Читать книгу Die Wohnung gegenüber - L.A. Fortride - Страница 4

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„Irgendein Film hat mich auf die Idee gebracht“, sagte Pamela, während sie das Fernglas auf die Fensterbrüstung stellte. „Der Held beobachtete die Leute in den Nachbarhäusern und klärte dabei einen Mord auf, aber soviel Glück habe ich natürlich nicht. Hier passiert nie etwas. Der charmante Blonde im Erdgeschoß denkt ebensowenig daran, seine Frau umzubringen wie der Alte im ersten Stock, auch wenn er mit seinem Bart beinahe so gefährlich wie Landru aussieht.“

„Seit wann bist du so blutdürstig?“ erkundigte sich Christian belustigt. „Du liest wohl zuviel Krimis?“

„Nein, ich möchte einen schreiben.“

„Da hast du dir hier kaum den richtigen Standort ausgesucht.“

„Ach, es soll doch was aus dem richtigen Leben sein – nicht so eine unwahrscheinliche Geschichte, in der die Leichen aus Wandschränken fallen und Mörder als Nonnen verkleidet herumschleichen. Ich will einen Kriminalroman schreiben, der jeden Tag passiert sein kann und den jeder Leser, gleich welchen Niveaus, akzeptiert.“

„Worauf ihr Schriftsteller nicht alles kommt! Ich dachte bisher immer, du interessierst dich nur für die Liebe.“

„Ehrlich gestanden, ich bin das ziemlich leid. Ich habe einfach keine Lust mehr, über brave Mädchen zu schreiben, die unverschuldet aus einem Unglück ins andere geraten und noch im Sumpf ihr reines Herz bewahren. Nach all dem Schmus stellte ich es mir geradezu herzerfrischend vor, ein richtiges Luder zu schildern. Es braucht also durchaus kein Mann zu sein, der den Mord begeht, ich nehme auch eine Mörderin.“

Pamela hob ihr Glas und betrachtete ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock, hinter dem sich ein undeutlicher Schatten hin und her bewegte. „Ewig haben sie ihre Kleider zum Lüften auf dem Balkon hängen“, murmelte sie unzufrieden. „Außerdem ziehen sie immer gleich die Vorhänge zu, wenn sie das Licht anknipsen. Man kann überhaupt nicht sehen, was dahinter vorgeht.“

„Na hör mal, das mache ich genauso.“

„Wie kann man nur so vorsichtig sein!“ Pamela schüttelte ärgerlich den Kopf. „Na ja, heute ist sowieso wieder nichts los. Es hat keinen Zweck.“

Sie saßen nebeneinander am offenen Fenster. Unter ihnen lag der dunkle, mit Sträuchern und neu angepflanzten Bäumen bestandene Garten, der schon nach wenigen Metern durch eine hohe Feldsteinmauer vom Nachbargrundstück getrennt wurde. Jenseits der Mauer befanden sich mehrere Garagen, die zu dem großen Wohnhaus gehörten, dessen Rückseite sich mit breiten Fenstern und großen Loggien Pamelas neugierigen Blicken darbot. Das Haus stand frei in einer wenig befahrenen Seitenstraße. In der Nachbarschaft gab es keine weiteren Mietshäuser, nur noch Villen in schönen großen Gärten. Es war eine ruhige Gegend.

Der Abend war warm und windstill. Die eintretende Dämmerung ließ den wolkenlosen Himmel langsam blasser werden und färbte ihn dann dunkelblau, bis er mit den langen Bergketten im Hintergrund allmählich verschmolz.

„Hast du noch nicht daran gedacht, daß du dich damit eines Tages in Unannehmlichkeiten bringen könntest?“ fragte Chris und deutete auf den Feldstecher. „Es gibt Leute, die es sich einfach nicht bieten lassen, daß man ihnen in den Suppenteller guckt.“

„Seit wann ist es verboten, die Sterne zu betrachten?“ erkundigte sich Pamela kühl. Sie richtete das Glas auf den Himmel, an dem tatsächlich wie auf Bestellung der erste Stern auffunkelte. „Weißt du nicht, daß ich mich schon immer sehr für Astronomie interessiert habe?“

Blumenduft stieg aus den Gärten empor. Es war der tiefe satte Geruch des späten Sommers, in den sich dann und wann schon schwacher Moderduft mischte. Trotz der Wärme des Tages spürte man gegen Abend bereits die Nähe des Herbstes.

Im Garten einer großen weißen Villa, die von einer Reihe hochgewachsener Pappeln fast verborgen wurde, tollte ein Hund umher. Sein aufgeregtes Bellen scholl herüber. Pamela betrachtete eine Weile den Hund und seine Besitzerin, dann wandte sie sich wieder ihrem Besucher zu.

„Warum sind nur alle Leute so gräßlich langweilig?“ beklagte sie sich. „Warum tut keiner mal was Ausgefallenes? Jeden Tag fällt ihnen nichts anderes ein als zu essen, zu schlafen, Zeitung zu lesen. – Da!“ Sie stieß Chris an und deutete auf ein helles Zimmer im Erdgeschoß des Mietshauses, wo ein braunverbrannter blonder Mann im Schein einer kleinen roten Hängelampe eine dunkelhaarige Frau umarmte.

„Na, was willst du mehr!“ brummte Christian. „Das ist doch wenigstens was.“

„Pah, wenn das aufregend sein soll! Die sind nämlich längst ordnungsgemäß verheiratet und haben schon ein Baby. Ihr Getue finde ich im Gegenteil allmählich übertrieben. Sie könnten sich langsam an den Gedanken gewöhnen, daß sie ein Ehepaar sind.“

„Neidisch?“ grinste Christian.

„Du spinnst wohl“, murmelte Pamela empört. „Das fehlte gerade noch, wie?“

Sie ließ das Glas nach oben wandern, bis sie das zweite Stockwerk überschauen konnte. Durch ein mäßig großes Fenster mit Scheibengardinen sah man in eine weiße Küche mit Kühlschrank, Waschmaschine und Mixgerät. Am elektrischen Herd stand eine blonde Frau, die in einem Topf rührte. Ein kleines Mädchen mit einem dicken Zopf lief eifrig hin und her und reichte allerlei zum Herd hinüber. Als ein Wagen über den breiten Plattenweg am Haus vorbei zur Garage fuhr, verließ die Frau die Küche und zog im anstoßenden Zimmer, in dem eine Stehlampe brannte, die Gardinen zur Seite. Sie kam auf die Loggia heraus und beugte sich über das Geländer.

„Der entgeht auch nichts“, sagte Pamela. „Sie ist immer da, wenn sich was tut. Richter heißt sie oder so ähnlich. Sie holt bei meinem Kaufmann ein. Eine gräßliche Klatschbase. Sie kennt hier alle Leute. Ich nenne sie nur noch das ‚Tagblatt‘.“

In der zweiten Wohnung des oberen Stockwerks, neben der der Richters, wurde die Glastür zur Loggia hell. Man blickte in ein großes Zimmer mit einem Kamin, über dem ein großes Bild hing.

„Infantin von Velasquez, glaube ich“, erklärte Pamela sachkundig.

„Hübsches Bild.“

Im Schein einer großen seidenverschirmten Stehlampe machte sich eine kräftige alte Dame in grauem oder braunem Kleid am Tisch zu schaffen.

„Sie wohnt da mit ihrer Tochter“, kommentierte Pamela weiter. „Die Alte ist eine drollige Person. Ich habe ihr auch einen Spitznamen gegeben: ‚Der Feldherr‘. Sie sitzt im Palmengarten immer dicht vor dem Musikpavillon und dirigiert den Applaus. Wenn sie ausgeht, schminkt sie sich wie eine Kokotte. Und erst ihre Kleider! Alles mit Spitzen und Volants. Vielleicht war sie früher mal eine leichte Dame.“ Pamela trällerte: „Ich bin die Ballhausanna!“ Weiter wußte sie nicht. „Schick eingerichtet ist sie. Schau dir mal die schöne Kommode an und den wunderbaren venezianischen Spiegel darüber! Die Putten links und rechts von der Infantin sind auch nicht schlecht.“

Bevor Christian dazu kam, sich das Interieur des Zimmers näher anzusehen, wurden die Räume darunter hell. Man sah kurz in ein sehr modern eingerichtetes, etwas kahl wirkendes Eßzimmer mit einer jener vielarmigen Lampen, deren grelles Licht an die ungemütliche Beleuchtung eines Wartesaales erinnerte. Das Licht erlosch gleich wieder.

„Kinderloses Ehepaar“, berichtete Pamela. „Der dazugehörige Mann kommt meistens erst spät abends oder überhaupt nicht nach Hause. Vielleicht ist er Reisender. Manchmal ißt er jedenfalls erst um zehn. Sie sitzt dann mit einem Buch neben ihm und liest. Ich kann sie bis hierher vor Langeweile gähnen hören.“

„Du boshafte kleine Person!“ Christian schlug Pamela leicht auf die Schulter. „Na ja, Mädchen, das ist ja soweit ganz interessant, aber ich fürchte, ich muß jetzt endlich weiter. Was wolltest du eigentlich von mir?“

„Ich habe dir das alles gezeigt, weil ich im stillen hoffte, du könntest mich inspirieren.“ Pamela stellte den Feldstecher endlich weg und folgte Christian durch das dunkle Zimmer zu der nur angelehnten Tür. Er stieß sich das Schienbein an irgendeinem Möbelstück und fluchte leise vor sich hin.

„Warum paßt du auch nicht auf?“ erkundigte sich Pamela ungerührt. „Du bist schließlich nicht zum erstenmal hier.“

In der winzigen Diele brannte Licht. Sie blinzelten einander geblendet zu, dann deutete Pamela einladend auf die offene Tür zum Wohnzimmer.

„Geh ’rein und mach’s dir bequem. Ich hole was zum Trinken. Bier oder Schnaps?“

Ihr Besucher wehrte jedoch ab. „Liebes Kind, du weißt, ich habe heute Dienst. Ich muß wirklich ...“

„Moment noch, Chris, bitte! Wie wär’s denn mit einem aufregenden Fall für mich?“ Pamela betrachtete den jungen Mann hoffnungsvoll. „Mir fällt nämlich einfach nichts ein. Du mußt mir helfen. Wer kann denn wen da drüben umbringen?“

„Herrgott, Pamela, was du alles von mir verlangst! Soviel Phantasie habe ich überhaupt nicht. Deine Nachbarn sind alles ganz normale Leute, die bestimmt nie im Leben an so was Gruseliges wie einen Mord denken.“

„Daran denkt jeder mal“, widersprach Pamela sofort. „Wir alle begehen, wenn vielleicht auch nur in Gedanken, bei Gelegenheit jedes nur mögliche Verbrechen. Hat sogar ein ganz berühmter Mann gesagt. War’s nicht Goethe?“

„Schön, dann denk dir eben was aus.“

„Oh, Chris, du bist so schrecklich ungefällig! Erzähl mir einfach was aus deiner Praxis, und ich kombiniere dann ein bißchen.“

„Wenn du mich deswegen herzitiert hast, muß ich dich leider enttäuschen, liebes Kind. Mein Leben hat in letzter Zeit alles andere als Sensationen gebracht. Mit einem Taschendieb oder einem armseligen Heiratsschwindler wird dir kaum gedient sein.“

„Was, du als angehender Kriminalkommissar hast tatsächlich nicht einmal einen anständigen Mord in Bearbeitung?“ erkundigte sie sich ungläubig. „Du enttäuschst mich.“

Christian lächelte flüchtig. „Kleine Illusionistin!“ Er tippte mit dem Zeigefinger freundschaftlich an ihre zierliche Nase. „Mach dich mit dem Gedanken vertraut, daß es für die Polizei viel mehr kleine Delikte gibt als Kapitalverbrechen. Es war meine Aufgabe, mich mit Hochstapelei, Heirats-, Kautionsschwindel und so weiter zu befassen. Kann unter Umständen übrigens auch ganz interessant sein.“

„Nein, das hilft mir nicht weiter“, murmelte sie betrübt. Sie schob die Unterlippe vor. „Zu einem Kriminalroman gehört doch mindestens ein Mord. Gehörst du denn noch immer nicht zur Mordkommission?“

„Seit genau zwei Tagen. Ich habe gerade erst ’reingerochen.“ Er betrachtete sie lächelnd. Sie reichte ihm gerade bis zum Kinn, eine zarte kleine Person mit blauen Augen und einem Pfirsichteint. Ihr hübscher roter Mund forderte geradezu heraus, sie zu küssen, aber ein Blick auf ihr eigenwilliges Kinn hielt ihn dann doch davon ab. Pamela war manchmal ein bißchen unberechenbar. Man wußte nie, wie sie reagierte. „Gehen wir trotzdem mal aus?“

„Habe ich je eine Einladung ausgeschlagen? Eine arme kleine Schriftstellerin muß für alles dankbar sein“, sagte sie mit frommem Augenaufschlag.

„Geht es dir so schlecht?“

Sie seufzte. „Es ist hartes Leben, Chris. Nichts wird einem geschenkt. Mäcenas ist seit langem tot.“

„Vielleicht gibt’s auch nur einfach keinen Horaz mehr“, brummte Chris belustigt.

Pamela warf ihm aus schmalen Augen einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie gefiel sich in der Hoffnung, eines Tages berühmt zu werden.

„Nun, gehen wir erst mal bummeln“, meinte Chris hastig. „Ich habe neulich ein todschickes kleines Restaurant entdeckt mit spécialités françaises.“

„Strip-tease?“ erkundigte sie sich erwartungsvoll.

„Was du gleich wieder denkst! Nein, was zum Essen. Liebling, ich führe dich doch in kein Bumslokal.“

„Du kannst auch nie verbergen, daß du aus einem Provinznest kommst“, tadelte sie. „Was hast du gegen Bumslokale? Eine Schriftstellerin muß alles kennenlernen, auch die anrüchigen Kneipen, die sogar besonders.“

„Du willst also nicht mit mir essen gehen?“

„Wo denkst du hin? Natürlich! Ich bin heilfroh, wenn ich mal nicht zu kochen brauche.“

„Ich rufe dich morgen oder übermorgen an.“

„D’accord, chéri. Ton idée est merveilleuse.“ Die versprochenen französischen Spezialitäten verleiteten Pamela dazu, französisch zu sprechen. „Und wenn du wider Erwarten auf deinem ollen Amt doch mal was hören solltest, du weißt schon, dann denk an mich, ja? Ich brauche ganz dringend einen Mord.“

„Ich werde die Ohren spitzen“, versprach er lachend. „Bis bald! Tschüs, Kleine!“

„Tschüs, Großer!“

Er konnte sich nun doch nicht enthalten, ihr schnell über das blonde weiche Haar zu streichen. Genießerisch und ein bißchen sehnsüchtig schnupperte er den zarten Duft ihres Parfüms, bevor er sich wieder dorthin begab, wo es nach Männern, Bohnerwachs, verstaubten Akten und ungewaschenen Klienten roch, in eine weit weniger erfreuliche Umgebung, als es Pamelas hübsche kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im Westend war.

Nachdem Pamela hinter Christian die Tür geschlossen hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr und schlenderte dann in die Küche. Im Kühlschrank herrschte, wie sie zu ihrem Leidwesen feststellen mußte, wieder einmal gähnende Leere. Sie entnahm ihrer Handtasche das Portemonnaie, holte aus dem Wandschrank im Flur einen Einkaufsbeutel und verließ damit die Wohnung.

Das Lebensmittelgeschäft, in dem sie ihre Einkäufe zu tätigen pflegte, befand sich schräg gegenüber an der Ecke einer düsteren langen Straße mit alten Mietshäusern. In dem unmodernen kalten kleinen Laden herrschte kurz vor Ladenschluß eine qualvolle Enge. Unter den Kunden befand sich auch jene geschwätzige Frau Richter aus dem Nachbarhaus, die offensichtlich die Zubereitung des Abendessens unterbrochen hatte, um noch einen Einkauf zu tätigen. Pamela, die eine Abneigung gegen neugierige geschwätzige Leute hatte, verzog sich in die andere Ecke des Geschäfts in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. Aber die blaßblauen flinken Augen erspähten sie schließlich doch, und das knochige rötliche Gesicht der stark blondierten Frau lächelte Pamela zu.

„Lange nicht gesehen.“

„Sie waren verreist, nicht wahr?“ Pamela war es nicht entgangen, daß in der Wohnung der Richters ein paar Wochen lang die Sonnenjalosien geschlossen geblieben waren.

„Ja, wir waren in Oberstdorf. Muß ja auch mal sein, nicht? – Nein, Fräulein, ich nehme nicht den Reis da, sondern Patna, und dann geben Sie mir noch sechs Trinkeier. – Ja, in den Bergen spürt man schon den Herbst. Es war abends immer ziemlich frisch.“

„Der Sommer ist auch hier bald vorbei.“

„Leider.“ Frau Richter zahlte. „Ich muß mich sputen, daß ich heimkomme. Mein Mann ist fällig. Hoffentlich habe ich nicht wieder was vergessen! Wissen Sie, es ist einfach eine Katastrophe, wenn man bei zwei Kindern nicht mal ein Mädchen hat. Wie so manche Leute das machen! Zu unserer Hausbesitzerin, der Junkers, zum Beispiel kommt jeden Tag bis nachmittags eine Frau.“

„Junkers?“ fragte Pamela achselzuckend. Der Name sagte ihr nichts. „Ich kenne die Leute nicht.“

„Meine Nachbarn. Wir wohnen auf demselben Flur.“

„Ach so, Sie meinen den Feld ... die alte Dame mit ihrer Tochter.“

„Das ist nicht die Tochter“, wurde sie von der Richter umgehend belehrt. „Sondern eine Nichte. Fräulein Junkers soll schon früher bei ihrer Tante gewohnt haben. Bevor sie in das Haus zogen. Arbeiten geht sie nicht. Na, da wird auch mehr Geld sein, als die Alte zugibt. Wenn sie die hören, die jammert nämlich immer nur, sie müsse bei unseren Mieten draufzahlen.“ Frau Richter hätte sich vermutlich gern noch länger über ihre Nachbarn ausgelassen, aber ein Blick auf die Ladenuhr jagte sie dann doch schleunigst von dannen.

Pamela kaufte Obst, Brot, Butter und Milch. Mit dem prall gefüllten Einkaufsnetz überquerte sie die breite Straße und ging auf der gegenüberliegenden Seite, unter den mit roten Beeren dicht behangenen Bäumen, auf ihr Haus zu.

Im Lichtkreis einer der veralteten, schwach brennenden Gaslaternen wurde sie von einem schlanken großen Mann in hellem Trenchcoat überholt. Der junge Mann hatte den Hut ein wenig schief aufgesetzt. Da er sich ihr im Vorbeigehen zuwandte und sie auffallend fixierte, sah sie sein Gesicht.

Sie erkannte ihn sofort. In letzter Zeit war er ihr häufig hier begegnet, und jedesmal hatte er sie dann recht eingehend betrachtet. Auch diesmal, obwohl er es offensichtlich eilig hatte, verweilte der Blick seiner graublauen Augen länger als unbedingt nötig auf ihrem Gesicht, auf ihrer zierlichen Figur in den langen grauen Hosen und dem weiten blauen Pullover. Sie erwiderte seinen Blick gerade so lange, daß es wie Zufall aussehen konnte, dann ließ sie ihn geruhsam weiter über die Rasenflächen der Häuser zur Rechten schweifen. Ungeachtet ihrer scheinbaren Interesselosigkeit stellte sie jedoch genau fest, daß ihr Unbekannter schlecht gebügelte Hosen trug und daß sein Regenmantel eine Reinigung dringend nötig hatte.

In ihrem Haus war der Fahrstuhl wie gewöhnlich um diese Zeit besetzt. Sie stieg pfeifend zum dritten Stock hinauf, öffnete ihre Tür und begab sich in die Küche. Während sie ihre Einkäufe auspackte, bemerkte sie gegenüber Frau Richter erneut bei der Zubereitung des Abendessens. Zu ihr und dem kleinen Mädchen mit dem Zopf hatte sich ein hellblonder stämmiger Mann gesellt, der ein Baby in blauem Spielanzug auf dem Arm trug.

Da Pamela zum erstenmal in ihrem Leben allein wohnte, empfand sie ihre moderne kleine Behausung noch immer als ein beglückendes, aufregendes Ereignis. Mit Hingabe hielt sie die neuen Möbel, die frisch lackierten Fenster und Türrahmen und die Fußböden blank. Auch jetzt polierte sie wieder sorgfältig am Kühlschrank herum, auf dessen strahlendem Weiß sie die Spuren ihrer Finger entdeckt hatte.

Ihr Magen erinnerte sie daran, daß es Essenszeit war. Sie bereitete Tee, wusch Tomaten und Pfirsiche, strich zwei Brote, belegte sie und trug alles auf einem Tablett in den Wohnraum, wo sie sich, nachdem sie den Radioapparat eingeschaltet hatte, behaglich in einem Sessel niederließ, die Beine über die Lehne hängte und die von Christian mitgebrachte Zeitung studierte. Während sie ihre Brote verzehrte, versuchte sie außerdem, die im Radio durchgegebenen Reportagen mitzuhören. Christian hatte im Lokalteil der Zeitung eine Theaterkritik angestrichen. Sie vermutete, daß er sie nächstens auffordern würde, sich das Stück mit ihm anzusehen. Erfreulicherweise bekam er manchmal Freikarten.

Sie seufzte bei dem Gedanken an Christian unwillkürlich auf. Natürlich hatte sie ihn furchtbar gern, aber vielleicht kannte sie ihn schon ein wenig zu lange, um ihn aufregend finden zu können. Als Freund ihres Bruders war er auch für sie gewissermaßen ein Bruder geworden, und es fiel ihr heute schwer, ihn, den sie seinerzeit als Trapper oder Indianer weidlich tyrannisiert hatte, plötzlich in der Rolle des Liebhabers zu sehen. Er hatte sich früher, wenn auch nicht immer mit großer Begeisterung, meist ihrem Kommando gefügt. Da sie den Jungen an Witz und Energie, auch an Flinkheit überlegen gewesen war, hatte sie stets zumindest den Versuch gemacht, die Herrschaft an sich zu reißen. Seine damalige Gefügigkeit schadete ihm heute vielleicht ein wenig.

Sie seufzte noch einmal und rutschte tiefer in ihren Sessel. Während sie gelangweilt die neuesten Nachrichten überflog, fragte sie sich, woran es liegen mochte, daß ihr in letzter Zeit nichts mehr einfallen wollte. Sie hatte es einfach satt, wie bisher immer nur über Liebe und unglückselige Paare zu schreiben, die aus den kompliziertesten und nicht immer ganz logischen Gründen nicht zusammenkommen konnten. Es war stets dasselbe und ödete sie allmählich an.

Gelangweilt faltete sie die Zeitung zusammen, trug das Geschirr in die Küche und wusch ab. Nachdem sie ihr Bircher Benner-Müsli für den nächsten Morgen vorbereitet hatte, ging sie ins Schlafzimmer, um die Übergardinen vorzuziehen. Sie hatte eigentlich gleich wieder nach vorn zum Radioapparat zurückkehren wollen – die hell erleuchteten Fenster und Loggiatüren des Nachbarhauses verlockten sie jedoch, noch einmal ihren Beobachtungsposten einzunehmen. Frau Richter und Familie hatten endlich die Küche verlassen und nahmen nun vermutlich nebenan hinter den geschlossenen Gardinen ihr Abendbrot ein. Das erleuchtete anstoßende Zimmer, das zur Junkerschen Wohnung gehörte, war leer. In der Etage darunter war die linke Wohnung dunkel, während rechts das alte Ehepaar wie gewöhnlich um diese Zeit vor dem Fernsehapparat saß. Pamela konnte deutlich den bläulich flimmernden Bildschirm sehen und sogar ein Gesicht in Großaufnahme erkennen. Im Erdgeschoß links waren die Jalousien geschlossen. Dort arbeitete tagsüber ein Architekt, der die Wohnung abends verließ, in der Nachbarwohnung brannte in sämtlichen Räumen Licht. Pamela blickte in einen mit Teakholzmöbeln eingerichteten Wohnraum, dessen Boden von einem grünen Teppich bedeckt wurde. Der braunverbrannte Wohnungsinhaber stand vor der geöffneten, reich versehenen Bar, die einen Teil der wandbreiten und deckenhohen Regal- und Schrankanlage einnahm.

In einem der roten und blauen Sessel saß seine dunkelhaarige Frau. Sie unterhielt sich mit einem Herrn, von dem Pamela nur die rechte Schulter und die lang ausgestreckten Beine sehen konnte. Schon wollte sich Pamela gähnend zurückziehen, als Frau Junkers, der ‚Feldherr‘, wieder in Erscheinung trat. Die weißhaarige alte Dame – das Haar war wie gewöhnlich bläulich getönt und wurde durch ein Netz geschützt – trug ein ziemlich altmodisches Kleid aus heller Seide mit Spitzen am Kragen und den Manschetten und einer roten Rose am Ausschnitt. Um den Hals trug Frau Junkers eine Kette. Die alte Dame zögerte am Tisch vor dem Kamin, der, wie Pamela jetzt feststellte, für das Abendessen gedeckt war. In einem Körbchen schien Brot zu liegen, ein Glas blitzte. Die alte Dame betrachtete prüfend den Tisch und warf einen Blick zur Uhr auf dem Kaminsims. Dann verließ sie das Zimmer und betrat den erleuchteten leeren Raum nebenan.

An einem Möbelstück – einem Sekretär offensichtlich – machte sie sich eine kleine Weile zu schaffen. Endlich ging sie zu dem offenen Fenster hinüber, stützte die Hände auf die Brüstung und blickte hinaus.

Pamela erhob sich, gähnte noch einmal und griff nach der seidenen Kordel der Übergardine. Der Vorhang glitt von rechts auf sie zu. Sie wollte nach der linken Kordel greifen, als etwas – später konnte sie nicht mehr erklären, was es eigentlich gewesen war – sie veranlaßte, doch noch einmal den Kopf zu heben.

Sie sah Frau Junkers noch immer am Fenster stehen, wo sie sich leicht vorbeugte. In diesem Augenblick öffnete sich die Zimmertür, eine Gestalt erschien im Rahmen, zögerte plötzlich. Es war ... ja, soviel konnte sie erkennen, es war ein Mann in Mantel und Hut. Er stand fast ganz im Dunkeln, denn in der Diele brannte kein Licht.

Der Mann hatte die alte Dame am Fenster nicht angesprochen oder aber sie hatte ihn nicht gehört, denn sie rührte sich nicht von ihrem Platz. Noch immer stand sie leicht vorgebeugt da, als habe etwas im Garten ihre Aufmerksamkeit erregt.

Im nächsten Augenblick machte der Mann eine rasche Bewegung, das Zimmer wurde dunkel.

Was soll das bedeuten? fragte sich Pamela verblüfft. Warum knipst er ihr das Licht aus?

Sie hätte der Angelegenheit, die blitzschnell abgelaufen war, wohl nie die leiseste Bedeutung beigemessen, hätte sie nicht plötzlich einen Aufschrei gehört, einen Schrei, der allerdings so leise war, daß sie sich hinterher fragte, ob sie ihn auch wirklich gehört hatte.

Sie blickte unwillkürlich zu dem jetzt dunklen Fenster hinüber, wo sich eben noch die erleuchtete Gestalt der alten Dame abgezeichnet hatte. Das Fenster war ... leer. Statt dessen stürzte etwas Großes, Schweres, eine im Dunkeln formlose Masse, aus dem zweiten Stock herab und schlug unten schwer auf.

Nein! dachte Pamela unwillkürlich und griff sich entsetzt an den Hals.

Mit zitternden Händen suchte sie dann hastig nach dem Feldstecher, der irgendwo auf der Fensterbrüstung stehen mußte. Sie fand ihn nicht und hatte ihn auch gleich wieder vergessen. Erschrocken suchte ihr Blick noch einmal das offene Fenster im zweiten Stock. Nein, es war leer.

„Mein Gott!“ stieß sie laut hervor. „Das kann doch nicht sein!“

Sekundenlang war sie wie gelähmt, unfähig, sich auch nur zu rühren. Es dauerte eine Weile, bis sie überhaupt richtig begriff, was drüben geschehen war. Frau Junkers, der Feldherr ... Ihre Augen versuchten vergebens, das Dunkel des Nachbargartens zu durchdringen, aber sie sah nichts, überhaupt nichts. Unmittelbar am Haus standen Hecken: Buddleia und Forsythien, Seidelbast und Astern. In der Nacht waren sie nur Schatten vor der helleren Hauswand, genauso formlos und ungestalt wie ...

Sie schauerte zusammen, ihr Herz schlug ungestüm, ihre Hände zitterten. Dann stürzte sie plötzlich aus dem Zimmer, riß in der Diele mit dem Hörer beinahe den ganzen Telefonapparat von der Wand, wählte die Nummer, die Christian ihr für Notfälle angegeben hatte. Mit klappernden Zähnen nannte sie seinen Namen, als sich die Vermittlung meldete.

„Ja, Herrn Wilkens, bitte schnell!“

Sie lehnte sich mit dem Rücken fest gegen die Wand. Sie schloß die Augen und versuchte, das gräßliche Bild zu vergessen. Aber es gelang ihr nicht, noch immer fiel unentwegt etwas Großes, Schweres zur Erde nieder. Ihr wurde übel, sobald sie daran dachte.

„Hallo?“

Selten war sie so froh gewesen, Christians vertraute, beruhigende Stimme zu hören wie in diesem Augenblick.

„Oh, Chris, Chris!“ stammelte sie fassungslos. „Du mußt sofort zu mir kommen. Es ist etwas ganz Fürchterliches passiert.“

„Aber, Pamela, Kind, ich hab’ doch Dienst. Es tut mir wahnsinnig leid ...“

„Es hat ja doch mit ... mit deinem Dienst zu tun!“ Noch immer schlugen ihre Zähne wie im Frost aufeinander. „Oh, Chris!“ Sie schluchzte trocken auf.

„Es ist doch hoffentlich kein Mord?“ fragte er scherzhaft. Sie hörte ihn sogar lachen. Wieder wurde ihr übel. Bei dem Gedanken an ihr leichtfertiges Gespräch mit Chris schüttelte sie sich.

„Du wirst es nicht glauben, Chris, aber es ... es ist wirklich einer passiert.“

„Pamela!“ rief er abwehrend. Seine Stimme klang beinahe besorgt.

„Das soll doch wohl ein Witz sein?“

„Nein, nein!“ rief sie heiser.

„Du, es hört sich an, als hättest du Fieber. Fühlst du dich nicht wohl?“

„Chris, ich phantasiere nicht!“ versicherte sie erregt. „So hör doch, es stimmt! Bitte komm schnell zu mir, ja? Chris, mir ist ganz elend. Ich habe doch alles mitangesehen. Chris, ein Mord!“

Der Kriminalkommissar war ältlich, grau und aus irgendwelchen Gründen schlecht gelaunt. Während er durch das Zimmer ging, bald hier einen Blick auf die Bücherregale warf, dort die Schreibmaschine betrachtete, wurde sein Gesichtsausdruck nicht freundlicher. Vielleicht hatte ihn Pamela beim Abendessen gestört oder durch ihren Anruf eine Skatverabredung unmöglich gemacht, vielleicht hatte er schon zu viel Arbeit, vielleicht gefiel ihm aber auch ganz einfach ihre Nase nicht. Jedenfalls behandelte er sie keineswegs so, wie es einer Kronzeugin zukam.

„Also erzählen Sie das bitte alles noch einmal von vorn, Fräulein! Fräulein?“

Sie hatte den Eindruck, daß man mit diesem Hin- und Hergerede nur wertvolle Zeit verlor. Sein Zögern, sein Herumschnüffeln, seine – ihrem Gefühl nach – überflüssigen und albernen Fragen machten sie rasend.

„Wollen Sie denn nicht lieber erst versuchen, den Mörder zu ergreifen?“ stieß sie wütend hervor. Sie konnte einfach nicht länger an sich halten.

Der Kommissar schien von dieser Notwendigkeit jedoch nicht viel zu halten. „Sie sind Schriftstellerin, hat man mir gesagt.“

Er blieb vor dem Tischchen mit der Schreibmaschine stehen. Ein Bogen war eingespannt. Zu Pamelas Empörung beugte er sich ungeniert darüber und las halblaut vor, was sie irgendwann am Nachmittag zu Papier gebracht hatte:

„Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Rücken. Sie konnte die nahende Gefahr beinahe körperlich spüren. Auf leisen Sohlen kam es aus dem undurchdringlichen Dunkel auf sie zu, und als fühle sie schon jetzt die würgenden Hände um ihren Hals, schrie sie gellend auf.“

Der Kommissar richtete sich wieder auf, wandte sich Pamela zu und betrachtete ihr gerötetes Gesicht mit den wütend funkelnden Augen, dem empört geöffneten Mund und wiederholte in gleichgültigem Ton seine Frage.

„Was hat das denn mit mir zu tun?“ fuhr sie ihn an. „Ich habe die alte Dame drüben doch nicht aus dem Fenster gestoßen.“

In heller Entrüstung wandte sie sich von dem Kommissar ab und Christian zu, der schweigend an der Tür lehnte. Ihre blitzenden Augen verlangten von ihm, daß er sofort eingreife, daß er sie verteidige, doch zu ihrer unaussprechlichen Entrüstung wich Christian ihrem Blick verlegen aus.

„Mein Gott, Sie müssen doch ganz einfach etwas tun!“ stammelte sie fassungslos. „Warum fangen Sie nicht an, die Leute zu fragen, das Haus zu durchsuchen, Fingerabdrücke zu nehmen und all das?“

„Würden Sie die Entscheidung darüber, was zu tun ist, nicht besser mir überlassen?“ erkundigte sich der Kommissar ruhig. „Ich finde, Sie haben bereits genug Wind um die Sache gemacht.“

Sie hatte den Eindruck, daß sie nahe daran sei, den Verstand zu verlieren. Noch immer würgte sie an dem gräßlichen Schauspiel, das sich vor ihren Augen abgespielt hatte. Sie war davon überzeugt, daß sie niemals im Leben den lautlos auftauchenden Mann in der Tür, die Dunkelheit des Zimmers, den Schrei, den Fall des schweren Körpers und das leere Fenster vergessen würde, und da sagte dieser ...

Ein entsetzlicher Verdacht durchfuhr sie.

„Ja, glauben Sie mir denn nicht?“ stotterte sie, zu fassungslos, um darüber wütend zu sein.

„Hm“, machte der Kommissar stirnrunzelnd. Er beäugte Pamela und zum erstenmal sah sie ein flüchtiges Lächeln um seinen schmalen Mund, aber sie hatte das dunkle Gefühl, daß dieses Lächeln für sie nicht schmeichelhaft sei. „Ich fürchte, Sie haben etwas viel Phantasie, Fräulein Delly. Als Schriftstellerin ...“

„Sie wollen andeuten, ich hätte das alles erfunden?“ Sie starrte ihn entgeistert an. „Nun, es gibt Tagträume, Wunschträume ...“

Pamela fuhr aufs neue zu Christian herum. „Du hast ...“, begann sie außer sich. „Du hast die Gemeinheit besessen, mit ... mit ihm über unsere Unterhaltung vorhin zu reden?“

Christian wurde rot und schluckte verzweifelt. Er fühlte sich außerordentlich unbehaglich. „Pamela, so sieh doch ein, daß man aus einem Unglücksfall nicht mit aller Gewalt einen Mord konstruieren kann.“

„Was hast du gesagt? Ein ... ein Unglücksfall?“ wiederholte sie beinahe zögernd, als sei sie sich über die Bedeutung dieses Wortes noch nicht ganz im klaren.

„Tja, die Sache ist die, daß die Fensterbrüstungen drüben geradezu gefährlich niedrig sind. Wenn sich da jemand ein bißchen zu weit hinausbeugt oder ausrutscht, ist das Unglück schnell passiert. Der Boden kann womöglich noch eingewachst sein. Wir hatten erst vor zwei Monaten einen solchen Fall. Vielleicht ist die alte Dame auch schwindlig geworden. Die jüngste ist sie ja wohl nicht mehr gewesen.“

Pamela betrachtete sprachlos zuerst den Kommissar, dann Christian, der sich immer weniger wohl zu fühlen schien. Dann explodierte sie förmlich:

„Aber ich habe ihn doch gesehen, den Mann, der sie hinausgestoßen hat! Wie oft soll ich das denn noch erzählen? Mit meinen eigenen Augen habe ich ihn gesehen! Er stand in der Tür und knipste das Licht aus. Wirklich, das habe ich gesehen und nicht etwa geträumt. Frau Junkers war nicht allein in dem dunklen Zimmer, sondern es war ein Mann da!“

„Dafür gibt es leider keinerlei Beweise, mein liebes Fräulein.“

„Ich bin nicht Ihr liebes Fräulein!“ fauchte sie ihn an. „Und nicht jeder Mörder ist so dämlich, seine Visitenkarte dazulassen oder ein paar abgerissene Knöpfe.“

Der Kommissar ging nicht weiter darauf ein. Er fragte: „Schreiben Sie schon lange Kriminalromane?“

„Das geht Sie nichts an!“ zischte sie.

„Pamela!“ stöhnte Christian erschrocken, aber der graue Kommissar schien, ungeachtet seines verdrossenen Aussehens, Sinn für Humor zu haben.

„Nein, sicher nicht. Immerhin wollen wir nicht außer acht lassen, daß Sie sich in Ihrer Phantasie aus beruflichen Gründen mit Mördern und Morden beschäftigen. Seit wann beobachten Sie die Leute da drüben?“

Also auch das hatte er verraten! Wenn Blicke töten könnten, wäre Christian nun zweifellos mausetot umgefallen. Er hatte den schrecklichen Eindruck, daß Pamela ihm diese Indiskretion nie verzeihen würde, und er verwünschte seine Voreiligkeit. Aber er hatte den Feldstecher ja schließlich nur erwähnt, um Pamelas Beobachtungen glaubwürdiger erscheinen zu lassen.

„Ich habe vorhin keinen Menschen beobachtet“, stellte Pamela eisig fest. „Ich zog nur gerade meine Gardinen zu, das war alles. Dabei sah ich zufällig die alte Dame am Fenster und hinter ihr in der Tür den Mann.“

„Sprach Frau Junkers mit ihm?“

„Nein, und ich möchte wetten, daß sie überhaupt keine Ahnung hatte, daß er da war. Das“, fügte sie eilig hinzu, „ist natürlich nur mein persönlicher Eindruck. Sie drehte sich jedenfalls nicht nach ihm um und er ... er zögerte eine Sekunde. Ich sah, daß er einen Mantel trug und den Hut auf dem Kopf hatte und ...“ Sie sprach nicht weiter. Sie runzelte angestrengt die Brauen, als denke sie über etwas nach. War ihr nicht irgend etwas an ihm aufgefallen?

„Und der knipste einfach das Licht aus?“ fragte der Kommissar leichthin.

„Ja.“

„Sie haben die alte Dame doch am Fenster ihres Schlafzimmers gesehen, nicht wahr? Nun, als wir in die Wohnung kamen, brannte dort das Licht. Die Wohnungstür war übrigens zu, mit dem Schlüssel abgeschlossen.“

Pamela schüttelte unwillig den Kopf. „Das Licht brannte nicht, als es passierte.“

„Ich habe mich gerade vom Gegenteil überzeugen können“, meinte der Kommissar. Er blieb vor einem der Bücherregale stehen und betrachtete die drei Miniaturen, die darüber an der Wand hingen. Er deutete auf die obere. „Maria Mancini, nicht? Ich habe ihr Bild in Berlin-Dahlem gesehen. Die zweite könnte Lady Hamilton sein. Wer ist die dritte Dame?“

„Weiß ich nicht mehr, steht auf der Rückseite“, erwiderte Pamela patzig. Sie ließ sich nicht ablenken. Mit trotzig erhobenem Kopf behauptete sie: „Dann hat er das Licht eben wieder angemacht, bevor er aus dem Zimmer ging. Ich war zu der Zeit ja draußen in der Diele und habe telefoniert.“

„Möglich, aber hat er auch die Wohnungstür abgeschlossen? Frau Junkers wäre dazu ja kaum noch in der Lage gewesen.“

„Herrgott, er kann ja schließlich einen Schlüssel gehabt haben, nicht?“

„Das wäre auch möglich.“ Der Kommissar schob die lang herabhängenden Übergardinen, welche die Balkontür und ein Fenster verdeckten, zur Seite und betrachtete die Mietshäuser auf der anderen Straßenseite.

„Machen Sie da auch Ihre Beobachtungen?“ fragte er über die Schulter zurück.

„Nein“, erwiderte Pamela bissig.

Er sah sich die langweiligen Fassaden genauer an. Die Häuser glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie mochten Anfang des Jahrhunderts erbaut worden sein. Hier und da sah man die Bewohner hinter den hellen Fenstern, größtenteils kleinbürgerliches Milieu.

„Nicht interessant genug, wie? In den Villen tut sich mehr?“

Pamela hielt es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten.

„Kann ich jetzt das Hinterzimmer sehen, Ihre Proszeniumsloge sozusagen?“

„Bitte!“ schnaubte Pamela. Sie ging an Christian, den sie beinahe streifte und der sie beunruhigt beobachtete, vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Das wäre also das berühmte Fenster?“

Man konnte in der Wohnung der Toten ein paar Männer hin und her gehen sehen. Alle Räume waren hell erleuchtet, alle Vorhänge weit zurückgezogen.

„Nun, hier sitzen Sie wirklich bequem. Haben Sie vorhin den Feldstecher benutzt?“ Der Kommissar nahm das Glas von der Fensterbrüstung und hob es an die Augen.

„Nein“, antwortete Pamela ein wenig widerwillig. „Leider nicht, sonst hätte ich ihn sicher noch besser gesehen. Das heißt, Sie würden mir ja doch nicht glauben.“

Der Kommissar setzte das Glas wieder ab. „Nun wollen wir uns einmal ganz freundschaftlich unterhalten, Fräulein Delly. Ich will Sie nicht beleidigen, gehen Sie endlich von dieser Vermutung ab. Wir müssen uns einig werden. Schauen Sie, es ist ja durchaus möglich, daß Sie einen Mann gesehen haben. Er betrat ein helles Zimmer oder wollen wir lieber sagen, er öffnete die Tür und schaltete das Licht aus, vielleicht weil er weggehen wollte. Warum kann das nicht in dem Raum geschehen sein, der an Frau Junkers’ Schlafzimmer anstößt? Zwischen den beiden Fenstern besteht nur ein kleiner Zwischenraum, obwohl das Zimmer bereits zur Nachbarwohnung gehört. Eine optische Täuschung wäre doch auch in Betracht zu ziehen. Was meinen Sie dazu?“

„Nein.“

„Hm.“ Der Kommissar rieb sich das Kinn. „Das Dumme ist nur, daß sich der geschilderte Vorgang ungefähr so bei den Richters abgespielt hat. Außerdem hat niemand einen Fremden gesehen, bei Frau Junkers wohnt keine männliche Person. Einen Schrei hat übrigens auch niemand gehört.“

„Wenigstens können Sie nicht leugnen, daß Frau Junkers aus dem Fenster gestürzt ist, nicht wahr?“ fragte Pamela bissig.

„Sie ist tot.“

„Kein Zweifel, aber der Tod kann durchaus durch einen Unglücksfall verursacht worden sein. Eine äußere Gewalteinwirkung läßt sich nicht feststellen.“

„Wie Sie meinen, Herr Kommissar.“

„Zeigen Sie mir bitte genau, wo der Mann stand.“

„Ich denke, es habe ihn gar nicht gegeben!“

„Pamela!“ kam Christians Stimme in flehendem Tonfall aus der Dunkelheit. „Wir wollen einmal annehmen, er sei dagewesen“, sagte der Kommissar nachsichtig.

Pamela biß sich auf die Lippen. Es kostete sie Überwindung zu reden. „Sie sehen ja die Tür. Sie ging auf, er wartete einen Augenblick, dann trat er ein bißchen vor und knipste das Licht aus. Weiter weiß ich nichts.“

„Sie hatten nicht viel Zeit, ihn sich anzusehen?“

„Nein, viel Zeit hatte ich nicht. Es ging alles ziemlich schnell. Er stand ja auch halb in der dunklen Diele. Aber ich habe ihn gesehen.“

„Haben Sie auch beobachten können, wie er sich der alten Dame näherte und sie aus dem Fenster stieß?“

„Nein, dazu war es zu dunkel. Ich habe ja auch nicht an so was gedacht. Natürlich kam es mir komisch vor, daß er einfach das Licht ausmachte, aber sonst ...“

„Und dann hörten Sie gleich einen Schrei?“

„Ja, aber ganz leise, beinahe so ... wie wenn ihr jemand die Hand auf den Mund gelegt hätte.“

„Das ist ein neuer Punkt.“

„Ich will hier keine vagen Behauptungen aufstellen“, ärgerte sich Pamela. „Sie haben mich gefragt. Ich versuche ja nur, richtig zu antworten.“

„Ausgezeichnet, Fräulein Delly. Und weitere Beobachtungenhaben Sie keine gemacht?“

Sie hätte ihm am liebsten die Zunge herausgestreckt, aber sie beherrschte sich. „Nein, ich rannte gleich ans Telefon und rief erst Christian ... ich meine Herrn Wilkens und dann bei dem Arzt um die Ecke an. Frau Junkers hätte ja auch noch leben können. Aber ich glaube, das alles habe ich Ihnen schon hundertmal erzählt!“ schloß sie mit einem übertriebenen Seufzer.

„Warum haben Sie nicht zuerst den Arzt benachrichtigt?“ erkundigte sich der Kommissar geduldig.

„Weil ... mein Gott, weil ich natürlich den Mörder nicht entkommen lassen wollte!“

Der Kommissar nickte und betrachtete das Nachbarhaus, hinter dessen erleuchteten Fenstern alles wie an einem gewöhnlichen Abend auszusehen schien. Im Erdgeschoß saßen noch immer drei Personen im Wohnzimmer am Tisch und tranken, in der anderen Erdgeschoßwohnung waren die Jalousien des Architektenbüros geschlossen. In der Wohnung darüber brannte Licht. Hinter den dünnen Gardinen bewegte sich eine ziemlich große blonde Frau. Rechts sah sich das alte Ehepaar die Fernsehsendung an, darüber spülte Frau Richter, unterstützt von ihrer kleinen Tochter, in der Küche Geschirr, während in der Junkerschen Wohnung noch immer die Beamten der Mordkommission hantierten. Niemand im ganzen Hause, auch nicht die neugierige Richter, schien bisher etwas von dem Drama bemerkt zu haben. Nicht einmal durch die vorsichtigen Fragen des Kommissars hatte sich jemand in seinen Gewohnheiten stören lassen.

Der Kommissar ging zur Tür, knipste das Licht an und sah sich in dem kleinen Raum, der Pamela als Schlafzimmer diente, um. Neben dem niedrigen Bett, über das eine brokatseidene blaue Tagesdecke gebreitet war, stand ein hübscher alter Nachttisch, darauf ein Lämpchen mit rosa Seidenschirm. Zwei Orientbrücken bedeckten den Fußboden. Es gab außerdem einen schönen alten Nußbaumschrank und einen mit blauer Seite drapierten Toilettentisch, auf dem neben allerlei Kristall und Silber ein runder Spiegel stand.

„Sie scheinen mit Ihren Kriminalromanen nicht schlecht zu verdienen“, stellte der Kommissar fest.

„Ich schreibe keine Kriminalromane, und bis an mein Lebensende werde ich auch bestimmt keinen mehr anfangen“, stieß Pamela wütend hervor. „Davon habe ich jetzt weiß Gott genug. Das müßten Sie sich eigentlich denken können.“

Der Kommissar verzog den schmallippigen Mund. Er war keineswegs eingeschnappt. „Besten Dank für den Anruf, Fräulein Delly.“ „Tut mir leid, daß ich überhaupt angerufen habe“, versetzte sie hitzig. „Wahrscheinlich habe ich Sie bei Ihrer Feierabendbeschäftigung gestört.“

„Wir sind Kummer gewöhnt. Und wir hätten auf jeden Fall kommen müssen. Also trotzdem vielen Dank für Ihre Bemühungen“, sagte der graue Kommissar unerschütterlich.

„Oh, es war durchaus keine Mühe“, versicherte Pamela höhnisch. „Ich habe nur meine Pflicht als Staatsbürger getan. Was Sie mit meiner Meldung anfangen, geht mich ja nichts mehr an.“ Ihre Stimme triefte geradezu vor Hohn. „Übrigens wollte ich nie den Statistikern glauben, die behaupten, daß die meisten Morde nie geklärt oder überhaupt nicht entdeckt werden. Jetzt begreife ich, daß tatsächlich etwas Wahres dran sein muß. Es ist für die Beamten ja auch viel einfacher, einen Unglücksfall abzulegen als einen Mord aufzuklären, nicht wahr?“

„Pamela!“ Wilkens konnte nicht länger an sich halten, er mußte eingreifen. „Herr Kommissar, sie meint es nicht so. Das ist ... das ist vermutlich der Schock!“

Pamela warf ihm einen verächtlichen Blick zu, gönnte ihm jedoch keine Erwiderung, da sie mit dem Kommissar noch nicht fertig war. „Quod non est in actis, non est in mundo. Falls Sie soviel Latein verstehen.“

„Ja doch, das verstehe ich wohl noch“, erwiderte der Kommissar freundlich. „Guten Abend, Fräulein Delly.“

Pamela schmetterte die Tür hinter ihm zu. Sie ging ins Wohnzimmer, entdeckte dort auf der Abstellfläche eines Bücherregals Christians Zigarettendose und warf sie zu Boden.

Als es schellte, ging sie in die Diele und riß die Tür weit auf. „Keine Angst, Chris“, sagte sie so sarkastisch wie möglich. „Ich denke nicht daran, aus dem Fenster zu springen, weil ihr mir nicht glaubt. Dein Zigarettenetui hättest du ruhig gleich mitnehmen können.“

„Pamela“, murmelte er unglücklich.

„Gib dir keine Mühe, ich weiß jetzt Bescheid. Für euch bin ich eine Hysterikerin, die Tagträume hat, eine übergeschnappte Schriftstellerin, die die Welt mit Ausgeburten ihrer Phantasie belebt. Dein Kommissar hat mich ja nicht im unklaren darüber gelassen, was er von mir hält. Wirklich reizender Mensch übrigens.“

„Pamela, sei bitte nicht so aufgebracht! Kein Mensch hat behauptet, du wärst hysterisch. Aber du könntest dich vielleicht doch geirrt haben! Bitte denk wenigstens einmal darüber nach. Vielleicht war es so, wie der Kommissar es sieht. In der Nachbarwohnung betritt Herr Richter in Hut und Mantel das Zimmer und macht das Licht aus. Du hast das eben nur verwechselt. Die Fenster der beiden Räume liegen so dicht nebeneinander, daß ...“

Pamela lachte kurz auf. „Gib dir keine Mühe, wir sind geschiedene Leute. Ich werde dir bestimmt nie vergessen, daß du mich dermaßen lächerlich gemacht hast.“

„Das ist doch gar nicht wahr, Pamela!“ rief er bestürzt.

„Und daß du seelenruhig mit zugehört hast, wie man mich zum Trottel stempelte“, ergänzte sie.

„Herrgott, Pamela, so war es doch wirklich nicht. Du bist ungerecht. Hör mal, wir müssen uns unbedingt darüber unterhalten, ich habe nur jetzt keine Zeit.“

„Oh, bitte, bitte, geh ruhig! Ich will dich nicht aufhalten. Lauf zu deinem netten Kommissar!“

„Pamela, ich muß dich warnen. Sei bitte vernünftig. Erzähl um Himmels willen keinem Menschen, du wärst Zeugin eines ... Mordes gewesen. Du könntest sonst wirklich Schwierigkeiten bekommen. Vorerst haben wir ja noch nichts dergleichen feststellen können. Das siehst du doch ein, nicht, Pamela? Du verstehst mich?“ Er sah sie bittend an.

„Du hast dich deutlich genug ausgedrückt.“

„Und glaub jetzt nicht, du müßtest wie in einem Roman hingehen und auf eigene Faust den ... den Mörder suchen“, fuhr Wilkens fort. „Dabei kannst du in Teufels Küche kommen. Es ist nicht so einfach, wie sich das liest.“

„Suchen?“ fragte Pamela geringschätzig und schob die volle Unterlippe vor. Sie betrachtete den Freund mit unsäglicher Verachtung. „Den brauche ich nicht erst noch zu suchen.“

„Was ... Pamela, was willst du denn damit sagen?“ erkundigte sich Wilkens aufs neue höchst beunruhigt.

„Na ja, ich weiß doch, wer es war“, erwiderte Pamela seelenruhig und nicht ohne leisen Triumph.

Die Wohnung gegenüber

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