Читать книгу Die Wohnung gegenüber - L.A. Fortride - Страница 5

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Mit leisem Surren kam der Lift nach oben. Die Glastür wurde geöffnet. Jemand trat heraus, ging mit raschen Schritten über den mit Solnhofer Platten belegten Fußboden des Treppenhauses und zögerte plötzlich angesichts der nur angelehnten Wohnungstür. Ein Schlüsselbund, mit dem vermutlich bereits die Haustür geöffnet worden war und der seitdem bereitgehalten wurde, klirrte, wurde jedoch nicht benutzt.

Der Kommissar, der hinter der Tür stand, sah durch das Guckloch eine schlanke, großgewachsene Frau, die stirnrunzelnd die glatte Tür aus dunklem, glänzend poliertem Holz betrachtete. Offensichtlich fragte sie sich, warum die Tür nicht geschlossen war.

Der Kommissar zog die Tür ganz auf und trat dahinter hervor. Er blickte in ein gebräuntes, etwas unregelmäßiges Gesicht, dessen braune Augen ihn verblüfft musterten.

„Was ist denn hier los?“ erkundigte sich die Dame bestürzt. „Wer sind Sie? Was tun Sie in meiner Wohnung?“

Der Kommissar beschränkte sich zunächst darauf, in seiner Musterung fortzufahren, statt zu antworten.

Die große dunkelhaarige Frau – ihr unbedecktes Haar, das an reife Kastanien erinnerte, glänzte im Licht – trug ein einfaches graues Kostüm, schwarze hochhackige Pumps, weiße Waschlederhandschuhe und eine schwarze Handtasche. Das offene Jackett ließ eine weiße Spitzenbluse sehen. Nachdem er das Alter der Dame auf etwa fünfunddreißig geschätzt hatte, sagte er sich, daß sie ohne die ein wenig groß geratene Nase beinahe für hübsch gehalten werden könnte. Sie war allerdings ein wenig starkknochig, ja kräftig, und wer nicht für junonische Figuren schwärmte, würde an ihrer Figur das eine oder andere auszusetzen haben.

„Sie sind die Nichte von Frau Junkers?“

„Ja“, erwiderte die Dame ein wenig atemlos. Sie zog die Brauen zusammen. „Ist ... ist etwas mit meiner Tante?“ Ihr Ärger, ihre Überraschung über das unerwartete Auftauchen des Fremden verwandelten sich schnell in Bestürzung, ja Besorgnis. Ein betroffener, ratloser Ausdruck erschien auf ihrem gebräunten Gesicht. „Mein Gott, sie ist doch nicht etwa ...“

„Was?“ fragte er ruhig.

„Krank oder ...“

„Warum sprechen Sie denn nicht weiter?“

Die Art, wie er sie ansah, wie er sie zum Sprechen zu bringen versuchte, schien sie aufs neue zu befremden. „Wollen Sie mir nicht endlich sagen, wer Sie sind? Warum ist Dr. Geraldy nicht geholt worden, wenn Tante nicht wohl ist?“

„Ist Ihre Frau Tante öfters krank?“

„Nein, eigentlich nie, wenn sie natürlich auch dann und wann den Arzt aufsucht.“

„Was befürchteten Sie eigentlich, als Sie mich sahen?“

„Ich verstehe nicht!“ Die junge Frau runzelte von neuem unwillig die dichten dunklen Brauen. „Ich weiß überhaupt nicht, was Sie meinen.“ Jetzt erst schien ihr bewußt zu werden, daß sie noch immer vor der Tür stand. „Wollen Sie mich nicht endlich vorbeilassen?“ fragte sie ärgerlich.

„Sofort.“ Wieder glitt der graue prüfende Blick über sie hin, und von neuem empfand sie sichtliches Unbehagen bei dieser unverständlichen Musterung.

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir endlich sagen wollten, was los ist!“ stieß sie hervor. Plötzlich hörte sie Geräusche in der Wohnung. Sie hob den Kopf. „Mein Gott ...“ Etwas fiel ihr ein. „Auf der Straße stand ja ein Krankenwagen. Es ist doch nicht wirklich was passiert?“

Sie wartete diesmal keine Antwort ab, sondern stieß den Beamten einfach zur Seite und drängte sich an ihm vorbei in die erleuchtete Diele. Er folgte ihr langsamer. Sie sah sich suchend um, bemerkte eine halb offene Tür und dahinter mehrere unbekannte Männer, die hin und her gingen und Dinge taten, deren Sinn ihr unbegreiflich war. Einer von ihnen öffnete gerade eine Schublade des Sekretärs.

„Hören Sie!“ begann sie entrüstet. Sie wollte ins Zimmer stürzen, aber der Kommissar hielt sie zurück. Sie fuhr ihn zornig an: „Ich will jetzt wissen, was Sie hier tun. Was machen diese Leute in Tantes Zimmer?“

„Ihrer Frau Tante ist tatsächlich etwas zugestoßen“, sagte der Kommissar ruhig.

„Wo ist sie?“ fragte die Nichte sofort.

„Sie ist verunglückt.“

„Schon wieder?“ rief sie bestürzt.

„Was wollen Sie damit sagen?“

Die junge Frau runzelte die Brauen. Ungeduldig erwiderte sie: „Nun ja, Tante ist in letzter Zeit etwas unbeholfen geworden. Sie ist nicht mehr so flink wie früher und nicht mehr so geschickt. Vor einem Vierteljahr ist sie gefallen und hat sich den Arm so verletzt, daß sie ihn noch heute nicht richtig gebrauchen kann. Aber so sagen Sie mir doch um Himmels willen ...“ Wieder machte sie eine Bewegung, um das Zimmer, vor dem sie standen, zu betreten, und wieder hielt der Kommissar sie zurück.

„Hier bitte!“ Ohne ihren Arm freizugeben, schob er sie in das große Wohnzimmer. Dort brannten alle Lampen, auch die Wandleuchter. In der Nähe sahen die Putten über dem Kamin, die Pamela von drüben bewundert hatte, schon ein bißchen mitgenommen aus, auch das Mobiliar machte einen leicht abgenutzten Eindruck, die Seide der Polsterbezüge war angeschmutzt und teils zerschlissen, die Teppiche auf dem Parkettboden abgetreten.

Auf dem kleinen Tisch am Kamin stand das unbenutzte Geschirr für ein kaltes Abendbrot. Butter und Aufschnitt fehlten noch, auch das Getränk, für das zwei Gläser bereitstanden. Es war für zwei Personen gedeckt, neben einem der Teller standen zwei Fläschchen mit Tabletten und eine Dose mit einem Darmregulativ. Die Gardinen waren zurückgezogen, die Glastür zur Loggia stand offen, und im Lichtschein, der in die Nacht hinausfiel, konnte man die Kästen mit den roten Geranien sehen, die die Brüstung schmückten, außerdem einen zusammengeklappten Liegestuhl, einen rot-weiß gepunkteten Sonnenschirm, der an der Wand lehnte. Vom Garten war nichts zu erkennen, aber jenseits der Mauer waren helle Fenster zu sehen.

„Hat Tante Sie angerufen?“ fragte die junge Frau, besann sich dann jedoch und blickte unruhig zur Tür. „Diese Männer ..., also ich verstehe einfach nicht ...“

„Kriminalpolizei“, erwiderte der Kommissar lakonisch.

„Polizei?“ fragte sie mit aufgerissenen Augen. Sie wurde blaß. Sie schien außerstande zu sein, etwas zu sagen. Er konnte sehen, wie sie schluckte, wie sie sich bemühte, damit fertig zu werden. Sekundenlang irrte ihr Blick wie auf der Suche nach einem Ausweg durchs Zimmer, dann endlich schien sie sich wieder zu fassen. Mit ganz veränderter Stimme brachte sie mühsam hervor: „Seit wann benachrichtigt man bei einem ... einem Unfall die Polizei? Sie sagten doch, daß es ein Unfall gewesen sei?“

„Ich sagte, Ihrer Frau Tante sei etwas zugestoßen.“

„Ja, natürlich“, bestätigte sie hastig. „Ich ... ich habe es so aufgefaßt. Ich ...“ Sie sprach nicht weiter. Sie zeigte die typische Reaktion der meisten Menschen beim Auftauchen der Polizei. Er hatte den Eindruck, als erschrecke sie noch heftiger als üblich, was bei ihr verwunderte, denn sie machte keinen zimperlichen Eindruck.

„In diesem Falle mußte die Polizei benachrichtigt werden.“ Der Kommissar wies sich aus.

Sie starrte den Ausweis und den Mann an, aber es war schwer zu sagen, ob sie überhaupt etwas sah.

„Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen“, sagte der Kommissar. „Ich kann sie Ihnen leider nicht ersparen.“

Sie legte Handtasche und Handschuhe langsam auf die Kommode. Sie stand halb von ihm abgewandt und drehte sich auch nicht um, als er weitersprach, so, als weiche sie seinem Blick aus.

„Darf ich um Ihren Namen bitten?“

„Wilma Junkers“, erwiderte sie hastig. „Sie haben vorhin meine Frage nicht richtig beantwortet, Herr Kommissar. Warum hat man Sie gerufen? Wenn jemand sich in der Wohnung verletzt, ruft man doch höchstens einen Arzt an, nicht?“ In ihrer Stimme lag eine bange Frage. „Oder war es ... war es vielleicht ein Verkehrsunfall?“

„Nein.“

„Ja, dann ... Was ist los?“ Ihre Stimme klang heiser, beinahe gequält, als ertrüge sie die Ungewißheit nicht länger.

Er hatte in diesem Augenblick das deutliche Gefühl, daß sie etwas verbarg.

Jemand kam herein, ein schlanker, braunhaariger junger Mann, der sich dem Kommissar näherte und mit leiser Stimme eine Bemerkung machte, ohne die anwesende Dame zu beachten. Der Kommissar nickte schweigend, dann richtete er den Blick seiner grauen Augen wieder auf Wilma Junkers, die nervös eine Zigarettendose geöffnet hatte und sich eine Zigarette anzündete.

„Sie waren heute abend abwesend, Frau Junkers?“

Sie öffnete den Mund, als wolle sie ihn erneut um Aufklärung bitten, aber dann schien sie einzusehen, daß es zwecklos sei. Sie runzelte die Brauen. „Ich war den ganzen Nachmittag in der Stadt. Ich arbeite dreimal in der Woche beim Roten Kreuz.“

„Außer Ihrer Frau Tante war niemand in der Wohnung?“

„Nachmittags schon, die Aufwartefrau. Ich nehme an, daß sie wie gewöhnlich um vier gegangen ist. Sie bleibt nur länger, wenn es etwas Besonderes zu tun gibt.“

„Und danach?“

„Ich kann nicht sagen, was meine Tante heute nachmittag unternommen hat. Vielleicht war sie allein, vielleicht ist sie ausgegangen ...“

Wilma Junkers rauchte nervös und ungeduldig. Wieder konnte sie sich nicht länger beherrschen. „Herr Kommissar, finden Sie nicht auch, daß ich ein Recht habe, zu erfahren, was hier vorgeht? Sie stellen mir Fragen, die Sie besser an meine Tante richten würden. Warum sagen Sie mir nicht wenigstens, wie es ihr geht! Es muß ja wohl ziemlich ernst sein ... Und diese Leute?“ Sie deutete mit dem Kopf zur Wand, hinter der sie die unbekannten Männer wußte. „Was tun die denn eigentlich dort?“ fragte sie verstört. Ihre Hände zitterten. „Verzeihen Sie, aber ich bin ganz durcheinander.“

„Erwartete Ihre Frau Tante für den Nachmittag oder den Abend Besuch?“

Wilma Junkers hob gequält die für eine Frau zu starken Brauen.

„Nicht, daß ich wüßte. Es könnte sein. Tante legt mir keine Rechenschaft über ihr Tun und Lassen ab.“

„Natürlich. Notierte sie ihre Verabredungen? Gibt es ein Notizbuch oder einen Terminkalender?“

„Sicher, auf dem Tischchen in der Diele, neben dem Telefonapparat.“ – „Ihre Frau Tante hatte kein persönliches Merkbuch?“

„Doch.“ Wilma Junkers antwortete offensichtlich mit größtem Widerstreben. Sie schien sich dazu zwingen zu müssen, nicht jede Minute aufs neue aufzufahren und Aufklärung zu verlangen. „Soviel ich weiß, trägt Tante immer eins in ihrer Handtasche herum, aber ich pflege nicht darin zu kramen. Wenn Sie Tante kennen, wird Ihnen klar sein, daß es auch nicht ratsam wäre. Sie müssen sie also schon selbst fragen.“ Sie brach ab und sah ihn an. Sie wirkte atemlos, als sei sie zu schnell gelaufen. Warum hat sie Angst? fragte sich Christian Wilkens. Hängt sie derart an ihrer Tante?

„Sie werden mir aber sicher sagen können, ob Ihre Frau Tante häufig Besuch empfängt?“ fuhr der Kommissar fort.

„In letzter Zeit immer seltener.“

„Verwandte?“

„Wir haben in der Stadt überhaupt keine Verwandten, und von Logierbesuch will Tante nichts wissen.“ Mit einem ungeduldigen Achselzucken fügte sie hinzu: „Wir haben ohnehin nur noch ganz entfernte Verwandte, zu denen kaum noch Verbindung besteht.“

„Also Freunde?“

„Ja, wenn man es so nennen will, meist sind es eher Bekannte“, schränkte Wilma Junkers ein. Sie drückte die Zigarette, die sie nur bis zur Hälfte geraucht hatte, in einem Messingaschenbecher aus, der früher in einer Apotheke als Mörser gedient haben mochte. Noch immer waren ihre Hände unsicher, und beinahe hätte sie das kleine Gefäß vom Tisch geworfen. Mit einem erzwungenen Lächeln sagte sie: „Was Sie mit all diesen Fragen bezwecken, verstehe ich nicht, Herr Kommissar. Ich bin sehr beunruhigt. Bitte ...“

„Gleich. Vorher möchte ich aus bestimmten Gründen gern wissen, ob Frau Junkers an diesem Nachmittag Besuch empfing.“

„Und warum fragen Sie meine Tante nicht?“ Ihre Stimme zitterte. Sie sah ihn mit einem Blick an, der Angst, Unsicherheit und Bestürzung verriet. „Ich glaube, ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich es nicht weiß.“

„Gut. Wie viele Wohnungsschlüssel gibt es?“

„Wohnungsschlüssel?“ wiederholte Wilma Junkers erstaunt, als sähe sie keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Fragen. Sie lächelte nervös. „Zwei.“

„Sie haben den Ihren?“

„Aber natürlich!“ Trotzdem griff sie unwillkürlich nach ihrer Handtasche, öffnete sie dann jedoch nicht. „Sicher“, erwiderte sie beinahe unwillig. „Sonst hätte ich die Haustür nicht öffnen können. Der Schlüssel befindet sich an meinem Schlüsselbund.“

„In der Diele auf dem Telefontisch liegt noch ein Schlüsselbund.“

„Das ist der zweite, der Tante gehört. Sie läßt ihren Schlüssel nie stecken, weil ich ja sonst die Tür nicht öffnen kann.“

„Hat sie schon immer die Gewohnheit gehabt, sich in der Wohnung einzuschließen?“

„Das tun wir erst seit dem Einbruch. Unsere Türen können, wenn sie nur einfach zugeschlagen werden, von außen geöffnet werden. Man braucht nur den Beschlag abzuschrauben. Mit einer Zange kommt jedes Kind hinein. Wir haben natürlich noch die Sicherheitskette, aber wenn ich unterwegs bin, legt sie sie nicht vor.“

„Warum läuten Sie nicht?“

„Das tue ich höchstens mal, wenn die Aufwartefrau da ist. Tante läßt sich nicht gern stören und zweitens hört sie das Läuten meistens nicht. Ihr Gehör hat nachgelassen, und ein Hörgerät lehnt sie ab.“

„Wann wurde bei Ihnen eingebrochen?“

„Oh, im Sommer.“ Wilma Junkers zupfte nervös an ihrer Bluse. „Aber nicht hier, sondern in unserem Landhaus vor der Stadt. Es war kein großer, ich meine kein schwerer Einbruch. Außer ein paar Konserven und einem tragbaren Radiogerät haben wir nichts eingebüßt.“ Wilma Junkers’ Blick wich dem des Kommissars aus.

„Es hat also niemand hier die Tür auf die Art, wie Sie sie beschrieben haben, zu öffnen versucht?“

„Nein, nein, das nicht. Wir sahen nur einmal zufällig, wie unser Hausmeister die Tür unserer Nachbarin mit der Zange geöffnet hat. Ich glaube, sie hatte ihren Schlüssel in der Wohnung vergessen und konnte nicht hinein.“

Wilma Junkers bemerkte, daß der junge Mann, der mit dem Kommissar geflüstert hatte, wie unabsichtlich im Zimmer hin und her ging. Dabei sah er sich auf eine Weise um, die ihre Nervosität steigerte. Stirnrunzelnd sah sie ihm nach. Als niemand von ihrem Unwillen Kenntnis nahm, machte sie einen erneuten Versuch, den Kommissar zum Sprechen zu bringen.

„Ich bin in Sorge, Herr Kommissar. Warum darf ich nicht wenigstens zu meiner Tante? Wo ist sie überhaupt?“

„Der Unfall, den Ihre Frau Tante erlitten hat, ist leider schwerer, als Sie vermutlich annehmen werden. Sie ist unglücklicherweise nebenan aus dem Fenster gestürzt ...“

„Aus dem Fenster gestürzt?“ rief Wilma Junkers fassungslos. Sie wich ein paar Schritte zurück, tastete blind nach einem Halt, berührte die Kommode und stützte sich schwer darauf. „Aus dem Fenster gestürzt?“ wiederholte sie mechanisch.

„Möchten Sie ein Glas Wasser?“ fragte der junge Mann besorgt und trat neben sie.

Sie beachtete ihn überhaupt nicht. Noch immer starrte sie den älteren Beamten mit aufgerissenen Augen an. „Ist Tante ... ist sie ... bitte sagen Sie doch ...“

„Ich muß Ihnen leider die traurige Mitteilung machen, daß Ihre Tante den Sturz nicht überlebt hat. Mein Beileid.“

Wilma Junkers war blaß. Die Bräune ihrer Haut wirkte merkwürdig schmutzig, nachdem jäh alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. Sie schloß die Augen und preßte ihre Lippen fest aufeinander.

„Vielleicht holen Sie doch lieber ein Glas Wasser, Wilkens“, sagte der Kommissar, aber Wilma Junkers wehrte mit einem Kopfschütteln ab.

„Wie ... wie war das nur möglich?“ murmelte sie endlich. Sie sprach langsam und schwerfällig, als koste jedes Wort sie Mühe. Als sie die Augen öffnete, war ihr Blick verwirrt und unsicher und ...

Wilkens, der sie nach wie vor beobachtete, hätte nicht genau sagen können, was ihr Blick noch ausdrückte. Vielleicht ... nein, es konnte ja unmöglich Erleichterung sein, die sie empfand.

„Sie können sich nicht vorstellen, wie es geschehen ist?“

„Ich ...“ Die junge Frau biß sich auf die Unterlippe. „Ich habe Frau Karsten, das ist unsere Aufwartefrau, immer gewarnt, den Boden am Fenster einzuwachsen. Wir haben im Schlafzimmer kein Parkett, sondern Linoleum. Der Belag läßt sich ohne Wachs natürlich nicht gut pflegen, und Tante ist sehr penibel. Vielleicht hat Frau Karsten doch Wachs benutzt.“

„Die Fensterbrüstung ist sehr niedrig.“

„Eben. Wir haben uns, als wir einzogen, noch gegenseitig darauf aufmerksam gemacht. Beim Fensterputzen ist es geradezu gefährlich, trotzdem ...“

„Wollen Sie sich nicht lieber setzen, Frau Junkers?“

„Es geht mir schon wieder besser, danke“, murmelte die junge Frau. „Natürlich war es ein Schock für mich, Sie verstehen? Man kann einen Menschen noch so wenig mögen, aber wenn man plötzlich hört, daß er tot ist ... und auf solche Art umzukommen ...!“

„Vertrugen Sie sich nicht mit Ihrer Tante?“

„Ach Gott!“ seufzte Wilma Junkers auf. „Sie haben sie nicht gekannt, sonst würden Sie nicht fragen. Tante konnte schrecklich sein. Manchmal ... es ist natürlich furchtbar, wenn ich das jetzt ausspreche, aber ... manchmal habe ich sie förmlich gehaßt.“

Einen Augenblick war es still. Wilma Junkers starrte vor sich hin auf den Teppich vor dem Kamin, einen mäßig großen blauen Täbris mit einem hellen Medaillon in der Mitte.

Der Kommissar und der junge Mann schwiegen. Sie schienen auf etwas zu warten.

Wilma Junkers schauerte schwach zusammen, als habe sie einen kalten Luftzug gespürt. Leise sagte sie: „Ich hätte so etwas niemals aussprechen dürfen, denn es ist trotz allem schrecklich. So hätte es nicht geschehen sollen, ein so furchtbarer Tod!“ Sie legte beide Hände vors Gesicht, aber sie weinte nicht. Als sie die Hände sinken ließ, waren ihre braunen Augen trocken. Mit einem heinahe hilfesuchenden Blick sah sie die beiden Männer an.

„Ich glaube, es wird besser sein, wenn wir Sie jetzt allein lassen“, meinte der Kommissar. „In nächster Zeit werden wir Ihnen allerdings noch ein paar Fragen stellen müssen. Eine Routinesache, Sie verstehen?“

„Ja“, murmelte Wilma Junkers, aber sie schien gar nicht zugehört zu haben. „Hoffentlich ... hoffentlich hat sie wenigstens nicht leiden müssen.“

„Das ist kaum anzunehmen. Nach Ansicht des Gerichtsarztes war sie gleich tot.“

Einer der Männer von nebenan kam ins Zimmer und nickte dem Kommissar zu.

„Schön“, sagte der. „Dann wollen wir gehen. Wenn wir noch irgend etwas für Sie tun können, Frau Junkers ...“

„Danke, nein, sehr freundlich“, erwiderte sie mechanisch. Sie richtete sich auf und strich sich das schöne glänzende Haar aus den Schläfen. „Das heißt, wenn Sie mir noch Fragen zu stellen haben, dann ... Es wäre mir eigentlich ganz lieb, wenn Sie noch eine Weile bei mir blieben. Ich ...“ Sie verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln. „Ich glaube, ich habe ein wenig Angst vor dem Alleinsein.“

„Wir könnten eine Freundin von Ihnen anrufen oder eine Bekannte“, schlug der Kommissar vor. „Es ist wirklich nicht nötig, daß wir Sie jetzt noch mit unseren Fragen quälen.“

„Ich habe eigentlich gar keine Freundin.“

„Vielleicht gibt es im Haus jemanden, der Ihnen heute abend Gesellschaft leisten kann?“

„Wir hatten mit den Mietern keinen Verkehr. Tante haßte Klatsch. Sie vertrat immer die Ansicht, man müsse Abstand wahren. Ich bin auch wirklich ganz in Ordnung. Sie brauchen nicht zu befürchten, daß Ihre Fragen mir weh tun. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Kommissar! Ich jedenfalls ... ich glaube, ich muß mich jetzt doch setzen.“ Sie nahm in einem mit roter Damastseide bezogenen Louis-XVI.-Sessel Platz. „Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten? Vielleicht einen Kognak?“

„Nein, besten Dank, nicht nötig. Wir werden ohnehin nicht lange bleiben können.“

Wilma Junkers legte die Hände im Schoß zusammen. In Anbetracht der Unruhe und Nervosität, die sie zu Beginn gezeigt hatte, schien sie nun erstaunlich ruhig und gefaßt zu sein.

„Was möchten Sie gern wissen?“

„Ja, da wäre einiges zu klären. Fest steht ja bereits, daß Sie keinen dritten Wohnungsschlüssel besitzen.“

„Nein, wir bekamen, als wir einzogen, drei Hausschlüssel ausgehändigt, aber nur zwei Wohnungsschlüssel.“ Wilma Junkers’ Gesicht hatte längst seine schmutzig-gelbe Färbung verloren, es hatte nun wieder seine warme Sonnenbräune. Sie blickte aufmerksam von einem Beamten zum anderen. „Ich verstehe allerdings nicht ... Ihre Frage klingt so merkwürdig. Hat das irgendeine Bedeutung?“

„Sehen Sie, Frau Junkers, wir müssen natürlich feststellen, ob es sich um einen selbstverschuldeten Unfall handelt, nicht wahr? Da keine natürliche Todesursache vorliegt, wurden wir benachrichtigt. Wie gesagt, ist das alles eine reine Routinesache. Der Sachverhalt scheint ja ziemlich klar zu sein.“

Die hübschen braunen Augen wurden ein wenig größer. Wilma Junkers nickte zögernd. „Ich verstehe. Das heißt ...“ Ein neuer Gedanke schien ihr zu kommen und sie zu beunruhigen. „Sie glauben doch nicht etwa ...“, fing sie zögernd an. Dann schüttelte sie langsam, beinahe unwillig den Kopf. „Mein Gott, nein, das wäre ja ... nein, wer sollte ...“

„Ihre Frau Tante hatte keine Feinde?“

„Aber nein“, erwiderte sie beinahe ärgerlich. „Das ist ja absurd.“

„Cui bono, fragen wir natürlich. Wer würde aus dem Tode Ihrer Tante Nutzen ziehen?“

Wilma Junkers hob die Brauen. „Wenn Sie deswegen jemanden verdächtigen wollen, müßte ich es sein. Tante hatte außer mir keine näheren Angehörigen. Ich werde sie wohl beerben.“

„Sie sind Alleinerbin?“

„Ich kenne das Testament nicht, aber ich nehme an, daß sie ein paar Legate ausgesetzt hat.“

„War Ihre Tante vermögend?“

„Ich ...“ Wilma Junkers zögerte, dann zuckte sie die Achsel. „Vermutlich, aber ich weiß es nicht genau.“

Bemerkte sie das Erstaunen im Blick ihres Gegenübers? Sie hob hilflos die Schultern. „Tut mir leid, aber über Tantes Vermögensverhältnisse kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben. Natürlich wußte ich, daß Onkel das Haus hier baute. Tante hat es von ihm geerbt, aber sie behauptete immer, es sei mit Hypotheken belastet Dann war noch das Landhaus da, das sie allerdings verkaufen wollte, und die Villa, in der wir früher lebten. Meines Wissens hat sie von Onkel auch Wertpapiere und Bargeld geerbt. Viel oder wenig, kann ich nicht sagen. Sie regelte ihre Geschäfte selbst. Ich durfte nicht einmal einen Brief ihrer Bank öffnen. Es ist durchaus möglich, daß Tante nicht nur vermögend, sondern sehr reich war. Unser Lebensstil darf kein Maßstab für Sie sein.“

Wilma Junkers machte eine Kopfbewegung, die den ganzen Raum einbezog, die wertvollen alten, aber schon ein wenig schäbigen Möbel, die Reproduktion über dem Kamin, das hübsche, keineswegs wertvolle Geschirr auf dem Tisch, ihr einfaches Kostüm und darüber hinaus die drei anderen Zimmer mit ihren gleichfalls alten und nicht immer schönen Möbeln – die Küche, in der nur ein vorsintflutlicher Kühlschrank stand und sogar die Kleidung der Toten, die von ausgezeichnetem Material, aber gänzlich veraltet und nicht einmal einwandfrei sauber war. Hatte sie, fiel dem Kommissar ein, nicht sogar schiefgetretene Absätze an den festen schwarzen Gesundheitsschuhen gehabt?

„Sie war über alle Maßen, sie war einfach unbeschreiblich geizig“, sagte Wilma Junkers.

Ihr anziehendes, keineswegs häßliches Gesicht drückte eine tiefe Bitterkeit aus, die verriet, wie es ihr im Zusammenleben mit Frau Junkers ergangen sein mochte. Ohne daß sie dazu aufgefordert wurde, sprach sie weiter:

„Wir waren nicht blutsmäßig miteinander verwandt, Tante und ich. Mein Vater war der Bruder ihres Mannes. Unser Zweig der Familie war allerdings nicht einmal wohlhabend zu nennen. Ich wurde sofort nach der Schulentlassung berufstätig und arbeitete zuletzt als Sekretärin und Dolmetscherin in einem größeren pharmazeutischen Betrieb. Als mein Onkel krank wurde, holten sie mich. Onkel starb bald darauf. Meine Tante fand das Haus, in dem sie während ihrer Ehe gelebt hatte, zu groß und zog mit mir hierher, als die Wohnung frei wurde. Tante selbst war eigentlich nie krank, sondern eher robust, aber ich glaube, die Hilflosigkeit meines Onkels während der letzten Wochen hatte ihr zu denken gegeben. Sie hatte wohl Angst, einmal auf fremde Menschen angewiesen zu sein. Da sie nie Kinder hatte, überredete sie mich, bei ihr zu bleiben, als eine Art Gesellschafterin und natürlich als Pflegerin für den Fall, daß sie krank werden sollte. Darüber hinaus war sie auf den Gedanken gekommen, daß ich ihr im Zeitalter der Personalknappheit von großem Nutzen sein könnte. Natürlich brauchte ich nie grobe Arbeit zu verrichten, aber ich kochte doch oft, und selbstverständlich hatte ich sie zu bedienen, wenn Frau Karsten nicht da war. Ich war so eine Art Mädchen für alles. Dafür zahlte sie mir allerdings beileibe kein Gehalt. Ich erhielt lediglich Wohnung, Essen, Kleider und ein Taschengeld, um das mich keine Primanerin beneiden würde.“

Wie alt mochte sie sein? Anfangs hatte er sie auf fünfunddreißig geschätzt, aber im Licht der Lampe, unter der sie saß, bemerkte er, daß sie auch gut und gern vierzig sein konnte. Nicht mehr jung also, keine Schönheit, unverheiratet. Welches Leben mochte sie hier gehabt haben mit dieser geizigen, vermutlich auch tyrannischen alten Frau? Sie sprach lebhaft, beinahe amüsiert, aber mit einem Unterton tiefer Bitterkeit.

„Wir gingen kaum aus. Tante besuchte zwar gern Konzerte, aber sie beschränkte diese Liebhaberei auf den Sommer, wenn es im ‚Palmengarten‘ für Dauerkarteninhaber kostenlose Konzerte gibt. Im Winter hatte ich kaum Gelegenheit, aus der Wohnung zu kommen. Lediglich meine Tätigkeit beim Roten Kreuz ...“

Mehr oder weniger war sie also strenger gebunden gewesen als eine Hausangestellte. Vermutlich hatte ihre Tante verlangt, daß sie immer zur Stelle sei. Warum aber war sie hier geblieben? Warum hatte sie eine sicher gut bezahlte Stellung aufgegeben, um unter solchen Umständen Monate, Jahre bei der alten Frau zu verbringen? Vielleicht war die Tante sogar daran schuld, daß sie nicht geheiratet hatte?

„Sie versprach mir, daß ich sie beerben würde, wenn ich sie bis zuletzt betreute“, sagte Wilma Junkers lakonisch, ohne danach gefragt zu werden. Ihre Offenheit hatte jedoch erneut etwas Bitteres, als habe sie zu lange auf den Tag der Freiheit warten müssen. „Wäre ich vorher von ihr weggegangen, hätte sie alles der Stadt oder einer karitativen Einrichtung hinterlassen, wie sie mir einmal, als wir Streit hatten und ich gehen wollte, androhte.“

„Wie lange haben Sie bei Ihrer Tante gelebt?“

„Zehn Jahre. Als ich herkam, war ich siebenundzwanzig. Ich hätte natürlich nie gedacht, daß ich so lange bleiben würde.“

Zehn Jahre! Zehn ihrer besten Jahre! Ihre Bitterkeit war nicht verwunderlich.

„Alles wäre wohl nicht so schlimm gewesen, hätte sie mir mehr Freiheit gelassen. Wir hätten ja auch verreisen können, nicht wahr? Sie hatte immerhin Geld genug, um sich ein angenehmes Leben zu machen, aber sie vergrub sich in dieser Wohnung, sie sparte an Kleidern, am Personal, sogar am Essen. So behauptete sie beispielsweise, Butter sei nicht gesund. Wir aßen nur Margarine. Mit der Zeit wurde sie immer mehr von der Zwangsvorstellung besessen, im Alter verhungern zu müssen. Man kann nicht darüber lachen, wissen Sie, nicht wenn man das miterlebt. Aus einem Stück vertrockneten Brotes, das wir im Schrank vergessen hatten, machte sie eine Tragödie. Dr. Geraldy sagte auch, ihr Geiz sei krankhaft.“

„Der behandelnde Arzt?“

„Ja, er ist der einzige Mensch, mit dem ich jemals darüber gesprochen habe, denn ...“ Sie zuckte mit der Achsel. „Ich hatte ja praktisch keinen Verkehr. Tante hätte es nicht gern gesehen, daß ich eine Bekannte eingeladen oder daß ich mich mit Freunden getroffen hätte. Es kostete erstens Geld, und zweitens behauptete sie, mich zu brauchen. Ich mußte sie auch jedes Jahr nach Nauheim begleiten. Sie machte dort Kur. Nicht einmal den Urlaub durfte ich allein verbringen. Ich hatte in diesen Jahren nie Ferien. “

„Hatte Ihre Tante feste Einnahmen?“

„Ja, die Mieteinnahmen. Sie lebte vor allem von ihren Zinsen, nehme ich an, und den Renditen.“

„Wer verwaltete ihr Geld?“

„Sie selbst, das heißt, sie ließ Papiere ankaufen, Pfandbriefe und dergleichen. Ihre Bank beriet sie. Zu diesen Beratungen durfte ich sie nie begleiten. Sie machte das alles selbst und schloß auch die Unterlagen vor mir weg.“

„Ihr Onkel?“

„War Makler. Er war auch nicht gerade verschwenderisch, aber doch nicht geizig. Ich glaube, er hatte zum Schluß auch kein leichtes Leben bei ihr. Schon damals fing sie an, jede Zigarre zu zählen, die er rauchte, und jedes Glas Portwein.“

Wilma Junkers hob die Schultern, um ihre Machtlosigkeit zu zeigen. „Hat Ihre Tante verlangt, daß Sie sich beruflich betätigen?“

„Meine Arbeit beim Roten Kreuz ist ehrenamtlich.“

„Damit war sie einverstanden?“

„O ja, das hielt sie sogar für notwendig. Sie war sehr mildtätig, solange es sie nichts kostete. Ich ging nach dem Essen ins Büro und blieb dort den Nachmittag über bis zum Abend. Ehrlich gesagt war ich froh darüber. Ich konnte doch wenigstens dreimal einen halben Tag ohne sie verbringen. Ich kam unter Menschen, sah ein bißchen Leben auf den Straßen, konnte mir die Schaufenster ansehen.“

Sie machte nicht den Eindruck, als sei ihr die Tatsache, daß sie nun endlich frei und vermutlich sogar reich war, bereits ganz bewußt geworden. Bisher war die einzige Reaktion auf den Tod ihrer Tante Bitterkeit über zehn verlorene Jahre gewesen. Sie schien zu begreifen, daß kein Geld der Welt ihr diese Jahre zurückgeben konnte. Es würde eine Weile dauern, bis sie richtig begriff, daß die Last von ihr genommen war.

„Arbeiten Sie auf diesem Büro mit Bekannten zusammen?“

„Ich kenne die Damen natürlich, aber es sind keine Bekannten von mir.“ Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Sie werden sich dort nach mir erkundigen wollen.“

„Das gehört zu unseren Nachprüfungen.“

„Ich verstehe. Ich fuhr heute um halb zwei in die Stadt. Tante ruhte noch. Sie wollte in diesen Tagen ihre Bank aufsuchen, um etwas zu erledigen. Ich weiß nicht was. Vielleicht war sie heute da. Um sechs rief ich sie an und sagte ihr, daß ich vermutlich später als sonst heimkommen würde.“

„Sie war zu Hause?“

„Ja, natürlich. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung sei.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Wilma Junkers zuckte mit der Achsel, als wisse sie das eigentlich selbst nicht. Sie dachte nach. „Es hätte ja sein können, daß sie sich nicht wohl fühlte, nicht wahr?“

„Sie denken an eine Erklärung für den Sturz?“

„Ja, ich kann mir noch immer nicht richtig vorstellen, wie es passieren konnte.“

„Sie erwähnten vorhin Legate. Dachten Sie an eine oder mehrere bestimmte Personen?“

„Oh, ich weiß nicht ... Frau Karsten natürlich, die Aufwartefrau. Sie arbeitet schon lange für Tante Leonie, früher war sie Köchin bei ihr. Auch Karsten war bei Onkel tätig. Später, als wir das Haus aufgaben und hierher zogen, nahm sich Frau Karsten in der Nähe ein Zimmer. Sie ist Witwe. Sie bekommt eine Rente und arbeitet nur für uns. Tante versprach ihr oft, sie einmal in ihrem Testament zu bedenken. Auch Onkel hatte Frau Karsten etwas ausgesetzt. Ja und dann ... vielleicht wollte sie diesem Musiker etwas hinterlassen. Tante hatte eine unbegreifliche Vorliebe für ihn.“

„Für einen Musiker?“

Wilma Junkers lächelte bitter. „Ich glaube, es war in letzter Zeit das einzige Mal, daß sie sich großzügig zeigte. Sie schenkte ihm einen Frack für seine Auftritte.“

„Kennen Sie ihn?“

„Ja, sicher. Einmal traf ich ihn auch hier bei Tante. Ich glaube, er war, wenn ich in der Stadt arbeitete, häufiger hier, aber das weiß ich nicht mit Bestimmtheit. Tante sprach nicht darüber. Er ist Pianist, Caspar heißt er. Wir lernten ihn in einem Konzert kennen, nachdem wir ihn vorher schon gehört hatten. Er saß neben uns, Tante ... Sie war ziemlich ungeniert und sprach ihn an. Künstler sind im allgemeinen ja nicht besonders zurückhaltend. Er erzählte ihr jedenfalls gleich ziemlich viel von sich, und es gelang ihm – wie, werde ich nie begreifen! –, Tantes Interesse zu wecken. Er ist arm und alleinstehend und noch ziemlich unbekannt. Ob er ein guter Pianist ist, kann ich nicht beurteilen. Tante behauptete es. Ich begreife nicht, was sie an ihm finden konnte, aber sie fand jedenfalls etwas. Wenn sie nicht schon fünfundsechzig gewesen wäre, hätte ich beinahe befürchten müssen, sie wäre in ihn verliebt.“

„Ein junger Mann?“

„Mitte oder Ende der Dreißig, aber er sieht jünger aus, auf jeden Fall bestand zwischen ihnen ein großer Altersunterschied. Er hätte zumindest ihr Sohn sein können, nicht wahr? Aber ihre Gefühle für ihn waren bestimmt nicht die einer Mutter oder gar Großmutter. In seiner Gegenwart wurde sie richtig kokett. Mir war es peinlich, sie dabei zu beobachten.“

Der Kommissar stand auf. „Besten Dank für Ihre Geduld, Frau Junkers. Ich glaube, wir haben alles erfahren, was wir wissen müssen. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, wenden Sie sich an uns.“

Wilma Junkers war ebenfalls aufgestanden. „Ist die Angelegenheit denn damit noch nicht erledigt?“ erkundigte sie sich bestürzt. „Glauben Sie denn wirklich, daß Tante ...“ Sie brach plötzlich ab, als sei es ihr unangenehm, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.

„Ich glaube gar nichts, Frau Junkers, es ist nur einfach meine Pflicht, jede Möglichkeit gründlich zu durchleuchten. Aber ich denke schon, daß wir über alles gesprochen haben. Wir werden Sie kaum noch einmal belästigen müssen.“

„Und die ... Beisetzung?“

„Sie erhalten Bescheid, sobald die Leiche freigegeben ist. Gewisse Untersuchungen sind in diesem Falle leider unumgänglich.“

„Ich verstehe“, murmelte sie. Sie ging mit ihnen bis zur Tür und dankte mit einem etwas mühsamen Lächeln für ihre Unterstützung. Sie wartete, bis die beiden Herren im Aufzug verschwunden waren, dann erst trat sie in die Wohnung zurück. Wilkens, der sie durch die Glastür des Lifts bis zuletzt hatte beobachten können, bemerkte, wie das erzwungene Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und einem unsicheren erschrockenen Ausdruck Platz machte.

Während er auf den Knopf drückte, meinte er:

„Na, die wird sich bald getröstet haben.“

„Leicht hat sie es jedenfalls nicht gehabt. – Ihre Freundin will den Mann im Zimmer also erkannt haben?“

„Ja, sie behauptete, sie kenne ihn vom Sehen, aber sie weiß nicht, wer er ist.“

Die Lift glitt nach unten.

„Die Nichte machte auf mich einen vernünftigeren und zuverlässigeren Eindruck als Ihre leicht reizbare Schriftstellerin“, meinte der Kommissar mit einem flüchtigen Lächeln. „Die junge Dame ist so explosiv wie Brauselimonade.“

Wilkens runzelte unglücklich die Brauen. Zu seinem Leidwesen mußte er feststellen, daß er die Ansicht des Kommissars teilte.

„Immerhin kann es natürlich nichts schaden, wenn Sie vorsichtshalber die Köchin und auch den Pianisten aufsuchen. Wir wollen nichts versäumen. Allerdings verspreche ich mir nicht viel davon. Ach ja, und zu diesem Arzt, diesem Dr. Geraldy, gehen Sie am besten auch. Nach den Medikamenten zu urteilen, die die Alte gesammelt hat, scheint sie eine anhängliche Patientin gewesen zu sein. Vielleicht war sie doch nicht so robust und gesund, wie Ihre Nichte annahm. Erkundigen Sie sich auch, ob sie getrunken hat. Es soll ja Leute geben, die das tun, auch reiche alte Damen. Und sie wäre nicht die erste, die deswegen aus dem Fenster stürzte. – Geraldy, der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich kann mich nicht erinnern ...“

„Der Doktor meint, sie sei nüchtern gewesen.“

„Trinker leiden auch in nüchternem Zustand manchmal an Gleichgewichtsstörungen.“

„Und der ... Mann?“

„Mein lieber Wilkens, ich fürchte, der besteht nur in der Einbildung Ihrer Schriftstellerin. Oder kann uns die junge Dame auch erklären, wie er durch das Schlüsselloch entwischt ist?“

Die Wohnung gegenüber

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