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03. Kapitel
ОглавлениеDamit brachte sie mich in eine schwierige Lage. Auch wenn ich mit solchen Geschichten nichts mehr zu tun haben wollte, blieb mir keine Wahl. Nun galt es, kühlen Kopf zu wahren und alle Optionen noch einmal durchzugehen. War ihr wirklich niemand gefolgt? Hoffentlich hatte sie keinem davon erzählt. Womöglich lauerte ihr Mann oder irgendein Schwager bereits vor der Tür mit einem Messer in der Hand. Verstümmelungen oder gar Ehrenmorde waren dort keine Seltenheit.
Kaum zu glauben, aber mein Misstrauen ging so weit, dass ich in den Hausflur schaute. Auch wenn das völlig idiotisch war, konnte ich nicht anders. Ich fühlte mich durch diesen ‘Flashback‘, wie es Frau Dr. Hövelbein nannte, sofort wieder in meine alte Rolle gedrängt und witterte überall Gefahr.
Wieder in der Wohnung, verriegelte ich die Tür und hielt die Keule griffbereit. Dann setzte ich mich zu meinem Gast und dachte nach.
Aber warum starrte sie mich so an? Waren meine Bedenken nicht berechtigt? Woher sollte ich wissen, ob sie mich nicht hinterging? Schon deshalb musste ich an meine eigene Sicherheit denken. Am liebsten hätte ich sie jetzt rausgeschmissen, schämte mich jedoch gleich wieder dieses Gedankens, denn dieser Fall lag doch anders. Was gab es also noch zu überlegen?
Zunächst mussten bestimmte Verhaltensregeln festgelegt werden, um das Risiko eines Entdeckens zu minimieren. Dazu durfte sie bis auf weiteres die Wohnung nicht verlassen. Ebenso galt es, jeden überflüssigen Lärm zu vermeiden und natürlich auch ein absolutes Telefonverbot. Das war gerade hier, wo die Wände Ohren hatten, besonders wichtig. Das Dumme war nur - ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Sache stank. Folglich hielt mein Misstrauen an.
Als wir uns dann schweigend gegenüber saßen und ich mich mit einem Gespräch schwer tat, schien es für einen Moment, als wollte sie etwas sagen. Aber die Hemmschwelle war zu hoch, als sich jemandem wie mir, einer Ungläubigen, anzuvertrauen. Im Gegenzug wollte ich sie natürlich nicht bedrängen, schon um die trennende Distanz nicht noch zu vergrößern.
Doch seltsam – als sie mich dann mit ihren stillen, unergründlichen Augen unverwandt ansah, in denen so viel Scheu aber auch Neugier zu lesen war, verwirrte mich das derart, dass ich plötzlich nicht widerstehen konnte und mit meiner Geschichte herauskam. Dabei wollte ich das gar nicht. Aber es übermannte mich, ihr zu verdeutlichen, warum ich ihren Kummer verstand und das nicht nur aus Mitgefühl, sondern aus eigenem Erleben.
Also begann ich nach einigem Zögern mit dem Drama um den Ziegenhirten Neznadiq Shariquiri aus Belutschistan und den Problemen, die ich mit ihm hatte. Dabei erwähnte ich meine Ängste und Nöte, schilderte die Tiefe meiner inneren Zerrissenheit, meinen Wankelmut und Trotz, ließ aber auch die Hoffnung nicht weg. Kurzum, ich gestand ihr all meine Schwächen mit dem Fazit, trotz aller Anfeindungen nicht resigniert zu haben.
Sie hörte aufmerksam zu, wirkte an manchen Stellen jedoch recht betrübt. Doch je betrübter, je mehr setzte ich nach. Ich wollte ihr einfach zeigen, dass auch eine Ungläubige die Schwere ihres Schicksals teilen konnte. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd. Lange verlor sie kein Wort und sah mich nur verwundert an. Dann aber fragte sie mich plötzlich: „Und Sie haben ihn wirklich umgebracht, so richtig?“ Ein tiefes Entsetzen überschattete dabei ihr Gesicht.
„Ja, das habe ich“, gab ich zu. „Aber ich musste es tun. Sonst hätte es nie ein Ende gegeben.“
„Wie? Ich meine, wie haben Sie es getan?“, wollte sie daraufhin mit stockender Stimme wissen.
„Ich habe ihn erschossen!“
„Erschossen?“, wiederholte sie und schlug entsetzt die Hände auf den Mund.
„Ja, mitten ins Herz.“
„Dann ist Ihnen Gottes Zorn gewiss.“
„Möglich. Aber ich fürchte ihn nicht.“
Sie erwiderte daraufhin nichts. Man sah, welche Konfusion das in ihr auslöste und sich ihr Unverständnis nur noch vergrößerte. „Also ich könnte das nicht“, sagte sie nach einer Weile mehr zu sich selbst, als habe sie erst jetzt das ganze Entsetzen verinnerlicht.
„Das dachte ich auch. Aber dann kam es anders.“
„Bereuen Sie es?“
„Manchmal schon“, räumte ich nach einigem Zögern ein.
„Warum manchmal?“, wollte sie wissen.
„Weil ich nicht weiß, ob ich es wieder täte.“
„So etwas kenne ich. Das kann ich verstehen“, gestand sie zu meiner Überraschung ein und begann, sich endlich zaghaft zu öffnen. „Dennoch habe ich meinen Mann nie gehasst und würde ihn auch niemals töten können. Er tat nur, was er tun musste. Anderenfalls wäre er kein Mann, jedenfalls nicht in unserem Sinn.“ Jetzt nahm sie auch dieses alberne Kopftuch ab und ich konnte erstmals ihr fülliges Haar sehen. Sie trug es ganz normal, das heißt, in einer Art modischen Kurzhaarfrisur, die sich in nichts von unseren unterschied. Und doch wirkte sie sogleich ganz anders, so aufgeräumt und unglaublich zivilisiert, dass ich plötzlich jemand ganz anderen vor mir zu sehen meinte.
„Ich war noch sehr jung, als ich ihm versprochen wurde“, fuhr sie fort und strich sich durchs Haar, „eigentlich noch ein Kind. Meine Eltern hatten es so beschlossen, weil der Clan der El Jeries, dem er angehört, mit dem unseren schon seit langem in Fehde lag. Durch diese Verbindung erhoffte man sich eine Versöhnung. Nur war Mustafa zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet und hatte vier Kinder mit seiner ersten Frau Hatice. Sie müssen verstehen, dass es nach unserem Glauben keine Schande ist, sich mehrere Frauen zu nehmen. Heißt es in der Sure 4.3: ‚So heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, zwei, drei oder vier. Nur so könnt ihr Ungerechtigkeit vermeiden‘. Je mehr Frauen, je höher das Ansehen des Mannes, so sind die Regeln. Die Gefühle der Frau zählen dabei nicht. Sie hat ihm zu dienen und Kinder zu gebären, zum Wohl der Familie. Das ist ihr Bestimmung.
Aber ich war keine gute Dienerin, müssen Sie wissen. Obwohl ich wusste, dass diese Verbindung schon seit langem geplant war, blieb ich ungehorsam und hatte mich in einen Mann verliebt. Sein Name war Bektül und er entstammte dem Clan der Jel Abad, mit dem wir bereits über meine Schwester Aygun verschwägert waren. Die Notwendigkeit einer weiteren Heirat bestand also nicht. Dabei hätte ich nichts lieber getan, denn eine Frau muss recht früh unter dem Schutz eines Mannes stehen, um nicht Freiwild für andere zu werden. Bektül war in meinem Alter und mir in vielem ähnlich. Wir empfanden füreinander so tief, dass ich, nun ja, das wir miteinander …“
„Du hast mit ihm …?“
„Ja, und vor der Hochzeit“, erwiderte sie mit gesenkter Stimme und steckte hilflos die Hände zwischen die Knie. „So etwas ist bei uns Todsünde, denn damit war ich ‚haram‘, also unrein, und das blieb Mustafa nicht lange verborgen. Es kränkte und entehrte ihn. Dabei hatte ich noch versucht, ihn darüber zu täuschen, indem ich etwas Blut in eine … Nun ja, es gibt da so in paar Möglichkeiten, wissen Sie?“ Sie senkte errötend den Blick, um mich danach umso fester anzusehen. „Er hatte das Recht, mich zu töten, tat es aber nicht. Vielmehr hielt er es vor seiner Verwandtschaft geheim. Damit rettete er mir das Leben, denn mir drohte nach der Fatwa die Steinigung. Deshalb bin ich auf ewig in seiner Schuld und er kann über mich verfügen, wann immer er will.“
„Das ist doch Unsinn!“, empörte ich mich sofort. „Niemand hat das Recht, über jemanden zu verfügen, schon gar nicht in einer demokratischen Rechtsordnung wie der unseren! Und eine Steinigung gibt es schon gar nicht.“
„Aber der Koran sagt …“
„Es interessiert nicht, was der Koran sagt!“, fiel ich ihr ins Wort. „Das sind doch nur verstaubte Regeln aus einem anderen Jahrtausend!“
„Leider nicht für uns, so sehr ich es mir auch wünschte. Bei einem Muslim bestimmen die Scharia und seine Vertreter, der Imam und der Qadi als Friedensrichter. Sie allein verkörpern für uns Recht und Gesetz und der Wille Allahs herrscht überall, egal, wo wir auch leben.“
„Aber nicht hier, verdammt nochmal!“, wiederholte ich und schlug auf den Tisch. Ich musste erst einmal durchatmen. Zweifellos hatte ich sie damit verschreckt, aber ich konnte das einfach nicht länger anhören. Wie konnte man nur so einfältig sein und das im 21. Jahrhundert! Vor allem wunderte mich die eigene Unbeherrschtheit. Dennoch gab es nichts zu entschuldigen. Was gesagt werden musste, sollte auch gesagt werden.
Natürlich war ich weit davon entfernt, sie zu verurteilen, jedenfalls nicht, bevor ich ihre Motivation nicht völlig verstand. Und doch spürte ich sofort die vielen Probleme, die bislang eine normale Verständigung verhinderten. Zunächst aber war ich froh, dass sie allmählich auftaute, was die ganze Situation etwas erleichterte. Deshalb verzichtete ich auf weitere Fragen. Wenn sie mir nicht alles sagte, hielt ich das für Scham und empfand kein Misstrauen. Vielmehr glaubte ich, sie würde noch von selbst damit herauskommen, sobald die Zeit dafür reif war.
Also lenkte ich das Gespräch auf andere Themen. Dabei erwies sie sich zu meiner Überraschung als überaus redselig und mein erster Eindruck der scheuen, etwas unbedarften, religiösen Frau bestätigte sich nicht. Kaum etwas, wozu sie nichts zu sagen wusste. Auf vieles fand sie eine Antwort und bewies in manchem sogar Humor. Kurzum, sie zeigte sich als ganz normale Frau, welche, obgleich etwas verschüchtert, dennoch von erstaunlicher Tiefe war und sich durch nichts von anderen unterschied, trüge sie nicht diese orientalische Tracht.
Das mag auch der Grund gewesen sein, mein Vorhaben, sie am nächsten Morgen beim Polizeirevier abzuliefern, zu verwerfen. Ich hätte sie dorthin begleiten können, um sie professionellen Händen anzuvertrauen. Dann aber fürchtete ich, man könnte sie wieder zu ihrer Familie zurückführen, was mir sehr wahrscheinlich erschien und das konnte ich nicht zulassen.
Also beschloss ich, sie für die nächste Zeit bei mir zu belassen, bis mir etwas Besseres einfiel. Nur gab es da keine große Wahl außer einer Meldung bei den Ämtern mit einem im günstigsten Fall problematischen Rechtsstreit und langwieriger Suche nach einer geeigneten Bleibe. Natürlich wäre auch ein Frauenhaus eine Alternative.
Nur hatte ich von dort schon viel Unangenehmes gehört. Schon deshalb wollte ich ihr das ersparen. Andererseits musste ich mich erst einmal davon überzeugen, ob sie es auch wirklich ernst meinte und ihr Entschluss nicht nur eine Kurzschlussreaktion war. Sicherlich käme spätestens nach ein paar Tagen die Sehnsucht nach ihrem Kind hoch.
Aber selbst dann konnte der jetzige Zustand nicht andauern. Meine Wohnung bestand nur aus einer Wohnstube und einem kleinen Schlafzimmer und bot für zwei Personen nicht genügend Platz. Aber da sie sich in ihren Ansprüchen sehr genügsam zeigte, war die damit verbundene Einschränkung letztlich geringer als befürchtet.
Man mag es kaum glauben, sie erwartete nicht mal ein Bett, sondern kauerte sich allen Ernstes in der Ecke neben dem Fenster zum Schlafen hin. Sogar eine Decke lehnte sie ab. Das kam natürlich nicht in Frage. Also richtete ich ihr fürs erste die Couch her, die ich freilich so positionierte, dass ich sie bei geöffneter Tür von meinem Bett aus sah.
Das geschah nicht aus Misstrauen, sondern aus Sorge, denn wer wusste schon, was in ihr vorging. Niemand konnte garantieren, dass sie sich nichts antat. Natürlich hatte ich zu diesem Punkt noch keine Vorstellung, wie die Sache wirklich stand. Doch selbst wenn, hätte das meinem Pflichtgefühl ihr gegenüber kaum Abbruch getan. Mein Herz ließ mir keine andere Wahl.
Nur eines irritierte mich. Es war Halimes offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Familie, vor allem gegenüber ihrem Kind. Auch wenn ich selber kinderlos war, hätte ich doch eine solche Trennung niemals zugelassen. Da war keinerlei Reue, kein schlechtes Gewissen oder gar Sehnsucht, wie eine Mutter in dieser Situation empfinden müsste. Allein der Drang nach Freiheit und Eigenständigkeit schien alles zu überlagern. Das war doch sehr befremdlich, da zutiefst egoistisch. Natürlich hätte mich ihre Erklärung dafür interessiert und ich machte auch ein paar Andeutungen.
Doch sie blieb kurz angebunden, als wäre es ihr unangenehm, darüber zu reden. Am meisten aber verwirrte mich ihre Aussage, die zwölfjährige Sevgül wäre nicht ihr Kind, sondern vor allem sein Kind, freilich ohne das näher zu erklären. Das klang so kalt und fremd. Zu allem umspielte noch ein seltsames Lächeln ihre Lippen, das mich doch etwas ängstigte, denn es schien mir irgendwie hasserfüllt, kein Lächeln jedenfalls, das von einer Mutter zu erwarten war.
Wie auch immer - ich verstand es nicht. Ebenso erstaunte mich ihr tiefer Fatalismus angesichts der eigenen Zukunft. Da waren keinerlei Ängste zu erkennen, ebenso keine Überlegungen bezüglich einer Lösung, beinahe so, als erwarte sie allein im blinden Gottvertrauen einen sich selbst öffnenden Weg.
In der folgenden Nacht schlief ich schlecht, denn das alles war schon sehr verfahren. Zu allem geisterte mir die ganze Zeit so ein dummer Gedanke durch den Kopf. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich fürchtete allen Ernstes, ihr Mustafa oder irgendein anderer Kerl könnte jeden Moment mit einem Messer in der Hand hereinstürzen und mir die Klinge in die Wade rammen. Warum ausgerechnet in die Wade, kann ich nicht sagen. Aber seit meiner Traumatisierung hatte ich mitunter sehr seltsame Gedanken.
Als ich von meinem Bett aus durch die geöffnete Tür zu ihr hinübersah, konnte ich sie im Halbdunkel auf der Couch erkennen. Völlig reglos lag sie da, leicht zusammengekauert, die Decke bis zum Hals gezogen und mir zugewandt. Durch das Fenster im Hintergrund fiel das Licht der Straßenbeleuchtung auf sie herab und tauchte ihre Gestalt in ein milchiges Blass. Ich weiß das jetzt nicht besser auszudrücken, aber gerade dadurch wirkte sie auf mich surreal.
Es war kaum anzunehmen, dass sie schon schlief. Vielmehr meinte ich zu fühlen, dass sie die ganze Zeit zu mir herübersah und mich betrachtete. Was hätte ich darum gegeben, jetzt ihre Gedanken zu kennen. Ich fand aber kein Mittel, mich ihr zu nähern, ohne aufdringlich zu wirken. Also schwieg ich, in der Hoffnung, sie würde von sich aus das Gespräch suchen.
Und tatsächlich dauerte es nicht lange und sie fragte etwas. Ohne die Antwort abzuwarten, redete sie gleich weiter, als habe sie nur nach einem Einstieg gesucht. Dabei entschuldigte sie sich noch einmal für ihre anfängliche Weigerung, sich zu entkleiden. Wollte sie doch tatsächlich im Mantel schlafen.
Erst nach längerem Zureden war es mir gelungen, sie davon abzubringen. Ich bot ihr auch ein Nachthemd an, was sie zunächst noch ablehnte. Der Islam verbiete es, den Körper zu entblößen, nannte es aber im gleichen Atemzug lächerlich - vor allem einer Frau gegenüber. Das führte schließlich dazu, dass sie dann doch ihre Kleidung ablegte, freilich erst, nachdem das Licht gelöscht war.
Als ich sie dabei beobachtete, waren mir ihre grazilen Formen nicht entgangen. Und doch würde sie spätestens ab Mitte Dreißig wie Hefeteig auseinanderfließen, ihr Gesicht bekäme Runzeln und ihr Bauch würde aufgrund des vielen Gebärens erschlaffen. Sicher trachteten diese Frauen nur deshalb danach, sich hinter Tschador und Mantel zu verbergen. Es war eine Schönheit für den Augenblick. Vielleicht war das der Grund für die Vielweiberei in diesen Ländern? Ich war überzeugt, dass sie unverschleiert und mit offenem Haar wesentlich natürlicher wirkte und sich bei entsprechender Pflege länger jung halten könnte. Aber offenbar wollte sie das gar nicht, aus Angst, genau das zu provozieren, was es zu vermeiden galt – männliche Begierde.
Dann aber erzählte sie auch von weiteren Dingen, vor allem von Bektül, ihrer großen Liebe, in den sie offenbar noch immer sehr vernarrt war. „Was ich gesagt habe, war Unsinn“, gestand sie dabei erstaunlich offen. „Niemand kann einen Mann allein aus Angst lieben. Abneigung und Ekel werden immer zu Hass und Gleichmut führen. Man wird innerlich leer, selbst dem eigenen Kind gegenüber, denn es ist keine Frucht der Liebe, sondern des Zwanges. Mit Bektül wäre das anders gewesen. Das weiß ich! Nach meiner Hochzeit ist er fortgezogen und hat eine andere Frau geheiratet. Ich aber werde ihn immer lieben, auch wenn ich ihn niemals haben kann. Seinetwegen hatte ich schon Todesgedanken, vor allem nach der ersten Nacht mit Mustafa.
Wie habe ich mich davor gefürchtet, so dass ich es nur möglichst schnell hinter mich bringen wollte. Er aber wurde nicht fertig und begann mich zu quälen. Als er dann merkte, dass ich ‚haram‘ war, schlug er mich mehrfach ins Gesicht und spuckte mich an. Dann griff er nach einem Messer und wollte mich schächten wie ein Schaf. Ich wusste, dass meine letzte Stunde gekommen war und hielt ganz still. Nur ein kleiner Schnitt, dachte ich, und es ist vorbei. Es ist seltsam, was man in einem solchen Moment alles denkt - Bedeutsames verschwimmt und Nebensächliches tritt hervor. Ich hatte nicht einmal Angst, und hätte er es getan, es wäre mein Eintritt ins Paradies gewesen. Aber dann ließ er von mir ab, kauerte sich in eine Ecke und begann zu heulen. Es war schrecklich ... Warum ich das alles ertrug, ist nur schwer zu erklären“, kam sie meiner Frage zuvor. „Aber ich denke, dass äußerer Schmerz oftmals den inneren verdrängt. Allah hat es so eingerichtet und sich dabei etwas gedacht. Ich bin sehr gläubig, wissen Sie. Der Glaube gibt mir die Gewissheit, dass es mehr gibt, als nur mein eigenes Leben. Wir sind Bestandteile eines größeren Ganzen und daher nur bedingt für unser Schicksal verantwortlich. Das ist sehr beruhigend. Sind Sie eigentlich gläubig?“
„Kaum“, gab ich halblaut zurück.
„Warum?“
„Weil ich manchmal auch an meinem Glauben zweifele, vor allem, wenn sich alles gegen mich verschworen hat.“
„Dann glauben Sie an den Shaitan.“
„An wen?“
„An den Teufel. Jeder Mensch glaubt mehr an den Teufel als an Gott. Das liegt in der Natur des Menschen.“
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber wie kommst du darauf?“
„Weil der Glaube unser Schicksal bestimmt.“
„Klingt logisch und ist doch Unsinn. Der Mensch ist zuerst für seine Taten verantwortlich und nicht für seine Gedanken. Wie kommst du auf solche Ideen und wieso kannst du eigentlich so gut deutsch?“, wollte ich wissen und erfuhr, dass sie einen intensiven Sprachkurs machte und sogar die höhere Reife belegte. Ursprünglich habe sie studieren wollen, aber der Imam sei gegen ihr Interesse für Rechtswissenschaften oder Philosophie gewesen, da diese nach hiesiger Auslegung nicht mit dem Koran übereinstimmten. Ihr Heimatland sei ihr inzwischen fremd geworden und sie kenne es nur aus Erzählungen. Dennoch wäre sie den Traditionen ihres Clans schon immer derart verpflichtet gewesen, dass ihr eine Emanzipation und somit Entwicklung nach westlichem Vorbild unmöglich blieb.
„Aber ist es nicht schwer, die eigenen Wünsche dauerhaft zu unterdrücken?“, fragte ich, da mir diese Argumentation nicht einleuchtete. „Ich meine, du wolltest studieren und ausbrechen. Jetzt fliehst du zu mir und suchst Schutz, beteuerst aber zugleich deine Traditionsverbundenheit und Frömmigkeit. Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.“
„Vielleicht ist es gerade das, was uns trennt. Wir leben die Religion. Sie liegt in unserem Blut. Etwas anderes ist unmöglich, selbst wenn wir manchmal zweifeln“, antwortete sie in einem eigentümlich gedämpften Ton, als spräche sie mit sich selbst.
„Nun gut, das ist dein Recht und da hat niemand was dagegen. Nur sollte die Religion nicht deine Entwicklung behindern. Sonst wäre sie wirklich der Shaitan. “
„Das tut sie nicht! Im Gegenteil, sie gibt den einzig richtigen Weg vor. Und darüber bin ich dankbar.“
Das verstand ich zwar nicht, verzichtete aber auf erneuten Widerspruch. Vielmehr interessierte mich, wie es jetzt weitergehen sollte, und fragte nach ihren Vorstellungen.
„Das weiß ich nicht“, antwortete sie. „Vielleicht muss ich erstmal etwas Abstand gewinnen und mir über einiges klar werden. Ich werde Ihnen aber nicht lange zur Last fallen. Das verspreche ich.“
„Unsinn! So war das nicht gemeint! Du kannst natürlich bleiben, solange es nötig ist. Anderenfalls begäbst du dich in Lebensgefahr. Ich werde schon etwas für dich finden.“
„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!“
„Nicht nötig. Vielleicht habe ich damit nur etwas gutzumachen.“
Das verstand sie sehr genau, besaß jedoch den Takt, nicht weiter daran zu rühren. Dafür war ich dankbar.
Die nächsten Tage vergingen qualvoll. In ständiger Erwartung irgendeiner unliebsamen Überraschung, wagte ich mir die Konsequenzen meiner Eigenmächtigkeit nicht auszumalen. Immerhin dauerte dieser Zustand jetzt schon fast eine Woche, ohne dass ich zu einer Entscheidung kam. Da aber nichts geschah und man meinen Gast offenbar auch nirgendwo vermisste, lullte mich das allmählich ein. Es folgte eine Alltagsroutine, die mir bald so vertraut wurde, als wäre dieser Trott niemals anders gewesen, und es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass sie mir nicht gefiel.
Wenn ich morgens aus dem Haus ging, schlief Halime meistens noch. Kehrte ich nachmittags zurück, empfing sie mich mit ihrem unnachahmlichen, stillen Lächeln. Manchmal umarmte sie mich sogar und ich wiederum fand Gelegenheit, mich auszusprechen. Nicht selten lachten wir dabei und alle Probleme waren wie weggeblasen. Damit hatte meine Einsamkeit ein überraschendes Ende gefunden. Schon deshalb wies ich jeden Gedanken an eine Trennung von mir. Vielmehr ertappte ich mich bei der Vorstellung, sie dauerhaft bei mir zu behalten, notfalls sogar als ihre Betreuerin. Es gab da gewisse Möglichkeiten und ich hatte mich bereits erkundigt.
Umso mehr überraschte mich eines morgens die gedrückte Atmosphäre in unserem Büro. Es herrschte eine geradezu beunruhigende Schweigsamkeit. Die Baderhof beachtete mich kaum und selbst die sonst so schnatterhafte Ermel wirkte erstaunlich unterkühlt. Und als ich dann ein beiläufig unter meine Tastatur geklemmtes Schriftstück entdeckte – ein amtliches Schreiben aus irgendeiner Kanzlei –, dämmerte mir etwas. Dabei handelte es um die Vermisstenmeldung einer jungen Frau, welche ein Anwalt als Vertreter der islamischen Gemeinde im Namen einer Familie El Jeries aufgegeben hatte und um Beachtung bei unserer Arbeit bat.
Damit nicht genug. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei diesem Anwalt um niemand anderen als einen gewissen Herrn Ahmet S. und er war sogar persönlich erschienen, angeblich um sich über die Frage der Zuständigkeiten zu informieren. Das war natürlich Unsinn, denn so etwas war bekannt. Wenn dieser Kerl hier aufschlug, dann aus anderen Gründen. Natürlich konnten das diese Weiber nicht wissen. Woher auch. Sie glaubten ohnehin alles, was ihnen ein Anwalt erzählte.
Mir wurde mir sofort klar, welche Masche er dabei abgezogen hatte und wie überrascht er tat, in einem geschickt provozierten Gespräch meinen Namen zu hören. Das war sozusagen seine Spezialität, aus einer gespielten Naivität heraus die Arglosigkeit seines Gegenübers zu wecken, um dann über scheinbare Nebensächlichkeiten sich dieser Vermutung zu vergewissern.
Ich konnte förmlich sein erstauntes Gesicht sehen, als er fragte: „Frau Möller? Doch nicht etwa die Frau Möller, welche … Nein, ich fasse es nicht … Ja, wir kennen uns. Wir sind alte Bekannte. Hat sie noch nicht von mir erzählt? Wie schade. Grüßen Sie sie von Herrn Selimgüler. Sie weiß dann schon Bescheid.“
Mit welcher Finesse wird er seinen Nachfragen den Anstrich der Belanglosigkeit gegeben haben, natürlich ohne weiteres zu erklären! Schließlich durfte er nicht gegen die Schweigepflicht verstoßen. Aber gerade das genügte, um mehr anzudeuten, als es konkret zu benennen. Hierdurch wurde wiederum der Klatsch befeuert, und wie wird man sich die Mäuler zerrissen haben über so weniges, was so vieles sagte. Nun wusste man also Bescheid. Die Reaktion der beiden war eindeutig. Mein Schatten hatte mich eingeholt und ich sollte künftig noch vorsichtiger sein, was ich wem gegenüber äußerte.
Es ist schwer, sich etwas Skrupelloseres vorzustellen als einen Anwalt dieses Schlages. Solche Typen haben keinerlei Bedenken, ihr Opfer zugrunde zu richten und danach mit kaltschnäuziger Unschuld auch noch ihre Hilfe anzubieten. Aber was tut man nicht alles für Geld. Da wechselt man schon mal die Fronten, wenn es nur einträglich genug erscheint. Dabei sieht man ihm das gar nicht an. Es ist vor allem die erstaunliche Wärme seiner Augen, die selbst in Momenten höchster Erregung ihre sanfte Treuherzigkeit bewahren. Aber das ist Bestandteil seines Wesens, was ihn als aalglatten Schmierenkomödianten entlarvt, der für seine Ziele über Leichen geht.
So hatte er auch den Termin mit Bedacht gewählt und meine Abwesenheit einkalkuliert. Sein Glück auch. Bloß woher wusste er, dass ich hier beschäftigt war? Mir wurde von den verantwortlichen Stellen Diskretion zugesichert und dieser Kerl war der Letzte, der davon erfahren durfte! Und überhaupt – warum ausgerechnet er? Es gab genügend Anwälte, die sich mit einer solchen Sache befassen konnten. Vor allem aber - warum wurde ich plötzlich das Gefühl nicht los, dass mehr dahinter steckte?
Was sollte jetzt werden? Ich konnte doch unmöglich die Karten auf den Tisch legen, nachdem ich Halime bereits eine gute Woche beherbergte? Wie stünde ich dann da? Es musste eine andere Lösung her.
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