Читать книгу Roter Affe - Káska Bryla - Страница 9

2.

Оглавление

Am Boden waren Holzdielen, trotzdem froren Manias Füße. Sie hörte nicht auf, durch das Zimmer zu laufen, kreuz und quer um den schlafenden Zahit herum, sprang neben ihm hoch, ohne dass er sich regte. Etwas piekte sie. Reflexhaft hob sie das Bein und hielt den Fuß fest. Sie hatte sich einen Schiefer eingetreten und sah verwundert nach unten: zwei Dielen, die nicht ineinandergriffen, sodass sich ein kleiner Spalt ergab. Humpelnd holte Mania aus der Küche ein Messer und schabte damit in dem Spalt. Sie hebelte das kürzere Holzbrett heraus, darunter lag in einer durchsichtigen Plastikhülle ein Elefant aus Stein, der auf ein Mahagoni-Holzbrett montiert war. Etwas war in die Unterseite des Brettes geritzt. Angestrengt versuchte sie, es in der Dunkelheit zu entziffern. Sie erinnerte sich, dass behauptet wurde, man könne im Traum nicht lesen. Das spornte sie an, aber sie scheiterte. Frustriert zog sie sich stattdessen den Schiefer aus dem Fuß. Das kleine Stückchen Holz lag vor ihr, bewegte sich, verwandelte sich, wurde größer, verfärbte sich, bis ein kleines rotes Äffchen daraus geworden war und vor ihr herumsprang. »Wer bist du?«, fragte Mania interessiert.

»Ein roter Affe.«

»Das sehe ich.«

»Warum fragst du dann?«

Ein lautes Bellen löste den Traum auf. Verwirrt sah Mania sich um. Sue saß neben ihr auf dem Boden, und Zahit blinzelte sie halb schlafend vom Esstisch aus an. Es war Tag. Vor der Hündin lag ihre Leine. »Ich gehe kurz mit ihr raus«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Zahit, aber dieser schloss daraufhin wieder beruhigt die Augen.

Eine heiße Sommersonne schlug ihr vor dem Haustor ins Gesicht. Sue lief voraus. Als sie vor der eingezäunten Hundezone standen, zögerten beide. Es roch nach frischem Hundekot. Sue scharrte widerwillig mit den Vorderpfoten auf dem Boden und gab Mania zu verstehen, dass sie unter keinen Umständen gedachte, auf diesem stinkenden Stück Erde ihre Notdurft zu verrichten. »Ja«, antwortete Mania. »Würde ich auch nicht. Komm, wir fahren die zwei Stationen zum Wienerberg.« Die Hündin wedelte mit dem Schwanz.

Das Smartphone zeigte 15 Uhr, eine unübersichtliche Anzahl von SMS, Telegram- und Signal-Nachrichten verbrauchten den übrigen Screenplatz. Sie löschte eine nach der anderen, bis auf zwei, die von einer unbekannten Nummer geschickt worden waren und sie zu einem geheimen Telegram-Chat einluden. Ruth, natürlich, dachte sie. Erleichtert öffnete sie den Chat.

»Du bist in Wien? Wie kommt es? Sehen wir uns?«, und »Soll ich die Einträge löschen?« Die Wolken über dem Wienerberg hingen so tief, dass ihr vorkam, als würde der Himmel gleich aufbrechen, und sie merkte verwundert, dass sie Angst hatte. Sie hatte tatsächlich Angst. »Melde mich später«, schrieb sie zurück, und: »Ja.« Dann schaltete sie geistesabwesend das Smartphone auf lautlos.

Zielstrebig galoppierte Sue den Hügel hinunter, dem Wasser entgegen. Mania hatte es früher vor dem Wienerbergsee geekelt. Aber heute, als sie Sue zur Mitte schwimmen sah, konnte sie nicht widerstehen. Sie zog das Gummiband aus ihrem Haar und band sich einen frischen Pferdeschwanz. T-Shirt und Rock legte sie sorgfältig unter die Sandalen. Sue schwamm ihr entgegen und biss dabei in das aufspritzende Wasser. »Ich komm ja schon«, antwortete Mania.

Sie tauchte und beobachtete von unten, wie Sue um die Stelle kreiste, an der Mania abgetaucht war. Belustigt stellte sie sich vor, wie sie an Sue heranschwamm und der Hündin den Bauch streichelte. Stattdessen kam ihr plötzlich Sues dicke schwarze Nase unter Wasser entgegen. Schockiert fasste Mania nach der Pfote der Hündin. Dann stoben beide zügig nach oben und schwammen um die Wette zum Ufer zurück. Sue gewann. »Wahnsinn!«, sagte sie zu Sue. »Du kannst tauchen.« Die Hündin schleckte sich das nasse Fell ab.

Wann hatte Sue tauchen gelernt? Mania konnte es sich nicht erklären und Tomek hatte ihr nicht davon erzählt. Davon gehört hatte sie schon. Besonders Labradore und Golden Retriever waren dank ihrer Liebe zum Wasser und ihren Schwimmhäuten prädestiniert. Trotzdem kam es selten vor. In den ersten vier Hundejahren, die Sue bei Mania gelebt hatte, konnte sie nicht tauchen. Jemand hatte es ihr beigebracht.

Mania stellte sich vor, wie Tomek dieser sturen, frechen Alphahündin das Tauchen beibrachte: »Na komm, Sue, komm. Mir hinterher. Komm, du kannst das. Du bist ein Labrador!«

Bemüht, aber in Gedanken bei einer Reportage oder einem noch zu führenden Interview. Dazu Sues Ausdruck, der in ein ausgedehntes Gähnen mündet. Unmöglich. Tomek fehlte diesbezüglich der Ehrgeiz.

Jemand anderes hatte mit Sue trainiert, sie wahrscheinlich mit Unmengen von Hundekeksen bestochen. Jemand, der Zeit dafür hatte und den Sue mochte, sonst hätte es trotz der Kekse nicht geklappt. Zahit? Nein.

Widerwillig dachte Mania an Marina. Sie ergänzte Tomeks Beschreibung der »sehr kleinen, dünnen Frau« um kurze dunkle Haare, die ihr in Locken ins Gesicht hingen. Ihre Augenfarbe war grün, die Augen mit Kajal umrandet und Wimperntusche verstärkt. Eine wohlgeformte Nase, hervorstehende Backenknochen und schmale Lippen, auf denen kein Lippenstift, sondern nur Lipgloss glänzte. Schmale Lippen brauche man nicht zu betonen, sagte Manias Mutter immer.

Marinas Hände hingegen waren überproportional groß und die Finger muskulös wie die einer Handwerkerin. Abgekaute Nägel und eingerissene Nagelbetten. In Manias Vorstellung trug Marina dunkelblaue Jeans, einen schwarzen Angora-Pullover mit tiefem V-Ausschnitt und schwarze Stiefeletten. Sie war jemand, die einem nur auffiel, wenn man einen Moment länger hinsah. Dann brannten sich ihre Augen unter die Haut.

»Als hätte der Wind ein Band zwischen uns geknüpft«, sprach Mania laut und abschätzig aus. »Was für ein Schrott! Wer soll ihm denn diesen Quatsch abnehmen?« Sue neigte den Kopf zur Seite und stellte die Ohren auf.

Früher hatten Tomek und Mania bei stärkerem Wind sofort ihre Drachen gepackt und waren losgerannt. Wie konnte er plötzlich Angst vor Wind haben?

Mania und Sue liefen zu Fuß zurück. Langsam kam Leben in die Gassen und Straßen von Favoriten. Der Arbeitstag ging zu Ende. Die Haltestellen, zuvor vereinsamte Schilder in einer Betonwüste, quollen über vor schreienden Kindern und den dazugehörigen Müttern mit und ohne Kopftücher. Etwas abseits standen die Männer, braungebrannt, mit Bierdosen in der Hand, manche von ihnen ohne T-Shirt. Ihr Schweißgeruch verstopfte Mania im Vorbeigehen die Nase.

»Hey!«, hörte Mania und schrak auf. »Ihr Hund hat meine Pizzaschnitte geklaut!« Verwirrt suchte sie mit Blicken nach Sue und entdeckte das Tier kauend hinter einem Busch. »Sorry«, antwortete sie dem Teenie, der halb zornig, halb belustigt mit seinem leeren Pappteller vor ihr stand. »Ich ersetze sie dir«, beteuerte Mania, bevor sie merkte, dass in ihrer Rocktasche nur das Smartphone lag. »Eine Tschick wär auch okay«, meinte der Junge frech, und Mania hätte sie ihm gerne gegeben, musste aber erneut den Kopf schütteln. »Und ein Kaffee? Ich lad dich ein.« Jetzt erst begriff sie, dass sie angemacht wurde, und unterdrückte ein Lachen. »Leider«, antwortete sie ernst, »ich habe einen Freund.« Er zuckte mit den Schultern und warf den Pappteller auf die Straße. Einen Augenblick sah sie dem Jungen nach, wie er breitbeinig, betont gelassen über die Tramgleise davonschritt.

»Das hat dir also niemand abgewöhnt?« Mania zog Sue die Reste der Pizzaschnitte aus dem Maul und leinte die Hündin an. Auf den letzten Metern erinnerte sie sich an Zahit. Zwanzig verpasste Anrufe. Nervös sperrte sie das Tor auf und lief schuldbewusst die Treppe hoch. Schon im Mezzanin hörte sie Schreie und den Lärm von Gegenständen, die gegen Wände prallten. Tomeks Nachbarin stand im Gang. »Zum Glück sind Sie hier. Das geht schon eine halbe Stunde so. Erst der Köter und jetzt!« Mania leinte Sue ab. »Wo der Herr Tomek doch immer so ein ruhiger, freundlicher –«, beteuerte die Nachbarin. »Obwohl man von den Polen ja anderes gewohnt ist.« Sie schien zu überlegen. »Was da am Südbahnhof immer rumlungert. Na, jetzt am Hauptbahnhof. Die ganzen Syrer …« Ein Krachen aus Tomeks Wohnung unterbrach die Nachbarin in ihren Ausführungen und Mania in ihren Vorstellungen, die Nachbarin zu erschlagen. »Ich kümmere mich darum«, sagte sie höflich. »Gehen Sie ruhig wieder rein.« Währenddessen wickelte Mania Sues Leine um ihre rechte Hand. Der Gesichtsausdruck der Nachbarin versteinerte, und im nächsten Moment verschwand sie in ihrer Wohnung. Mania sammelte sich. In der JVA drehten ständig Typen durch. Viele kamen mit dem Eingesperrtsein nicht klar. An manchen Arbeitstagen hatte es selbst ihr beim Anblick der Zwischengitter die Luft abgeschnürt.

Aus einem Reflex heraus hatte sie beim Weggehen die Wohnungstür hinter sich zugesperrt. Es braucht drei ausgebildete Wärter, um einen tobenden Gefangenen zu fixieren. Mania war allein. Zahit war so groß wie sie, wirkte aber nicht sehr stark. Trotzdem hatte er einen Krieg erlebt und sie nicht.

Leise schob sie den Schlüssel ins Schloss und zog die Tür auf. Natürlich stürmte Sue an ihr vorbei, und gleich darauf hörte Mania die Hündin aufjaulen. Er musste sie getreten haben.

Zahit stand in der Mitte des Zimmers und hielt ein Buch in der Hand, mit dem er bei Manias Anblick sofort auf sie zielte. Mania wich aus. Das Buch prallte gegen die Wand. Sein Blick war eng, verschlossen, voller Hass, und hätte er zuvor nicht Sue getreten, wäre Mania zurückgewichen. So war ihre eigene Wut stark genug. Er rang nach Luft, wollte etwas sagen, kam stattdessen schnellen Schrittes auf sie zu. Noch bevor er sie erreicht hatte, stieß ihm Mania die Faust in den Bauch, und er sackte in die Knie. Sie wartete einen Moment, ob er von selbst wieder Luft bekam. Dann drückte sie einen Akupressurpunkt zwischen seinen Schulterblättern. Er röchelte und sank schließlich ganz in sich zusammen. Erleichtert ließ Mania ihn liegen und ging zu Tomeks Bücherregal.

Über ihren Nacken lief Schweiß die Wirbelsäule hinunter. Am liebsten hätte sie die Hündin gepackt und die Wohnung verlassen. Stattdessen zog sie ein Buch nach dem anderen aus dem Regal und blätterte es durch. Sues Leine hatte sie auf den Tisch gelegt.

»Was suchst du?«, flüsterte Zahit, ohne sich zu bewegen. »Gras«, antwortete Mania ebenso leise und klappte »Die unendliche Geschichte« auf. Zufrieden holte sie eine Plastiktüte aus dem Buch. »Hier haben wir es.«

»Absurd«, murmelte sie.

Zahit runzelte die Stirn. »Warum?«, fragte er und setzte sich auf.

»Weil das Gras in der ›Unendlichen Geschichte‹ liegt. Das Buch, das Tomek und Marina angeblich einmal im Jahr gemeinsam gelesen haben.«

»Ach so«, ergänzte Zahit lau und beobachtete, wie sie gekonnt einen Joint baute. »Du wirkst nicht wie eine Kifferin.« Mania sah belustigt zu ihm hinüber. »Du drehst den Joint wegen mir«, stellte er fest.

Mania zündete den Joint an und reichte ihn Zahit. Kommentarlos holte sie dann aus der Abstellkammer einen Besen und drückte ihn ebenfalls Zahit in die Hand.

»Bevor sich Sue eine Scherbe eintritt.« Die Hündin lag zitternd in ihrem Körbchen. »Ist ja gut, kleine Maus.« Mania kniete sich zu ihr und kraulte sie. »Ist ja gut. Er wird es nicht wieder tun.« Das Gras brannte in ihrer Lunge. Die Hündin kroch aus dem Korb und legte den Kopf auf Manias Knie, wobei sie Zahit nicht aus den Augen ließ. Er kehrte Bücher und Scherben zu einem Haufen in der Mitte des Zimmers zusammen.

»Was ist passiert?«, fragte Mania nach einer Weile. Zahit zuckte mit den Schultern.

»Du warst weg. Sue war weg. Alle waren weg. Die Tür war abgeschlossen.« Müde blickte er um sich. »Ich hab dich angerufen. Immer wieder. Nichts. Da dachte ich … Dass alles nie passiert ist.« Er gab ihr den Joint zurück.

»Dass was nie passiert ist?«, fragte sie nach.

»Du und Sue. Dass ich mir alles nur eingebildet habe.« Seine Stimme klang gereizt. »Ich wusste nicht mehr, wo ich bin. Ob es Tomek je gegeben hat. Ob die Gegenstände in dieser Wohnung wirklich existieren.«

»Seit ich hier bin, habe ich keine Kirchenglocken gehört.« Verständnislos sah Zahit sie an. Mania verdrehte die Augen. »Der Beginn von Tomeks Text: Heute ist der 27. Juni 2016. Eben schlugen die Kirchenglocken vier Mal, es ist 16 Uhr. Verstehst du?« Er sagte nichts.

Sie ging das Regal entlang, streifte über die Buchrücken und schob die Bücher dabei so tief wie möglich nach hinten. Warum hatte Tomek die Kirchenglocken erwähnt, obwohl es hier in der Nähe keine Kirche gab? Die Datumsangabe suggerierte einen Willen zur Präzision. 27. Juni 2016. Wozu die gefälschten Kirchenglocken? Was war wahr und was erfunden?

Eines der Bücher aus der Science-Fiction-Abteilung wehrte sich. Verwundert nahm sie es heraus, griff tiefer in das Regal und ertastete einen Ledereinband. Das mussten sie sein, weitere Berichte, Aufzeichnungen.

»Hast du etwas gefunden?«, fragte Zahit, ohne dabei aufzusehen. Er durchwühlte die Schubladen von Tomeks Schreibtisch. »Nein, du?«, log Mania und stellte Marlen Haushofers »Die Wand« zurück ins Regal. Erst sollte Zahit gehen. Sie wollte alleine sein, wenn sie Tomeks Eintragungen las.

»Ein Notebook!« Er hielt das Gerät triumphierend hoch. »Das ist gut«, sagte Mania und erkannte aus dem Augenwinkel das alte Think Pad, das Tomek mit Sicherheit schon seit Jahren nicht mehr benutzt hatte.

»Was hast du probiert?«, fragte sie.

»Marina.«

Mania lächelte.

»Das ist selbst für Tomek zu einfach«, entgegnete sie. »Ich werde es zu einer Freundin bringen«, log sie. Das Notebook war nutzlos. Zahit klappte es zu und legte es auf den Tisch.

»Und jetzt?«, fragte Zahit. Mania drehte sich eine Zigarette.

»Ich brauche ein wenig Zeit«, erklärte sie, aber Zahit schien es nicht zu verstehen, machte es sich auf der Couch bequem. »Ein wenig Zeit alleine«, präzisierte Mania. »Später gehe ich zu einer Freundin. Sie wird uns weiterhelfen.«

Roter Affe

Подняться наверх