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KELTENRÄTSEL am GNEPFSTEIN

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Der Pilatus hatte sich in den letzten Tagen deutlich bemerkbar gemacht und sogar die Hektik der letzten Wochen in den Hintergrund gedrängt.

Tony war gar nichts anderes übrig geblieben, als sich von seinem städtischen Leben loszureissen, um in die Berge zu verschwinden. Er hatte sich für die ‚Feldalp‘ entschieden, die auf der Seite des Hausbergs lag, die der Stadt Luzern abgewannt ist und in diesen aussergewöhnlich schönen Hochsommertagen eine grandiose Sicht auf das Alpenpanorama bot. Von hier konnte man neben unzähligen anderen Gipfeln auch die schneebedeckten Eiger und Mönch sehen und von den drei eindrücklichen Viertausendern der Berner Alpen fehlte einzig die Jungfrau, die im Sichtschatten der zwei Bergriesen stand. Dafür zeigte sich etwas weiter im Westen der Titlisgletscher, dessen weisse Flanke von der bald untergehenden Sonne und dem tiefblauen Himmel beschienen wurde. Dieser Ausblick, die körperliche Anstrengung des Aufstiegs und die kühltrockene Luft auf 1‘700 Metern über Meer halfen ihm, sein Alltagsleben mit dem nötigem Abstand zu betrachten und Tony war froh, dass er sich für diese Wanderung entschieden hatte.

Die Feldalp wurde in diesem Sommer von Andreas bewirtschaftet. Zusammen mit 162 Rindern, Kälbern und drei Ziegen und natürlich mit Mani, seinem treuen Border-Collie Hirtenhund lebte er für die Sommermonate hier oben und ‚Rees‘, wie der Älpler genannt werden wollte, war in diesem Frühling dreissig Jahre alt geworden. Er kam aus dem Muotathal im Kanton Schwyz, wo seine Familie einen Bauernbetrieb führte und er war ein eher kleiner, aber zäher und kräftiger Bursche mit blonden Locken und blauen Augen. Wenn man ihm aufmerksam zuhörte, hatte man manchmal den Eindruck, dass die Feldalp, die zwischen den Kantonen Luzern und Obwalden liegt, für ihn schon fast zum Ausland gehörte, obwohl Rees sonst sehr weltoffen war und man mit ihm über fast alles diskutieren konnte.

Tony Troll war dieses Jahr schon zum zweiten Mal bei ihm zu Gast.

Eigentlich hiess er Tony Trollhauser, aber man nannte ihn allgemein nur Tony Troll. Das war kürzer und passte besser zu ihm, denn Tony Troll hatte seinen Namen geprägt. Oder der Name hatte in geprägt – wer wusste das schon so genau. Auf dem Pilatus war das sowieso nicht von Bedeutung und er hatte sich bei Rees nur mit Tony vorgestellt. Das reichte hier oben, denn alles andere würde sich zeigen.

Als er am Nachmittag angekommen war, sass der Älpler gerade am grossen Holztisch seiner Hütte vor einem Sonntagskaffee, das untrüglich nach Schnaps duftete und diskutierte mit einem Bauern aus dem Unterland. Der hatte heute seine Rinder besucht, die er Rees für die Sommermonate anvertraut hatte und zu dem heiklen Gesprächsthema, über das die zwei verhandelten, versuchte Rees mit Hilfe von drei Schweizer Sackmessern, die vor ihm auf dem Tisch lagen, einen Spiessen aus seinem Daumen zu entfernen. Tony setzte sich zu den zwei Landwirten und Rees fragte ihn, ob er etwas Spitzes bei sich habe, weil er mit den Sackmessern keinen Erfolg bei seiner Handkosmetik hatte. Dazu schaute er Tony forschend in die Augen.

„Nein,“ antwortete Tony mit einem Blick auf die Klingen, „ich habe nicht einmal ein Sackmesser dabei.“

„Dann ist ja gut,“ antwortete der Älpler und bot ihm einen Kaffee an, denn er konnte sich gut an Tony erinnern, obwohl ihm sein Name nicht sofort eingefallen war. Aber das lag womöglich auch am Nachmittagskaffee, denn weil heute Sonntag war, standen auf dem Tisch zusätzlich vier verschiedene Flaschen mit Schnaps. Tony konnte auf den Etiketten lesen, dass es sich bei drei Flaschen um ,Chrüter‘, Zwetschgenwasser und Zuger Kirsch handelte. Die vierte Flasche war nicht beschriftet, denn sie enthielt etwas Selbstgebranntes, das trotz der glasklaren Flüssigkeit gefährlich aussah.

„Vom Wasser kannst du dich selber bedienen“, ergänzte Rees grinsend. Der Bauer aus dem Unterland und der Älpler waren beim Thema Selbstmord hängen geblieben und Tony hörte nur mit einem Ohr hin. Er konnte gut verstehen, dass ein Mann der vier Monate alleine hier oben lebte, über das Thema Tod nachdachte. Zusätzlich war in diesen Tagen ein Wanderer nicht weit von hier tödlich abgestürzt und bei Tonys letztem Besuch war in der Nacht ein Gewitter über die Alp gefegt, das nicht nur bei Rees und Tony in Erinnerung bleiben würde. Nicht wegen dem Gewitter, obwohl es sehr heftig gewesen war und erstaunlicherweise noch am Abend vorher und auch am nächsten Morgen wolkenlose Fernsicht herrschten. Zur bleibenden Erinnerung und zum allgemeinen Gesprächsthema war vor allem ein junger Vater mit seiner neunjährigen Tochter geworden, die mitten in der Nacht aufgetaucht waren, weil sie vor dem Unwetter flüchten mussten, das genau über die Bergkuppe mit ihrem kleinen Zelt gezogen war. Die zwei hatten auf dem nahen ‚Mittaggüpfi‘ campiert, weil sie dieser Berg mit seinem 360°-Panorama und den weitläufigen Heidelbeersträuchern mit ihren süssreifen, blaufärbenden Beeren dazu eingeladen hatte. Um drei Uhr nachts war dann das unerwartete Gewitter niedergegangen und Tony hatte ihre Taschenlampen, deren Leuchtkegel den Berghang hinuntergeirrt waren, sofort entdeckt.

Er hatte sich zuerst über die komischen Blitze gewundert, als er schlaftrunken von der Toilette zurückkam und noch mehr wunderte er sich, als er einen erwachsenen Mann und ein kleines Mädchen als Urheber der Irrlichter ausmachte. Sie waren mitten durch das Blitzen und Donnern direkt auf die Alphütte zumarschiert und froh, als Tony sie ins Trockene einlud. Auch Rees war vom Gewitter oder von der allgemeinen Unruhe aufgewacht und hatte die Einladung Tonys natürlich bestätigt. Er hatte genug freie Matratzen für Alp-Gäste und es war eine Selbstverständlichkeit, dass der durchnässte Vater und seine kleinen Tochter hier bleiben konnten. Für Erklärungen war dann Morgen noch genug Zeit und sie hatten sich alle in ihre warmen Schlafsäcke und unter Militärdecken gekuschelt und dem Gewitter zugehört.

‚Das Mitaggüpfi,‘ hatte Tony beim Einschlafen noch gedacht, und: ‚Das hätte ich dir sagen können, das du beim Gnepfstein oben nicht Zelten solltest.‘

Rees dachte vielleicht dasselbe – vielleicht auch nicht. Bestimmt dachte er aber daran, dass er zum Abschluss des Tages, und wie jeden Abend, den Alp-Segen über seine Alp gerufen hatte und dass es wiedermal geholfen hatte. Wie fast immer. Und wie fast immer, dachte er natürlich an seine Tiere, die draussen dem Regen trotzend im Gewitter standen. Aber so war das hier oben: ‚Morädänn‘, flüsterte Rees und schlief erst ein, als das Blitzen und Donnern endlich nachliess, denn er war ein pflichtbewusster und guter Älpler.

Am nächsten Morgen hatte Tony den Vater und seine Tochter zur Postautostation begleitet und dafür auf den Umweg übers Mittaggüpfi verzichtet. Das Mädchen hatte noch beim Frühstück über Übelkeit geklagt, aber sie war ein tapferes Kind. Ihr Vater, ein IT-Spezialist, der nach eigenen Angaben auch Computerprogramme für Öko-Betriebe schrieb, war froh, dass Tony sie begleitete und er schien eigentlich ganz in Ordnung zu sein. Vater und Tochter waren nicht aus der Gegend und sie wussten nicht viel über den Pilatus. Jedenfalls nicht mehr, als man als Schweizer über diesen Berg wissen musste und schon in der Schule gelernt hatte. Übers Mittaggüpfi wussten sie erst recht nicht viel. Wie die meisten Schweizer auch nicht und Tony wollte sie nicht erschrecken mit der keltischen Vorgeschichte des Gnepfsteins, die in den hiesigen Schulbüchern nur am Rand oder gar nicht erwähnt wird.

Die Geheimnisse um die sagenumwobene Vergangenheit und das dazu passende nächtliche Gewitterspektakel, das er zum Glück aus der trockenen Alphütte geniessen konnte, waren genug Gründe für Tony Troll, sich vorzunehmen wieder hierher zurück zu kommen. Allerdings wollte er dann die zusätzliche, kurze Wanderung zum Mittagsgüpfi unbedingt auf sich nehmen.

Seit dem Gewitterabenteuer waren fast drei Monate vergangen. Tony war zurück am Mittaggüpfi und er hatte auch Rees nochmal angetroffen, dessen Alpsommer in wenigen Wochen zu Ende gehen würde. Inzwischen war es Abend und der Bauer, der seine Rinder besucht hatte, war ins Unterland zurückgekehrt. Tony hatte Spaghetti mit einer einfachen Tomatensauce gekocht und nachdem Rees seine Tiere versorgt hatte, assen sie die Pasta am grossen Tisch der Alphütte, der von einigen Kerzen spärlich beleuchtet wurde und lernten sich besser kennen. Rees zeigte Tony gerade das neuste Video einer grossen, bürgerlichen Landespartei, das er ihm auf seinem Handy vorführte. Tony bemerkte die forschenden Blicke, die Rees ihm heimlich zuwarf, ging aber nicht darauf ein. Erst recht nicht auf das Video und schon gar nicht auf das gefährliche Thema Politik. Er zog es vor, mit Rees über Volksmusik und das ‚Original-Schwyzer-Örgeli‘ zu diskutieren, das dieser nach der Videopräsentation unter dem Tisch hervorzog und auf dem er Tony nach einigen Probetönen vorspielte. Tony konnte gut hören und auch sehen, dass der Älpler auch ein guter Volksmusiker war, der über die Kantonsgrenzen hinaus bekannt war. Rees und Tony kamen aus grundsätzlich verschiedenen politischen Lagern und womöglich auch aus verschiedenen Volksschichten. Aber sie verstanden sich auf einer anderen Ebene, die viel wichtiger war: Auf der Menschlichen. - Dafür brauchten sie nicht viel zu sprechen, aber sie hörten sich zu, wenn einer etwas zu sagen hatte. Auch wenn es um Luchse ging oder gar um Wölfe, von denen auch Mani der Bordercollie abstammte, der in einer Ecke lag und ihre Unterhaltung aufmerksam beobachtete. Rees wollte nichts von wölfischer Abstammung seines Hundes wissen. Aber das war nicht so wichtig. Auch als Rees behauptete, dass es bei ihm zuhause im Muotathal keine Luchse gab, weil man dort die besseren Jäger habe als im Kanton Luzern, mussten beide lachen. Tony glaubte es sowieso nicht und Rees bedauerte das Verschwinden der Luchse womöglich im tiefsten Herzen, obwohl er das nie zugegeben hätte.

Sie liessen sich beide vom jeweils anderen inspirieren: Rees bei seinem Schwyzerörgeli -Spiel und Tony bei seinen Gedankengängen. Tony Troll schrieb Romane und das funktionierte nicht ohne Gedankengänge und schon gar nicht ohne Fantasie und erst recht nicht ohne Musik. Er hatte bei seinem zweiten Besuch ein fertiges Manuskript dabei, dass er sich ausgedruckt hatte, um es hier oben zu überarbeiten. Eigentlich war das eine Sünde. Aber es ging nicht anders, weil Tony seine selbst auferlegten Termine einhalten wollte. Dazu brauchte er die Ruhe der Natur. Oder vielmehr: sein Tinnitus und sein Kopf ganz allgemein, brauchten die Ruhe. Wenn er unterwegs war, schrieb er immerhin von Hand und nicht auf seinem Notebook, das zuhause auf ihn wartete. Computer und Handys taten dem Brummen in seinem Kopf und vielleicht auch seiner Seele nicht gut. Er vermisste sein Notebook jedenfalls keine Sekunde, als er am nächsten Tag und bei schönstem Wetter sein Manuskript auf der Alp-Weide, die etwas oberhalb der Alphütte lag, überarbeitete und während kurzen Zigarettenpausen das Alpenpanorama bewunderte. Sein Blick blieb dabei regelmässig am Mittaggüpfi hängen und wenn dieser Berg nicht gewesen wäre, hätte er womöglich bis in die Nacht hinein weitergearbeitet. Aber diesmal wollte er sich den Keltenkraftort nicht entgehen lassen, denn wer wusste schon, was das Wetter morgen oder schon in der nächsten Nacht bringen würde.

Tony wunderte sich noch, dass er nach den anstrengenden Korrekturarbeiten, die er tagsüber im Blitztempo erledigt hatte, noch über eine so gute Kondition verfügte und war froh, dass er sich für die Kurzwanderung entschieden hatte. Die Ankunft beim mystischen, mit Heidelbeersträuchern überwachsenen Bergrücken mit seinem aufgesetzten Felsdom, der Aussicht in alle Himmelsrichtungen bot, war dann auch unbeschreiblich. Er sass lange auf der aussergewöhnlichen Felsnase, die über die grüne Vegetation des Mittagsgüpfi ragte und bis weit über die Kantonsgrenzen hinaus sichtbar war.

Nach seiner Rückkehr auf die Feldalp kochte Tony eine Fertigsuppe und löffelte sie zusammen mit Rees, bevor der sich mit seinem Schwyzer-Örgeli und mit Mani auf den Weg zur benachbarten Oberalp machte, wo heute die Jäger eingetroffen waren. Morgen ging die Jagdsaison los und das wurde hier oben gefeiert. Für Tony war es eher ein Grund, am nächsten Tag von hier zu verschwinden, obwohl er die Jägerzunft respektierte, denn er war auch Jäger. Nur hatte er andere Ziele. Zudem war er meistens Vegetarier. Ausserdem hatte er Zuhause genug zu tun, denn er war mit seinem Buch auf Kurs und exakt im Zeitplan. Den Rest musste er daheim und mit dem Computer erledigen. Tony ging an diesem Abend früh zu Bett und wachte nur einmal kurz auf, als er hörte, wie sich Mani, der irgendwann in der Nacht zusammen mit Rees zurückgekommen war, neben seinem Schlafsack ins Heu rollte. Vom Älpler, der sich in sein Zimmer zurückzog, hörte er nichts.

Die zwei und auch Tony waren trotzdem frühzeitig wach. Als er beim Morgenessen nach einem „Kässeli“ für die Begleichung der zwei Übernachtungen fragte, winkte Rees ab. Mit der anderen Hand schnitt er sich eine Scheibe vom Käse ab, den Tony heraufgebracht hatte. Dazu studierte Rees die Verpackung, auf der versprochen wurde, dass dieser Käse aus Schweizer Milch hergestellt wurde. Er nickte anerkennend und als er mit dem Frühstück fertig war, begleitete er Tony ein gutes Stück auf seinem Wanderweg, denn er hatte vor, an diesem Tag vier oder fünf Feuer mit unbrauchbaren Ästen zu machen, die er während der Sommermonate gesammelt hatte. Die Jäger hatten anscheinend nichts dagegen und irgendwann musste man das unbrauchbare Buschholz ja abfackeln. Weil es zusätzlich und wie erwartet ein nebliger Morgen war, würde sich niemand an dem dabei entstehenden Rauch stören. Rees und Tony schritten in Richtung der Jägeralp und hatten einen ersten Haufen mit trockenen Ästen schnell erreicht, vor dem sie sich mit einem kräftigen Händedruck trennten.

Auf dem Rückweg erinnerte sich Tony an den IT-Programmierer und seine Tochter, mit denen er den genau gleichen Weg bereits vor drei Monaten gegangen war. Wie bereits damals fragte er sich, wo eigentlich die Mutter der Kleinen war. Obwohl er die Antwort gerne gewusst hätte, hatte Tony diese Frage taktvoll nicht gestellt, als sie das letzte Mal zusammen auf demselben Weg zu der Postautostation gewandert waren. Weil er diesmal alleine an den imposanten und mehrere hundert Meter hohen, senkrechten Felswänden entlang wanderte, konnte er sie auch heute nicht stellen und musste sich während einer kurzen Zigarettenpause mit seiner Fantasie aushelfen.

‚Vielleicht war die Mutter tot? Oder sonst wie nicht vorhanden?‘

Das Mädchen hatte sie mit keiner Silbe erwähnt, was nach dem Gewitterabenteuer und der fluchtartigen Nachtwanderung doch einigermassen verwunderlich war. Erst Recht bei einem neunjährigen Kind. - Aber wie auch immer: Tony entschied, sich die endgültige Antwort für später aufzuheben, denn er war gerade in einer anderen Geschichte und die lag als zweihundert Seiten starkes Manuskript in seinem Rucksack. Zudem spielte dieses Manuskript vorwiegend in Afrika. - Tony löschte vorsorglich die Pausenzigarette und drehte sich noch einmal zu seinem Rastplatz um, bevor er an einem Bach mit mittelgrossen, aber deshalb nicht weniger spektakulären Wasserfällen weiterwanderte.

















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