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SERAFINA UND LENA
ОглавлениеSerafina war im Grenzgebiet zwischen Luzerner Hinter- und Berner Vorderland oder, wem das mehr sagt, zwischen Entlebuch und Emmental unterwegs. Sie wanderte auf einem der Aufstiege des ‚Napf‘ über ein Nagelfluhmassiv, das zwischen 700 und 1‘400 Höhenmetern liegt und eine Felsformation ist, dessen Bergwiesen und Waldhänge dazu bestimmt sind, unaufhörlich auf eben diesem, von Vulkanausbrüchen und Erdverschiebungen gepressten Böllersteingeschiebe talwärts zu rutschen. Meistens ohne gross wahrgenommen zu werden, hin und wieder aber auch unerwartet zerstörerisch - Das konnte Morgen sein oder auch erst in zweihundert Jahren - aber irgendwann ganz sicher. Die Menschen die hier lebten, hatten schon lange gelernt, mit diesen Erdverschiebungen zu leben, denn die Natur produziert hier deutlich sichtbar und ohne Unterlass Nahrung in Form von Humus aber auch Träume in Gestalt von Gold. Dabei entstand eine liebliche und gleichzeitig geheimnisvolle Landschaft, die sich täglich neu gestaltete. Die Bergrutsche lagerten sich zuerst in Felsrinnsalen und Flusskehren, und in mit Goldflimmer durchsetzten, teils meterdicken Sandbänken ab. Die ganz grossen und fetten Goldklumpen, sollen dabei zuunterst zu liegen kommen. Das erzählten jedenfalls die Napfgoldsucher, die daran glaubten und wie man hört, auch immer mal wieder fündig wurden.
Was Serafina inzwischen mit Sicherheit wusste, war die Tatsache, dass in den 1850er Jahren und während der Kartoffelkäferseuche mehr als 20% der Landbevölkerung die urwüchsige Gegend und ihre Heimat verliessen, um nach Amerika auszuwandern. Diese Angaben hatte sie gerade einer Hinweistafel entnommen und auch, dass die Dunkelziffer dieser Flüchtlinge wohl weit höher gewesen war.
Serafina hatte noch keine richtige Pause gemacht und weil sie wenig später fühlte, dass sie dem Ziel der heutigen Tageswanderung nah war, setzte sie sich auf die aus einem Baumstamm gezimmerte Bank vor einem Bauernhaus, das genau im richtigen Moment aus niederziehenden Wolken und Nebelbänken aufgetaucht war. Es war einer der charakteristischen Berner Alpbauernhöfe mit tiefgezogenem Vordach, unter dem man hier oben auch Gäste bediente. Nachdem sie die Kuhglocke betätigt hatte, mit der man nach der Bedienung rief, setzte sie sich wieder und erwartete einen bärtigen Älpler, der sie bewirten würde. Serafina war deshalb erstaunt, als eine junge Frau zu ihr trat und ihren Wunsch nach einem Kaffee ‚Halb-Halb‘ entgegennahm. Als die Frau mit dem dampfenden und nach Zwetschgenwasser riechenden Getränk wieder auftauchte, war Serafina allerdings nicht mehr so sicher, was das Alter der Frau betraf. Die Älplerin servierte ihr den Kaffee mit einem freundlichen Lächeln ihrer grünleuchtenden Augen und verschwand danach mit schlanken Schritten in den zweiten Stock des Bauernhauses. Serafina nahm einen tiefen Schluck aus dem Kaffeeglas und als ihr der Alkohol des Getränks Körper und Sinne tüchtig aufgeheizt hatte, fühlte sie deutlich, dass sie sich soeben verliebt hatte. Sie war nur noch nicht sicher, ob dieses Gefühl den aufziehenden Nebelschwaden, der Natur ganz allgemein, oder den geschickt hinter langen blonden Flechten versteckten grünen Augen der rätselhaften Frau galten.
Eigentlich war es nicht Serafinas Art, sich Hals über Kopf zu verlieben und sich wiedersprechende Gedanken jagten durch ihren Kopf, wie die Nebelfetzen, die in diesem Augenblick von der Sonne beschienen wurden und fliessende Schattenmuster auf die Alpwiesen zauberten.
‚Das hat keine Zukunft, Serafina.‘ sagte sie zu sich selber und schüttelte unmerklich den Kopf. Als die rätselhafte Frau wieder erschien und sie nach weiteren Wünschen fragte, erkundigte Serafina sich nach dem Weg zum ‚Berghotel‘, wo sie ein Zimmer reserviert hatte.
„Das Berghotel ist nicht mehr weit. Nur noch hier die Anhöhe hinauf,“ war die Auskunft der blonden Frau, die ihr den Weg mit einer knappen Armbewegung zeigte und wieder verschwand. Serafina erhob sich und nahm die Anhöhe in Angriff, ohne sich zu verabschieden. Kurz darauf wunderte sie sich, wie es die Frau geschafft hatte, so schnell am anderen Ende des Berghofs an dem grossen Brunnen zu sitzen, wo ihr Wanderweg weiterging. Noch mehr wunderte sie sich über die Einladung, die sie jetzt erhielt:
„Falls du Lust hast: Wir kochen heute Abend eine Spezialität der Gegend und unseren Kaffee kennst du ja schon.“
Serafina geriet in Versuchung ihre schwankenden Gefühle und ein leichtes Schwindelgefühl dem Kräuterschnaps zuzuschreiben, musste aber nicht lange überlegen. Sie sagte zu und brachte die kurze Ansteigung zum Berghotel und die folgende Stunde möglichst schnell hinter sich. Im Berghotel erhielt sie das Zimmer mit der Nummer 34, fand es jedoch nicht sofort, weil die Zimmernummerierung bei der Nummer 33 endete. Im Restaurant unten erklärte man Serafina, dass ihr Zimmer der letzte Raum war, den man dieses Frühjahr ausgebaut hatte und das ihr Zimmer aus diesem Grund noch keine Nummer habe. Nachdem sie ihren Rucksack ausgepackt hatte, machte sie sich eilig auf den Rückweg und erschien pünktlich zum Abendessen vor dem mysteriösen Berghof und bei der noch mysteriöseren Bäuerin. Serafina betrat die geräumige Gaststube, wo nur noch ein letztes Wanderer-Pärchen sass. Das verabschiedete sich soeben, weil die zwei laut eigenen Angaben bereits spät dran waren. Jeder, und erst recht Serafina, konnte sehen, das die zwei frisch verliebt waren und sie bestellte ein weiteres Kaffee ‚Halb-Halb‘, obwohl sie sonst nur selten Alkohol trank. Nachdem das verliebte Pärchen verschwunden war, erkundigte sie sich bei ihrer Gastgeberin nach den genauen Zutaten des süssherben Getränks.
„Kaffee, Zwetschgenwasser, ein wenig Kräuterschnaps und natürlich Zucker, den du selber beifügen kannst,“ antwortete die Frau mit goldglitzernden Sternaugen und stellte eine Schale mit Zuckerbeuteln neben Serafinas Kaffeeglas.
„Kräuterschnaps?“ fragte Serafina nochmal nach und erhielt keine Antwort, weil die Älplerin gerade mit wohldosierten und eleganten Bewegungen das Essen auftrug. Danach setzte sie sich an den Tisch und reichte Serafina die Hand:
„Ich bin übrigens Lena und wer bist du?“
„Ich bin Serafina.“
„Oh… . Ein schöner Name.“
Serafina wusste keine gescheite Antwort, weil ihr vorübergehend alle Worte und Gedanken entfallen waren. Sie freute sich über das Kompliment und auch über die nach Kräutern duftenden Speisen, die Lena aufgetischt hatte. Das einfache Gericht war köstlich und Serafina war froh, dass sie ihren Magen mit den warmen Kartoffeln und Teigwaren füllen konnte. Sie fühlte sich geborgen und das lag auch daran, dass die Bauernstube inzwischen in rotes Dämmerlicht getaucht war, das von den tiefliegenden Wolken ausging, die vor den Fenstern und im Sonnenuntergang leuchteten. Serafina und Lena unterbrachen das Abendessen und nahmen den Zitronenkuchen, den es zum Dessert gab mit nach draussen. Sie setzten sich nebeneinander auf die Holzbank vor dem Bauernhof und während sie ein Stück von ihrem Kuchen abbrach, bemerkte Serafina ein Zelt unterhalb der dem Bauernhof vorgelagerten Kiesstrasse. Sie hätte schwören können, dass dieses Zelt am Nachmittag noch nicht dagestanden hatte, womöglich war es aber auch im Nebel versteckt gewesen. Die weisse und jetzt im Sonnenuntergang rot leuchtende Rundhütte stand auf einer Plattform, die über einen steilen Abhang ragte, der hinter der Strasse folgte und das Zelt erinnerte Lena an eine mongolische Jurte.
„Kann man hier auch übernachten?“ fragte sie verwundert.
„Dort unten wohne ich,“ zwinkerte Lena und reichte ihr ein winziges Glas mit ihrem selbstgebrannten grünleuchtenden Kräuterschnaps. „Nimm. Das ist gut für die Verdauung und auch für andere Dinge.“ - „Was für Dinge?“ wollte Serafina wissen und erhielt ein geheimnisvolles Lächeln, anstelle einer Antwort.
„Schade. Ich hätte gerne hier übernachtet, dann müsste ich jetzt nicht zum Berghotel zurückwandern“ stellte Serafina nach einer langen Gesprächspause fest.
„Tja,…“ antwortete Lena mit ihrer warmen Stimme und blickte dazu in das Alpenpanorama, das langsam hinter Wolken und im einsetzenden Dunkel der Nacht verschwand. Die zwei Frauen verabschiedeten sich wenig später, weil Serafina sehr müde war. Dazu wurde sie von Lena umarmt und Serafina fiel es schwer, sich aus der Umarmung zu lösen, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, in einer warmen, roten Lichtwolke zu schweben.
„Serafina, das hat keine Zukunft,“ dachte sie erneut und bereute es spätestens, als sie nach der kurzen Wanderung ihr einsames Zimmer mit der nicht vorhandenen Nummer 34 öffnete. Nachdem sie sich nachdenklich ausgezogen und in ihren Schlafsack geschmiegt hatte, schlief sie erschöpft und mit leeren Gedanken ein.
Als Serafina am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie verwundert fest, dass sie nicht in dem Zimmer lag, in dem sie eingeschlafen war und sie erschrak, als sie die weissen Stoffwände einer mongolischen Jurte wahrnahm. Dann seufzte Serafina glücklich, weil sie von grünen Sternaugen angelächelt wurde, die sie zwischen goldblonden Locken anstrahlten, die über Lenas weiche, warmbraune Schulter, über ihren geschmeidigen Rücken und von dort über Serafina flossen.