Читать книгу Die Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr im Nationalsozialismus - Kyra Sontacki - Страница 9

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2. Überblick über die historische Entwicklung

Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Geschichte der Stadt Mülheim an der Ruhr und ihrer Verwaltung zu Zeiten des Nationalsozialismus gegeben.

2.1 Stadtgeschichte

Um die lokalhistorischen Ereignisse besser einordnen zu können, werden zuerst die gesamtdeutschen Vorgänge kurz dargestellt.

Auf Staatsebene wurde der Nationalsozialist Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt.7 Der Reichstag wurde am 1. Februar 1933 aufgelöst8 und in der Folgezeit die Staatsverfassung durch verschiedene Verordnungen zur Festigung des nationalsozialistischen Machtanspruches immer weiter ausgeschaltet.9

Auf kommunalpolitischer Ebene hatte die NSDAP jedoch bisher nicht allzu große Wahlerfolge verbuchen können. Daran wurde nun mithilfe staatlicher und lokaler Maßnahmen gearbeitet. Einerseits wurden die Kommunalwahlen auf den 12. März 1933 vorverlegt und andererseits Wahlwerbung durch Ortsgruppen betrieben, teilweise auch Gewalt und Drohungen angewandt.10 So zogen beispielsweise Anfang März Anhänger des Nationalsozialismus begleitet von einem Musikzug durch Mülheim an der Ruhr, um ihre Wahlsiege zu feiern. Es wurde eine Festrede auf dem Mülheimer Rathausplatz gehalten und vielerorts wehten Hakenkreuzfahnen, vor allem an öffentlichen Gebäuden wie dem Rathausturm. Anfang März 1933 wurden zudem 200 Bereitschaftspolizisten nach Mülheim an der Ruhr entsandt, die zu 80% aus SA- und SS-Angehörigen bestanden. In einer Razzia nahm dieser Polizeitrupp stadtweit 100 Angehörige der gegnerischen Partei KPD in Schutzhaft, wodurch die Gewaltanwendung seitens des neuen Regimes erstmalig auch in Mülheim an der Ruhr offenkundig wurde.11 Zeitgleich gab es einflussreiche Mülheimer, die die NSDAP unterstützten wie die Industriellen Fritz Thyssen und Emil Kirdorf.12 Anlässlich der Geburtstage von Kirdorf sollte Hitler Mülheim an der Ruhr in den Folgejahren des Öfteren einen Besuch abstatten.13

Am 12. März 1933 fanden in Mülheim an der Ruhr die Kommunalwahlen bereits unter dem Einfluss der NSDAP statt. Politische Gegner wurden behindert und unmittelbar vor den Wahllokalen hatten sich Gruppen von Nationalsozialisten zur Einschüchterung versammelt. Auch nach der Wahl wurden politische Gegner weiterhin verfolgt und ausgeschaltet.14 Außerdem wurde versucht die Gunst der Bevölkerung durch verschiedene Verbände und Aktivitäten zu gewinnen. So war der Mülheimer Alltag zwischenzeitlich von nationalsozialistischen „Aufmärsche[n], Fackelzüge[n], Kundgebungen und Unruhen“15 geprägt.16 Die gegnerischen Parteien wurden nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch die Regierung 1933 endgültig aufgelöst.17 Mülheim an der Ruhr war 1933 zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Nationalsozialisten stark verschuldet, hatte hohe Sozialausgaben für bedürftige Bürgerinnen und Bürger zu tragen und die Arbeitslosenzahlen befanden sich auf einem Hochpunkt.18

Wie in vielen anderen Städten Deutschlands19 wurden Adolf Hitler ebenso in Mülheim an der Ruhr 1933 die Ehrenbürgerrechte verliehen.

1933 waren etwa 450 Mülheimerinnen und Mülheimer jüdisch. 1936 waren es durch Abwanderungen nur noch 328 Personen20 und im November 1943 galt Mülheim an der Ruhr durch weitere Abwanderungen und Deportationen als judenfrei.21 In der Pogromnacht 1938 wurde zudem die Mülheimer Synagoge in Brand gesteckt, worauf in Kapitel 2.2 und Kapitel 4 noch expliziter eingegangen wird.

Auch der Zweite Weltkrieg betraf die Stadt: In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 fand der folgenreichste Luftangriff auf Mülheim an der Ruhr statt. Durch das alliierte Bombardement und die entstandenen Brände wurden in dieser Nacht 77% der innerstädtischen Gebäude beschädigt. US-amerikanische Truppen zogen am 11. April 1945 in die Stadt ein und beendeten damit den Zweiten Weltkrieg für Mülheim an der Ruhr. Das amerikanische Militär wurde allerdings schon zwei Monate später durch britische Soldaten abgelöst.22 Durch den Zweiten Weltkrieg kamen rund 3.500 Mülheimer Soldaten und über 1.000 Zivilisten ums Leben. Ferner wurden nach 1945 etwa 2.700 Mülheimer Soldaten sowie 400 Zivilisten vermisst. Damit starben knapp 6% der Mülheimer Einwohnerinnen und Einwohner und weitere 4,5% wurden vermisst, wenn man die Zahlen mit der Bevölkerungsanzahl vor Kriegsbeginn vergleicht. Nach der Befreiung durch die Alliierten bedeckten 800.000 m2 Schutt die Stadt, die Zerstörungsrate der Wohngebäude betrug 27%, je nach Stadtgebiet sogar bis zu 44%.23

2.2 Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr

Auch innerhalb der Stadtverwaltung standen ab 1933 Veränderungen durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten an. Zu Beginn des Dritten Reiches wurden vielerorts „unliebsame Kommunalbeamte“24 aus ihren Ämtern gedrängt. So der Beigeordnete Arthur Brocke, Oberbürgermeister Alfred Schmidt und weitere hochrangige Mitglieder der Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr. Die Dienstbiografie von Schmidt wird im Folgenden noch detailliert betrachtet (Kapitel 3.1).

Ein beliebtes Mittel zur Entfernung aus dem öffentlichen Dienst war die Rufschädigung durch falsche juristische Anschuldigungen. Bei den Angeklagten handelte es sich meist um „juristisch geschulte, verwaltungserfahrene Fachleute mit gutem Ruf“,25 die häufig trotz der falschen Beschuldigungen versuchten politische Neutralität zu wahren.26 So wurden in Mülheim an der Ruhr anonyme Anzeigen gestellt, dass kommunale Politiker und hochrangige Beamte städtische Gelder missbraucht oder sie deren zweckfremde Verwendung wissentlich gebilligt hätten. Die Vorwürfe gegen die Angeklagten erwiesen sich in Mülheim an der Ruhr, wie auch in den meisten anderen Städten, als ungerechtfertigt und rein politisch motiviert. Sie führten jedoch in der Regel zum seitens der NSDAP angestrebten Rufmord.

In Mülheim an der Ruhr wurde dem fälschlich angeklagten Oberbürgermeister Schmidt nach Erhebung der Beschuldigungen der Nationalsozialist Wilhelm Maerz als Staatskommissar zur Unterstützung und Vertretung zur Seite gestellt. Die Anweisung war vom übergeordneten Gauleiter ergangen. Auch die Dienstbiografie von Maerz wird an späterer Stelle noch genauer betrachtet (Kapitel 3.2).

Die erhobenen Anschuldigungen gegen Oberbürgermeister Schmidt und die weiteren Beschuldigten erwiesen sich als komplett haltlos, führten jedoch teilweise zu Rücktritten und Entlassungen. Für weitere Entlassungen wurde das neu geschaffene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 genutzt, das sich unter anderem gegen „politisch unzuverlässige“27 und jüdische Beamtinnen und Beamte richtete.28 Betroffen waren häufig Mitglieder der gegnerischen Parteien KPD und SPD, die meist aus dem Dienst entfernt wurden. Zudem wurden durch die neue Gesetzeslage vorgezogene Pensionierungen aus Dienstgründen oder zur Vereinfachung der Verwaltung möglich.29

Sowohl die NSDAP als auch städtische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legten Maerz in der Folgezeit Namen und sogar ganze Listen mit zu entlassenden städtischen Kolleginnen und Kollegen vor. Betroffen waren weiterhin Mitglieder von anderen Parteien als der NSDAP, es konnte allerdings auch jeder unliebsame Kollege denunziert werden. In die freigewordenen Positionen rückten in der Mülheimer Stadtverwaltung meist Nationalsozialisten nach, vor allem langjährige Parteimitglieder sollten bevorzugt eingestellt werden. Es galt sogar eine Quote an Neueinstellungen für diese Personengruppe zu erfüllen und die NSDAP vermittelte ihren Mitgliedern vielfach Arbeit, vor allem Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst.30

Die verbliebenen Arbeiter, Angestellten und Beamten der Stadtverwaltung mussten Treueeide sowie Prüfungen der politischen Zuverlässigkeit bezüglich ihrer nationalsozialistischen Gesinnung ablegen.31 Sie mussten hierzu Fragebögen ausfüllen32 und ihre arische Abstammung nachweisen.33 Diese Angaben wurden dann von Staatskommissar Maerz und der Kreisleitung der NSDAP gemeinsam auf Maßnahmen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums überprüft.34 Jüdinnen und Juden wurden in der Regel aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen, wie noch anhand der Dienstbiografie der Volksschullehrerin Elfriede Loewenthal aufgezeigt wird (Kapitel 5.2). Außerdem erging bereits ab 1933 innerhalb der Mülheimer Verwaltung das Verbot städtische Einkäufe in jüdischen Geschäften zu tätigen und öffentliche Aufträge an jüdische Firmen zu vergeben,35 wodurch Jüdinnen und Juden wirtschaftlich diskriminiert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde.

Im Vorfeld der Reichspogromnacht hatte die jüdische Gemeinde ihre Synagoge im Jahr 1938 aus Geldnot durch die nationalsozialistischen Repressalien veräußern müssen, Käufer war die städtische Sparkasse. Im Rahmen der Pogromnacht setzte die städtische Feuerwehr die Synagoge schließlich in Brand und zerstörte somit ein Gebäude, das sich in städtischem Besitz befand.36

Mülheims Beamtenschaft galt als „traditionell konservativ“,37 wie auch landesweit. Sie stimmte mit den Nationalsozialisten darin überein, dass Deutschland wieder seine frühere staatliche Bedeutung gewinnen sollte. Gerade jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung sympathisierten mit dem neuen Regime, da es ihnen bessere Aufstiegschancen bot, als die vorherige finanzschwache Weimarer Republik es konnte. Der Beamteneid wurde in der Folgezeit auf Adolf Hitler persönlich abgelegt und bot den Beamtinnen und Beamten Legitimität für ihr Verwaltungshandeln.38

Über das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums hinaus trat 1933 ebenso das Gesetz zur Minderung der Arbeitslosigkeit durch die Überführung weiblicher Arbeitskräfte in die Hauswirtschaft in Kraft. In Ergänzung wurde auch das Beamten- und Versorgungs-recht angepasst, sodass die Verbeamtung von Frauen ausgebremst wurde und familiär abgesicherte Beamtinnen zu entlassen waren. Die Arbeitslosigkeit wich allerdings ab etwa 1936 einem weitverbreiteten Mangel an Arbeitskräften, sodass die Regelungen zur vormals forcierten Entlassung von Mitarbeiterinnen entschärft und entlassene Frauen oftmals wiedereingestellt wurden.39

Bis Ende 1940 waren im Rahmen des Zweiten Weltkrieges bereits knapp 240 Verwaltungsmitarbeiter zur Wehrmacht eingezogen worden. Um die entstanden Lücken zu schließen, sollten unter anderem Ruhestandsbeamte wie der Stadtamtmann Peter Dreis (Kapitel 6.2) wieder aktiviert werden, insofern die Personen als politisch zuverlässig galten.40 Zudem verblieben einige Beamtinnen und Beamte, freiwillig oder unter Druck, auch nach Erreichen des Ruhestandsalters im Dienst der Stadt.41

7 Vgl. Bracher, K. D., Sauer, W. & Schulz, G. (Hrsg.) (1960). Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34. 1. Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 47. (künftig zitiert: Bracher et al., 1960).

8 Vgl. ebd., S. 50.

9 Vgl. ebd., S. 86ff.

10 Vgl. Mann, T. & Püttner, G. (2007). Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. 3. Auflage. Heidelberg: Springer, S. 120. (künftig zitiert: Mann & Püttner, 2007).

11 Vgl. Mühlenfeld, D. (2004). 70 Jahre „Machtergreifung“ in Mülheim an der Ruhr. In Verkehrsverein Mülheim an der Ruhr e. V. (Hrsg.). Mülheimer Jahrbuch 2004. Mülheim an der Ruhr: Thierbach, S. 221ff. (künftig zitiert: Mühlenfeld, 2004).

12 Vgl. Emons, T. (2010). Tage, die Mülheim veränderten – ein stadtgeschichtliches Lesebuch. In Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim an der Ruhr e.V. (Hrsg.). (84/2010), S. 102. (künftig zitiert: Emons, 2010).

13 Vgl. Interview Wickrath, K. vom 16. Mai 2019, Frage 1.

14 Vgl. Kaufhold, 2006, S. 98f.

15 Wickrath, K. (1986). Großflugtag mit „Graf Zeppelin“ brachte die meisten Zuschauer. In Verkehrsverein Mülheim an der Ruhr e.V. (Hrsg.). Mülheimer Jahrbuch 1986. Duisburg: WAZ-Druck, S. 134. (künftig zitiert: Wickrath, 1986).

16 Vgl. ebd., S. 134 und Interview Wickrath, K. vom 16. Mai 2019, Frage 1.

17 Vgl. Kaufhold, 2006, S. 98f.

18 Vgl. Emons, 2010, S. 102.

19 Vgl. Mühlenfeld, 2004, S. 226.

20 Vgl. Ortmanns, K. (1992). Mülheim an der Ruhr. Kurzinformationen aus 1100 Jahren. 1. Auflage. Mülheim an der Ruhr: Thierbach, S. 40. (künftig zitiert: Ortmanns, 1992).

21 Vgl. Squarr-Tittgen, C. (2019). Kaufmann, Gustav u. Julia, S. 4. URL: 2019.

22 Vgl. Ortmanns, 1992, S. 41.

23 Vgl. ebd., S. 41ff.

24 Mühlenfeld, 2004, S. 223.

25 Ebd., S. 223.

26 Vgl. ebd., S. 223.

27 Mühlenfeld, 2004, S. 225.

28 Vgl. ebd., S. 224f.

29 Vgl. Mann & Püttner, S. 121.

30 Vgl. Mühlenfeld, 2004, S. 224ff.

31 Vgl. VVN BdA (Hrsg.) (2005). Widerstand und Verfolgung 1933 bis 1945 in Mülheim an der Ruhr. 1. Auflage. Mülheim an der Ruhr: s.n., S. 10. (künftig zitiert: VVN BdA, 2005).

32 Vgl. StAMH 1200/1011, Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, Bl. 2f.

33 Vgl. ebd., Familien-Nachweis, unpaginiert.

34 Vgl. ebd., Bl. 23.

35 Vgl. Doetsch, D., Doetsch M., Herzogenrath, H., Schröer, K. (1987). 1933 bis 1945 Widerstand und Verfolgung in Mülheim an der Ruhr. 1. Auflage. Duisburg: Selbstverlag, S. 70. (künftig zitiert: Doetsch et al., 1987).

36 Vgl. VVN BdA, 2005, S. 26.

37 Mühlenfeld, 2004, S. 227.

38 Vgl. ebd., S. 227f.

39 Vgl. Doetsch et al., 1987, S. 179–182.

40 Vgl. StAMH 1200/1514, Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, Bl. 20.

41 Vgl. ebd., Beamte, die nach Vollendung des 65. Lebensjahres im Dienst verblieben sind, Stand August 1944, unpaginiert.

Die Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr im Nationalsozialismus

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