Читать книгу Der Mann, der sich selbst überholte - Kurt-Achim Köweker - Страница 4

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Vera hatte sich einen Wunsch erfüllt und sich zu Weihnachten ein Smartphone geschenkt. Sie lebte wieder allein und spürte verstärkt das Bedürfnis, sich ihren Freunden und Bekannten mitzuteilen – denen, die um sie waren, und denen, die sie bisher nur per SMS mit ihrem alten Handy hatte erreichen können. Bekannte hatten ihr von 'WhatsApp' vorgeschwärmt und den unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten, die ein Smartphone eröffne, sofern man es denn beherrsche. Es zu beherrschen, sei keine große Sache, behaupteten die jüngeren Freundinnen. Mari war dreiundsechzig und mit ihrer Beherrschung in Sachen Smartphone war es bald vorbei. Mit Hilfe der Kurzanleitung war es ihr zwar gelungen, das Gerät in Gang zu setzen, das war aber auch alles. Sie war im Media-Markt vorstellig geworden, hatte ihr charmantes Lächeln aufgesetzt und um Hilfe gebeten. Der Verkäufer musste vor dem Ausmaß ihrer Ahnungslosigkeit zurück geschreckt sein; auch ihr bittender Blick verführte ihn nicht zu endlosen Erklärungsversuchen. Immerhin ließ er sich herab, ihr aus dem Internet das entsprechende 120-seitige Handbuch auszudrucken: Damit werde sie zurecht kommen, sofern sie Geduld habe. Genau das hatte sie nicht. Und nun? Sie wollte auf keinen Fall ihren Freundinnen eingestehen müssen, dass sie mit ihrem neuen Telefon nicht zu Rande kam. Also konnte nur noch Tango helfen, beziehungsweise der Ex-Freund Gernot, der IT-Spezialist und Tango-Liebhaber.

Wenn Gernot am Wochenende nicht zuhause vor seinem Computer saß, traf er sich zum Tanzen mit seinen Tango-Freunden in einer Lounge in Bahnhofsnähe. Wer Zeit und Lust hatte, erschien, suchte sich einen Partner oder eine Partnerin und legte los. Vera hatte Gernot dort vor Jahren kennengelernt, die beiden waren ein elegantes Tanzpaar gewesen; als er die Partnerschaft auch auf das Bett hatte ausdehnen wollen, hatte sie nein gesagt. Jetzt war sie wieder da und reichte ihm die Hand. „Keiner tanzt wie du“, seufzte sie, „ich hätte dich schon längst angerufen, aber mein neues Smartphone … ich komme damit noch nicht ganz zurecht!“ Da könne er helfen, erbot er sich erfreut. Nach drei nachmittäglichen Tee- und Nachhilfestunden hatte er sie in großen Zügen mit ihrem neuen Telefon vertraut gemacht - und zu ahnen begonnen, dass Veras Leidenschaft nicht ihm, sondern nur dem Smartphone und dem Tango galt. Als er sie Tage später telefonisch zur Rede stellen wollte, drückte sie seinen Anruf einfach weg; so viel hatte sie schon bei ihm gelernt. - Sie nehme sich, was sie kriegen könne, und gebe selber nichts zurück, sms-ste Gernot ihr ernüchtert. - Was ihn betreffe, stimme das wohl, appte sie zurück und hängte ein Selfie an: Vera kokett mit Kussmund vor einem Spiegel mit dem Smartphone in der Hand. - „Du bist ein raffiniertes Luder!“, schrieb er zurück. Und sie: „Ja, das bin ich App und zu – aber nur dank deiner Anleitung.“

Das so genannte Luder war eine Frau in den besten Jahren, arbeitete als OP-Schwester in der Medizinischen Hochschule, war seit Jahrzehnten geschieden, bewohnte am Maschsee eine schicke Dreizimmer-Wohnung und hielt eine enge Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern. Sie war inzwischen Oma geworden und konnte sich Fotos ihrer Enkelkinder ab jetzt auf ihr Smartphone schicken lassen, um sie stolz ihren Freundinnen zu zeigen, wenn man sich zum Essen und Reden traf. Das geschah einmal im Monat und im Wechsel dazu wurden die Aufgaben verteilt: Eine war für die Getränke zuständig, eine zweite für die Vorspeise, die dritte für das Hauptgericht, die vierte für das Dessert. So wanderten sie monatlich von Freundin zu Freundin und verbrachten lange Abende bei vorzüglichem Essen und Trinken.

Vera war vor einem knappen Jahr in diesen Kreis geraten, weil sie Ulrike beim Tennis kennengelernt hatte. Und mit ihr Beate und Edelgard. Seit einem Jahr war sie jetzt mit ihnen befreundet und wurde geschätzt für ihre Fröhlichkeit und die munteren Gesichten, die sie zu erzählen wusste. Und da sie gern aß und trank, schien sie perfekt zu ihnen zu passen. Nur beim Organisieren des gemeinsamen Essens gab es des öfteren Probleme mit ihr, und stets hatte sie neue Entschuldigungen parat. Mal hatte sie keine Zeit gehabt, ausreichend Getränke einzukaufen. Mal kam sie ohne die verabredete Vorspeise: „Ich esse zur Zeit mittags ein Joghurt und abends nur etwas Leichtes und muss natürlich auf Vorspeisen völlig verzichten. Ich habe zwar ein tolles Rezept, aber wenn ich jetzt in meiner Situation kochte, wäre ich ja kariert im Kopf!“ Dennoch verspeiste sie Hauptgericht und Dessert mit gesundem Appetit. „Man muss auch mal über seinen Schatten springen können!“, erklärte sie ihr Verhalten. Als man sich bei ihr treffen und sie für das Hauptgericht zuständig sein sollte, hatte sie vorher ihre Freundinnen angerufen: „Ich koche Nudeln, bringt ihr bitte die Soßen dazu mit!“

Allmählich begannen die Freundinnen über Vera die Nasen zu rümpfen. Sie sei geizig, vermuteten die einen; sie sei zu faul, sich an den Herd zu stellen, argwöhnten die anderen. Ein weiterer Grund war nicht vorstellbar. Man lasse sich auf jeden Fall nicht von ihr ausnützen - so nett sie auch sei, lautete der abschließende Befund; man wolle ihr aber noch eine Chance geben.

Die Chance gab es Mitte Januar. Sie trafen sich bei Ulrike, die von allen über die geräumigste Küche verfügte. Diesmal sollte gemeinsam „live“ gekocht werden. Ulrike hatte die verschiedenen Rezepte ihrer Freundinnen zu einer Einkaufsliste gebündelt und am Vormittag in der Markthalle eingekauft. Die Ausgaben wurden durch vier geteilt. Nun konnte es losgehen.

Unter großem Hallo wurden die ersten Cocktails gemixt und getrunken, dann drängten sich Ulrike, Beate und Edelgard in die Küche. Nur Vera hielt sich im Hintergrund: „Ihr könnt ja schon mal anfangen; ich muss noch eben erst meine mails checken“, rief sie und zog sich mit ihrem Glas ins Wohnzimmer zurück, „ich komme gleich nach!“ 'Gleich' ist ein dehnbarer Begriff, Vera dehnte ihn, bis Beate ungeduldig wurde: „Kommst du nun? Ich habe schon mit deinem Mousse au chocolat angefangen!“ - „Mach ruhig weiter“, sagte Vera und zeigte ihnen Fotos auf ihrem Smartphone, „die Bilder sind gerade von Hawai gekommen, meine Tochter macht dort Urlaub. Und das ist meine Enkeltochter … oh, der Akku ist leer. Und ich muss ihr noch antworten! Leiht mir mir jemand sein Aufladegerät? Ich will doch meiner Tochter ein Foto von unserem Essen schicken!“ - „Nein“, sagte Beate. „Nein“, sagte Edelgard. „Nein!“, sagte Ulrike . „Scheiße“, sagte Vera, „und jetzt?“ - „Jetzt ist Schluss mit Telefon! Jetzt wird gekocht. Und zwar gemeinsam!“, tönte es im Frauenchor.

„Ich muss euch etwas gestehen“, begann Vera kleinlaut und nahm wie zur Probe einen Kochlöffel in die Hand, „ich kann nicht kochen. Die Küche ist für mich so ein unwirtlicher Ort wie der Mond. Ich habe nur schaurige Erinnerungen daran. Ich kann Dosen öffnen und Eier kochen, der Rest ist Supermarkt. Jetzt wisst ihr's. Was habe ich nicht alles angestellt, um es vor euch geheim zu halten. Ich habe mich so geschämt in eurem Kreis. Jetzt bin ich froh, dass es heraus ist.“ Sie legte den Kochlöffel erleichtert zurück.

Wie sie denn Mann und Kinder durchgebracht habe, wollte man wissen. - Ihr Mann habe ausgezeichnet kochen können, für ihre Kochkünste jedoch nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Das habe sie derart frustriert, dass sie das kreative Kochen schon bald aufgegeben habe. „Die Kinder mussten ja essen, was auf den Tisch kam, mein Mann nicht; wahrscheinlich ist er deshalb eines Tages davon gelaufen - wenn Liebe durch den Magen geht, musste er ja denken, ich liebe ihn nicht.“

„Ja, wenn das so ist …!“ Die Freundinnen lachten. „Die Frau von morgen kocht ohnehin nicht mehr; sie lässt kochen und braucht ihre Zeit, um sich für die Vorstandsetagen der Männer coachen zu lassen. Nur wir Vintage-Frauen greifen noch zum Kochlöffel.“ - „Jetzt kannst du natürlich mein Aufladegerät bekommen, ich besitze das gleiche Smartphone wie du.“ Ulrike kramte das Gerät hervor, Vera schloss es an. „Wir helfen dir bei der Zubereitung des Nachtischs, wenn du willst! Komm versuch's mal!“ - „Gleich“, rief Vera und nahm ihr Smartphone am Kabel in die Hand, „ich will nur erst ein Foto von euch beim Kochen machen, danach gern ... Und außerdem habe ich für alle Fälle noch vier Portionen servierfertiges Mousse au chocolat in der Kühltasche. Und jetzt bitte – lächeln!“

Der Mann, der sich selbst überholte

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