Читать книгу Die zwei ewigen Lügen im Leben - Lana Merbach - Страница 4
Episode 1 – Kind oder Karriere
Оглавление„Oh you’re pregnant?
That will be so bad for your career
but so good for your Instagram!“
-Harley Quinn, Staffel 1, Folge 4
„War es das wirklich wert?“, hallte in seinem Kopf als sich die Fassaden von Stein und Glas abwechselten, an denen er vorbeiging. Die Zigarette in der Hand schützte die Finger nur unmerklich vor der Kälte, die sich in die Kleider fraß und den Atem sichtbar werden ließ. Samuel stieg, immer noch gedankenversunken, in die nächste U-Bahn ein, den Duft der letzten Nacht unter seinen Kleidern versteckt und in seiner Nase. Die Gedanken suchten ihn die gesamte letzte Nacht heim. Im Gegensatz zu Masha schlief er nicht. Ist es das Gefühl, dass diese Frau an ihrem ersten Treffen ausgelöst hatte oder war es die Frau selbst, in die er seine Gefühle zu projizieren versuchte, um der geifernden Leere in seinem Herzen zu entfliehen? Waren ihre Berührungen ehrliche Leidenschaft und Begehren oder nur Auswuchs ihrer temporären Weltflucht, zu der er ihr dienlich war? Das Rattern der Schienen bildete in einem rhythmischen Takt die Grundlage für sein Schlaflied.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er eine junge Frau mit Kinderwagen in die U-Bahn einsteigen und stellte sich deren Leben vor. Junge Mütter wie sie eine war, fühlen sich von allem und jedem bedroht und strahlen eine Abwehr- als auch eine Angriffshaltung aus. Auf ihn wirkten sie oft wie Löwinnen, die ihre Jungen verteidigten. Sie sehen ihren Nachwuchs als verlängerte Existenz an, deren kleine Körper so unversehrt wie möglich, in die Zukunft getragen werden müssen. Das Fauchen an die Gesellschaft konnte man förmlich hören, wenn sie einen anblickten. Sie müssen sich der Gesellschaft gegenüber rechtfertigen in der sie leben, in der die Frau das Recht und die Pflicht hat, sich entscheiden zu können und es auch zu müssen. Zwischen der Karrierefrau und der Mutterrolle oder einem Balanceakt dazwischen, bei dem frau sich zwei Fronten gegenüberstehen sieht, für die sie sich, egal, was sie tut, immer rechtfertigen muss. Geschützt sei die Frau davor, in beidem zu scheitern, denn das bedeutete das Versagen als Mensch an sich.
Die Mutterrolle birgt die Gefahr der Gefühle mit sich, als Frau nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden. Dies sind zwar nur persönliche Befindlichkeiten, jedoch zählt letzten Endes mehr, was ein Mensch fühlt, als das, was die Realität offenbart. Sie spiegelt das wieder, wie ihr begegnet wird. Die Realität, die in den Augen eines jeden Menschen anders aussieht, weil jede Einstellung, Handlung und Bewegung eine Geschichte hat, dessen Wurzel sich im Laufe der Jahre niemand mehr bewusst wird. Mutterkomplexe, Vaterkomplexe, Verlustängste, Nähe- und Distanzprobleme. Alles hat seinen Ursprung in der Biografie, der Selbstoffenbarung gegenüber der Welt an sich und schließlich der Reflexion davon.
Genau wie die Mutterrolle, ist die Rolle der Karrierefrau ohne Kinder ebenfalls stigmatisiert. Der gesellschaftliche Druck der zwei „K“s lastet auf jeder Frau: Kind oder Karriere. Die Geburt des Einen ist der Tod des Anderen. Frauen scheinen heute nichts richtig machen zu können, wenn sie sich entscheiden. Eine Schlacht müssen sie immer schlagen. Sei es die Schlacht des gesellschaftlichen Drangs, einen wichtigen Teil zum Allgemeingut beizutragen, sich selbst in einer Karriere zu verwirklichen, unabhängig zu sein und im Zeitgeist einer emanzipierten Welt den Platz einzunehmen mit der offenen Flanke, sich in regelmäßigen Abständen anhören zu müssen, wieso frau keine Kinder habe und wann die Kinder denn kämen, die Uhr doch ticke, wobei je nach Konservativität des Umfeldes der Druck mehr oder minder stark offen ausgedrückt wird. Auch Blicke können vorwurfsvoll sein, wenn die eigene Schuld und das Wissen, welche Rolle man doch eigentlich zu erfüllen habe, wie ein Samen in der weiblichen Seele verpflanzt ist. In Anbetracht der Schlacht eine Mutter zu sein, den Zweck zur Fortpflanzung und der Weitergabe der Gene an die nächste Generation zu erfüllen, als auch das warme Gefühl der Mutterliebe eines Kindes gegenüber und der Gewissheit, dass ein Teil von einem weiterleben wird, um sich im anderen Atemzug die spöttischen Blicke und das Getuschel anhören zu müssen, man würde der Gesellschaft, einem Mann oder irgendwem anderes auf der Tasche liegen, oszilliert die weibliche Seele stets zwischen Pflicht, Last, Erfüllung und Leidenschaft. Junge Mütter waren nicht selten dabei beobachtet worden, dass sie all ihre anderen Rollen der selbstbewussten Karrierefrau, der Liebhaberin, der Abenteurerin und der Träumerin in sich selbst diffundieren fühlten, um sich als Muttertier zu exkulpieren, um somit der Erblast Rechnung zu tragen.
Selbst wenn eine Frau den Spagat zwischen beiden Fronten schafft, ist sie doch nicht mehr als eine Troubleshooterin und verliert sich unweigerlich im Zeichen der Zerrissenheit der Rollen noch mehr, als sie es ohnehin als moderner Mensch schon tut. Im Zug der Definitionen der Rollen als Mutter, Liebhaberin, Kollegin, Freundin und den vielen anderen Rollen, haben als logische Folge eine tief verwurzelte Unzufriedenheit, nie das Richtige machen zu können und egal zu welchem Zeitpunkt im Leben frau sich umdreht um zu sehen, ob ihr Leben gut und richtig war oder an welcher Stelle sie sich womöglich falsch entschieden habe, bildet die Wahl für oder gegen eine Familie immer einen zentralen Ankerpunkt.
Wenn es das Abenteuer für eine Frau ist, eine Ehefrau zu werden und ihr nicht zugestanden wird, genauso wie die männlichen Heroen auf ihren Heldenreisen in den unzähligen Geschichten, Mythen und Erzählungen der Menschheit, zu sich selbst zu finden und sich zu entwickeln, besteht dieselbe Tragik wie in jeder unvollendeten Geschichte. Denn was kommt nach dem „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ im Märchen, nach der Hochzeit in den Filmen und Büchern, die den jungen Frauen und Mädchen von heute und auch zu allen Zeiten vorgesetzt werden? In diesen Geschichten ist für eine Frau die einzige Alternative zur Hochzeit der Tod.
Gedankenverloren erinnerte Samuel sich auch an die Aussage einer kurzen Affäre, die er einmal hatte. Sie war das, was er als typische Karrierefrau bezeichnet hätte. Beruflich immer auf der Überholspur, jung, ehrgeizig, unerbittlich und selbst die Sexdates mit ihr waren auf die Stunde genau terminiert. Die Treffen kamen ihm im Nachhinein eher wie Trainingsstunden im Fitnessstudio vor. Auf die Frage, wie sie denn zu Kindern stünde, antwortete sie, während sie sich nach einem Liebesakt wieder anzog und ihn dabei nicht einmal anblickte.
„Wenn ich die Wahl hätte, wäre ich lieber unfruchtbar.“ Samuel war schockiert von dieser kalten Antwort, woraufhin sie sich umdrehte und ansah, als spürte sie, was für eine kaltherzige Ausstrahlung sie hatte, während sie sich ihre Strumpfhose überzog. „Sam, mein Süßer, schau mich nicht so an. Frauen werfen so viel mehr in die Waagschale des Lebens beim Sex. Viel mehr als Männer. Und die Wunder der Verhütung machen es den Frauen erst möglich in einer Welt gemacht von Männern für Männer, dem Mann ebenbürtig zu existieren. Ich kann das nicht aufgeben. Ich kann das nicht riskieren.“ Er konnte sich noch daran erinnern, dass ihm diese junge Frau immer etwas unterkühlt vorkam. Jetzt wusste er warum. Sie fuhr fort, während sie sich die Schuhe anzog.
„Ein Kind ist ein Garant für den sozialen Abstieg in unserer Gesellschaft und selbst die große Freuden, eine Mutter zu sein, können mich nicht davon überzeugen, mein Leben wegzuwerfen, um Hausfrau und Mutter zu werden. Ich will niemals abhängig sein von jemandem. Verstehst du? Niemals. Weder von einem Mann noch von einem Kind. Selbst, wenn das bedeutet, dass ich im Alter einsam bin.“ Sie sahen sich danach nur noch wenige Male, bis der Kontakt einschlief und Samuel nur noch der sportartige Geschlechtsakt und dieses Gespräch mit ihr im Kopf geblieben war.
Er saß nun, müde von der schlaf- und traumlosen Nacht, auf den unbequemen Polstern der U71 und betrachtete, wie die junge Mutter ihr Kind aus dem Kinderwagen hob, um, den, in einer übertrieben niedlichen, roten Mini-Daunenjacke gepackten, Sonnenschein ihres Lebens, ein Lächeln und freudiges Gurgeln zu entlocken, indem sie das Kind auf dem Arm auf und ab hüpfen ließ. Er stellte sich die Wohnung und nähere Familie der Mutter vor, nicht ohne den Gedanken zu haben, es handele sich um eine Alleinerziehende. „War sie glücklich?“, dachte er für sich. „Denkt sie darüber nach, ob es das alles wert ist? Die Gefühle. Der Akt. Das Kind. Der Kinderwagen… und auch die Zeit allein, im Falle eines Vaters, der sie für das Gefühl der Freiheit und seiner Funktion im Leben, die Verteilung seiner Gene erfüllt zu haben, zurücklässt. Ein Vater, der sich der Verantwortung entzog, für das Leben, das er geschaffen hatte.“ Er verstand solche Männer nie. Seine Gefühle schwebten zwischen Mitleid und Bewunderung für diese Frau, die er doch gar nicht kannte und deren Lebensgeschichte er sich so bildhaft ausmalen konnte. Wie kam es dazu? Wie hat sie den Vater kennengelernt? Hatte sie das Gefühl, dass sie mit ihm an ihr „glücklich bis an ihr Lebensende“ angekommen sei?
Noch bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, stieg er aus. Sobald seine Schuhe den Asphalt berührten, waren die Gedanken an die junge Mutter und seine frühere Affäre wie verflogen. Wenige Minuten später öffnete er die massive Haustüre seiner Wohnung, die ihm seine Eltern zur Volljährigkeit schenkten, und ließ das Tor ins Schloss fallen.