier und heute ist es passiert. Es gibt dafür 150 Zeugen. Es war ein Blitz.”

„Und die Schrift? Und der Ton?” hakte Debbie nach. „Es ist doch ganz offensichtlich, dass jemand hier irgendwie rumgetrickst hat.”

„Die Ausbreitung von Feuer ist absolut zufällig”, erklärte Wegmann.

Nicht noch so ein Pyroexperte! dachte Debbie.

„Wenn Sie irgendwelche Zeichen gesehen haben”, fuhr er fort, „dann ist das ausschließlich auf Ihren Schock zurückzuführen. Und der Ton ist wahrscheinlich ein sogenanntes psychologisches Massenphänomen. Das sagt jedenfalls der örtliche Pastor und der ist diesbezüglich geschult.”

Dieser Pfarrer wurde immer schlimmer. Selbst jetzt, wo er gar nicht anwesend war, funkte er dazwischen und raubte Debbie den letzten Nerv. Sie musste an sein arrogantes Leiern denken und ein kurzer Würgreiz überkam sie. „Sie müssen doch zugeben, dass die Umstände sehr dubios sind, oder?” sagte sie schließlich.

„Tragisch würde es wohl eher treffen. Unfälle sind tragisch. Ihr Verlust tut mir sehr, sehr leid, Dr. Ashcroft. Aber bitte vertrauen Sie der Ansicht eines erfahrenen Polizisten. Ich habe über fünfundzwanzig Dienstjahre auf dem Buckel und das hier war ein tragisches Unglück.”

Debbie konnte ihre Emotionen nicht länger zurückhalten. Wie so viele Amerikaner trug sie ihr Herz auf der Zunge. Manche nannten es Unbeherrschtheit, andere nannten es sympathische Offenheit. Debbie war es egal und in diesem Moment erst recht. „Ist das bei Ihnen Inkompetenz oder Faulheit? Oder ein bisschen von beidem?” fauchte sie Wegmann an. „Sehen Sie wirklich nicht, was hier passiert oder wollen Sie es einfach nicht sehen?” Wegmann blickte sich mit sichtlichem Unbehagen um. Seine Augen zuckten noch wilder als zuvor zwischen den in der Nähe stehenden Kollegen umher, die nicht mehr verbergen konnten, dass sie lauschten und großen Spaß an der Diskussion gefunden hatten.

„Das reicht”, entgegnete Wegmann ranzig. „Ich muss Sie jetzt bitten, zu gehen. Zivilisten sind hier nicht…”

Weiter kam er nicht. Plötzlich drang hektisches Gebrüll von den Eingängen herüber, Menschen rannten in Panik umher. Debbie hörte Wortfetzen wie ‚Randale’ und ‚Steinewerfer’.

Binnen weniger Sekunden brandete eine Flut von Menschen in den Saal zurück und das eben erst abebbende Chaos brach von Neuem los. Einige der herein sprudelnden Menschen waren blutverschmiert, andere sogar benommen und mussten gestützt werden.

Was war das für ein Tag? Der Tod des Professors, die Art und Weise seines Todes, der zynische Pfarrer, der verbockte Bulle – und jetzt auch noch Randale? War denn die ganze Welt verrückt geworden? Für einen kurzen Augenblick war Debbie wie in Trance, nahm kaum noch wahr, was um sie herum passierte.

So bemerkte sie zunächst auch nicht, dass Wegmann sie stehen ließ, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, und in Richtung des Eingangs rannte. Eher unterbewusst registrierte sie, wie er einem anderen Polizisten die Papiere in die Hand drückte, die der Notarzt ihm gegeben hatte.

Das holte sie in die Realität zurück. Es konnte sich nur um den Leichenschauschein handeln. Da würde sie gerne mal einen Blick drauf werfen. Mit ein bisschen Glück würde auf dem Dokument stehen, in welcher Rechtsmedizin der Leichnam des Professors obduziert werden würde. Vielleicht konnte sie dort etwas herausfinden. Die Frage war jetzt: Wie konnte sie an das Papier gelangen?

Eigentlich sollte es nicht allzu schwer werden. Wenn sie richtig gehört hatte und draußen tatsächlich Radikale randalierten, dann würde der Polizist Wichtigeres zu tun haben, als auf ein Stück Papier aufzupassen. Er würde es irgendwo ablegen, so wie Wegmann es schnell loswerden wollte. Sie musste ihm also nur folgen.

Doch damit lag sie leider falsch. Der Polizist blieb auf seinem Posten und schien sich nicht unbedingt dafür zu interessieren, was draußen passierte. Und dann erinnerte sie sich: Für den Kampf gegen Randalierer waren speziell ausgebildete und vor allem natürlich speziell ausgerüstete Sondereinheiten zuständig und nicht die örtliche Polizei. Dumm von ihr.

Sie brauchte schnell einen Plan B. Nett lächeln, dem Polizisten schöne Augen machen? Quatsch, sowas klappte nie. Zumal sie sich sicher war, dass sie nach den Ereignissen der letzten Dreiviertelstunde nicht über die dafür notwendigen schönen Augen verfügte. Sie dachte nach. Sie war Wissenschaftlerin. Wissenschaftler fanden immer einen Weg. Zumindest die guten. Die schlechten gingen zum Fernsehen.

Das war es! Natürlich, es war so einfach! Sie musste einfach der Redensart folgen, die seriöse Wissenschaftler am meisten verabscheuten: Eine starke Behauptung ist besser als ein schwacher Beweis.

Populärwissenschaftler zogen die Begeisterung der Massen auf sich, indem sie populistische Behauptungen aufstellten und mit wackeligen Belegen stützten. Wirklich zu beweisen waren diese Behauptungen natürlich nicht, aber das interessierte die Massen nicht. Der breiten Öffentlichkeit gefielen die Implikationen der sensationsschwangeren Behauptung und sie wurden taub für die Einwände seriöser Wissenschaftler.

Diese scharlatangleichen Volksverhetzer präsentierten ihre Behauptungen häufig im Fernsehen, aber nie auf Kongressen vor Kollegen oder in Fachzeitschriften. Und immer war es ihr selbstbewusstes und überzeugendes Auftreten, das sie glaubhaft machte. Populärwissenschaftler – Debbie konnte schon das Wort nicht leiden. Für sie war es ein Widerspruch in sich.

Aber hier würde ihr dieses Vorgehen weiterhelfen. Sie musste nur selbstbewusst und überzeugend auftreten. Wenn sie dem Polizisten eine Behauptung geben konnte, die dieser selbst verifizieren konnte, dann würde das Debbie in seinen Augen Glaubwürdigkeit verleihen. Und sie konnte ihm gleich zwei geben. Sie wusste, dass er den Leichenschauschein hatte und sie wusste, dass er ihn von Wegmann erhalten hatte. Woher hätte sie das wissen sollen? Der Polizist musste ihr einfach glauben.

Sie sprach ihn an. „Guten Tag.”

„Tag”, entgegnete der Polizist.

„Ich bin die Assistentin des leichenschauenden Arztes. Er braucht den Leichenschauschein nochmal kurz, weil er etwas vergessen hat”, sagte sie. Der Polizist guckte unsicher, doch jetzt würde sie zum entscheidenden Schlag ansetzen. „Hauptkommissar Wegmann sagte mir, er habe Ihnen den Schein gegeben?”

Es wirkte. Debbie hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen, als der Polizist mit den Worten „Wegmann schickt Sie?” in seine Jackentasche griff und den Leichenschauschein hervor holte. Offenbar arbeitete sein Gehirn genau die Prozesse ab, die Debbie vorausgesagt hatte. Woher sollte sie wissen, dass er das Dokument hatte, und woher sollte sie wissen, dass er es von Wegmann hatte, wenn nicht ebendieser sie wirklich geschickt hatte? Manchmal war eine starke Behauptung leider eben doch besser als ein schwacher Beweis.

Debbie nahm das Dokument entgegen und hielt Ausschau nach einem Ort, wo sie unauffällig einen Blick darauf werfen konnte. Nach wie vor wimmelte es von hektisch umher rennenden Menschen. Hier war man nirgendwo für sich.

Oder doch? Vielleicht sogar überall? Sie war zwar unter Hunderten von Menschen, aber alle waren so beschäftigt, dass niemand ihr auch nur die geringste Beachtung schenken würde. Es war perfekt. Inmitten dieses Chaos’ war der wohl ungestörteste Ort von ganz Petersdamm.

Sie überflog die Zeilen. Auf der letzten Seite schließlich las sie etwas, das ihre Knie erneut weich werden ließ: Bei der Wahl zwischen dem natürlichen und dem nicht-natürlichen Tod war Ersteres angekreuzt. Als angenommene Todesursache wurde Herzversagen angegeben.

Sie schloss ihre Augen und öffnete sie erneut, doch auf dem Schein stand immer noch das Gleiche. Selbstverständlich würde es keinem Herzen guttun, wenn abertausend Volt hindurch strömten. Aber das einen natürlichen Tod zu nennen, glich einer Farce. Wie konnte ein Arzt das verantworten?

Doch Debbie konnte es sich denken. Sie hatte vor einigen Jahren in einer Zeitschrift einen Artikel über die Methoden der Polizei gelesen, Mordermittlungen zu umgehen, wenn die Ermittler nach ihrem ersten und zumeist oberflächlichen Ermessen der Meinung waren, es handele sich nicht um ein Tötungsdelikt.

Sie erinnerte sich, wie Wegmann auf den Notarzt eingeredet hatte, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Die Frage, ob der Kommissar dumm oder einfach nur faul war, hatte Klärung erfahren. Er war mitnichten dumm. Ganz im Gegenteil. Exakt kalkulierend hatte er genau die Maßnahme ergriffen, die ihm die Ermittlungen in einem Tötungsdelikt ersparte.

Es würde also keine Autopsie geben. Die einzige Chance, an Hinweise zu gelangen, war zunichte gemacht, Debbies einzige Hoffnung begraben.

Auf wackeligen Beinen schleppte sie sich zur Bühne und setzte sich vor ihr auf den Boden, das Podium im Rücken, das Chaos vor Augen. Die Luft war gefüllt von Flüchen, Befehlen, Menschen, Bewegungen, Schweißgeruch, Anspannung, Schmerzen und Angst – doch von all dem nahm sie nichts wahr. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin.

Erneut spielte sich vor ihrem inneren Auge die schreckliche Szene des Nachmittags ab. Der im Blitz gefangene, fürchterlich zitternde Professor, der brennende Schriftzug hinter ihm, der schreckliche Ton über allem.

Die Polizei wollte ihr nicht helfen, sie selbst hatte keine Spur. Und auch keine Hoffnung. Eine traurige Gewissheit machte sich in ihr breit: Der Mörder des Professors würde nicht für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden.

9.

Die frische Luft und der Regen im Gesicht fühlten sich gut an. Holger war froh, dem stickigen Mief des Kongresszentrums, dem nervenaufreibenden Chaos darin und besonders natürlich der hysterischen, wild spekulierenden Amerikanerin entkommen zu sein. Waren eigentlich alle Amerikaner Verschwörungstheoretiker? Er wusste es nicht und es war ihm auch egal.

Er verließ den eingezäunten Sicherheitsbereich durch die schwer bewachte Durchfahrt. In Momenten wie diesen hätte der Zaun fast nerven können. Immerhin regnete es und die Ausgangskontrolle wirkte überflüssig und überzogen gründlich wie immer. Schließlich wollte er raus und nicht rein. Noch mehr hätten die Eingangskontrollen nerven können, denn sie waren stets zeitaufwändig und mit einer gründlichen Leibesvisitation verbunden. Das alles hätte nerven können. Wenn es Holger nicht schlichtweg egal gewesen wäre.

War er zynisch? Vielleicht. Es war ihm egal.

Er hatte es nicht weit. Nur ein etwa sechshundert Meter breiter Streifen aus kleinen Wäldchen und wilden Wiesen trennte den eingezäunten Bereich vom Dorf. Holger fragte sich, ob dies eine schöne Gegend war. Möglich. Wahrscheinlich. Ziemlich sicher sogar, denn früher hatte er sie als schön empfunden. Besonders um diese Jahreszeit. Die Bäume hatten bereits vor Wochen auszuschlagen begonnen und standen in leuchtend hellem Grün. Die Wiesen wurden bereits von vereinzelten Frühlingsblumen geschmückt. Im Sommer glichen sie einem einzigen Blütenmeer. Hinzu kam die Brandung, die als sanftes Rauschen bis hierher zu hören war, und eine ebenso stilvolle wie angemessene akustische Untermalung bot. Selbst grauen und verregneten Tagen wie heute hatte Holger etwas Positives abgewinnen können und sich am frischen, leicht erdigen Geruch der reingewaschenen Luft erfreut. Früher. Doch heute konnte er nicht mehr sagen, ob die Gegend schön war oder nicht, denn es interessierte ihn schlichtweg nicht. Es war ihm egal. Wie fast alles.

Jetzt standen die Wiesen sowieso voll mit den Zelten der Globalisierungsgegner. Ungepflegte Kreaturen, die hier eine Woche auszuharren planten – wahrscheinlich ohne zu duschen. Holger hasste diese Zecken und das war ihm nicht egal. Ganz im Gegenteil bedeutete ihm dieses Gefühl sogar eine ganze Menge. Er zog seinen Schritt an.

Hinter sich hörte er plötzlich Schreie, Rennen, Splittern, Krachen. Irgendein Aufruhr, wahrscheinlich Autonome. Eine plötzliche rasende Wut verbunden mit brennendem Hass kochte in Holger hoch. Er merkte, wie er unwillkürlich die Hände in seinen Taschen zu Fäusten ballte. Mit jedem Schritt versuchten seine Füße, der Erde unter ihm, dieser beschissenen Welt, einen Tritt zu verpassen.

Er versuchte sich einzureden, dass ihn diese Wahnsinnigen nicht interessierten. Autosuggestion. Sie sollten ihm egal sein. Nicht einmal Debbies Schicksal hatte ihn interessiert, obwohl er in ihrem Fall von Berufswegen dazu verpflichtet gewesen wäre. Warum konnte er eine solche Gleichgültigkeit nicht auch den Globalisierungsgegnern gegenüber entwickeln? Er wusste die Antwort und er wusste auch, dass sich daran niemals etwas ändern würde.

Ein Tross von Mannschaftsbussen der Polizei schoss mit mörderischer Geschwindigkeit an Holger vorbei und nur mit Not konnte er von einer Pfütze aufspritzendem Wasser ausweichen. Laut fluchend ging er weiter.

Als Holger den Dorfkern erreichte, war seine Wut nahezu abgeklungen, und die Gleichgültigkeit, die seit zwei Jahren sein Leben bestimmte, zurückgekehrt. Er überquerte den Marktplatz mit dem schönen, bronzenen Springbrunnen aus dem 18. Jahrhundert in seiner Mitte und steuerte direkt auf den ‚Dorfkrug’ zu.

Auf der dem ‚Dorfkrug’ gegenüberliegenden Seite des Platzes lag die andere Kneipe des Dorfes, die ‚Kleine Taverne’. Holger mochte sie nicht, denn sie war stets gut besucht. Bei Hagen konnte er sich sicher sein, auf nicht allzu viele Menschen zu treffen – nicht selten hatte er sogar das Glück, der einzige Gast zu sein.

Er hatte nur noch wenige Meter bis zum ‚Dorfkrug’ zu gehen, als er stehen blieb. Ein plötzlicher Gedanke hatte sich in ihm manifestiert und bedurfte einer kurzen Reflektion, denn er stand vor dem kleinen Internetcafé des Dorfes. Debbies Worte schossen ihm erneut durch den Kopf: Finden Sie heraus, wie lange ein Blitz dauert. Diverse Pros und Kontras galt es gegeneinander abzuwägen.

Einerseits würde es ihn wahrscheinlich weniger als fünf Minuten kosten, an die gewünschten Informationen zu gelangen. Zudem glaubte Holger, dass die Antwort objektiv betrachtet vielleicht interessant sein könnte. Nur weil sie ihn nicht interessierte, musste das nicht bedeuten, dass sie auch für den Normalbürger jeglicher Spannung entbehren musste – schließlich gab es nichts oder nur sehr wenig, was ihn interessierte.

Andererseits gefiel ihm der Gedanke nicht, tatsächlich genau das zu tun, wozu diese amerikanische Verschwörungstheoretikerin ihn aufgefordert hatte.

Doch dann fiel ihm ein, dass, wenn er sich dafür entschlösse, nach Blitzen zu googlen, er es ja aus freien Stücken und nach reiflicher Überlegung täte, und nicht auf ihre Aufforderung hin.

Was für andere Gründe gab es, die dagegen sprachen?

Als Holger das Internetcafé schließlich betrat, tat er es aus dem gleichen Grund, aus dem er beschlossen hatte, Bier zu trinken. Oder vielmehr wegen des erneuten Ausbleibens eines Gegengrunds: Warum nicht? Es war doch sowieso alles egal.

Er setzte sich vor einen der immerhin vier Rechner und bat ohne große Hoffnung auf Erfolg um ein Pils. Der Betreiber bedauerte, er besitze leider keine Alkoholausschanklizenz, und Holger änderte die Bestellung auf Kaffee. Dann öffnete er den Browser. Er gab den Suchbegriff ‚Blitz’ in Google ein und fand gleich auf der ersten Seite einen Link zu einem Wikipedia-Eintrag. Er klickte darauf und las:

Ein Blitz ist in der Natur eine Funkenentladung bzw. ein kurzzeitiger Lichtbogen zwischen Wolken oder zwischen Wolken und der Erde, in aller Regel während eines Gewitters in Folge einer elektrostatischen Aufladung der wolkenbildenden Wassertröpfchen bzw. der Regentropfen.”

Holger war bereits jetzt von dem Artikel gelangweilt. Er verstand sowieso kein Wort. Er überflog die Zeilen auf der Suche nach Zahlen:

... muss der Potenzialunterschied (die Spannung) einige 10 Millionen Volt betragen ... Feldstärken von über 200.000 V/m ... Röntgenstrahlung mit einer Energie von 250.000 Elektronenvolt ... maximal 12mm im Durchmesser ...”

Und dann fand er es:

Die Vorentladungen benötigen zusammengenommen etwa 0,01 Sekunden, die Hauptentladung dauert nur 0,0004 s.”

Holger hatte von allem, was er bisher überflogen hatte, nicht ein Wort verstanden. Aber der letzte Halbsatz ließ keinen Zweifel zu. Ein natürlicher Blitz dauerte nur Bruchteile einer Sekunde. Lars’ Worte gingen ihm durch den Kopf und wiederholten sich wie in einer Endlosschleife: Als die Wand hinten Feuer fängt, da hängt der Professor noch immer in dem Blitz und zittert wie bescheuert.

Dies war kein normaler Blitz gewesen, jemand musste ihn manipuliert haben. Konnte man Blitze manipulieren? Holger wusste es nicht. Sicher wusste er nur eins: Mit überirdischen Kräften hatte das Ganze nichts zu tun.

10.

Jo Somniak wurde etwas ungeduldig. Zwar war es ein tolles Gefühl, den Schatz in seinem Schuh zu wissen, doch er hatte wichtige Dinge zu erledigen. Das Warten war enervierend und nur das beschäftigte ihn im Moment. In den bleichen Gesichtern seiner mit ihm wartenden Kollegen konnte er ablesen, dass ihre Gedanken sich wohl eher um den schrecklichen Tod des Professors drehten als darum, so schnell wie möglich hier rauszukommen. Mit ziemlicher Sicherheit empfand Somniak von allen Anwesenden am wenigsten Mitgefühl für den Professor. Doch schließlich schien es, als seien das Schicksal des Verstorbenen und das seine unmittelbar miteinander verknüpft.

Jeder Anwesende musste sich vor dem Verlassen des Gebäudes einer eingehenden Leibesvisitation unterziehen. Wegen ihrer zumeist professionellen Fotoausrüstung wurde bei den Journalisten die ohnehin immense Gründlichkeit noch einmal erhöht.

Ein jeder von ihnen wurde von je zwei Polizeibeamten in provisorische Kammern gebracht, nicht viel größer als die Umkleide-Kabinen in einem Bekleidungsgeschäft. Dafür, dass es zwei Beamte sein mussten, vermutete Somniak ebenso viele Gründe: Erstens wäre ein Beamter alleine leichter zu überwältigen gewesen. Zweitens verfügte man auf diese Weise später bei eventuellen Anschuldigungen bezüglich unsittlichen Verhaltens über einen weiteren Zeugen. Somniak hatte weder die Absicht, das eine zu tun, noch das andere.

Er wusste, wozu die Leibesvisitationen durchgeführt wurden. Es durften unter keinen Umständen Fotos des Unglücks an die Presse gelangen. Deshalb durchsuchten die Beamten jede einzelne Tasche, fühlten Futter nach versteckten Taschen ab und bestanden auf einer völligen Entkleidung der jeweiligen Person. Jeder Quadratzentimeter Kleidung wurde genauestens abgefühlt, der Inhalt der Kameraspeicher wurde augenblicklich überprüft und wenn unerwünschtes Bildmaterial gefunden wurde, wurden die Speichermedien komplett zerstört. Gelöschte Dateien waren schließlich immer wiederherstellbar. Aber Somniak hatte ja den kleinen Schlitz in seiner Schuhsohle. Hier war die Karte sicher.

Er nutzte die Zeit, um die nächsten Schritte zu planen. Als erstes würde er telefonisch einen Termin mit dem Chefredakteur der BILD-Zeitung vereinbaren, um sicher zu gehen, diesen auch anzutreffen. Vielleicht traf das Wort ‚vereinbaren’ nicht ganz den Kern. Vielmehr würde er mit der Ankündigung einer Sensation fordern, vom Chefredakteur persönlich empfangen zu werden. Anschließend würde er die 180 Kilometer nach Hamburg fahren, was um diese Uhrzeit nicht länger als zwei Stunden dauern sollte. Dort würde er die Geschehnisse schildern.

Das Problem war, dass dies alles sehr schnell gehen musste, denn vor Redaktionsschluss mussten die Artikel fertig geschrieben und gelayoutet sein. Würde der Artikel erst für die Ausgabe am Folgetag fertig, bestünde die Gefahr, dass jemand anderes ihm zuvorkam oder die Informationen auf andere Art und Weise an die Presse gelangten. Vielleicht hatte noch jemand zufällig einen guten Schuss gelandet und konnte die Daten irgendwie aus dem Kongresszentrum schmuggeln.

Somniak war sich ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall sein würde, aber er musste auf Nummer sicher gehen. Wissenschaftsjournalisten verabscheuten die Regenbogen-Presse. Sie wähnten sich etliche Stufen über dem Boulevard-Journalismus stehend und sprachen diesem jegliche Seriosität ab. Wahrscheinlich lagen sie damit noch nicht einmal ganz falsch, doch Seriosität war nicht das, wonach Somniak in diesem Moment strebte.

Endlich war er an der Reihe. Eine Viertelstunde später verließ er das Gebäude, seinen Schatz noch immer sicher in seinem Schuh versteckt.

11.

Holger saß auf einem Barhocker an der Theke im ‚Dorfkrug’ und nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Pils. Wie er es erhofft hatte, hatte bislang an diesem Abend noch kein anderer Gast den Weg hierher gefunden.

Der Raum war nicht besonders groß, nicht größer als zwanzig Quadratmeter, vermittelte im Gegenzug aber eine Art rustikale Gemütlichkeit.

Die für die Enge des Raums viel zu wuchtig wirkende Theke war komplett aus dunklem Holz gearbeitet und die starke Abnutzung ließ den Schluss zu, dass der letzte Anstrich mit Klarlack schon einige Jahre zurücklag. Die eigentliche Thekenfläche bestand durch das zigtausendfache Abstellen von Getränken fast nur noch aus rohem Holz, und lediglich die hölzernen Säulen und die von ihnen gestützten Regale unter der Decke, die zur Aufbewahrung von Gläsern und Schnapsflaschen dienten, ließen noch erahnen, mit welch erhabenem, dunkelbraunem Glanz dieses mächtige Möbel den Raum einmal dominiert haben musste.

Dem Tresen gegenüber befanden sich Fenster, die zum Marktplatz hinausblickten. Um nicht allzu viel Tageslicht hereinzulassen, hatte Hagen sie größtenteils mit bunt gebatikten Tüchern verhängt. Besonders, wenn die Sonne tief stand, tauchten sie den Schankraum in ein Spiel bunter Farben, und auch bei Nacht verliehen sie der ansonsten eher düsteren Atmosphäre zumindest ein wenig Freundlichkeit. Holger hatte einmal gelesen, dass Farben glücklich machten, doch er konnte sich nicht erinnern, diese Erfahrung selbst jemals gemacht zu haben. Weder das Blütenmeer auf den Wiesen vor dem Dorf noch die bunten Tücher in Hagens Fenster hatten das in den letzten zwei Jahren geschafft.

Unter den Fenstern verlief eine durchgehende, an der Wand befestigte Bank, vor der nebeneinander drei Tische standen. Bank, Tische und die Stühle davor waren aus unbearbeitetem Holz gefertigt und passten gut zum rustikalen Stil der Kneipe.

Komplettiert wurde der Gesamteindruck vom allgegenwärtigen Geruch nach fischigem Frittierfett. Es mochte ein wenig billig riechen und was Hagen aus der Fritteuse herausholte, eignete sich todsicher nicht zu Diätzwecken, doch seine Variationen von frittiertem Fisch waren schlichtweg köstlich.

Holger hatte nie verstehen können, warum die Kneipe in letzter Zeit so schlecht besucht war, aber im Prinzip war ihm der Grund auch egal. Er war einfach froh, dass es sich so verhielt, denn so gab es wenigstens noch einen Ort außerhalb seiner eigenen vier Wände, an dem er sich aufhalten und Bier trinken konnte, ohne unter Menschen zu sein.

Hagen hatte Holger nur sein Bier hingestellt und sich dann wieder auf den Fernseher in einer Ecke des Raums konzentriert. Es lief ein Bericht über Ausschreitungen von Globalisierungsgegnern beim G8-Gipfel. Holger hingegen weigerte sich, seinen Stuhl zum Fernseher zu drehen. Er starrte gedankenverloren Hagen an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und so wenig Holger sich auch für andere Menschen interessierte, wurde er in diesem speziellen Fall das Gefühl nicht los, Hagens seltsames Verhalten könnte in irgendeiner Weise sogar ihn betreffen.

Hagen Petzold war Anfang sechzig und hatte außer dieser Kneipe nichts im Leben. Aber auch als es noch etwas außer dem ‚Dorfkrug’ gegeben hatte, war dieser stets sein Lebensmittelpunkt gewesen. Aus eben diesem Grund hatte seine Frau ihn damals auch verlassen, und seitdem gab es wirklich nur noch die Kneipe für ihn.

Hagen war spindeldürr und hatte langes, fast vollständig ergrautes Haar bis in den Rücken, das er sich meist zu einem Pferdeschwanz band. Nur noch stellenweise konnte man das Dunkelblond erahnen, dass einmal seine Haarfarbe gewesen sein musste. Dazu trug er eine Brille mit schmalem Rahmen und kreisrunden Gläsern. Holger hatte manchmal die Vermutung, Hagen sei vielleicht selbst sein bester Kunde. Er hatte schon von vielen Alkoholikern gehört, die dünn waren. Häufig ersetzte Bier ihnen komplett die Nahrung, zudem kurbelte der Alkohol den Stoffwechsel an.

Wenn man Hagen Petzold als Hippie bezeichnete, konnte man kaum falsch liegen. Obwohl seine Vorliebe für freundlich-helle, gebatikte T-Shirts etwas zu klischeehaft wirkte, wusste Holger doch, dass Hagen in den Studentenbewegungen der 60er Jahre in der Tat aktiv gewesen war. Er war ein lässiger Typ, cool, unbekümmert. Ey, Peace, Mann.

Fröhlich hingegen war Hagen Petzold selten. Seine ernsten, von Sorgenfalten zerfurchten Gesichtszüge zeigten, dass seine Kleidung und sein Äußeres nicht sein Seelenwohl widerspiegelten. Er sprach stets mit sanfter, freundlicher Stimme, aber er sprach nur selten. Er lächelte stets freundlich zur Begrüßung, wenn jemand die Kneipe betrat, doch er lächelte nicht mit seinen Augen.

Hagen musste Sorgen haben, soviel war sicher, und wenn man sah, wie wenig Umsatz er machte, konnte man sich deren Ursprung leicht vorstellen. Holger wusste, dass der ‚Dorfkrug’ in finanziellen Schwierigkeiten steckte und dass Hagen Druck von seiner Bank bekam. Die Kneipe hatte Jahrzehnte lang seinen Lebensmittelpunkt dargestellt, seine Ehe zerstört und würde ihn nun in den Abgrund ziehen.

Gerade deshalb, weil es eben so gar nicht zu ihm passte, besorgte Hagens seltsame, fast heitere Stimmung Holger – speziell angesichts der erschreckenden Nachrichten, die er im Fernsehen verfolgte. Gutes konnte das kaum bedeuten, zumindest nicht für ihn. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte Hagen den ‚Dorfkrug’ verkauft und genoss zum ersten Mal seit Urzeiten ein Gefühl von Freiheit, oder er hatte einen Rettungsplan ausgearbeitet, der natürlich nur beinhalten konnte, dass mehr Kunden kommen würden. So oder so würde Holger seinen Zufluchtsort verlieren. Eine klassische lose-lose Situation.

Schließlich hielt er es nicht länger aus.

„Du wirkst verändert, Hagen. Wieso?” Er hatte sich seit zwei Jahren nicht für das Befinden eines anderen Menschen interessiert und er tat es auch jetzt nicht. Einzig dieses seltsame Gefühl, Hagens Verhalten könnte auch ihn betreffen, trieb ihn zu seiner Frage.

„Nichts. Alles bestens.”

„Eben das motiviert mein Fragen.”

„Wieso?”

„Es muss dir schlecht gehen.” Durch Holgers gleichgültiges Leiern litt die Betonung und es war nicht klar zu erkennen, dass er mit dem Verb ‚muss’ einen logischen Schluss meinte, und nicht etwa ein eigenes Begehren, ein Sollen. „Dir geht es immer schlecht. Daraus, das sollte dir bewusst sein, resultiert unsere kontralaterale Affinität. Dein Geschäft wirft keinen Ertrag ab. Es hat dir nicht gut zu gehen. Es existiert kein Grund für Wohlbefinden.”

„Es wird sich hier Einiges ändern, Holger. Ich habe eine neue Zielgruppe. Bald werde ich mich vor Gästen kaum noch retten können.”

Holger fühlte, wie ihm das Herz in den Schoß rutschte. Seine kleine heile Welt aus von Selbstmitleid genährter Gleichgültigkeit funktionierte nur in einer ungestörten Atmosphäre. Lose-lose. Er hatte verloren.

„Welch degenerierter Materialist aus dir geworden ist”, leierte er, Gleichgültigkeit nur mit Mühe vortäuschend. „Aber was kann man erwarten? Immerhin scheinst du von der Bürde eines logischen Denkvermögens gänzlich verschont zu sein.”

Hagen schien ihm seine Worte nicht übel zu nehmen, nicht geneigt, sich provozieren zu lassen. „Habe ich etwas übersehen?” fragte er gelassen.

„Ich denke, das könnte man so sagen. Welcher Hornochse, glaubst du Hornochse denn, sehnt sich wohl nach der Enge einer überfüllten Kneipe und der impliziten Verpflichtung sozialer Konventionen?”

Hagen lachte heiser auf. Für eine Sekunde klang sein Ausbruch nahezu manisch. „Die Hornochsen, die dafür gesorgt haben, dass die Kneipe voll ist, zum Beispiel. Vergiss nicht, dass der Mensch – mit deiner Ausnahme – ein soziales Wesen ist.”

„Menschen. Es soll dir schlecht gehen, Hagen.”

„Willst du noch ein Bier?”

„Nein, wirklich nicht. Wirklich nicht mit der Bürde logischen Denkvermögens belastet.”

12.

Kommissar Wegmanns Büro im Gebäude der Polizeidirektion Rostock war nicht besonders groß und weit davon entfernt, gemütlich oder gar stilvoll zu sein. Er war zwar Chef, aber eben nur Chef einer Abteilung in einer Behörde in Ostdeutschland und nicht Chef einer Bank. Die Möbel waren von Ikea, der Boden aus Linoleum und an den Wänden gab es keine Tapeten, sondern nur einige Schichten bieder beiger Farbe auf dem blanken Putz. Eine Wand war immerhin mit einem großen weißen Blech versehen, das sowohl als Tafel als auch als Magnetwand diente. Hier konnte Wegmann Material für seine Fälle sammeln, Querverbindungen herstellen, Übersichtlichkeit schaffen, Rätsel lösen.

Er hatte die Magnetwand in den sieben Jahren, die er jetzt dieses Büro okkupierte, nicht einmal zu dem Zweck benutzt, der ihr eigentlich zugedacht war.

Dies war nicht seine Art, seinem Beruf nachzugehen. Es gab für ihn nichts aufzuklären, weil es in seinem Bezirk keine Morde gab. Offiziell nicht. Wegmann war einfach gut darin, dafür zu sorgen, dass Morde nicht als solche erfasst wurden. Auf diese Weise war nicht nur die Arbeitslast erträglich, sondern auch die Kriminalstatistik in seinem Bezirk exzellent, was ihm regelmäßig Lob für seine gute Präventivarbeit einbrachte.

Auf seinem großen Ikea-Schreibtisch stapelten sich stets Aktenberge und verliehen dem Raum ein Flair von Stress und Geschäftigkeit. Wer genauer hinguckte, fand allerdings schnell heraus, dass die Akten zum Teil Jahre alt waren und keine aktuellen Fälle dokumentierten. Wegmann hatte eine gewisse Perfektion darin entwickelt, sowohl sein Büro als auch seinen Habitus stets in gestresster Geschäftigkeit zu präsentieren.

Diese Camouflage diente zum Teil dem Selbstschutz, denn wenn mal ein Vorgesetzter aus Schwerin vorbeischaute, sah dieser zu jeder Zeit einen in Arbeit versinkenden Kommissar und kam nie auf die Idee, ihn zur Unterstützung unterbesetzter Dienststellen abzukommandieren. Zum anderen Teil diente die Camouflage des Gestressten der Befriedigung seiner Eitelkeit. Wegmann war ein Mann, der sehr auf seine Außenwirkung achtete, und in seiner Vorstellung hinterließ ein vielbeschäftigter Mann einen professionelleren, fleißigeren und insgesamt einfach tieferen Eindruck als ein unterbeschäftigter.

Zur Unterstützung dieses Anscheins hatte er auch die Magnetwand zweckentfremdet. Etliche Fotos oder Zeitungsartikel hafteten an ihr, waren mit handschriftlichen Notizen versehen, durch geschwungene Klammern zusammengefasst und durch Linien und Pfeile miteinander verbunden. Regelmäßig änderte Wegmann die Anordnung oder tauschte Bilder aus. Er betrachtete die Perfektion, die er in dieser Illusion der Geschäftigkeit entwickelt hatte, nicht ohne einen gewissen Stolz.

Wegmann saß hinter seinem Schreibtisch und hatte die Füße auf selbigen gelegt. Es war lange nach dem normalen Feierabend. Normalerweise ließ er um Schlag 17:30 Uhr den Stift fallen, doch dieser Tag ließ es nicht zu. Es galt jetzt, Schadensbegrenzung zu betreiben, um wenigstens für die nächsten Tage wieder einen halbwegs geregelten Ablauf zu garantieren. Später wollte noch ein Brandursachenermittler der Feuerwehr vorbeischauen. Mit ein bisschen Glück konnte der Fall danach als so gut wie abgeschlossen betrachtet werden.

Wegmann griff nach einer Fernbedienung und schaltete den Fernseher in der vorderen linken Ecke des Raums ein. Er konnte die Zeit genauso gut damit überbrücken, zu sehen, was die Medien über die Ereignisse des Nachmittags in Erfahrung gebracht hatten.

Auf fast allen Kanälen liefen Sondersendungen über den Gipfel und natürlich waren der Auflauf an Rettungskräften vor dem Kongresszentrum und die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Globalisierungsgegnern und Polizei die vorherrschenden Themen. Wegmann entschied sich für einen Privatsender, weil Tanja Franke hier berichtete. Wahrscheinlich war Tanja Franke keine besonders gute Journalistin, wenn man Seriosität als Maßstab ansetzte, aber das konnte Wegmann weder beurteilen, noch war es der Grund, warum er ihre Reportagen gerne sah. Der Grund war weit profaner: Er fand sie geil.

Es war nicht allein ihr Aussehen, das ihm an ihr gefiel. Natürlich waren ihre halbkurzen, nur bis gerade über die Ohren reichenden, dunkelblonden Haare stets perfekt gestylt und ihr Make-Up zeigte nie auch nur den geringsten Makel. Auch ihre Kostüme waren stets ebenso modisch wie figurbetont, doch das alles war es nicht, was ihn an ihr anturnte. Es musste irgendetwas in ihrer Ausstrahlung, in ihrem Selbstbewusstsein sein. Sie wirkte dominant und energetisch. Wegmann stellte sich vor, wie sich ihre Energie im Bett in manische Lust verwandelte und verspürte eine leichte Erregung.

Jäh wurde er allerdings vom Inhalt ihrer Worte aus seinen Träumen gerissen, denn der war im Moment sogar noch besser als die Vorstellung, sie zu beschlafen.

Tanja Franke führte soeben das große Aufgebot von Rettungskräften und Feuerwehr im eingezäunten Bereich auf den Medien nicht bekannte Probleme mit Globalisierungsgegnern zurück und verwies auf die nachfolgenden Ausschreitungen jenseits des Zauns.

Sie hatten also keine Ahnung von dem Blitz und dem Tod des Professors. Sehr gut. Es gab kein Leck.

Wegmann schaltete durch die Kanäle und stellte befriedigt fest, dass auch deren Reporter völlig im Dunkeln tappten. Sie alle vermuteten Globalisierungsgegner hinter dem kompletten Chaos.

Es sah ganz danach aus, als würden die nächsten Tage wieder ruhiger werden.

13.

Draußen ging das Dunkelgrau des Tages langsam in die Schwärze der Nacht über und es drang kaum noch Licht durch die großen Fenster in Debbies Hotelzimmer. Elektrisches Licht hatte sie ebenfalls nicht eingeschaltet. Sie lag im Halbdunkel auf ihrem Bett und starrte an die Decke.

Irgendwann hatte ein Polizeibeamter sie gebeten, das Kongresszentrum zu verlassen. Er hatte ihr erneut die Polizeipsychologen ans Herz gelegt und Debbie war, versichernd, dass alles in Ordnung sei, in ihr Hotel geflohen.

Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung. Nicht im Geringsten. Aber ein Psychologe hätte daran auch nichts ändern können, es sei denn, er hätte den Mörder des Professors gefunden.

Das Zimmer war nicht übertrieben groß, aber durchaus komfortabel. Neben dem bequemen Doppelbett gab es eine kleine Sitzecke mit zwei Sesseln und einem kleinen Tischchen, abstrakte Gemälde und ein Flachbildfernseher schmückten die Wände. Ein geräumiges und überaus sauberes Badezimmer aus weißen Marmorkacheln komplettierte das Bild des guten Businesshotels.

Die Hotelkosten und sogar ihr Flugticket waren komplett vom deutschen Staat übernommen worden. Debbie dachte daran, wie sehr sie sich auf diese Reise gefreut hatte, wie aufgeregt sie gewesen war, als der Professor sie gebeten hatte, ihn zu begleiten. Ob das ein Scherz sei, hatte sie erwidert. Wochenlang hatte sie sich in Vorfreude vorgestellt, wie es sein würde, wenn der Professor ihre Forschungsergebnisse den mächtigsten Menschen dieser Erde präsentierte. Doch die Ereignisse des Nachmittags waren nie Teil dieser Vorstellungen gewesen.

Nachdem sie zurück in ihr Zimmer gekommen war, hatte Debbie kurz geduscht, sich den Hotelbademantel übergeworfen und sich auf das Bett gelegt.

Während die schrecklichen Bilder des Nachmittags in einer Endlosschleife wieder und wieder vor ihrem inneren Auge abliefen, versuchte sie krampfhaft, einen klaren Gedanken zu fassen. Wer konnte einen Grund gehabt haben, den Professor umzubringen? Ein Konkurrent? Ein Neider? Oder – ganz profan – womöglich ein Angehöriger wegen Erbe und Lebensversicherung?

Und warum auf diese Art und Weise? Das Ganze hatte eher wie eine Inszenierung gewirkt, als wolle der Mörder ein Zeichen setzen, etwas aussagen. Aber was? Hierauf gab es nur einen einzigen Hinweis und dessen Sinn wollte sich Debbie einfach nicht erschließen.

A87. Was hatte A87 zu bedeuten? Oder vielmehr: Was hatte es mit dem Professor zu tun? Denn was es bedeutete, wusste sie natürlich. Jeder Virologe wusste das.

Es handelte sich um von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene Codes zur Klassifizierung von Krankheiten, die sogenannten ICD Codes. ICD stand für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Die Codes waren zur weltweiten statistischen Erforschung von Morbidität und Mortalität eingeführt worden, also von Krankheitswahrscheinlichkeit und Sterblichkeit.

Der Vorläufer dieser Klassifikation war bereits 1893 von Jacques Bertillon erarbeitet worden, das sogenannte Internationale Todesursachenverzeichnis. Nachdem bereits mehrere Länder dieses Verzeichnis übernommen hatten, hatte 1898 die amerikanische Gesundheitsorganisation vorgeschlagen, dass auch die USA, Kanada und Mexiko der Codierung folgen sollten, und dass das Verzeichnis, um dem Fortschreiten der Forschung stets gerecht zu werden, alle zehn Jahre überarbeitet werden sollte. 1900 dann hatte die erste internationale Konferenz zur Klassifizierung von Todesursachen stattgefunden. 1948 hatte die WHO die Verantwortung übernommen.

Heute befand man sich in der zehnten Überarbeitung, weshalb das aktuelle Verzeichnis auch unter dem Namen ICD-10 bekannt war.

In ICD-10 stand die Gruppe A80-A89 für Virusinfektionen des Zentralnervensystems. A87 stand für eine Virusmeningitis, also eine durch ein Virus hervorgerufene Hirnhautentzündung. Aber was für einen Sinn machte das in diesem Zusammenhang? Professor Wang hatte nie in diese Richtung geforscht. Oder vielleicht doch? Bevor er angefangen hatte, über SARS zu forschen? Oder sogar weit davor in seinen ganz jungen Jahren?

Doch ganz offensichtlich wollte der Mörder ja eine Botschaft übermitteln und dementsprechend uninteressant war es im Prinzip, ob der Professor mal über Meningitis verursachende Viren geforscht hatte oder nicht. Die Botschaft lautete ‚Virushirnhautentzündung’ und sie ergab keinen Sinn, der sich Debbie irgendwie erschloss.

Sie musste mit jemandem sprechen. Zu zweit kam man häufig schneller auf eine Lösung. Außerdem musste sie Bobby ohnehin anrufen. Er sollte nicht aus der Zeitung erfahren, was passiert war.

Bobby Ecram war ihr Forschungsassistent an der University of Minnesota in Minneapolis. Er war ein gutaussehender Kerl, Typ Quarterback, und versuchte seit dem ersten Tag ihrer Zusammenarbeit, bei Debbie zu landen. Die meisten Studentinnen vergötterten ihn und Debbie war sich ziemlich sicher, dass er trotz seiner Schwäche für sie nicht jeden Abend alleine ins Bett ging. Doch er war nicht ihr Typ. Er war lustig, aufgeweckt, intelligent – aber trotz seiner siebenunddreißig Jahre doch noch reichlich unreif.

Bobby hatte vier Jahre lang bei der Navy gedient und Debbie war überzeugt, dass es zu viel Testosteron auf amerikanischen Kriegsschiffen gab. Sie hatte sich gelegentlich vorgestellt, wie es gewesen sein musste, wenn Bobby mit seinen Kameraden nach Wochen auf See in eine Kneipe eingefallen war, in der auch Frauen waren. Diese Gedanken hatten stets eine Mischung aus Ekel und Belustigung in ihr hervorgerufen. Einige Verhaltensmuster von damals hatte Bobby bis heute nicht abgelegt. Doch trotz seines häufig machohaften Auftretens und seiner ständigen zweideutigen Bemerkungen mochte Debbie ihn wegen seines Humors als Freund und schätzte ihn wegen seiner großen Sachkompetenz und seines ungebremsten Forschungsdrangs als Kollegen.

Die horrenden Telefongebühren, die das Hotel berechnete, waren ihr in diesem Moment egal. Mit ein bisschen Glück würde auch das der deutsche Steuerzahler übernehmen. Bei geplanten Kosten von knapp hundert Millionen Euro für den Gipfel würde ihr Telefongespräch den Braten auch nicht mehr fett machen.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr, dieses wunderschöne goldene Schmuckstück, das ihre Mutter ihr auf ihrem Sterbebett gegeben hatte, und das sie, obwohl es so gar nicht zu ihrem Stil passte, nur im Labor und zum Duschen ablegte. Eine plötzliche innere Wärme überkam Debbie; der Gedanke an ihre Mutter gab ihr Kraft. Sie hätte früher auf die Idee kommen sollen, auf die Uhr zu gucken.

Kurz nach acht Uhr abends bedeutete, dass es in Minnesota kurz nach ein Uhr mittags war. Debbie hoffte inständig, Bobby würde nicht gerade Mittagspause machen. Ohne das Licht einzuschalten griff sie nach dem Telefonhörer auf ihrem Nachttischchen und wählte seinen Apparat im Labor an. Zu ihrer Erleichterung nahm er bereits nach kurzem Klingeln ab.

„Hallo.”

„Hi Bobby, hier ist Debbie.”

„Debbie! Ich wusste, du würdest mich schnell vermissen.” Freudige Erregung schwang in Bobbys Stimme mit. „Wie geht es dir? Wie ist der Gipfel? Hat der Professor seinen Vortrag schon gehalten?”

„Der Professor ist tot, Bobby”, sagte Debbie mit leicht zitternder Stimme. Es war das erste Mal, dass sie es selbst ausgesprochen hatte und es verlieh der Sache eine seltsame Endgültigkeit, die ob der Umstände des Todes eigentlich sowieso gegeben war. Aber als die Worte Debbies Lippen verließen überkam sie urplötzlich ein unkontrollierter Weinkrampf. Die ganze Anspannung der letzten Stunden entlud sich.

Es dauerte fünf Minuten, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie wieder sprechen konnte. Sie bekam fast sogar ein wenig Mitleid mit Bobby, denn sie merkte, wie unsicher ihn ihr Heulen machte. Die ganzen fünf Minuten lang hatte er gestammelte Versuche unternommen, sie zu beruhigen. Der Umgang mit herzzerreißend heulenden Frauen gehörte wahrscheinlich nicht zur Grundausbildung eines Soldaten der U.S. Navy.

Immer noch gelegentlich schluchzend berichtete sie ihm von den schrecklichen Ereignissen des Nachmittags. Von dem Ton, dem Blitz und der Schrift, von dem Leichenschauschein und dem angenommenen natürlichen Tod, von dem arbeitsscheuen Kommissar und dem nervigen Pfarrer.

Als sie fertig war, herrschte für einige Sekunden Stille. Debbie hatte ihre Geschichte erzählt und für den Moment nicht mehr zu sagen. Bobby hingegen musste das Gesagte offenbar kurz sacken lassen, die Flut an Informationen verarbeiten, bevor er etwas dazu beitragen konnte.

„Du meinst also, es war eine Inszenierung?” fragte er schließlich.

„So wirkte es. Als wolle jemand etwas aussagen.” Debbie klang jetzt wieder sicherer, gefasster. Es tat gut, Bobbys vertraute Stimme zu hören. Sie verlieh ihr das Gefühl, nicht mehr völlig allein zu sein.

„Was, sagst du, stand da? A87?” fragte er nach.

„Ja. A87. Es war eine Botschaft – ganz eindeutig. Ich verstehe sie nur nicht. Was will der Mörder uns sagen?”

„Keine Ahnung. Meinst du A87 wie der ICD Code?”

„Ja. Virusmeningitis. Das ist mehr oder weniger seine Botschaft. Aber was für eine Scheißbotschaft ist das? Weißt du zufällig, ob der Professor mal über Virusmeningitis geforscht hat?”

Bobby überlegte kurz. „Keine Ahnung. Aber das kann ich herausfinden.”

„Aber selbst wenn. Würde es dann einen Sinn machen?”

Diesmal dachte Bobby länger nach und begann dann zögernd. „Vielleicht soll es auf einen bestimmten Zeitraum verweisen. Vielleicht hat der Professor in einem bestimmten Jahr über Virusmeningitis geforscht”, sagte er schließlich.

„Okay, das könnte sein. Aber was soll der Verweis auf ein Jahr oder einen Zeitraum?”

„Das kommt ganz darauf an, aus welchen Motiven der Mörder handelt. Du sagst, er will eine Aussage treffen. Dann ist doch mit Sicherheit auch der Rahmen, den er sich ausgesucht hat, nicht zufällig.”

„Der G8-Gipfel”, sagte Debbie nachdenklich. Noch immer lag sie auf ihrem Bett und starrte in die inzwischen fast vollständige Dunkelheit des Raums. Langsam schlich sich bei ihr das Gefühl ein, sie gingen in eine viel versprechende Richtung. „Du meinst, es ist ein Globalisierungsgegner?”

„Nur mal angenommen, es ist ein Globalisierungsgegner und er will mit großem Effekt zeigen, dass er die G8 hasst”, antwortete Bobby. „Also inszeniert er diesen schrecklichen Mord und verweist durch einen Schriftzug auf das Jahr, in dem die G8 gegründet wurde. Nur mal so in die Tüte gesprochen.”

„Die G8 wurde 1975 gegründet, das habe ich hier gelesen. Da hat der Professor selbst noch studiert.” Ein Hauch von Enttäuschung schwang in Debbies Stimme mit. Sie hatte das Gefühl gehabt, eine durchaus vielversprechende Theorie zu entwickeln, und die frühe Sackgasse raubte ihr den Mut.

„Hm. War ja nur eine Idee”, sagte Bobby nachdenklich.

„Obwohl – mir fällt gerade ein, dass die G8 ‘75 nur als G6 gegründet wurde. Kanada kam erst ein Jahr später hinzu und Russland sogar erst 1998”, sagte Debbie mit frischem Elan, nur um dann mit erneuter Enttäuschung hinzuzufügen: „Aber da kannte ich den Professor schon und er hat nicht über Virusmeningitis geforscht.”

„Die Gründung der G8 war ja auch nur so dahingesagt”, versuchte Bobby sie zu ermutigen. „Vielleicht geht es um was ganz anderes. Ich werde einfach herausfinden, ob der Professor jemals in diesem Gebiet gearbeitet hat. Wenn ja, dann wissen wir, in welchem Zeitraum das war, und können gezielt herausfinden, was in der Welt damals alles passiert ist. Dann werden wir sehen, ob irgendetwas einen Sinn ergibt.”

Doch Debbie kam das alles plötzlich viel zu kryptisch vor. Sie war schnell auf Bobbys Idee eingegangen, weil es die erste gewesen war, die Sinn machte, doch inzwischen erschien ihr das alles sehr kompliziert und konstruiert.

„Und warum hat der Mörder dann nicht einfach das Jahr an die Wand gebrannt? Warum dann dieser kryptische Code?” fragte sie.

„Vielleicht spielt er gerne Spielchen. Ein Epidemiologe und dann ein Code, der auf ein Virus hindeutet. Vielleicht seine Auffassung von Humor. Ich weiß es nicht. Aber wir kommen jetzt sowieso nicht weiter. Lass mich erst herausfinden, worüber Wang alles geforscht hat.”

„Okay. Ich hatte aber noch eine andere Idee”, begann Debbie aufs Neue. „Ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll. Aber was, wenn das Wort uns etwas sagen soll?”

„Virusmeningitis?” Bobby klang wenig überzeugt.

„Ja. Oder Hirnhautentzündung. Nur mal angenommen, der Mörder hat die Virushirnhautentzündung gewählt, weil der Professor nun mal über Viren geforscht hat. Seine Art von Humor, um es mit deinen Worten zu sagen. Er hätte auch eine bakterielle Meningitis nehmen können. Aber das wäre nicht so lustig gewesen.”

„Dann wäre der Code irgendwas mit G gewesen. Ich glaube G00.”

„Keine Ahnung. Ich kenne mich nur mit den Viren aus”, tat Debbie Bobbys Einschub ab. „Ist ja auch egal. Aber angenommen der Mörder will eine Hirnhautentzündung beschreiben. Er hat die Auswahl zwischen einer viralen und einer bakteriellen. Zwischen G00 und A87. Welche nimmt er wohl, wenn das Mordopfer sich mit Viren beschäftigt?”

„Die virale natürlich”, Bobby begann, Debbie zu folgen.

„Genau. Das erklärt das Wort ‚Virus’ in ‚Virushirnhautentzündung’. Also bleibt ‚Hirnhautentzündung’. Was also will uns der Mörder damit sagen? Speziell auf einem G8-Gipfel, um diese Idee nochmal aufzugreifen.”

Bobby dachte laut nach, ein wirrer Strom von Gedanken. „Globalisierung. Ein Hirn hat eine kugelähnliche Form. Wie der Globus. Bezeichnet er die G8 als das Hirn der Welt, weil sie meint, für die Welt denken zu können? Was ist Haut? Haut ist die äußerste Schicht. Die Erdoberfläche? Ist sie entzündet? Vielleicht ein Umweltschützer?”

„Du wirst lachen”, sagte Debbie. „Das ist genau das, was ich gedacht habe.”

„Nach Lachen ist mir ehrlich gesagt nicht zumute.”

„Aber hältst du es für möglich, dass der Mörder ein Umweltschützer ist?” hakte Debbie nach. „Dann würde es auch passen, dass er als Mordinstrument eine Naturgewalt nutzt.”

Bobby klang wenig überzeugt. „Ich habe das eben ehrlich gesagt nicht ganz ernst gemeint”, sagte er. „Es waren nur wilde Assoziationen. Wenn es wirklich so wäre, dann hätte ich die gleiche Frage, die du mir eben gestellt hast: Warum so kryptisch. Warum brennt er nicht das Greenpeace-Emblem an die Wand oder einen Baum oder sowas? Warum der Code?”

„Keine Ahnung”, Debbie war müde und ihr Fortschritt nur allzu überschaubar. Bereits zum zweiten Mal waren sie mit einem Ansatz, der zunächst viel versprechend gewirkt hatte, in einer Sackgasse gelandet.

„Okay”, sagte sie schließlich. „Wir kommen nicht weiter. Versuch einfach, so viel wie möglich herauszufinden. Über die Forschungsgebiete des Professors, über ICD Codes im Allgemeinen, über Virusmeningitis, über die G8, über alles. Wir haben keine wirkliche Spur, also müssen wir grob streuen. Würdest du das für mich tun?”

„Für dich würde ich alles tun, das weißt du doch”, antwortete Bobby.

Debbie erachtete den Zeitpunkt als denkbar ungeeignet für Bemerkungen dieser Art, verkniff sich aber, ihn das wissen zu lassen. Stattdessen atmete sie einmal tief durch. „Ruf mich auf meinem Handy an, wenn du etwas herausgefunden hast. Ich werde dich auf dem Laufenden halten, wenn sich hier was entwickelt.”

„Mach ich.”

„Und danke für deine Hilfe, Bobby.”

„Kein Thema.”

Debbie legte den Hörer auf die Gabel und drehte sich wieder auf den Rücken. Viel zu viele Fragen schossen ihr durch den Kopf und viel zu wenig Antworten.

Doch nach und nach wurden die Fragen in ihrem Kopf abgelöst von den schrecklichen Bildern des Nachmittags, die erneut begannen, sich wie in einer Endlosschleife vor ihrem inneren Auge abzuspielen. So würde sie keinen Schlaf finden können und selbst wenn sie jetzt Schlaf fände, würde sie aufgrund der frühen Stunde mitten in der Nacht aufwachen und dem gleichen Problem gegenüber stehen.

Was sie jetzt brauchte, war frische Luft, ein Spaziergang und verdammt nochmal ein Bier. Sie erinnerte sich, dass sie auf der Taxifahrt vom Rostocker Flughafen hierher im Dorfkern eine Kneipe gesehen hatte.

14.

Passe war nach wie vor wie in Trance. Allerdings nicht mehr wegen des Adrenalins. Das wich langsam aber stetig aus seinem Körper. Es waren die Gedanken. Abertausende davon rasten gleichzeitig durch seinen Kopf und trübten seine Wahrnehmung. Er saß im Eingang seines Zelts, die Knie angezogen und die Arme um die Unterschenkel gelegt. Sein Kopf lag schief auf seiner Schulter, die Kapuze seines Sweatshirts hatte er über die kurzen blonden Haare gezogen.

Um ihn herum herrschte einmal mehr Chaos. Menschen rannten umher, riefen Namen, suchten nach Freunden, fanden Freunde. Wunden wurden verbunden, Heldentaten besungen, über den Polizeistaat geschimpft. Gewaltfreie Globalisierungsgegner diskutierten hitzig mit gewaltbereiten, die einen heulten vor Wut, die anderen feierten ihren Sieg. Lagerfeuer wurden entzündet, Grills angefeuert, Bierdosen geöffnet.

Es hatte aufgehört zu regnen und nach und nach wandelte sich die adrenalingetränkte Aufregung in eine hemmungslose Partystimmung. Die Anspannung des Nachmittags schrie nach Befreiung und entlud sich in Ausgelassenheit.

Doch von all dem nahm Passe nicht die geringste Notiz. Wieder und wieder sah er die Bilder des Nachmittags. Die Schläge. Dora.

Er hatte sie beschützen wollen.

Sie hatte ihn beschützt.

Wieso war sie vermummt gewesen? Woher konnte sie Karate? Was würden die nächsten Schritte sein? War Mark Wolf jetzt ihr Anführer? War er vielleicht wirklich aus dem Schwarzen Block und hatte den Auftrag, unter den campenden Globalisierungsgegnern Gewaltbereite zu finden? Wer waren seine Mitstreiter nochmal gewesen? Passe versuchte wieder und wieder, sich ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen. Einige von ihnen waren ihm bekannt vorgekommen, doch persönlich und mit Namen hatte er keinen gekannt.

Es gelang Passe nicht, seine Gedanken zu strukturieren. Wilde Assoziationen jagten Fragen ohne Antworten, immer wieder gestört durch stechende Kopfschmerzen.

Den Rest konnte er ertragen, wirklich schlimm waren nur diese hämmernden Kopfschmerzen. Ob er eine Gehirnerschütterung hatte? Wenn er sich nicht bewegte, schmerzten die blauen Flecke kaum, wenn er nicht zu tief atmete, spürte er selbst die schwer geprellten Rippen nicht allzu stark. Oder vielleicht kam ihm das auch nur so vor, weil die stechenden Kopfschmerzen alles andere übertönten.

Warum war der verdammte Tank nicht explodiert? Hatten sie trotzdem genug Aufmerksamkeit erzeugt? Hatten die Kamerateams sie gefilmt? Wurde ihre Botschaft um die Welt getragen? War es ein Sieg oder eine Niederlage gewesen? Wie viele waren verhaftet worden? War die Truppe noch stark genug für weitere Aktionen? Wann und wo würde man sich wieder zeigen? Hatte Mark einen Plan? Oder war er vielleicht gar kein Anführer, sondern hatte nur spontan das Kommando übernommen? Wo hatte er plötzlich den Molotow Cocktail hergehabt? War Mark überhaupt entkommen? Hatte vielleicht auch er einen rätselhaften Retter gehabt? Hatte Dora ein Geheimnis vor ihm?

All diese Fragen schienen ihm gleichzeitig durch den Kopf zu schießen und zu jeder einzelnen assoziierte er wilde Antworten. Er sah Mark den Molotow Cocktail herstellen. Im nächsten Moment sah er, wie Mark ihn fand und wieder Bruchteile von Sekunden später sah er, wie jemand anderes Mark den Cocktail in die Hand drückte. Es gab unzählige mögliche Antworten auf alle Fragen. Und alle schwirrten gleichzeitig durch seine Gedankenwelt.

Das Erste, was Passe von seiner Umwelt wieder wahrnahm, war, dass jemand seinen Rücken streichelte. Langsam drehte er den Kopf. Dora saß neben ihm. Seit wann? Seit einer Minute? Seit einer halben Stunde? Noch mehr Fragen. Er hatte sie einfach nicht bemerkt.

„Wie geht es dir?” fragte sie mit sanfter Stimme. Passe liebte ihren italienischen Akzent.

„Du hast mir nie erzählt, dass du Karate kannst”, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.

„Ich kann kein Karate”, antwortete sie leise und mit ruhiger Intonation.

„Oder welche Kampfsportart auch immer.” Enttäuschung über ihre Unehrlichkeit lag in seinen Worten.

„Ich kann überhaupt keinen Kampfsport. Ich habe nur gesehen, wie der Polizist auf dich eingeprügelt hat. Da habe ich Anlauf genommen und bin ihm in den Rücken gesprungen. Ich habe nicht lange überlegt.”

Passe dachte kurz darüber nach. Konnte jemand ohne Kampfsporterfahrung einen solchen Sprungkick überhaupt ansetzen? Geschweige denn mit der Kraft, den Polizisten wirklich umzustoßen und – wenn auch nur für Sekunden – außer Gefecht zu setzen? Andererseits war es kein Kick in dem Sinne gewesen, sondern sie war einfach mit beiden Beinen voraus in den Polizisten gesprungen. Er beschloss, das Thema fürs Erste ruhen zu lassen.

„Warum warst du maskiert?” fragte er stattdessen.

„Weil ich keine Lust hatte, wegen euch Spinnern in irgendwelchen Nachrichtensendungen zu sein.” Es klang nahezu liebevoll, wie sie es sagte, und ihr wunderschöner, weicher Akzent verstärkte diesen Eindruck noch. Sie war sichtlich nicht auf Konfrontation aus, sondern auf Frieden. Passe wusste, dass er gut daran täte, das Angebot anzunehmen.

„Da hätte man höchstens gesehen, dass du keinen Stein wirfst”, gab er kleinlaut zu bedenken.

„Es geht mir nicht um den deutschen Gesetzgeber. Es geht mir um meine Familie in Siena. Sie würden umkommen vor Sorge, wenn die auch nur wüssten, dass ich hier bin.”

Das machte Sinn. Er schwieg eine Weile.

„Aber wieso hattest du überhaupt was zum Vermummen dabei? Ich habe nicht daran gedacht”, sagte er schließlich.

„Ich hatte den Schal zufällig an, weil ich heute Morgen etwas Halsschmerzen hatte nach dem Aufwachen”, antwortete sie und lächelnd fügte sie an: „Ist doch auch kein Wunder bei dem Wetter hier.”

Passe liebte ihr Lächeln. Er liebte alles an ihr. Die dunkelbraunen, kurzen Haare, die in alle Richtungen abstanden, die dunklen Augen, den schmalen, etwas traurigen Mund, die zierliche Figur.

Er liebte sie. Und er glaubte ihr. Es passte alles zusammen. Sie hatte einen Schal getragen, weil sie Halsschmerzen gehabt hatte. Sie hatte ihr Gesicht damit verborgen, um ihre Familie nicht zu beunruhigen. Und sie konnte kein Karate, sondern hatte einfach spontan die Bewegung durchgeführt, von der sie sich die größte Wirkung erhoffte.

Alles klang logisch, alles passte zusammen. Und eigentlich hätte er froh sein müssen, dass sie ihm dieses Friedensangebot unterbreitete, besonders wenn man in Betracht zog, wie wütend sie noch vor wenigen Stunden auf seine ersten Steinwürfe reagiert hatte.

Und doch hatte Passe das Gefühl, Dora verberge etwas vor ihm. Er konnte es nicht erklären – nur so ein Gefühl. Er legte den Kopf zurück auf seine Schulter und versank erneut in seinen Gedanken.

15.

Es klopfte an der Tür und nach kurzem Warten auf eine Aufforderung betrat der Brandursachenermittler der Feuerwehr Wegmanns Büro. Wegmann begrüßte ihn in dem sicheren Glauben, dem Abschluss des Falls damit ein gutes Stück näher zu kommen, herzlich. Der Mann war klein und dick und trug einen Schnäuzer mit gezwirbelten Enden in seinem fröhlichen, runden Gesicht. Er stellte sich unter dem Namen Löscher vor und machte dazu den gleichen Witz mit Feuerwehr-Bezug, den er wahrscheinlich jedes Mal machte, wenn er sich vorstellte.

Eine echte Frohnatur, schoss es Wegmann durch den Kopf, doch im Prinzip war ihm das egal. Lediglich die Ergebnisse, die Löscher zu präsentieren hatte, waren von Interesse.

Wegmann goss dem Mann ein Glas Wasser ein und wurde alsdann ernst. Immerhin war die Stunde fortgeschritten und er wollte nach Hause zu seiner Familie.

„Was haben Sie herausgefunden?” beendete er den small talk und ging zum Dienstlichen über.

„Leider nichts”, antwortete Löscher. „Ich weiß, ich hätte Ihnen das auch telefonisch mitteilen können, aber ich dachte, ich schaue mal persönlich rein. Ist irgendwie netter.” Er lachte.

Wegmann hingegen stand der Sinn überhaupt nicht nach Lachen. Nichts? Was hatten diese Stümper denn den ganzen Tag gemacht?

„Was meinen Sie mit ‚nichts’?” fragte er ernst.

„Es stimmt nicht ganz. Lediglich mit dem eigentlichen Brand sind wir nicht weiter”, antwortete Löscher schnell und mit in Wegmanns Augen unangemessener Fröhlichkeit. „Wir konnten bisher keinen Brandbeschleuniger nachweisen und wissen deshalb nicht, warum sich das Feuer so schnell ausgebreitet hat. Wir bleiben aber am Ball. Die Ursache ist natürlich der Blitz, das ist klar wie Kloßbrühe. Aber mit eben dem haben wir so unsere Probleme.”

Probleme waren nicht gut, das Wort ‚Problem’ hatte Wegmann eigentlich in diesem Gespräch überhaupt nicht hören wollen.

„Was für Probleme gibt es denn mit dem Blitz?” fragte er scharf. Er hoffte, durch einen energischen Tonfall die Fröhlichkeit in Löschers Stimme in Sachlichkeit umwandeln zu können.

„Nun ja, wie soll ich das sagen? … Es gab einfach keinen.” Löscher lachte laut auf.

Wegmann schnitt mit zorniger Stimme in das Lachen. Dieser mondgesichtige Blödmann kostete ihn den letzten Nerv. „Was soll das heißen, es gab keinen?”

Löschers Lachen brach ab. Offenbar zeigte Wegmanns Tonfall Wirkung, denn die Stimme des Brandursachenermittlers nahm ein sachlicheres Timbre an, als er antwortete. „Jeder Blitz, der irgendwo in Deutschland einschlägt, wird nach Zeitpunkt und Stärke mit einer örtlichen Genauigkeit von einhundert Metern erfasst. Und zum Todeszeitpunkt des Professors wurde am Kongresszentrum kein Blitz erfasst.”

Wegmann traute seinen Ohren nicht. Unzählige Zeugen hatten von dem Blitz berichtet, unter ihnen Beamte des BKA und Agenten des BND. Es hatte einen Blitz gegeben. Und nun wollte ihm dieser inkompetente Möchtegernclown das Leben schwer machen.

„Vielleicht waren Ihre tollen Blitzerfassungsgeräte defekt oder falsch kalibriert?” schlug er vor.

„Das ist leider ausgeschlossen”, antwortete Löscher. „Blitze werden durch Störungen von Radiowellen auf nicht genutzten Frequenzen erfasst. Aber die Radiowellen wurden registriert. Nur eben nicht gestört. Zudem wurde nur achtzig Sekunden nach dem Tod des Professors ein Blitz in einer Entfernung von hundertsiebzig Metern erfasst. Ist auf dem Golfplatz eingeschlagen. Wenn die Geräte kaputt gewesen wären, hätte…”

Wegmann ließ ihn nicht weiterreden.

„Was sagen Sie da?” fiel er ihm ins Wort. „Sie haben einen Blitz erfasst, der fast zur gleichen Zeit fast am gleichen Ort eingeschlagen ist, und behaupten, es habe keinen Blitz gegeben?”

„Nun ja, es hat eben keinen gegeben, der mit dem Todeszeitpunkt und -ort des Professors übereinstimmt”, erwiderte Löscher defensiv.

„Natürlich hat es den gegeben”, rief Wegmann. Wut klang in seinen Worten mit und er hatte größte Mühe, seine Lautstärke zu kontrollieren. „Haben Sie schon mal was von Messungenauigkeiten gehört?”

„Die gibt es natürlich”, gestand Löscher ein. Er war sichtlich darauf bedacht, Wegmann nicht weiter zu reizen. „Deshalb sind die Messungen ja auch nur auf einhundert Meter genau. Das ist allerdings eine fast nicht nötige Absicherung, denn normalerweise sind sie recht präzise. Hier aber haben wir eine Abweichung von einhundertsiebzig Metern. Siebzig Prozent über der Toleranzgrenze. Ganz zu schweigen von der zeitlichen Abweichung. Wir können so gut wie ausschließen, dass unser Blitz auch Ihrer ist.”

„So gut wie!” lachte Wegmann auf. „Hören Sie, wir haben einen Blitz, den Zeugen gesehen haben, und wir haben einen, der zeit- und ortsnah gemessen wurde. Jetzt zählen Sie gefälligst eins und eins zusammen.” Er machte eine kurze Pause und fuhr dann in einem leisen und bedrohlichen Tonfall fort: „Ich will in Ihrem Bericht lesen, dass der gemessene Blitz es war, der den Professor getötet hat. Wir haben ziemlich viele Drogen und nicht registrierte Schusswaffen in unserer Asservatenkammer. Wollen Sie, dass meine Kollegen davon etwas in Ihrem Auto finden?”

16.

Inzwischen war es kurz vor neun und Holger war noch immer der einzige Gast im ‚Dorfkrug’. Außer Bierbestellungen in regelmäßigen Intervallen hatte er kein weiteres Wort mehr zu Hagen gesprochen und dieser hatte es ebenfalls recht schnell aufgegeben, Holger weitere Fragen zu stellen.

Stattdessen hatte Holger erneut begonnen, über die Blitzsache zu grübeln. Es hatte sich also offensichtlich nicht um ein natürliches Phänomen gehandelt. Schon die Tatsache, dass ein Mann in einem geschlossenen Gebäude von einem Lichtbogen erschlagen wurde, war ungewöhnlich genug. Aber hier hatte es sich auch noch um eine Entladung gehandelt, die grob geschätzt zehntausendmal länger gedauert hatte als gewöhnlich.

Hatte die U.S. Importfurie etwa Recht gehabt? War es am Ende sogar Mord gewesen? War wirklich eine Flammenschrift erschienen? Was konnte A87 bedeuten? Und interessierte es ihn überhaupt? Was war mit seiner schützenden Festung aus Gleichgültigkeit passiert?

Holger beschloss, dass es ihn mitnichten interessierte, dass es ihm sogar völlig egal war, und dass er nur darüber grübelte, um sich die Zeit zu vertreiben.

–––––

Debbie betrat den ‚Dorfkrug’, guckte sich kurz um und setzte sich an die Theke. Sie trug nun eine Sweatshirt-Jacke der Minnesota Twins, Jeans und Turnschuhe. Um sich nicht mehr als unbedingt notwendig ihren Haaren zuwenden zu müssen, hatte sie eine Baseball-Kappe aufgesetzt. In Röcken, Blazern oder Pumps fühlte sie sich nie ganz wohl. Leider waren sie gelegentlich unvermeidlich, aber selbst in den hippen Kneipen von Uptown Minneapolis bildeten Sweatshirt und Jeans mit höherer Wahrscheinlichkeit den Aufzug, in dem man sie antraf.

Sie war der einzige Gast. Ablenkung würde sie also nicht allzu viel bekommen, aber was sie viel dringender benötigte, war sowieso ein Pils und etwas zu essen. Sie bestellte ein Bier und die Speisekarte und versank in den gleichen Gedanken, die sie schon den ganzen Tag gequält hatten. In einer Ecke des Raums lief zwar ein Fernseher, doch die Bilder, die dort ausgestrahlt wurden, eigneten sich denkbar schlecht, sie von den Ereignissen des Nachmittags abzulenken.

Wer könnte ein Motiv haben, den Professor umzubringen? Oder war der Professor nur Teil einer Inszenierung geworden, in der er zufällig die Bestbesetzung dargestellt hatte? Wie hatte der Mörder den Blitzableiter manipuliert? Wie konnte er überhaupt gewusst haben, dass der Blitz in das Gebäude einschlagen würde? Was hatte der Ton zu bedeuten? Und was bitteschön hatte das Ganze mit einer Virusmeningitis zu tun?

„Null Komma null null null vier Sekunden”, sagte plötzlich jemand zu ihrer Rechten.

Völlig verwirrt und willkürlich aus ihren Gedanken gerissen blickte Debbie sich um. Aus Richtung der Toiletten kam der nervige Pastor auf sie zu. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

„Oh! Sie!” stöhnte sie. „Ich habe Sie gefunden. Sie können sich jetzt ein neues Versteck suchen.”

„So lange dauert ein natürlicher Blitz. 0,0004 Sekunden. Hier.” Er reichte ihr einen Computerausdruck. Debbie nahm ihn entgegen und überflog den Text.

„Ich habe die wichtige Stelle markiert”, sagte er. Obwohl er einen Meter von ihr entfernt an der Theke Platz genommen hatte, roch Debbie in seinem Atem, dass er bereits einige Pils intus haben musste. Sie blätterte durch den Ausdruck und fand eine mit Textmarker hervorgehobene Stelle. Tatsächlich. Eine Hauptentladung dauerte nur etwa 0,0004 Sekunden.

„Warum haben Sie das gemacht?” fragte sie verwundert.

„Muss es für jeden Unrat dieser Welt einen Grund geben?” erwiderte der Pfarrer mit der Fahne und zuckte mit den Schultern.

„Das heißt also, sie glauben mir jetzt, dass es Mord war?” Hoffnung schwang in Debbies Stimme mit, die sie selbst nicht erklären konnte. Was interessierte es sie überhaupt, ob dieser nervige Alleswisser ihr glaubte oder nicht?

„Ich maße mir nicht an, das beurteilen zu können”, antwortete der Pastor nachdenklich und frischte seine Fahne mit einem großen Schluck von seinem Pils auf. „Aber gewisse Ungereimtheiten fallen durchaus auf und lassen mich auch über die Existenz des Tons und der Schrift neu reflektieren.”

Konnte der Typ eigentlich auch normal reden?

„Die Schrift und der Ton waren wirklich da”, sagte sie nahezu flehend. Warum war es ihr so wichtig, dass dieser Blödmann ihr glaubte? Noch vor wenigen Stunden hatte er ihr offen Albträume für den Rest ihres Lebens gewünscht. War sie so verzweifelt?

Offenbar.

„Ich glaube Ihnen ja”, sagte Vater Fahne. „Hey, haben Sie schon gegessen?”

Über die Aufregung, tatsächlich plötzlich jemanden gefunden zu haben, der ihr glaubte, und sei es auch der degenerierteste Geistliche, dem sie je über den Weg gelaufen war, hatte Debbie ihren Hunger glatt vergessen.

„Nein.”

„Hagen, mach uns mal ‘n doppelten Krabbenkorb”, sagte Vater Fahne zum Wirt. Plötzlich kam er ihr gar nicht mehr so unsympathisch vor. Natürlich wusste sie, dass das nur daran lag, dass er ihr glaubte und nicht an seiner Persönlichkeit, aber es war sowieso nicht wichtig. Anfreunden würde sie sich todsicher nicht mit ihm. Eher würde sie sich erhängen.

„Zurück zum Blitz, Dr. Ashcroft”, sagte er.

„Bitte. Wir Amerikaner sprechen uns immer mit dem Vornamen an. Es gibt keine Ausnahmen”, unterbrach sie ihn. Sie hasste es mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden und mit ihrem Titel noch viel mehr. Sie wunderte sich, wie unglaublich genervt sie am Nachmittag gewesen sein musste, als sie auf ihrem Titel bestanden hatte.

„Also Deborah, richtig?” fragte er unsicher.

„Debbie.”

„Okay, Debbie. Ich höre auf den Wohlklang des Namens Holger. Zurück zum Blitz. Es kann sich nicht um einen natürlichen Lichtbogen gehandelt haben. Das war der Status unserer Überlegungen.”

„Die einzige andere Möglichkeit ist, dass jemand den Blitz erzeugt haben muss”, sinnierte sie. „Ich weiß aber nicht, wie das gehen soll. Kann man sowas künstlich herstellen?”

„Das entzieht sich meiner Kenntnis”, antwortete Holger. „Ich habe meinen herausragenden Intellekt stets und ausschließlich in den Dienst der Geisteswissenschaften gestellt.”

Da war wieder dieses arrogante Leiern, das Debbie so nervte. Eigentlich, so fiel ihr jetzt auf, war es die ganze Zeit da gewesen, sie hatte es nur wegen ihrer Aufregung über die Tatsache, dass er ihr glaubte, bislang nicht wahrgenommen. Es musste der arrogante Inhalt seiner Worte sein, der sie nun wieder auf die Überheblichkeit seines Tonfalls aufmerksam gemacht hatte.

„Es gibt etwas, wovon du keine Ahnung hast?” fragte sie provozierend. Debbie wusste, dass es nicht besonders klug war, die einzige Person, die ihr glaubte, zu provozieren, aber sie trug ihr Herz nun mal auf der Zunge.

„Wenig, aber durchaus, ja”, antwortete Holger, ohne weiter auf ihre Provokation einzugehen. Ein kurzes Schweigen folgte.

„Was für eine Funktion hatte der Mörder deiner Meinung nach wohl der Schrift zugedacht?” fragte Holger schließlich.

„Er will eine Aussage treffen. Eine Botschaft aussenden. Uns etwas mitteilen.”

„Er protestiert gegen eine Autobahn?” Holger klang wenig überzeugt. „Bastard aus Beton! Analgeburt aus Asphalt! Abkömmling Adolfs! Nieder mit ihr!” rief er im Tonfall eines Demonstrationsführers. Debbie ignorierte seinen Sarkasmus.

„Es handelt sich nicht um den Namen einer Autobahn. Es ist ein ICD Code”, sagte sie sachlich.

„Ein was?”

„Ein Code der International Classification of Diseases”, erklärte Debbie. „Für jede mögliche Erkrankung gibt es einen Code. A87 steht für Virusmeningitis.”

Hagen brachte den Krabbenkorb. Debbie war selten in ihrem Leben dankbarer für eine Mahlzeit gewesen. Sie fühlte sich fast wie zu Hause. Panierte und frittierte Krabben, zusammen in einem großen Korb mit Pommes Frites, dazu Knoblauchmayonnaise. Man aß mit den Fingern und trank Bier dazu. Amerikanischer ging es kaum.

Während beide aus dem Korb aßen, erzählte Debbie Holger von den Theorien, die sie mit Bobby aufgestellt hatte. Von der Idee, dass ein Globalisierungsgegner hinter dem Mord stecken könnte, der auf ein Ereignis in einem bestimmten Jahr hindeuten möchte, und von der Idee, dass ein Umweltschützer der Mörder sein könnte, der auf die Erkrankung der Erdoberfläche hindeuten wolle.

Debbie erzählte mit Enthusiasmus. Zwar hatte sie gegen Ende des Telefonats mit Bobby beide Theorien stark angezweifelt, aber das Essen gab ihr neue Kraft und das Bier neuen Mut.

Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, Holger nicht recht überzeugen zu können. Er unterbrach sie zwar nicht, legte aber gelegentlich die Stirn in Falten, und zu keinem Zeitpunkt gab er irgendein Zeichen der Zustimmung von sich. Als sie fertig war, blickte sie ihn erwartungsvoll an.

„Und?”

Holger griff nach einer Krabbe, kaute länger als nötig auf ihr herum und spülte sie dann mit einem kräftigen Schluck Bier herunter. „Klingt sehr kryptisch”, sagte er schließlich. „Und woher nimmst du überhaupt die Sicherheit, dass es sich tatsächlich um einen ICD Code handelt?”

„Ein Epidemiologe wird ermordet und hinter ihm steht der Code für eine Virusmeningitis. Was soll das denn sonst bedeuten?” fragte sie, enttäuscht über Holgers Zweifel.

„Ich weiß es nicht”, antwortete er. „Es gibt zahllose Möglichkeiten. Warum nicht wirklich eine Autobahn? Oder eine Schließfachnummer. Der Mörder hat sein flammendes Pamphlet in einem Schließfach deponiert und möchte, dass wir es finden. Vielleicht handelt es sich aber vielmehr um einen Serienkiller, der seine Opfer durchnummeriert. Oder er sucht über Chiffre A87 eine Serienkillerfreundin. Auch möglich wäre, dass der Mörder einfach nur eine Frühlingsrolle süß-sauer bestellen wollte. Immerhin war Wang Chinese.”

Debbie starrte ihn fassungslos und mit stechendem Blick an. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.

„Warst du schon immer so oder wann bist du so geworden?” fragte sie nach einer ganzen Weile mit vor Zorn zitternder Stimme.

„Was? Ein exzellenter Freizeitkriminalist?” fragte er zurück.

„Nein, ein Arschloch!” Damit stand sie auf und ging.

Draußen musste sie erst ein paarmal tief durchatmen. Wie konnte ein Mensch innerhalb weniger Sekunden zwei so verschiedene Gesichter zeigen?

Im einen Moment war er noch der nahezu sympathische, aus unbekanntem Grund gebrochen wirkende Mann gewesen, der zwar einen Schutzwall aus gespielter Gleichgültigkeit um sich aufgebaut hatte, aber doch interessiert und hilfsbereit gewirkt und sie sogar zum Essen eingeladen hatte. Und im nächsten Moment hatte er sich in den geschmacklosesten Zyniker, den die Welt je gesehen hatte, verwandelt.

Und ihm hatte sie sie ihre Theorien anvertraut! Fuckin’ asshole!

Tränen rannen ihre Wangen herab, als sie sich langsamen Schritts auf den Heimweg machte.

Sie war wieder allein.

–––––

Holger leerte sein Pils und bestellte ein neues. Er wusste, dass er zu weit gegangen war. Der Punkt, den er hatte machen wollen, war richtig gewesen – nicht allerdings die Art und Weise, auf die er ihn vermittelt hatte. Er hatte Debbie klarmachen wollen, dass der Schriftzug viele verschiedene Bedeutungen haben konnte, und dass es nicht sinnvoll war, sich zu früh auf eine Interpretation festzulegen. Zu dieser Grundaussage stand er.

Doch das Beispiel der Essensbestellung beim Chinaimbiss war geschmacklos gewesen, und Holger wusste es. Besonders, wenn man Debbies schwierige Situation und ihre augenblickliche Verletzlichkeit in Betracht zog.

Es war also erneut passiert. Wieder einmal war es ihm aufgrund eines schlecht gewählten Beispiels nicht gelungen, ein korrektes Argument zu vermitteln. Ebenso wie damals, als er Nietzsches ‚Antichrist’ in seiner Predigt zitiert hatte. Wieso passierte ihm das immer wieder?

Die Antwort hierauf war nicht schwer zu finden. Weil er gleichgültig war. Weil die Gefühle anderer ihn nicht interessierten, hatte er seine Sensibilität dafür verloren, wann er sie womöglich verletzte.

Zweifelte er jetzt etwa sogar an seiner Welt der Gleichgültigkeit? Früher am Abend war ihr bereits ihr Hauptquartier entzogen worden und nun stellte er sie sogar in Frage. Er durfte das nicht zulassen. Er musste diese Welt schützen, denn sie beschützte ihn.

Und er würde sofort damit beginnen, indem er Debbie nicht hinterher ging, um sich zu entschuldigen. Er befand für sich, dass sie ihm gleichgültig war.

17.

Wegmann fluchte leise in sich hinein, als er seinen Computer herunterfuhr. Er guckte auf die Uhr. Fast halb zehn. Trotzdem war er froh, dass er auf Löscher gewartet hatte und dass dieser persönlich vorbeigeschaut hatte. Hätte er einfach nur am Telefon – oder noch schlimmer, per Email – durchgegeben, dass kein Blitz gemessen worden war, der in Frage kam, den Professor getötet zu haben, hätte Wegmann kaum die Möglichkeit gehabt, Einfluss auf ihn auszuüben.

So hatte die Sache gerade noch einen glimpflichen Ausgang genommen. Wegmann dachte daran zurück, wie viel Mühe er schon gehabt hatte, den Notarzt von der Bescheinigung des natürlichen Todes zu überzeugen, und er fragte sich, wieso einige Menschen stets darauf bedacht waren, Probleme zu generieren, wo gar keine waren.

Mit manchen Leuten musste man eben Klartext reden. Das hatte Wegmann in seinen vielen Dienstjahren gelernt. Er dachte daran zurück, wie blauäugig er gewesen war, als er sich für den Beruf des Polizisten entschieden hatte. Damals hatte er gedacht, die Welt verbessern zu können. Er hatte seinen kleinen Beitrag dazu leisten und Kriminalität bekämpfen wollen. Vielleicht nur im wirklich kleinen Rahmen. Vielleicht würden es an einigen Tagen nur ein paar Parksünder sein, hatte er damals gedacht, aber er würde seinen Beitrag leisten.

Vielleicht würden sie eines Tages in Schwerin auf ihn aufmerksam werden, wenn er seinen Job nur gut genug machte. Vielleicht würde er eines Tages befördert werden und mit etwas Glück würde es bis zum LKA oder sogar bis hinauf zum BKA reichen. Dann würde er sogar einen großen Beitrag dazu leisten können, die Welt ein bisschen besser zu machen.

Heute konnte Wegmann kaum noch fassen, wie naiv er damals gewesen war.

Der Anruf aus Schwerin war nie gekommen, aber Wegmann hatte schnell gelernt, wie diese Welt funktionierte. Man konnte sie nicht verbessern. Man konnte sich nur bestmöglich in ihr arrangieren. Er hatte von seinen älteren Kollegen gelernt, wie man die Hand aufhielt und wie man sämtliche dienstlichen Vorgänge auf dem Weg des geringsten Widerstands abschloss.

Im Laufe der Jahre hatte er sogar selbst eine gewisse Kreativität im Finden von Mitteln und Wegen entwickelt, mit möglichst wenig Arbeit möglichst weit zu kommen. Auf diese Art und Weise hatte er es immerhin bis zum Hauptkommissar gebracht und neben seinem normalen Lohn immer noch eine kleine Extramark mit nach Hause gebracht.

So funktionierte diese Welt eben.

Ein leises Grinsen schlich über sein Gesicht, als er daran dachte, mit welchem Idealismus er seinen Job begonnen hatte. Idealisten waren nichts weiter als dumm. Das sah man ja auch an diesem linken Pack, das noch am Nachmittag die Randale am Kongresszentrum veranstaltet hatte. Diese roten Zecken glaubten, Weltverbesserer zu sein, während sie in Wirklichkeit nur die Ziellosigkeit ihres Seins zu vertuschen versuchten, um irgendwann festzustellen, dass sich die Welt nicht verbessern ließ, und sie noch immer arbeitslos waren. Dann würde ihre Einstellung sich um hundertachtzig Grad drehen. Sie würden diese Welt hassen, zu Alkoholikern werden und aus Langeweile Parksünder, die sie vom Fenster ihrer Sozialwohnungen aus beobachteten, der Polizei melden.

Er dagegen hatte sich arrangiert. Er hatte ein Haus, eine Frau, zwei Kinder, einen Hund und einen kleinen Garten. Und das alles für den äußerst geringen Preis seiner Wertvorstellungen und seiner Integrität. Billiger bekam man das heute nicht mehr.

Diese Gedanken ließen ihn seine Wut über die späte Stunde fast vergessen. Worüber beklagte er sich eigentlich? Ein schrecklicher Unfall war passiert. Da konnte man nichts dran machen. Aber dank seiner besonnenen Gespräche mit dem Notarzt und dem Brandursachenermittler würde es ihn außer den heutigen kaum weitere Überstunden kosten.

Nunmehr zufrieden über die glimpfliche Entwicklung erhob er sich, um zu gehen, als seine Bürotür ohne Klopfen geöffnet wurde, und ein Mann das Büro betrat. Der Mann war Mitte fünfzig, nicht besonders groß, aber schlank. Er hatte ruhige Gesichtszüge, kurze, größtenteils graue Haare, trug einen gut sitzenden und nicht ganz preiswerten Anzug und strahlte eine Aura von Überlegenheit und Macht aus.

Wegmann erkannte ihn sofort. Es war Herbert Bruncke höchstpersönlich, der Leiter des Bundeskriminalamts.

„Kommissar Wegmann?” fragte Bruncke höflich.

Wegmann musste sich sammeln. Brunckes Besuch konnte nichts Gutes bedeuten. Was wollte das BKA von ihm? Was wollte der Leiter des BKAs von ihm?

„Ja”, war alles, was Wegmann zunächst zu erwidern in der Lage war. Er war verunsichert.

Bruncke trat an Wegmanns Schreibtisch, bot ihm die Hand an und stellte sich vor. Wegmann war sich sicher, dass Bruncke wusste, dass er eigentlich keiner Vorstellung bedurfte, und fragte sich, ob er sich dadurch einen Vorteil für das folgende Gespräch erhoffte. Wahrscheinlich wollte Bruncke seinem Gegenüber das Gefühl geben, auf der gleichen Stufe zu stehen, um durch die Ungezwungenheit, die er dem Gespräch damit verlieh, mehr Informationen zu erhalten, als das in einer gezwungenen Atmosphäre der Fall gewesen wäre. Wegmann würde darauf nicht reinfallen. Er war gewarnt.

Er bot Bruncke einen Stuhl ihm gegenüber und einen Kaffee an, doch dieser bat lediglich um ein Glas Wasser. Wegmann schenkte ihm eins ein und setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch.

„Womit kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Bruncke?” fragte er schließlich. Bruncke nahm einen Schluck von seinem Wasser.

„Nun, ich wollte mich mal persönlich nach dem Stand der Ermittlungen zum Tod von Professor Wang erkundigen”, antwortete dieser. „Und ehrlich gesagt bin ich ein wenig verwundert, dass gerade heute, am Tag des Todes, um halb zehn schon fast niemand mehr in der Dienststelle anzutreffen ist. Um präzise zu sein, scheinen Sie der Einzige zu sein, der aus Ihrer Abteilung noch zugegen ist.”

Wegmann war erleichtert. Das war also alles.

Er hatte alles in die Wege geleitet, was es in die Wege zu leiten gab, seinen Job gemacht und sogar schon ein erstes Ergebnis, das er Bruncke präsentieren konnte. Es gab absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

„Dass die meisten Kollegen schon nach Hause gegangen sind, liegt einfach daran, dass wir im Moment nicht viel tun können”, erwiderte er. „Wir warten auf die Ergebnisse der Sachverständigen. Erst dann können wir uns ein Bild machen. Und der Stand der Ermittlungen ist dementsprechend natürlich ebenfalls absolut von den Erkenntnissen der Sachverständigen abhängig. Alles, was es dort bislang an Ergebnissen zu berichten gibt, ist, dass der Blitz, der den Professor erschlug, registriert und identifiziert wurde.”

„Aha”, brummte Bruncke bedächtig.

Aha? Was sollte das heißen, aha? Wegmann sah ein, dass Bruncke gut war, sehr gut sogar. Mit diesen winzigen zwei Silben hatte er ihn völlig verunsichert. War es eine Aufforderung an Wegmann, weiterzureden? Er hatte doch alles gesagt. Oder wollte Bruncke sich selbst nur etwas Zeit geben, nachzudenken, das Gesagte zu verarbeiten? Würde Wegmann seine Unsicherheit preisgeben, wenn er jetzt erneut ansetzte? Sollte er auf eine weitere Frage Brunckes warten?

Es kam keine.

Wegmann spürte, wie sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Er beobachtete Bruncke. Dieser hatte die Handflächen wie zum Gebet gegeneinander gelegt und berührte mit beiden Zeigefingern nachdenklich seine leicht geschürzten Lippen. Spielten sie hier Poker?

Schließlich setzte Wegmann erneut an. „Wir warten noch auf den Bericht der Elektrotechniker, die ergründen, wie der Blitz durch das Dach schlagen konnte. Je nach Sachlage werden wir dann Ermittlungen gegen die Baufirma einleiten, um zu ergründen, ob man ihr nachweisen kann, dass sie beim Blitzableiter gepfuscht hat. Zudem geht der zuständige Brandursachenermittler noch der Frage nach, warum sich das Feuer so schnell bis zur Bühnenrückwand ausbreiten konnte. Und dann können wir den Fall als solchen wohl als abgeschlossen betrachten.”

Wegmann hoffte inständig, dass Bruncke das genauso sah. Was wollte er noch hier? Die Sachlage war doch völlig klar. Doch Bruncke saß noch immer in unveränderter Haltung vor ihm und schwieg.

„Haben Sie Leute in den Krankenhäusern, um die Zeugen zu befragen? Haben Sie Ihren Leuten eine Nachtschicht verordnet, um dieselben auszuwerten?” beendete der BKA-Chef endlich sein Schweigen. Es war Wegmann vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit. Er wischte sich über die Stirn und senkte den Blick.

„Ich dachte, dass wir zuverlässigere Angaben erhalten, wenn der erste Schock überstanden ist”, erwiderte er kleinlaut.

„Sie dachten, dass Sie sich Arbeit sparen können”, sagte Bruncke leise und mit einem sardonischen Lächeln. „Verstehen Sie eigentlich, worum es hier geht? Das hier ist kein Dorffest, Herr Wegmann, wir befinden uns inmitten des G8-Gipfels.”

Wegmann antwortete nicht und ein weiteres überaus ungemütliches Schweigen folgte.

„Was ist mit der Schrift?” fragte Bruncke schließlich.

„Wir gehen davon aus, dass es keine Schrift gegeben hat”, antwortete Wegmann bemüht sachlich. „Die Ausbreitung von Feuer ist völlig willkürlich. Ein Brandbeschleuniger wurde nicht festgestellt und wie hätte jemand auch wissen sollen, dass dieser Blitz genau dort einschlägt.”

„Es gibt zahlreiche übereinstimmende Zeugenaussagen, die von der Schrift berichten”, sagte Bruncke. Sein Tonfall wurde jetzt etwas schärfer. „Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie diese einfach ignorieren?”

„Natürlich nicht”, beeilte sich Wegmann, zu antworten. „Allerdings befanden sich diese Zeugen alle in einer psychologisch labilen Verfassung, sie standen unter Schock. Wenn man dann dazu addiert, dass es schlicht unmöglich ist, dass dort eine Schrift stand…”

„Und wenn man dann hinzu addiert”, unterbrach Bruncke ihn scharf, „dass die Aussagen zahlreicher Zeugen übereinstimmen, dann sollten Sie als Kriminalist zu dem Schluss kommen, dass zumindest eine eingehende Untersuchung angebracht wäre.” Er blickte Wegmann eingehend in die Augen, bevor er anfügte: „Eine solche Untersuchung fällt aber natürlich schwer, wenn die Zeugenaussagen nicht einmal korrekt protokolliert werden.”

„Die Einheitlichkeit der Aussagen, die wir im Kongresszentrum aufgenommen haben, dürfte auf ein psychologisches Massenphänomen zurückzuführen sein, das…” begann Wegmann, doch Bruncke schnitt ihm erneut das Wort ab.

„Herr Wegmann, ich habe das Gefühl, sie machen es sich viel zu leicht.” Sein Tonfall war schneidend. „Zu dem seltsamen Ton haben Sie sich auch noch nicht geäußert. Wahrscheinlich tun Sie den auch als psychologisches Massenphänomen ab?”

Die Frage war fast rhetorisch gestellt. Bruncke blickte Wegmann durchdringend an. Dieser antwortete nicht, doch er wusste, dass sein Blick als Antwort mehr als ausreichte.

„Das BKA ist hier für die Sicherheit der Regierungschefs verantwortlich”, fuhr Bruncke ernst fort. „Und um die Sicherheit garantieren zu können, müssen Sie Ihre Arbeit machen, Herr Wegmann. Gibt es schon Ergebnisse von der Obduktion?”

Wegmann zuckte zusammen. Wusste Bruncke, dass es keine Obduktion gab? Wusste er womöglich sogar, auf welche Weise Wegmann das verhindert hatte? Hatte das BKA mit dem Notarzt gesprochen? Was wusste das BKA über seine Arbeitsmethoden?

„Es gibt noch keine Ergebnisse. Wir hoffen, morgen früh etwas zu hören.” Wegmann versuchte seiner Stimme so viel Sicherheit und Selbstbewusstsein wie nur möglich zu verleihen.

„Sie sorgen dafür, dass die Medien keinen Wind von der Sache kriegen?” fragte Bruncke.

„Selbstverständlich”, antwortete Wegmann etwas zu hastig.

Bruncke erhob sich. „Machen Sie Ihren Job, Herr Wegmann.”

Wegmann hasste die Höflichkeit, mit der Bruncke ihn immer noch adressierte. Dieser Mann ließ sich nicht einmal herab, ihn einfach nur mit ‚Wegmann’ anzusprechen. Er nutzte Höflichkeit als Demonstration seiner Überlegenheit. „Ich erwarte morgen Ihren Bericht”, fuhr Bruncke fort. „Sie sind persönlich verantwortlich. Machen Sie Ihre Arbeit schlecht, so werde ich Sie degradieren und versetzen. Stellt sich heraus, dass Sie aus Faulheit bewusst die Ermittlungen nicht vorantreiben, so werde ich dafür sorgen, dass Sie nicht nur Ihren Job, sondern auch Ihren Beamtenstatus verlieren.” Bruncke hielt inne und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Ich nehme an, Sie wissen, was das für Ihren Rentenanspruch bedeuten würde, Herr Wegmann. Guten Abend.”

Damit verließ er das Büro.

Ungläubig starrte Wegmann ihm nach, als dieser die Tür von außen schloss. Was war hier bitteschön gerade passiert? Er hatte doch alles im Griff gehabt. Es hatte sogar so ausgesehen, als würden die nächsten Tage wieder ein wenig ruhiger werden, und plötzlich lief er sogar Gefahr, seinen Beamtenstatus zu verlieren?

Was konnte er denn noch mehr tun, als auf die Gutachten der Sachverständigen zu warten? Sollte er tatsächlich Hirngespinsten unter Schock stehender Zeugen hinterherjagen?

Er starrte ganze fünf Minuten lang ins Leere und versuchte, zu begreifen, was schief gelaufen war. Dann griff er nach dem Telefon. Er musste einen Rechtsmediziner finden, der noch über Nacht die Leiche zu obduzieren bereit war.

18.

Passe konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Er hatte noch lange mit Dora gesprochen, ihr aber kein Geheimnis entlocken können. Vielleicht hatte sie ja gar keins. Er hatte sie nicht mehr direkt auf ihren Sprungkick oder die Vermummung angesprochen. Sie hatte es ihm erklärt und er hätte sie beleidigt, wenn er nachgehakt hätte. Italiener waren stolz.

Doch er hatte versucht, die Themen so zu wählen, dass sie, ohne es zu merken, etwas von sich preisgeben würde. Er hatte in den anderthalb Jahren, die sie nun zusammen waren, nicht so viel über seine Freundin erfahren, wie an diesem einen Abend. Jedes Mal, wenn er daran dachte, wie Dora dem Polizisten in den Rücken gesprungen war, hatte er das Gefühl, seine Freundin überhaupt nicht zu kennen. Er wollte das ändern.

Nie zuvor war er ein so guter Zuhörer gewesen. Sie hatte ihm von ihrer Kindheit in Siena erzählt. Von ihren Eltern, deren kleiner Lebensmittelladen pleiteging, als eine große Kette eine Filiale ganz in der Nähe eröffnete. Von ihrem Hass auf Kapitalismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Neoliberalismus. Von ihrem ersten Freund, der sie mit auf Demonstrationen genommen hatte.

Und davon, was sie empfunden hatte, als sie Passe zum ersten Mal gesehen hatte.

Passe hatte sich ihr noch nie so nahe gefühlt. Auf der anderen Seite konnte er nicht glauben, dass er seit anderthalb Jahren mit ihr zusammen war und all das nicht gewusst hatte. War er ein so schlechter Zuhörer? In Zukunft würde er ihr mehr Aufmerksamkeit widmen. Nie zuvor hatte er so eine tiefe Liebe für sie empfunden.

Später waren sie dann ins Zelt gegangen und hatten versucht, sich zu lieben, doch Passes Rippen hatten viel zu stark geschmerzt. Sie hatten verschiedene Positionen ausprobiert, aber keine gefunden, in der die Schmerzen irgendwie erträglich waren.

Doch es war auch nicht wichtig gewesen. Dieser Abend hatte sie näher zusammen gebracht, als sie es je zuvor gewesen waren. Ob sie die neue Sphäre, in die sie ihre Liebe gehoben hatten, nun mit Sex betraten oder ohne, war letztendlich egal gewesen.

Doch dann war Dora eingeschlafen und Passe nicht. Und langsam waren die Gedanken des Nachmittags zurückgekehrt. Er hatte viel von Dora erfahren, aber nicht das, was er hatte erfahren wollen. Hatte sie ein Geheimnis vor ihm? War sie vielleicht nicht die, die sie vorgab zu sein?

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Debbie konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Immer wieder liefen die Bilder vom grässlichen Tod des Professors vor ihrem inneren Auge ab. Sie hatte viel zu viele Fragen und viel zu wenig Antworten.

Das erneute Telefonat mit Bobby, nachdem sie in ihr Hotel zurückgekehrt war, hatte sie leider nicht das erhoffte Stück weiter gebracht. Alles, was er bislang hatte herausfinden können, war, dass Professor Wang nie über Virusmeningitis geforscht hatte. Enttäuscht hatte sie das Gespräch relativ schnell beendet.

War es vielleicht sogar möglich, dass jemand wirklich den Professor hatte töten wollen und die ganze Show nur veranstaltet hatte, um davon abzulenken? Es hatte wie eine Inszenierung gewirkt. Als sei der Professor nur zufällig die ideale Besetzung für diese Szene gewesen. Was aber, wenn jemand genau das suggerieren wollte, um davon abzulenken, dass es sich in Wirklichkeit um einen gezielten Anschlag auf die Person des Professors gehandelt hatte? Ein Doppelbluff. Auf diese Weise würde man die Mordermittlungen vom unmittelbaren Umfeld des Opfers fernhalten. Oder dachte sie schon wieder viel zu kompliziert?

War es vielleicht sogar möglich, dass übernatürliche Kräfte eine Rolle spielten? Hatte Gott den Blitz geschickt und den Brand gelenkt? Sie musste an Holger denken, dieses zynische Arschloch. Wie hatte sie nur Vertrauen zu ihm fassen können, wenn auch nur für kurz?

All das schoss ihr durch den Kopf – und immer wieder die schrecklichen Bilder des Nachmittags. Sie drehte sich auf die Seite, doch ihre Hoffnung, einschlafen zu können, sank gegen Null.

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Wegmann konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Zum Glück hatte er noch einen Rechtsmediziner finden können, der sich mit ein wenig Überredung dazu bereit erklärt hatte, die Leiche des Professors zu obduzieren. Wenn man das überhaupt noch Leiche nennen konnte, dieses verkohlte Etwas.

Als er mit dem Rechtsmediziner gesprochen hatte, hatte er wieder seine Macht gespürt, die er so liebte. Diesmal hatte er nicht so lange versucht, vernünftig mit dem Mann zu sprechen, wie er es bei dem Notarzt getan hatte. Diesmal war er schnell zum Klartext gewechselt. Er hatte das gebraucht, nachdem Bruncke ihn so rundgemacht hatte.

Für die Autopsie war also Sorge getragen. Doch das war es auch nicht, was Wegmann vom Schlafen abhielt. Andere Fragen quälten ihn. Was wusste das BKA über ihn? Wollte man ihn ausbooten? Wollten sie ihn zu Fehlern zwingen, um ihn dann abzusägen? Wie viel wussten sie über seine Arbeitsmethoden? War aufgefallen, dass er vor dem Gipfel viel Arbeit einfach unter den Tisch gekehrt hatte? Konnten sie wirklich an seine Rente? Was bedeutete der Terminus ‚Beamter auf Lebenszeit’ heute noch? Würde er sein Haus verkaufen müssen?

Es war so offensichtlich, dass es kein Mord gewesen sein konnte. Selbst wenn jemand den Blitzableiter manipuliert hätte – wie hätte jemand wissen können, dass ein Blitz in das Haus einschlagen würde? War vielleicht eine höhere Macht dafür verantwortlich?

Wegmann hatte stets versucht, nicht an Gott zu glauben. Er war religiös erzogen worden, doch ein Leugnen der Existenz des Allmächtigen war der einzige Weg, sein Handeln mit seinem Gewissen zu vereinbaren. Würde er sich nicht ständig selbst suggerieren, es gebe keinen Gott, so würde die Angst vor dem Jüngsten Gericht sein Leben auffressen.

Aber andere Ängste waren es, die in diesem Moment seinen Schlaf auffraßen. Existenzängste. Er dachte nicht einmal mehr daran, wie viele Überstunden er in den nächsten Tagen würde machen müssen. Solange er nur aus dieser Scheiße rauskam, war ihm alles andere egal.

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Hagen konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Morgen würde sein großer Tag werden – der erste von vielen großen Tagen.

Seit er erfahren hatte, dass der G8-Gipfel in Petersdamm ausgetragen werden würde, hatte er an seinem Plan gearbeitet und ihn sukzessive perfektioniert.

Hagen lag wach und stellte sich die nächsten Tage vor. Sein Herz schlug schnell – weitaus zu schnell, um einzuschlafen. Er würde am nächsten Morgen früh aufstehen müssen, denn es gab viel zu tun. Wenn alles glatt lief, würde er nicht nur morgen, sondern in den nächsten Tagen sehr viel zu tun haben. Zwar waren es gute Gedanken, die ihn vom Schlafen abhielten, doch er musste sich erholen.

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Jo Somniak konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Natürlich war der Tod des Professors grausam gewesen, doch dafür hatte er jetzt keinen Gedanken übrig.

Am nächsten Morgen würde sein Artikel neben seinem Foto in der BILD erscheinen. Der erste Schritt zu seinem Ruhm war gemacht. Er würde festgenommen werden, weil man ihm verboten hatte, Fotos zu veröffentlichen. Die Gewerkschaft für Druck, Journalismus und Papier, der Deutsche Journalisten Verband und andere Organisationen würden auf die Barrikaden gehen und die Pressefreiheit beschreien. Ein Gericht würde der Journalistenlobby nachgeben und das Verbot für rechtswidrig erklären. Er würde als Held freigelassen werden. Er würde Pressekonferenzen geben. Die Welt würde Notiz von ihm nehmen. Von dem Mann, der den Tod des Professors veröffentlicht hatte. Der erste Schritt war getan.

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Holger schlief wie ein Stein. Er hatte es mit Autosuggestion und Alkohol geschafft, seinen schützenden Wall der Gleichgültigkeit mit dem Mörtel aus Selbstmitleid neu um sich zu errichten. Nichts interessierte ihn mehr, alles war ihm egal.

Virus

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