Читать книгу Die zwei ewigen Lügen im Leben - Lana Merbach - Страница 5
Episode 2 – So wild und wogend wie das Meer
Оглавление„Einem kleinen Funken folgt eine große Flamme.“
- Dante Aligheri
Als er ihre Wohnung verließ, verließen sie auch die Gedanken an ihn. Nur mit einem schwarzen Slip bekleidet, ging sie, im Vorbeigehen zwei Pinsel aus einem Glas auf einem Regal nehmend, in der einen, und ihrem Smartphone in der anderen Hand, auf die Staffelei und das Gemälde zu, an dem sie gerade arbeitete. Mit dem Stiel eines Pinsels im Mund und dem anderen abwechselnd auf der Leinwand und in den Farbklecksen auf der Mischpalette, die langen Haare provisorisch mit einer Klammer hochgesteckt, verlor sie sich in Gedanken. Eine Playlist spielte ihre Lieblingslieder via Smartphone über eine kleine Box ab, die sich unter der Staffelei befand, bis die Melodien und der Gesang von einem Klingelton jäh unterbrochen wurden.
„Hey Liebes, es ist schon nach Zwei. Wann wolltest du denn anrufen?“, drang eine junge Frauenstimme nun freundlich mit leichtem Vorwurf durch den Lautsprecher.
„Ich habe dich nicht vergessen, Annika. War eben nur versunken ins Malen und bin quasi erst aufgestanden.“, entgegnete Masha, immer noch mit dem Pinsel im Mund und dementsprechend undeutlich: „Ich hatte dir doch erzählt“, inzwischen hatte sie den Pinsel aus dem Mund genommen, „dass ich eine großartige Idee hatte, die ich unbedingt fertig machen wollte.“
„Für wen ist es dieses Mal?“ Annikas Stimme aus dem Lautsprecher verlor den leichten Ton des Vorwurfs. „Wieder für einen Kunden?“
„Nein, nein, dieses Mal ist es für mich selbst. Ich will mir auch Zeit damit lassen.“
„Ich verstehe es immer noch nicht, wie du das machst. Ich sitze den ganzen Tag im Büro vor dem PC und komme gerade so über die Runden, langweile mich die Hälfte der Zeit, habe nerv-tötende Kollegen, deren alltägliches Gebrabbel mich noch mehr langweilt und du verkaufst Bilder an irgendwelche Männer, mit denen du schläfst.“ Annika hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr: „Du bist echt talentiert. Wieso hältst du dich denn damit auf? “
„Was heißen schon Erfolg und Talent, wenn du dich dafür irgendwelchen Konventionen verpflichten musst? Du weißt selbst, dass es auch andere Zeiten gab, in denen ich die Möglichkeit hatte als Grafikdesignerin zu arbeiten.“ Die Pinselspitze fuhr in sanften Bewegungen über die Leinwand und verteilte die blaue Farbe, sodass sie sich mit dem noch feuchten Rot auf ihr vermischte. „Im Moment funktioniert es und morgen vielleicht nicht mehr.“
„Ja, das meine ich ja. Da fragt der erste Typ nach einem Bild und auf einmal fragt jeder Zweite. Das ist doch kein Zufall, das ist außergewöhnlich. Das ist etwas Besonderes.“
„Weißt du, Annika, wenn etwas außergewöhnlich ist, merkst du es nicht und sehnst dich dennoch so sehr danach etwas Besonderes zu erleben, weil das Leben, so wie du es führst, für dich so gewöhnlich ist. Du lebst einfach. Du kennst dein Leben so gut. Du kennst dich so gut… und die anderen zu wenig. Da ist nichts Außergewöhnliches dran. Aber…“
„…Ja, das sagst du mir immer, aber…“, unterbrach die Stimme am Lautsprecher.
„…aber du solltest dein Glück nicht nur auf eine Karte setzen, du solltest dich nicht so sehr an einen Job oder Menschen binden. Die Möglichkeiten sind so groß und um mit deinen Worten zu sprechen: „Man setzt seine Geldanlagen nicht in eine Investition. Du minimierst das Risiko, wenn du dein Kapital verteilst“. Genauso ist es mit dem Glück, hörst du, gerade du solltest das wissen.“, Mashas Stimme fiel gegen Ende des Satzes in einen leicht belehrenden Ton.
„…ich könnte das nie wie du. Du weißt, wie lange wir zusammen sind und wie viel wir durchgemacht haben. Außerdem bin ich doch frei. Ich kann machen was ich will. Und er auch.“
„Ich sage dir nur, dass Freiheit bedeutet, die Wahl zu haben. Die hast weder du noch er.“
„Bei ihm brauche ich nicht schön zu sein, Masha. Er liebt mich, wie ich bin.“
„Und er kennt dich, wie ich dich kenne?“
„Nein. Aber kennst du die Typen, mit denen du schläfst?“
„Nein, natürlich nicht. Ich weiß nur, wie sie nackt aussehen. Aber ich kenne dich.“ Masha sprach diese Worte mit einer Weisheit aus, die ihr selbst gar nicht bewusst war und erzeugte eine kurze Stille, in der beide kurz nachdachten oder sich weiter den Dingen widmeten, die sie parallel machten.
„…Annika, Erinnerst du dich noch daran, als wir jung waren…?“, Mashas Stimme unterbrach die Stille, während sie weitermalte.
„…wir sind immer noch jung…“
„…du weißt, was ich meine… als wir wirklich jung und wild und frei waren. Wir waren unzertrennlich, die Welt stand uns offen und jeder Tag gehörte uns. Egal wo wir waren… wir waren wirklich frei… und irgendwo zwischendurch habe ich dich verloren…“, ihr Bild nahm langsam Formen an.
„…Masha, bitte, nicht schon wieder…“, Annika seufzte.
„…doch, doch. Und jetzt kommst du mir vor wie eine Hure, die allen gefallen will.“
„Musst du gerade sagen.“
„Ich versuche schon lange nicht mehr anderen zu gefallen. Ich habe keine Verpflichtungen. Niemandem gegenüber, keinem Chef, keinem Freund und meine Eltern sehe ich ein paar Mal im Jahr. Die wissen nicht, was ich hier tue, außer, dass ich Kunst studiere.“
„Tust du ja auch.“
„Ja, das ist auch okay. Aber wenn sie erfahren würden, dass ich mich prostituiere und meine Bilder manchmal an meine Freier verkaufe, wären sie das Gespött im Dorf. Nur du weißt davon. Das ist die einzige Freiheit, die ich mir nehmen lasse. Im Übrigen fahre ich gleich nach Amsterdam.“
„Was? Davon hast du mir noch gar nichts erzählt. Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Habe mich eben entschieden, als wir telefoniert haben. An Amsterdam gedacht, kurz das Handy in der Hand und Tickets gekauft.“
„Du bist bekloppt.“
„Ich lieb‘ dich auch, Chica“, lachte Masha und legte die Pinsel zur Seite. Bei diesem Bild wollte sie sich Zeit lassen.
„Ich dich auch, du Chaotin, … trotzdem bist du angebrannt. Mach Fotos und schick sie mir.“, entgegnete sie ehrlich und interessiert an dem Leben ihrer alten besten Freundin.
„Versprochen. Bis dann.“, dann legte sie auf und hörte das „Wie lange bleibst du denn?“ von der anderen Seite der Leitung schon gar nicht mehr.
Annika huschte, das Telefon immer noch in der Hand haltend, ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte ein wohlwollendes Verständnis für ihre Freundin in der fernen großen Stadt, legte auf und widmete sich wieder ihrem Alltag.
Masha hatte Recht. Als sie noch jung waren und beide in diesem kleinen Ort festsaßen, gab es nichts, was die eine ohne die jeweils andere gemacht hätte. Sie waren wirklich wie Pech und Schwefel, Tim und Struppi, Ernie und Bert, Bonnie und Clyde, Bud Spencer und Terrence Hill, Thelma und Louis, C-3PO und R2D2 und die vielen anderen ikonischen Duos, die man so kannte. Aber im Gegensatz zu Masha hatte Annika nie das große Bedürfnis verspürt aus der verträumten Verschlafenheit ihrer Heimat auszubrechen und sich in die Ferne zu wagen. So unterschiedlich sie auch waren, als sie vom Kindergarten bis zum Schulabschluss das Fundament und den Einstieg für das Leben vorbereiteten, so sehr brauchten sie auch einander, um sich nicht zu verlieren. Ohne Annika wäre Masha eine Flamme im Wirbelwind der Zeit geworden und ohne Masha wäre Annika wie eine Eiche geworden, die unerschütterlich, jedoch ihre Wurzeln so tief in das Erdreich gegraben hätte, dass sie nichts und niemand auch nur zum Schwanken gebracht hätte. Sie ergänzten sich.
Annika erinnerte sich häufig an ein Gespräch, das sie mit Masha geführt hatte, das sie beide auf einem nächtlichen Spaziergang durch das Dörfchen hin zu einem kleinen Spielplatz führte. In warmen Sommernächten, jede auf eine der Schaukeln sitzend, blickten sie auf die dunklen Dächer der Häuschen des kleinen verschlafenen Ortes, in dem sie beide seit ihrer Geburt lebten. Es war genau einer dieser Gedanken kurz nach ihrem Schulabschluss, als die Uhr so unendlich langsam zu ticken schien und sie die Zeit, die zwischen dem was war und dem was noch kommen sollte, in all ihrer jugendlichen Weisheit sahen.
„Weißt du, Masha, ich frage mich häufig, was ich eigentlich im Leben will. Wann ich merke, dass ich angekommen bin. Wann, wohin ich möchte?“ Annikas Wange lehnte gegen die leicht angerostete Kette, die die Schaukel an den massiven Holzbalken hielt.
„Wie kommst du jetzt darauf?“ Masha schaukelte neben ihr mit stetigem Schwung vor und zurück.
„Es fühlt sich wie das Ende einer Ära an. Und auf einmal sind wir erwachsen.“
„Du meinst, man verlangt von uns, uns nicht mehr mit Dummheiten zu beschäftigen, sondern mit den ernsten Dingen im Leben. Der Steuererklärung, Versicherungen, Hausbau, Familienplanung, guten Job, was aus unseren Eltern wird und so weiter? Was es bedeutet, wirklich erwachsen zu sein? Die Hingabe in die Konformität.“
„Ja.“ Annikas Wange war immer noch an die kalte Kette gedrückt, die ihrer Schaukel Halt und ihrem Blick eine feste Richtung gab.
„Ich weiß nicht, wann ich angekommen bin, Annika. Ich glaube es geht im Leben nicht darum, irgendwelche Ziele zu erreichen, weil hinter den Zielen nur noch weitere Ziele sind. Du findest immer mehr, immer etwas Weiteres. Am Ende ist dieses „Etwas Weiteres“ dein gesamter Lebensweg, wenn du auf dem Sterbebett liegst und zurückblickst.“
„Worum geht es also, wenn es nicht darum geht, die Ziele abzuarbeiten? Wir haben bisher immer nur Ziele abgearbeitet. Wir haben Prüfungen geschrieben, mit dem Ziel eine Note dafür zu bekommen, wir haben Stunden abgesessen in der Schule, mit dem Ziel wieder in die Pause oder nach Hause zu kommen. Dann haben wir für den Abschluss gelernt. Und demnächst ziehst du fort und ich fange hier eine Ausbildung an. Es geht immer weiter. Der Weg geht immer weiter. Irgendwann muss es doch ein Ende haben? Irgendwann muss man doch „genug“ haben und sagen: „Ich bin jetzt da.“ Und „Das ist es.“. Irgendwas muss es da doch geben? Wenn es auch nur ein Gefühl ist.“
Masha schaukelte höher und schneller, während sie eine Antwort auf Annikas Fragen überlegte, bevor sie absprang und sich nach der Landung zu ihrer Freundin umdrehte. „Ich glaube es kommt nicht darauf an, was am Ende das Ziel ist, sondern, wie du das Leben gelebt hast, wie du den Menschen begegnet bist, wie du die Welt gesehen hast. Es kommt dir immer früher oder später der Gedanke „was nun?“ oder „bin ich jetzt da?“. Das sollte aber nicht deine eigentliche Frage sein, Annika. Deine Frage sollte eher sein, „wie hast du gelebt?“, was hast du getan, um die Welt ein bisschen besser zu hinterlassen, als du sie vorgefunden hast?“.
Die beiden Mädchen blickten sich an und fühlten sich von der Dunkelheit und der Wärme der Sommers umschlossen, die ihnen eine wunderliche Weisheit durch ihre Körper huschen ließ, die man nur fühlen kann, wenn man mitten in der Finsternis, mit dem gesamten Leben vor sich, in die stumme Nacht blickt. Diese Weisheit, die jeder junge Mensch in sich trägt, jedoch im Alter wieder verliert, regte ihrer beider Gedanken an und verwandelte ihre Lippen in ein sanftes, zufriedenes Lächeln. Die beiden teilten wirklich alles.
Bis zu diesem Tag als Masha ihr Kunststudium aufnehmen und in die große Stadt ziehen wollte, verband die beiden eine jahrelange Freundschaft, die sich jedoch im Laufe der letzten Jahre aufgrund der verschiedenen Lebensentwürfe unhörbar auseinanderlebte. Manchmal hört man ein leichtes Flüstern, dann ein Grollen, bevor sich Freundschaften auseinanderdividieren. Häufig jedoch ist es so, wie ein bekannter sozialpsychologischer Effekt es beschreibt: Wir mögen das, was wir kennen und fühlen uns damit vertraut. Je häufiger wir einen bestimmten Menschen sehen, desto näher fühlen wir uns mit ihnen verbunden, desto vertrauter werden sie uns.
So war es auch kein Wunder, dass Masha und Annika, die nur wenige Straßen auseinanderwohnten, in Kontakt kamen, da sie in dieselbe Schule gingen, dort nebeneinandersaßen und auch ihre Pubertät zusammen verbrachten. Freundschaft, und das macht man sich zu selten bewusst, entsteht nicht aus ähnlichen Eigenschaften und Charakterzügen, Neigungen oder Hobbys. Diese bedingen nur die Häufigkeit, mit denen man sich trifft. Das Fehlen von Nähe und Frequenz der Begegnung ist ein häufiger Grund, einen Freund zu verlieren. Der zweite Aspekt, wieviel man dann in eine Freundschaft investiert, wenn man sich im ersten Moment nicht unsympathisch ist. Man arbeitet an der Freundschaft und spielt das Spiel aus Geben und Nehmen häufig auch unbewusst. Vielleicht war das auch der Grund, wieso Masha Schwierigkeiten hatte, in der großen Stadt mit den unzähligen Gesichtern, Freunde zu finden. Sie hatte so viele Projekte, so viele Ideen, so viele Kunden, die ihr, auf die eine oder andere Art ihren Lebensunterhalt und ihr Studium finanzierten. Ihr unbändiges Gefühl von Freiheit, dass sie antrieb, sodass sie selten länger als eine kurze Episode mit Männern zu tun hatte, obwohl sie viele von ihnen interessant und inspirierend, doch nie zu geeignet für sie fand, um sich auf etwas Festes einzulassen, sorgte dafür, dass sie sich nie zu fest an einen Menschen hielt. Außerdem liebte sie ihre Freiheit und die Kunst. „Mit meiner Art zu leben würde er sowieso nicht zurechtkommen“, dachte sie sich dann, wenn sie doch mal jemanden über mehrere Monate hinweg regelmäßig traf, ihn jedoch nie ganz an sich heranließ, weil sie immer das Gefühl hatte, dass ein Mann es nicht verstehen kann, was es bedeutete, seinen Körper zu verkaufen, seine Triebe auszuleben, seinen Geist und Körper dadurch zu befreien, dass man ihn mit den verschiedenen Erfahrungen und Eigenarten, Neigungen, Weisen, wie man jemanden anfasst und wie man angefasst wird, zu konfrontieren und so viel mehr Eins mit dem Kosmos wird, der einen umgibt. Für sie war es jedes Mal eine aufregende, fast transzendente Erfahrung, den Körper eines anderen kennenzulernen und herauszufinden, wie er funktionierte, für die sie sich dann auch gerne bezahlen ließ. So hatte sie ein bewegtes Leben mit vielen Unstetigkeiten und wechselnden Menschen, seitdem sie sich in das Leben in der Freiheit im Schatten der Großstadt verliebte, die ihr eine befreiende Anonymität versprach.
Ihre feste Konstante über die ganze Zeit, war immer nur Annika, mit der sie regelmäßig telefonierte, die über all die Jahre immer noch in dem Örtchen wohnte, in dem sie beide aufwuchsen und deren Leben sich inzwischen so fundamental von dem ihrigen unterschied. „Ich verspreche dir“, hörte Annika Masha noch rufen, bevor sie mit dem kleinen Auto, das all die kleinen und großen Dinge enthielt, die Masha mitnehmen wollte und zum Leben brauchte, wieder in Richtung des Örtchens davonfuhr, aus dem sie kam. „Ich ruf dich regelmäßig an. Es wird sich nichts ändern.“ Und so, mit dem Versprechen auf den Lippen und dem Gedanken täglich zu telefonieren und trotz der Distanz immer für die andere da zu sein, trennten sich die Wege der beiden. Die eine schwamm in den großen Teich, um ein größerer Fisch zu werden und die andere machte sich, wie ein Vogel, ein gemütliches Nest.