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02. Kapitel

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Natürlich tat es mir hinterher leid, denn ich war nicht fair, zumal die Gesetzeslage nicht mehr hergab. Die Beamten verrichteten ihren Dienst nach Vorschrift und nicht nach dem Herzen. Wer konnte ihnen also die Zurückhaltung verdenken, wenn nicht einmal das Opfer Interesse an einer Strafverfolgung zeigt.

Dennoch wollte ich das nicht akzeptieren. Irgendetwas verbot mir jede Resignation. Somit blieb mir nichts, als meinem Unmut Luft zu machen. Aber ich hasse Inkonsequenzen, besonders wenn sie sich hinter dem Mantel der Rechtsstaatlichkeit verbergen. Schon deshalb leuchtete mir nicht ein, warum ein fehlender Strafantrag notwendige Ermittlungen verhindern sollte. Wer konnte ein Interesse daran haben, eine solche Tat zu decken?

Ich nahm mir vor, künftig gelassener zu bleiben und sagte mir, wenn es so geregelt ist, wird es einen Sinn haben. Das hätte sicher funktioniert, würde das nicht Selimgülers Triumph bedeuten. Dieser Kerl war für mich die Inkarnation des Bürokratismus, vor allem aber des Unrechts. Dabei war man geneigt, ihn gar nicht ernst zu nehmen. So hielt ich ihn bei unserer ersten Begegnung glatt für einen Gerichtsdiener, kein Witz.

Mit der dunklen, viel zu weiten Robe, die ihn bis zur Unmöglichkeit aufblähte, sah er so drollig aus, dass man unwillkürlich lachen musste. Er schien das auch zu wissen und zeigte sich manchmal reichlich verunsichert, vor allem gegenüber attraktiven Frauen. Dann wirkte er sogar verstört und leistete sich zuweilen manchen Fauxpas wie zum Beispiel einmal gegenüber einer Schöffin, die er wegen ihrer auffallenden Ohrringe ganz unverblümt ‚aufgetakelt‘ nannte und sich wunderte, wieso niemand darüber lachte.

Möglicherweise war so die nachfolgende Wucht seiner Anschuldigungen gegen mich zu erklären, dieses Verunglimpfen und Verbiegen selbst elementarster Regeln, als stünde ich synonym für seinen Hass auf alle Frauen dieser Welt, die nicht seinen Wertvorstellungen entsprachen. Schon deswegen hätte man ihm seinerzeit die Mandantschaft entziehen müssen. Wenn das nicht geschah, dann allein aus Furcht vor seinem Ruf, der aber mit Sicherheit kleiner war als er glaubte.

Von Anfang an machte er keinen Hehl aus seiner Voreingenommenheit mir gegenüber. Nicht genug, dass er sich an meiner exaltierten Frisur stieß. So setzte er alles daran, mich bei jeder Gelegenheit zu verunglimpfen und das noch mit Erfolg. „Müssen Sie wirklich so rumlaufen?“, wurde ich zum Beispiel von einer Frau in Anspielung auf meine Haarfarbe gefragt. „Dieser grelle Ton passt nicht zu Ihnen. Das wirkt tuntenhaft! Also ich an Ihrer Stelle …“. Den Rest lasse ich weg. Auf meine Erwiderung, was sie das anginge, folgten allzu bekannte Plattitüden, so dass ich sofort wusste, woher das kam.

„Anwälte sind Chauvinisten“, hatte mir Frau Dr. Hövelbein einmal erklärt. „Skrupellosigkeit ist Bestandteil ihrer Strategie. Dazu scheint ihnen jedes Mittel recht. Zwar sind Rechtstreue und Unvoreingenommenheit höchste Prinzipien, doch steht das nur auf dem Papier. Vielmehr verfahren sie allgemein nach dem Motto: après moi le déluge, nach mir die Sintflut. Schon deshalb würde ich seinen persönlichen Attacken nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Sie bleiben zweckgebunden und sind nur Ausdruck der Höhe des gegnerischen Honorars. Das allein beweist seine charakterliche Schwäche und sollte Sie ihm gegenüber erhöhen.“

Das mochte sicher zutreffen. Doch war das nur ein schwacher Trost. Schon deshalb beschimpfte ich einen am Straßenrand schnorrenden Penner, als er mir die ‚Motz‘ verkaufen wollte – übrigens ein Projekt zur Sozialhilfe, das wir selber stützen.

Damit nicht genug – ich drohte ihm sogar Schläge an für den Fall, ihn hier noch einmal zu erwischen. Der arme Kerl war daraufhin so verdattert, dass er seine Sachen zusammenraffte, verstört wegrannte und woanders einen Verkaufsplatz suchte. Natürlich tat es mir danach leid und ich hätte mich am liebsten entschuldigt. Doch ich brachte es nicht fertig und genau das war der Punkt. Seit meinem Freispruch quälte mich ein tiefes Durcheinander, die mich gegenüber allem aufbrachte, aber auch verunsicherte. Die daraus resultierende Aggressivität war zwar ungewollt, jedoch unvermeidlich.

So sehr ich mich auch mühte, ich konnte nicht anders. Oft tat ich nachts kein Auge zu und betäubte mich mit Alkohol oder etwas Gras, das ich hin und wieder von einem schrägen Typen im Görlitzer Park erstand. Der hatte es wiederum von einem Afghanen, von einer garantiert sauberen Plantage, wie er mir mit breitem Grinsen versicherte. Auch suchte ich gelegentlich die ‚Busche‘ auf, ein bekanntes Szenelokal in meinem alten Kiez, in dem gehurt und gedealt wurde.

Dort fand ich manchmal jemanden, der keine großen Fragen stellte; meist eine Blondine mit Bürstenhaarschnitt und gepiercter Zunge. Von ihr ließ ich mich die ganze Nacht verwöhnen und bezahlte auch dafür. Aber die zurückliegenden Erfahrungen hatten mich Männern gegenüber immunisiert, so dass ich mich in solcherlei Illusionen flüchtete. Das Ergebnis blieb jedoch ernüchternd. Danach war mir nur noch elender zumute, vor allem, nachdem ich wiederholt bestohlen wurde.

Heute glaube ich, es gibt nichts Schlimmeres als solch innere Zerrissenheit. Sie macht mich schon aus Prinzip skeptisch. Nur so war es zu erklären, warum mir mein zum Hahnenkamm toupiertes und mit Zuckerwasser versteiftes rotes Haar nicht mehr genügt. Seit einiger Zeit trage ich einen goldenen Nasenring. Außerdem ziert nun ein buntes Krähentattoo meinen Nacken. Das kommt nicht immer gut an und vielleicht will ich das sogar. Doch meine Opposition erhöht mich zu etwas Besonderem, womit ich mich als Außenseiter identifiziere und darin wohlfühle.

Kein Wunder, dass man mich meidet, vor allem, sobald ich meine Jacke ablege und meine ebenfalls reichliche verzierten Oberarme entblöße. Dabei hat sich mein Chef, Herr Kahlenberg, für mich erst stark gemacht. Man munkelte, er habe sogar für mich gebürgt, nachdem er meinen Einsatz in meiner neuen Arbeitsstelle gegen den Widerstand der dortigen Belegschaft durchsetzte.

Nun wurde mir auch klar, weshalb er mir neulich die Notwendigkeit einer vollständigen Reintegration nahelegte. „Nur so können Sie sich aus Ihrem Schatten lösen, Frau Möller! Vor allem aber versuchen Sie, künftig eine größere Distanz zu den Ihnen anvertrauten Schicksalen zu entwickeln. Jeder von uns ist zu helfen bereit – das ist nicht die Frage - nur sollte man die Kirche im Dorf lassen. Sie können nicht die ganze Welt retten und sich selbst dabei zugrunde richten. Ein zu großes Verständnis verringert die Distanz und trübt das Urteilsvermögen. Damit ist niemandem gedient, am wenigsten Ihnen!“

Ich gelobte Besserung. Doch bewies mir jeder weitere Fall die Schlechtigkeit der Welt und die Verwahrlosung der Sitten. Warum entfiel ein großer Anteil an häuslicher Gewalt auf bildungsferne Familien? Wieso war die Abneigung gegenüber unseren Werten gerade dort am größten, wo man am meisten davon profitierte? Fragte man jedoch nach, folgten erschrockene Blicke, bis hin zu rassistischen Unterstellungen.

Aber dort lag nicht das wirkliche Problem. Vielmehr war es die schleichende Gewöhnung samt der Abstumpfung gegenüber moralischen Prinzipien. Was blieb mir anderes übrig, als zum Abbau meiner Aggressivität wiederholt Taekwondokurse zu besuchen. Dort ging es dann richtig zur Sache und ich legte schon mal den Trainer auf die Matte.

Das war der Jürgen, ein schöner, sonnengebräunter Jüngling von gerade mal sechsundzwanzig Jahren, mit breiten Schultern und neckischen Grübchen in einem wundervollen Knackarsch. Mit ihm hätte ich mir schon eine Affäre vorstellen können. Doch er zeigte kein Interesse, nicht mal, als wir nach dem Training zusammen duschten und uns gegenseitig einseiften. Normalerweise ist das unter Sportsfreuden nichts Besonderes. Da die nachfolgenden Berührungen aber intensiver wurden und ich ihm sogar ganz unmissverständlich meine Bereitschaft signalisierte - ich war schon vor ihm niedergekniet – zog er mich wieder hoch und bedeutete mir, dass ich ihm dafür zu alt sei.

Damit kränkte er mich sehr und ich suchte nach einem Ausweg. Doch was ich auch tat - er blieb für mich unerreichbar. Hinzu kam, dass er eine sehr schöne, junge Frau hatte und ich mir vorstellen konnte … Aber nein, ich wollte mir nichts vorstellen, schon gar nichts, was ich nicht selber haben konnte. So etwas schmerzte nur.

Seither verspüre ich einen Dang nach Gewalt als Ausgleich für solche Defizite, obwohl ich natürlich weiß, dass das keine Lösung ist. So wird mein Auftritt in Avcici‘s Gemüseladen sicher auch verständlich. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, begann ich unter diesem Zustand auch zu leiden, obwohl ich meinen Ruf als ‚Emanze‘ oftmals selber provozierte. Ich wollte angegriffen werden und legte es bisweilen sogar darauf an. Aber gerade dazu waren meine beiden neuen Kolleginnen, Gisela Ermel und Anett Baderhof nicht geschaffen.

Während erstere, eine schlanke Endvierzigerin mit stets krankhaft blassem Gesicht und einem unerträglichen Hang zur Sentimentalität, mir oftmals auswich, um mich bloß nicht zu provozieren, versuchte es die andere, ein kleines Pummelchen von Anfang dreißig und durchaus sympathischem Äußeren, mit allerlei schrägem Humor. Darüber lachte sie dann am lautesten und wunderte sich über meine Zurückhaltung. Es war klar, dass mich beide gleichermaßen fürchteten, nur auf verschiedene Weise zeigten. Wie mich das bessern sollte, mochte verstehen, wer will.

Ehrlich gesagt, wären mir zwei Zankbesen lieber gewesen, wie damals Lisa Möllenhaupt, die mir schon mal eine Schrippe an den Kopf knallte oder mich ‚dumme Tusse‘ nannte, weil ich sie als mannstoll entlarvt hatte. So etwas reinigt die Luft, vor allem, wenn man sich danach wieder entschuldigend in die Arme fällt. Doch diese beiden benahmen sich mit ihrem muffigen Anstandsgehabe, als wären wir hier in einem Mädchenpensionat. Ich mochte das zwar nicht - tolerierte es aber aus Fairnessgründen.

Dabei meinte es Kahlenberg nur gut. Er wollte alles vermeiden, was mich provozieren könnte, erreichte jedoch nur das Gegenteil. Auf dieser Basis konnte kein kollegiales Verhältnis entstehen, sondern wir begannen, uns ständig zu belauern. Zugegeben habe ich mich aber auch nicht sonderlich bemüht, blieb maulfaul und übernahm auch nicht die Initiative, wie es mir Kahlenberg wiederholt riet. Warum auch? Wir würden ohnehin niemals Freundinnen werden und nur so zu tun, war mir zu blöd. Lieber trat ich einem Rentnerclub bei, als mit denen ein falsches Wort der Freundlichkeit zu heucheln.

Nun gut, ganz so schlimm war es auch wieder nicht. Immerhin bot mir zumindest die Ermel schon mal einen Kaffee an, selbst wenn ich sie zuvor angeschnarrt hatte. Auch die Baderhof zeigte sich sofort besorgt, wenn ich ihre Auflockerungsversuche nicht erwartungsgemäß kommentierte. Der Wille war also da, fehlte nur noch die Umsetzung. Aber vielleicht kam das noch.

Selbst mein weiteres Umfeld erwies sich durchaus nicht so trist, wie es sich jetzt vielleicht darstellt. Offen gestanden habe ich sogar einen heimlichen Verehrer. Dabei handelt es sich um niemand anderen als unseren Hausverwalter, ein undurchsichtiger Typ von Parterre, der mir bei jeder Begegnung ein Gespräch aufnötigt. Ihm gefallen meine Fesseln, sagte er einmal verzückt, als ich vor ihm die Treppe hinaufstieg und er mir unter den Rock schaute. Sie wären von der Grazie einer Gazelle. Ob er mich damit nur veralbern wollte, blieb unklar. Ich traute ihm jedenfalls alles zu.

Sein Name ist Horst Mießling. Er ist Anfang sechzig, kaum etwas höher als ein Besenstiel und ebenso schmächtig, natürlich alleinstehend und kauzig. Sein Gesicht wäre durchaus angenehm, würden nicht die ohnehin schon kleinen Augen so nahe beieinander stehen und die Nase so weit vorspringen, dass ihm etwas Vogelartiges anhaftete. Irgendwie hat er Witterung aufgenommen und erinnert mich an meinen alten Nachbarn Hübner, nur noch etwas krasser.

In letzter Zeit gehe ich ihm übrigens aus dem Weg, besonders, als er neulich aufgrund einer Postsendung bei mir im Pyjama klingelte. Man stelle sich nur vor, dieses Hämeken mit einer überproportionalen Wölbung in der Hose. Eine Unverschämtheit war das! Sein zwielichtiges Angebot einer Revanche mit einem Glas Champagner trieb mich zur Weißglut. Schon wollte ich ihn zurechtweisen, verkniff es mir aber, um mich nicht auch noch mit ihm zu überwerfen. Aber der Kerl hat einfach keinen Takt, hält sich für unwiderstehlich, ist aber in Wahrheit nichts weiter als eine Null. Aber was kümmert es mich? Ich habe andere Probleme.

Es vergingen etwa zwei Wochen, bis es eines Nachmittags auf dem Heimweg zu einer seltsamen Begegnung kam. Ich bog gerade bei mir in die Straße ein, als mich ein entgegenkommender Typ anrempelte und sofort anfuhr, ob ich nicht aufpassen könne, was mir einfalle und so weiter. Verwunderlich war nur, dass dies in gutem Deutsch geschah, obwohl es sich dabei um einen der hier herumlungernden Nordafrikaner handelte. Das ist eine ganz besondere Sorte, die vor allem durch ihre Penetranz auffällt. Ich witterte sofort eine Falle. Hatte doch eindeutig er mich angerempelt und nicht umgekehrt, so dass ich instinktiv nach meiner Tasche griff. Die Sache lag aber doch anders. Dieser Bursche bestand nämlich ziemlich ruppig auf eine Entschuldigung und verband das sofort mit einem Diskriminierungsvorwurf. Zu allem nannte er mich noch eine ‚Furie‘, was mich an eine andere Sache erinnerte, die ich noch später erklären werde.

Ich fragte ihn, was das soll, worauf er seine Forderung wiederholte – jetzt aber noch forscher. Seltsamerweise erschienen wie auf Kommando von irgendwoher gleich ein gutes Dutzend seiner Landsleute, die mich allesamt umringten. Sie brüllten auf mich ein, was ich mir erlaube, mit einem Mann so zu reden, inschallah! Ich wagte keine Widerrede, denn das Ganze drohte zu eskalieren. Als man dann noch anfing, mich zu schubsen, bekam ich es mit der Angst und wollte schon um Hilfe schreien.

Doch erstaunlicherweise war das nicht nötig, denn wie von Zauberhand erschien plötzlich ein Funkwagen. Ich musste mich nicht erst erklären, denn die Beamten, von denen ich übrigens bereits einige kannte, hatten die Sache bereits beobachtet und wurden sofort von einer hitzigen Menge empfangen. Einander überbrüllend nannten sie mich eine Rassistin, weil ich einen Ausländer wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit beleidigt hätte. Worin die Beleidigung lag, wurde zwar nicht ganz klar, war aber auch nicht nötig. Allein dieser Vorwurf genügte für dieses ganze Aufsehen.

Völlig perplex blieb ich unfähig zu reagieren. Immer wieder versuchte ich, eine plausible Erklärung zu finden, bis mir plötzlich einer dieser Kerle auffiel, der mir sehr bekannt vorkam. Obgleich er sich, wie alle Scharfmacher, bewusst im Hintergrund hielt und von dort aus die Stimmung anheizte, erkannte ich ihn sofort wieder. Es war der Schläger aus dem Gemüseladen, dieser Mustafa, der mich angespuckt hatte. Daran bestand kein Zweifel.

Doch kaum hatte ich ihn gesehen, war er auch schon wieder verschwunden. Ich sagte das den Beamten, die allerdings aufgrund des Lärms noch immer Verständigungsprobleme hatten. Zu allem konnte ich meine Vermutung nicht bestätigen, da dieser Mann danach nicht mehr zu sehen war. Ein Rädelsführer ließ sich somit nicht ausmachen. Selbst der Bursche, der mich angerempelt hatte, zeigte sich plötzlich erstaunlich kleinlaut und tat letztlich so, als ginge ihn das alles nichts mehr an. Kurzum, diese ganze Sache stank zum Himmel.

Am Ende herrschte ein heilloses Durcheinander, welches selbst bei allen Mühen für die Polizisten unentwirrbar blieb. Auch wenn nichts weiter passiert war, schien der Effekt erreicht. Die Leute blieben stehen und gafften, vorüberfahrende Autos hupten und die ganze Nachbarschaft hatte es mitbekommen. Fehlten nur noch so ein paar Affen von der Presse, auf die ich spätestens seit meinem Prozess nicht gut zu sprechen war. Damals hatte mich einer von ihnen als ‚Furie‘ betitelt und dazu mein Konterfei in seinem Boulevardblatt abgebildet. Kein Wunder, dass mich dieser Pöbel jetzt so nannte.

Der Sachverhalt wurde vor Ort aufgenommen und aufgrund der unklaren und zum Teil doch recht verworrenen Angaben lediglich in Berichtsform erfasst. Zur Anzeige kam es nicht. Man kann sich denken, wie sehr diese Sache an mir nagte. Bestand doch die Gefahr einer Rufschädigung und das ausgerechnet in meinem neuen Wohnbereich. Das fürchtete ich am meisten.

Und tatsächlich war danach nichts mehr wie zuvor. Man grüßte kaum noch und warf mir scheele Blicke zu. Selbst der Postbote, mit dem ich hin und wieder ein Wort wechselte, zeigte sich fortan merklich unterkühlt. Das verunsicherte mich. Ständig lebte ich in Angst vor einer neuen Eskalation. Natürlich verlor ich zu niemandem darüber ein Wort. Vielmehr beschloss ich, die Sache allein auszutragen, schon um anderen keinen weiteren Zündstoff zu liefern.

Doch dadurch wurde alles nur noch schlimmer. Ich wurde noch dünnhäutiger, so dass ich mein ohnehin spärliches Kollegenumfeld kaum noch ertrug. Selbst die abendliche Einsamkeit in meinen vier Wänden wurde mir zunehmend zur Qual. In einem solchen Zustand kommt man auf die irrwitzigsten Gedanken. So meinte ich, plötzlich überall Zeichen oder Finten zu erkennen, um mich reinzulegen. Täglich guckte ich gleich zweimal in meinen Briefkasten in Erwartung irgendeiner Schmähschrift und kontrollierte abends meine Tür akribisch auf Verschluss. Ebenso wurde ich gegenüber unklaren Geräuschen empfindlich. Einmal war es so schlimm, dass ich bereits nach meiner Keule griff (ein neben der Tür stehender Baseballschläger), bis ich erleichtert feststellte, dass es nur der Postbote war.

In der nächsten Zeit wurde es aber auch nicht besser, so dass ich eines Abends aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet bei diesem widerlichen Horst Mießling klingelte, nur um mal ein paar Worte zu wechseln. Oh Gott, welch ein Drama! Kaum hatte er geöffnet, versagten mir die Worte und ich begann, irgendetwas zu stammeln. Aber selbst das war mir in diesem Moment egal, Hauptsache, es brächte mich auf andere Gedanken.

Natürlich interpretierte er das völlig falsch, denn er bat mich sogleich herein, bot mir sogar ein Glas Wein an, was ich aber ablehnte. Ich meine mich auch an einen kurzen Wortwechsel zu erinnern, wobei er sogar etwas Süßholz raspelte, zwar ziemlich plump, aber immerhin. Was ihn aber dazu bewog, plötzlich meine Hand zu tätscheln, weiß ich bis heute nicht, denn ich hatte ihm in keiner Weise etwas angedeutet. Da ich darauf nicht sofort reagierte und einfach weiterredete, erkühnte er sich, sie sogar zu küssen und mir ein anzügliches Kompliment zu machen.

Daraufhin muss ich ihn aber so entgeistert angesehen haben, dass er sogleich erschrak und sich tausendmal entschuldigte. Damit war die Sache zwar vom Tisch, er jedoch auch sichtlich unterkühlt. Folglich verabschiedete ich mich, ohne den erhofften Trost gefunden zu haben. Als Gesprächspartner schied er nunmehr aus und mir blieb nichts, als meinen Kummer allein auszutragen.

Natürlich überspielte ich diese Schwäche, fürchtete aber, dass man mir das ansah. Mehrmals machte mich die Baderhof als Zimmerverantwortliche (so heißt das bei uns) auf einige Leichtsinnsfehler aufmerksam, die nur Folge meiner Schusseligkeit sein konnten und wenn ich eine Aussprache wünsche, stünden Herr Kahlenberg oder sie jederzeit zur Verfügung.

Was sollte das? Ich war doch kein Pflegefall! Kein Wunder, dass ich es verharmlosend auf meine Migräne schob. Natürlich nahm sie mir das nicht ab, tat aber so. Dafür hasste ich sie noch mehr. Wer weiß, vielleicht hätte ich mich irgendwann wieder gefangen, wäre es nicht bald darauf zu einem weiteren unliebsamen Ereignis gekommen.

Die Sache war die, dass ich eines Morgens in meinem Postkasten einen abgerissenen Zettel fand mit der Aufschrift ‘bitte helfen‘. Dabei handelte es sich um eine ziemlich ungelenke Handschrift, die offenbar zitternd geschrieben war. Zunächst dachte ich mir nichts dabei, zumal es sich bei solchen Aufrufen meist um eine an alle Hausmieter gerichtete Postwurfsendung handelte. Doch als ich durch Nachfragen erfuhr, dass es nur mich betraf, wurde ich unruhig. Der Briefträger, den ich eigens deswegen konsultierte, wusste davon ebenfalls nichts. Er versicherte mir, die Haustür stets wieder zu schließen, so dass kein Unberechtigter Zutritt hatte. Das machte die Sache noch mysteriöser.

Zwei Tage später fand ich den nächsten Zettel, wieder der gleiche Text und dieselbe Handschrift, doch abermals nur in meinem Kasten. Das ließ mir keine Ruhe. Hinzu kam, dass ich mich bisweilen beobachtet fühlte, vornehmlich auf dem abendlichen Heimweg. Es mag sicher albern klingen, aber ich konnte es förmlich spüren. So schlimm war es, dass ich mich sogar spontan umsah. Natürlich erwies es sich jedes Mal als Irrtum und doch wurde ich diesen Eindruck nicht los.

Weitere zwei Tage vergingen, als ich am späten Abend den Hausflur betrat. Es war bereits dunkel, so dass ich die Beleuchtung betätigen musste. Ich wollte gerade den Postkasten öffnen, als sich plötzlich von hinten eine schlanke Hand auf meine Schulter legte. Zu Tode erschrocken fuhr ich um. Zunächst erkannte ich nur einen Schatten, der infolge meiner Reaktion sofort zurückwich. Dann aber entpuppte er sich bei genauerer Betrachtung als muslimisch gekleidete Frau. Sie hatte das dunkle Kopftuch tief in die Stirn gezogen, so dass ihr Gesicht nicht sofort zu erkennen war.

„Bitte helfen Sie mir“, flehte sie in akzentfreiem Deutsch, dabei noch immer den Blick scheu nach unten gerichtet. Dann aber erkannte ich sie. Es war Halime, das Opfer aus dem Gemüseladen, die mich offenbar bereits erwartet hatte.

„Du also“, sagte ich und nahm einen weiteren Zettel aus meinem Postkasten, worauf sie schweigend nickte. Erst jetzt bemerkte ich die Hämatome unter ihren blutunterlaufenen Augen und die Kratzspuren an ihren Händen. Zudem wies ihre linke Wange eine starke Schwellung auf. Zweifellos war sie wieder verprügelt worden, denn sie machte einen völlig verstörten Eindruck. Ihr unruhiger Blick wanderte ständig hin und her, so dass es unmöglich war, ihn einzufangen. Zudem zitterten ihre Hände und ihre bleichen Lippen verzogen sich immer wieder kummervoll.

„Ich weiß nicht wohin, aber mein Mann wird mich umbringen“, klagte sie schließlich mit tränenschwerer Stimme.

Auf meine Frage, was geschehen war, druckste sie zunächst herum und erzählte irgendetwas von Sorgen um ihr Kind und wenig Geld. Dann aber nannte sie mir den wahren Grund. Sie fürchte wegen ihres Ungehorsams um ihr Leben, da sie ihrem Mann gesagt habe, sich nicht länger verschleiern zu wollen. Außerdem gedenke sie, künftig den Ramadan zu verweigern und ein westliches Leben zu führen. Sie sei es leid, immer nur zu darben und wollte endlich anders sein. Ich konnte es kaum glauben. Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Schon gar nicht von ihr.

„Waren Sie schon bei der Polizei?“, wollte ich als nächstes wissen und verwies auf die Notwendigkeit einer Anzeige.

Sie wehrte jedoch mit der Bemerkung ab, dass das ihr Ende beschleunigen würde, denn auch dort würde sie wieder nur nach Hause geschickt. Sie bräuchte aber jetzt Hilfe und vor allem Schutz. In diesem Moment kniete sie vor mir nieder, umfasste meine Hände und begann sie zu küssen. „Bitte! Sie sind ein guter Mensch, helfen Sie mir! Ich habe sonst niemanden! Sie dürfen mich nicht wegschicken!“

Mir war das sehr unangenehm. Zudem fürchtete ich, jeden Moment von anderen Mietern entdeckt zu werden – womöglich von Mießling. Das fehlte noch!

„Aber um Himmelswillen! Wie stellst du dir das vor? Wie kommst du gerade auf mich?“, erwiderte ich, ohne recht zu wissen, warum ich sie gleich duzte.

„Sie sind eine starke Frau und haben ein gutes Herz. Sie wissen genau, wie mir jetzt zumute ist“, bedrängte sie mich erneut.

„Woher willst du das wissen? Ich bin eine Ungläubige. Eure Probleme sind nicht meine!“, versuchte ich sie abzuwehren. Doch sie ließ nicht locker und meinte, dass ich auf ihrer Seite stehe. Mein Auftreten gegenüber der Polizei habe ihr imponiert. So jemand würde sich den Mund nicht verbieten lassen. Deshalb vertraue sie auf meine Hilfe für den Schritt in ein neues Leben.

Damit hatte sie mich gefangen. Ohne weiter nachzudenken, nahm ich sie in meine Wohnung mit. Dort machte ich ihr einen Kaffee und bat sie, sich erstmal zu sammeln. Nun erfuhr ich auch die ganze Geschichte samt Nachspiel. Ihr Mann Mustafa begann ihr aus irgendeinem Grund den Eklat im Laden vorzuwerfen und hatte sie daraufhin derart zusammengeschlagen, dass sie mehrere Tage nicht die Wohnung verlassen konnte. Zu einem Arzt wagte sie sich nicht aus Angst vor einer Meldung an die Polizei und da sie niemanden weiter habe, sei sie zu mir gekommen.

Im Verlauf ihrer immer wieder von emotionalen Ausbrüchen und längeren Schweigephasen unterbrochenen Schilderung begriff ich die ganze Tragweite ihres Martyriums. Auch wenn sie in Bezug auf die genauen Tätlichkeiten nicht konkret wurde und sich nur in Andeutungen verlor, wusste ich sofort um den Ernst der Lage. Ich war mir nicht mal sicher, ob es sich bei den Schnittverletzungen an ihren Händen wirklich nur um Abwehrfolgen handelte. Vor allem fragte ich mich erneut, wieso in einer zivilisierten Gesellschaft wie der unseren so etwas überhaupt möglich war. Je länger ich ihr zuhörte, um so wütender wurde ich.

Wie sich herausstellte, hatte sie während der Sachverhaltsaufnahme meine Adresse aufgeschnappt und war mir mehrere Male unbemerkt nach Hause gefolgt. Dabei hatte sie das Haus immer unmittelbar nach mir betreten und dazu den Schnapper mit einer Plastikkarte gedrückt - ein Trick, den sie von ihrem Mann kannte. Zweifellos setzte sie nun alle Hoffnung auf mich. Ich aber wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

Wie ich weiter erfuhr, hatte ihr Mustafa verboten, die Wohnung zu verlassen, sie teilweise sogar angekettet, so dass sie gezwungen war, aus einem Napf zu essen. Zu allem hatte er ihr auch noch die gemeinsame Tochter Sevgül weggenommen und zu seiner Familie gebracht, um sie ihrem schädlichen Einfluss zu entziehen. Da aber Ali Abu Hussein (Ihr ‚Wali‘ genannter Vormund), Mustafas Onkel war, konnte sie von ihm keine Hilfe erwarten, so dass sie auf eine Konsultation des Friedensrichters verzichtete. Dieser habe normalerweise in solchen Dingen großen Einfluss. Hinzu kam, dass Hatice, Mustafas Erstfrau, eine große Eifersucht auf sie empfand und bereits versucht hatte, ihr ein Ohr abzuschneiden. Zum Glück war deren Schwester Özgül dazwischen gegangen und konnte das verhindern. Sonst wäre sie jetzt bestimmt nicht hier. Nun aber fühle sie sich nirgendwo mehr sicher und fürchte um ihr Leben.

Das alles schilderte sie in kurzen, abgerissenen Sätzen, ohne einmal aufzuschauen, wobei man spürte, wie schwer es ihr fiel. Ihr Brustkorb bebte, ihre Stimme stockte und sie verfiel teilweise in Atemnot, vor allem, wenn sie von der Brutalität ihres Mannes berichtete. Ich war sehr ergriffen und konnte vieles nicht glauben, vor allem, dass er bereits angedroht habe, sie nach Syrien an den IS zu verkaufen.

Ich entschloss mich, sie fürs erste bei mir zu behalten in der Hoffnung auf die rettende Idee.

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Stalking II

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