Читать книгу In Gedanken bei dir - Lara Myles Barbara Goldstein - Страница 4
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ОглавлениеWerden diese kleinen Füße jemals Spuren in einem Leben hinterlassen?
Die Traurigkeit überkam Cassie wie eine Woge, die alle anderen Gefühle mit sich reißt, und sie fühlte sich, als versuchte sie, unter Wasser zu atmen. Ihr Herz klopfte und ihre Knie zitterten, als sie sich auf das Krankenbett ihrer kleinen Tochter setzte und Jolies Blue-Dolphin-Slippers aufhob. Die niedlichen Delfine aus meerblauem Plüsch hatten ein verschmitztes Grinsen in den Gesichtern und ein kesses Funkeln in den glänzenden, schwarzen Knopfaugen. Nick hatte Jolie die Hausschuhe für die Klinik geschenkt, als die Kleine vor einigen Monaten beim World Wildlife Fund die Patenschaft für einen Delfin übernommen hatte.
Cassie stellte die süßen Schühchen auf ihre Knie und strich mit den Fingerspitzen über die flauschigen Flossen.
Wie zum Trost wiegte Cassie sich langsam vor und zurück. Die panische Angst, dass sie Jolie verlieren könnte, bevor ihr funny little girl diesen kleinen Blue-Dolphin-Slippers entwachsen war, bevor sie ihren adoptierten Delfin auf Hawaii besuchen konnte, bevor sie überhaupt gelebt hatte, schnürte Cassie die Kehle zu. Jolie war fast sechs, sie war Cassies ältestes Kind, aber nicht das erste, das starb.
Cassies Augen brannten, und wie so oft in den letzten Wochen kämpfte sie gegen die heißen Tränen an. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern, und sie versuchte, jeden Augenblick mit Jolie zu bewahren, als wäre er der letzte.
In der kurzen Zeit, die Jolie bei uns ist, hat sie uns so viel Glück und Lebensfreude geschenkt!, dachte Cassie.
In den letzten Monaten, seit sie krank war, hatte die Kleine Nick und sie gelehrt, wie tapfer ein kleiner Mensch sein konnte, wie stark seine Seele war, und was es bedeutete, eine Familie zu sein.
Der Tod des eigenen Kindes war ... nein, dieses Gefühl, dieser Schmerz ließ sich nicht in Worte fassen. Mit dem Sterben konnte ihre kleine Tochter besser umgehen als sie. Jolie konnte sich dem stellen.
Ein ungelebtes Leben verwirklichen – wie das geht?
Ihre zerbrochenen Hoffnungen und unerfüllten Träume hatte Jolie in die rote Lackschachtel gesteckt, die auf dem Tisch dort drüben stand. Eine Schachtel voller Herzenswünsche, die alle wie Seifenblasen zerplatzen würden. Wie gern würde Cassie ihrer Süßen ihre sehnlichsten Wünsche erfüllen! Doch es waren Lebenswünsche, die nur sie selbst verwirklichen konnte.
Ihr größter Wunsch? Sechs Jahre alt zu werden.
Sechs.
Nicht sechzig, siebzig, achtzig. Nicht ein langes und erfülltes Leben zu genießen, ein Leben, das ihrem Tod ein gewisses Maß an Sinn verleihen würde.
Gab es etwas Unangemesseneres als den Tod eines kleinen Kindes, das fast die Hälfte seines Lebens in einer Klinik verbracht hatte? Das nie wirklich Kind war? Das in seinem kurzen Leben eigentlich nie mit aller Kraft gelebt hatte? Das mit vier gelernt hatte, wie schmerzhaft eine Lumbalpunktion an der Wirbelsäule war, und wie elend man sich nach einer Chemotherapie fühlte? Das die Bedeutung von APL kannte, eine seltene und schwer zu behandelnde Form von akuter myeloischer Leukämie, ein Wort, das Cassie nicht aussprechen konnte, ohne dabei zu würgen?
Wenn Jolie und sie gemeinsam in der roten Lackschachtel stöberten, wenn die Kleine sich in ihre Arme schmiegte und sie mit den Lippen über die zarte Haut ihres kahlen Kopfes strich, war Cassie traurig, ja, aber das, was Jolie in die Schachtel gepackt hatte, schenkte ihr auch immer sehr viel Kraft und weckte in ihr den Wunsch, genau so stark zu sein wie ihre Kleine. Die Schachtel steckte voller Gefühle, und Jolie und sie lachten und weinten oft gemeinsam. Jolie strich dann über Cassies kurzes Haar und sah sie mit großen wimpernlosen Kinderaugen an.
Als Jolie während der letzten Chemo wieder die Haare ausgefallen waren, hatte Cassie ihr den Kopf rasiert. Jolies feines blondes Haar war auf den Boden gerieselt, und sie hatte wieder geweint, wie beim letzten Mal. Aber Cassie hatte sie nicht in den Arm genommen und getröstet. Sie hatte ihr den Rasierer in die Hand gedrückt: »So, und jetzt ich.«
Am Ende hatten sie ihren Spaß, und Cassie hatte Jolie auf Facebook das Bild der kahlen Barbie gezeigt, die Mattel für krebskranke Kinder herstellen wollte, die während der Chemo ihre Haare verloren.
Meine wachsen jetzt nach, dachte Cassie, Jolies nicht. Nie mehr? Wie viele Nie mehrs stehen Nick und mir noch bevor?
Nie mehr würde sie die Finger durch Jolies weiches Haar gleiten lassen, nie mehr mit ihr unter der Bettdecke Höhlentauchen spielen, nie mehr mit ihr in Blubbersprache sprechen, als wären sie mit einer Atemmaske unter Wasser, nie mehr würde sie mit ihr in einem Bett schlafen und sie in den Armen halten, nie mehr mit ihr schmusen und kuscheln.
Ich muss mich zusammenreißen!, ermahnte Cassie sich und richtete sich auf.
Sie war heute früher in die Klinik gekommen, um mit Jolie über das Fernsehinterview zu sprechen. CBS San Francisco war auf ihre Website help-jolie.com aufmerksam geworden. Die Redakteure glaubten, dass Jolies Geschichte auch für andere eine Bedeutung haben könnte, und wollten Cassie mit einem Beitrag in den Eyewitness News at 5 bei der Suche nach einem Knochenmarkspender unterstützen. Die Spenderdatei Bone Marrow Donors Worldwide hatte bisher nur einen Spender mit den passenden HLA-Merkmalen für eine lebensrettende Transplantation finden können – in Australien. Doch bevor er für Jolie spenden konnte, starb er vor wenigen Tagen bei einem Motorradunfall im Outback, bei einem Crash mit einem Känguru.
Ihre Website war nun ihre letzte Hoffnung. Und natürlich ihre Freunde in aller Welt. Erst gestern hatte Cassie an sie alle gemailt:
Von: Cassie cassie.lacey@live.com
An: Alle Kontakte
Kopie: Nick nick.talcott@hotmail.com
08.08.2012 / 22:58
Betreff: Jolies glückliches Lächeln
Liebe Freunde, die ihr mir beisteht in dieser schweren Zeit. Ihr macht mir ein wundervolles Geschenk: Das Gefühl, nicht allein zu sein.
Die Chemo ist jetzt überstanden, und Jolie geht es gut. Sie ist jetzt fieberfrei und spielt mit den Kids in der Klinik und den vielen Geschenken, die sie von euch allen bekommen hat. Ihr Zimmer war voller Kartons mit bunten Schleifchen und Glitzersternchen, und Nick und ich mussten acht Mal laufen, um den ganzen Haufen auf der Ladefläche meines Pickups zu verstauen.
Jolie hat sich ausgesucht, womit sie zuerst spielen will. Nick und ich werden unserer Kleinen immer wieder neue Spielsachen mitbringen und alte auf meinem Hausboot in Sausalito verwahren. Jolie hat mich gebeten, euch allen für die tollen Geschenke zu danken. Sie hat sich sehr darüber gefreut.
Auf meiner Website habt ihr von dem tragischen Unfall in Australien gelesen. Wie soll ich meine Trauer, mein Beileid und mein Mitgefühl in Worte fassen? In mir sind so viele Gefühle, die ich am liebsten in einer herzlichen Umarmung ausdrücken würde. Meine Gedanken gelten Coopers Familie, seiner Frau und seinen beiden Kinder, vier und sechs.
Es fällt mir schwer, etwas Persönliches über Coop zu sagen, um ihn zu würdigen. Ich weiß nicht, wie er als Mensch war, als Ehemann, als Vater, als Freund. Ich habe ihn ja nur am Telefon kennengelernt, als ich ihm sagte, wie glücklich ich wäre, dass er Jolies Leben retten wollte. Wir haben miteinander gelacht, und er hat mir Hoffnung geschenkt. Und nun bin ich traurig, dass er aus seinem Leben gerissen wurde.
Nick hat auf unserer Website eine virtuelle Kerze für Coop entzündet. Wer will, kann dort mit uns trauern, seiner Familie in Sydney kondolieren oder einfach einen Gedenkspruch posten.
Coop, Du wirst uns allen unvergessen bleiben.
Nick und ich hoffen, dass Jolie trotz allem, was dagegen spricht, überleben wird. Und wir danken euch, dass ihr alle euch als Knochenmarkspender habt testen und registrieren lassen. Leider kommt keiner von euch für die Transplantation infrage, ebenso wenig wie Nick und ich. Trotzdem sind wir dankbar, dass Jolies Krankheit uns überall auf der Welt zusammengeführt hat. Eure Freundschaft und eure Anteilnahme schenken uns Gelassenheit und Stärke und verleihen unserem Leben Würde. Auch wenn wir manchmal Angst haben und den Mut verlieren, wir werden gegen die Krankheit kämpfen und uns von ihr nicht besiegen lassen. Und Jolie, my funny little girl, ist die Tapferste von uns.
Herzliche Grüße,
Cassie
Anlage Jolies glückliches Lächeln.jpg
Cassie beugte sich vor und stellte die Blue-Dolphin-Slippers wieder vor das Krankenbett. Dann sprang sie auf, um die Jalousien vor dem Fenster zu öffnen.
Warme Sonnenstrahlen fluteten in den Raum, und mit dem hellen Licht auch die leuchtenden Farben des beginnenden Indian Summers im nahen Golden Gate Park. Viele Bäume zeigten bereits erste herbstliche Schattierungen von Gelb, Ocker und Rot bis hin zu violettem Braun. Und in der Luft lag die fröstelige Kühle des vom Pazifik heranschwebenden Nebels.
Wolken aus Zuckerwatte und Nebel aus zerlaufender Sprühsahne, hätte Jolie dazu gesagt und hätte kichernd das Konzert der fernen Nebelhörner der Schiffe unter der Golden Gate Bridge mitgesummt: »Boooo!« und »Bwwww!«
Cassie packte die neue Bettwäsche aus, um Jolies Bett frisch zu beziehen. Mit den lebendigen Farben der selbst gestalteten Bettbezüge versuchte sie gegen die kalte Neonbeleuchtung des Zimmers und die sterile Krankenhausatmosphäre mit piepsenden Infusionspumpen und dem süßlichen Duft der Chemo anzugehen.
Die Motive, die sie jede Woche in einem Laden in der City auf die Decken- und Kissenbezüge drucken ließ, hatte sie während ihrer Arbeit als Unterwasserarchäologin bei der UNESCO in aller Welt fotografiert. Auf der Bettwäsche waren romantische Schiffswracks in dunkelblauem Wasser zu sehen. An einer glitzernden Schnur aus Blubberbläschen schien eine kleine Taucherin im bunten Neoprenanzug zu hängen: Das war sie. Auf einem anderen Foto schwebte sie in einem Wirbel bunter Fische im türkisblauen Wasser über einem tropischen Korallenriff. Jolies liebste Schmusebettwäsche zeigte ein Wrack, das an den Felsklippen vor einer Insel zerschellt war: Mit hochgeschobener Taucherbrille hockte Cassie im kurzen Tauchanzug auf den Felsen, paddelte mit den Flossen im Wasser und winkte.
Das heutige Foto war erst vor wenigen Tagen entstanden, als Nick und Cassie zum kürzlich entdeckten Schiffswrack der Armada of Golden Dreams in der San Francisco Bay getaucht waren. In einer Wolke von silbrig schimmernden Atembläschen schwebten Nick und sie, beide mit schwarzen Neoprenanzügen und neongelben Pressluftflaschen, über dem Wrack und erforschten es.
Wie bei allen anderen Motiven hatte Cassie auch auf diesem Foto mit Photoshop einen Schatz versteckt, den Jolie suchen musste, im Sand neben dem Wrack, zwischen den Planken oder hinter dem Korallenriff. Auf allen vieren tobte ihre kleine Abenteurerin dann kichernd über das frisch bezogene Bett und sah sich das neue Bild mit ihrer archäologischen Ausrüstung – Taschenlampe und Digitalkamera – ganz genau an. War das immer ein Spaß!
Auf diese Weise konnte sie Jolie an ihrem Leben teilhaben lassen, auch wenn sie nicht immer bei ihr sein konnte. So oft wie möglich schlief Cassie bei ihr in der Klinik, und Nick löste sie oft dabei ab. Aber manchmal wollte sie auch einfach bei ihm sein, wie heute Nacht. Zu zweit allein, zwei Liebende, die in den Armen des anderen schwach sein durften, verzweifelt, traurig.
Wie viel hatten Nick und sie gemeinsam durchgestanden. Die Erfahrung, gemeinsam ein aufgewecktes Kind wie Jolie großzuziehen, die Schwangerschaft, Cassies Zusammenbruch, die Trennung von Nick, die schlaflosen Nächte und die panische Angst um ihre Kleine, die unzähligen Fahrten in die Klinik, all das hatte an ihren Kräften gezehrt und hatte sie oft regelrecht überfordert. Nick und sie brauchten dringend ein bisschen Zeit nur für sich. In den letzten Wochen saßen sie sich allzu oft beim Abendessen auf der Veranda des Hausboots gegenüber, starrten auf die nebelige Bay und schwiegen sich an. Nach der Trennung waren sie wieder ein Paar, ja klar, aber sie mussten auch die Kraft haben, weiterhin zusammen zu bleiben ... einander Halt zu geben ...
Fußgetrappel und Kinderlachen drangen vom Gang zu ihr herein. Der Duft von heißem Kakao überdeckte den allgegenwärtigen Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmitteln.
»Hallo, Dr Lacey«, rief eine helle Kinderstimme von der Tür her.
Cassie drehte sich zu dem kleinen Jungen um, der mit dem Teddy im Arm seinen Infusionsständer vor sich her schob. Durch einen Schlauch tropfte eine klare Flüssigkeit in seinen Hickman-Katheter, dessen Silikonschläuche aus dem Kragen seines Batman-Shirts samt Fledermausohrenkapuze und schwarzem Umhang hingen.
Finn war ein kleiner Superheld, wie Batman. Seine Überlegenheit als Kämpfer basierte auf Willenskraft, Durchhaltevermögen und technischen Hilfsmitteln. Sein High-Tech-Infusionsständer trug ebenfalls das Batman-Logo: Er war Finns Batmobil, an dem ein ganzes Waffenarsenal an Einwegspritzen aller Größen hing, seine Waffen im Kampf gegen die Macht des Bösen, den Krebs in seinem Blut. Und gegen die Angst, die die beherzten kleinen Helden auf dieser pädiatrisch-onkologischen Station jeden Tag erlebten: die Furcht vor dem Verlassenwerden, wenn ihre Eltern die Nacht nicht in der Klinik verbringen konnten, der Schrecken vor den Schmerzen der Behandlung und die Angst vor dem Sterben.
»Hallo, Finn, mein Süßer. Wie geht’s dir?«
Der Knirps zuckte mit den Schultern und schaute an ihr vorbei zum Bett. »Wow, die Bettwäsche ist total super. Wer sind die beiden Taucher am Wrack? Dr Talcott und Sie?«
»Ja, Nick und ich.«
»Voll cool, das Foto.« Finn zog den Mundwinkel hoch, als wollte er sagen: Voll cool, solche Eltern.
Seit seine Mom Jolies kunterbuntes Krankenzimmer samt Fototapete an der Wand gesehen hatte, schlief Finn in The-Dark-Knight-Kinderbettwäsche, die sie noch am selben Tag online bestellt hatte. Aber in gekaufter Bettwäsche, egal wie teuer, kuschelte es sich nicht halb so gut wie in von Mommy selbst designten Bezügen. Für Kinder waren zum Glück andere Werte wichtig.
»Danke, Finn.«
»Wo ist denn Jolie?«
»Keine Ahnung.«
»Weil, ich will sie abholen.«
»Wollt ihr zusammen spielen?«
Jolie und Finn waren befreundet, und sie unternahmen viel gemeinsam. Vor einigen Tagen musste Finns Teddy zur Desinfektion in die Waschmaschine. Seite an Seite hatten die beiden durch die Ladeluke den Teddy beobachtet, der blubbernd in der Trommel herumwirbelte. Nach dem Trocknen wurde der nach Weichspüler duftende Plüschbär gemeinsam durchgekuschelt.
Finn schüttelte den Kopf. »Wir wollen zu Nell.«
Cassie betrachtete sein Superhelden-Outfit. »Hat Nell heute Geburtstag?«
»Nein, Ma’am. Sie ist gestern Abend gestorben.«
Sie musste schlucken. »Oh, Finn. Das ... tut mir leid.«
Die Kinder, die auf dieser Station der Kinderkrebszentrum des UCSF Medical Center in San Francisco lebten, die Tapferen und die Furchtsamen, die Unbezähmbaren und die Sanften mussten erfahren, dass plötzlich einer von ihnen fehlte. Nell, die so alt war wie Jolie, würde nie mehr zum Spielen kommen.
Nell war Jolies beste Freundin. Gemeinsam wollten sie beherzt ihren Traum verwirklichen: in die Schule zu gehen wie alle anderen Kinder.
Wie oft hatte Nell, die kleine zarte Nell, ihr Mut gemacht, wenn Cassie wieder einmal glaubte, eine schlechte Mommy zu sein, weil ihr Job sie zu sehr in Anspruch nahm, die Tauchexpeditionen in aller Welt und die Vortragsreisen für die UNESCO. Wie oft hatte die Kleine ihr geholfen, die Welt durch die Augen ihres Kindes zu sehen. Wie oft hatte sie ihr gesagt, was Jolie jetzt brauchte. Jetzt. Nicht irgendwann, sondern jetzt.
Jolie brauchte Geborgenheit und Liebe. Wenn es ihr schlecht ging, lag Cassie neben ihr auf dem Bett, hielt sie fest in ihren Armen und kuschelte mit ihr. Es erstaunte Cassie immer wieder, wie viel Schmerz und Leid Jolie ertragen konnte. Und wie viel innere Stärke sie hatte. Wenn es ihr gut ging, las Cassie ihr vor oder schaute mit ihr auf ihrem Tablet Videos über bedrohte Tierarten wie Tiger, Eisbären und Delfine auf worldwildlife.org an.
Aber Jolie brauchte auch das ernste und aufrichtige Gespräch, die Möglichkeit, beim Malen oder Spielen mit ihrer Mommy alles auszusprechen, was sie beschäftigte, ihre Ängste, ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Trauer, und alle ihre Kinderfragen: »Mommy, was passiert, wenn ich sterbe? Wie ist die Welt ohne mich?«
Die Sonne weint, Jolie, die Blumen lassen traurig ihre Köpfe hängen, die Schmetterlinge hocken gelähmt vor Trauer neben ihnen, und die Vögel in den Zweigen schweigen traurig und verzweifelt.
»Werde ich über den Regenbogen fliegen?«
Ganz hoch, Jolie, höher und immer höher!
»Und über die Wolken tanzen?«
Lachend vor Vergnügen, Jolie, wie alles, was du mit ganzem Herzen tust! Mit ausgebreiteten Armen wirst du über die Wolken flitzen, um die bunten Luftballons mit den Grußkärtchen zu erhaschen, die ich dir schicken werde!
Tot sein bedeutete für Jolie fortgehen und eines Tages wiederkommen. Sie war noch zu klein, um zu begreifen, dass es im Leben etwas gab, das unwiderruflich und endgültig war.
So wie Alex’ Fortgehen, als er mich verließ, dachte Cassie traurig. Jolie hofft, dass er irgendwann zu ihr ... zu uns zurückkehrt.
So wie Nells Sterben. Wie wird Jolie damit umgehen?
Wo steckte sie überhaupt? Seit einigen Tagen war Jolie in Remission – viele ihrer Krankheitssymptome waren verschwunden. Das Blutbild und das Knochenmark mussten jedoch regelmäßig weiter überwacht werden, um die Therapieschritte nach der Chemo zu planen. Vielleicht hockte sie gerade im Labor und wurde gepikst? Ach nein, das Blutbild sollte doch gestern noch gemacht werden. Das hatte Dr Mayfield gesagt, als Cassie die Ärztin vor dem Aufzug getroffen hatte.
Finn packte seinen Teddy fester, schob sein Batmobil auf den Gang, ließ die Tür hinter sich zufallen, und Cassie war wieder allein. Allein mit ihren Gedanken, wie viel Lebensmut sie hatte, wie viel Zuversicht, wie viel Hoffnung, und wie lebendig sie sich fühlte inmitten dieser lebhaften, quirligen Kinderschar.
An Jolies Infusionsständer neben ihrem Bett hing ein Playmobil in Jeans und Shirt an einem Fallschirm, den die Kleine aus einem grünen Mundschutz gebastelt hatte.
Dr Alex Lacey.
Alex.
Daddy.
Mit der Figur setzte Cassie sich aufs Bett und spannte den Fallschirm auf. Beim Skydiving hatten Alex und sie sich im August 2002 kennengelernt.
Zehn Jahre würde ihre Ehe halten, wenn sie unterschrieb. Mit dem Daumen berührte Cassie den Ring an ihrem Finger. Sie hatte ihn nie abgenommen ...
Moab, Utah, im Land der Red Rock Canyons. Ein heißer Tag am Colorado River. Ein Fallschirmsprung bei Sonnenuntergang über dem Canyonlands Nationalpark.
Cassie war früh dran für den letzten Flug des Tages. Als sie mit dem Mietwagen über den Parkplatz knirschte, sah sie Alex gleich. Sie stieg aus und beobachtete ihn vom weitem.
Ja, das war der Kerl, den sie gestern auf seinem Bike in den Schluchten von Canyonlands beobachtet hatte. Er führte ein kleines Mädchen auf einem ungesattelten Pferd über die Weide neben der Startbahn. Die Kleine sah aus, als hätte auch sie sich in den Kerl in Jeans, Shirt und Stetson verguckt. Ziemlich sexy, ein bisschen wie Robert Redford in Der Pferdeflüsterer. Nur viel jünger. Ende zwanzig.
Das Kind auf dem Pferderücken konnte vor lauter Begeisterung nicht still sitzen. Und wie das Gesicht der Kleinen strahlte! Ohne Punkt und Komma quasselte sie auf den Cowboy ein, während Mommy und Daddy am Zaun lehnten und Fotos machten.
Als er schließlich die Arme ausstreckte, um der Kleinen vom Pferd zu helfen, spürte Cassie ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. Und als er zum Office von Skydive hinüberschlenderte und sich breitbeinig auf den Stufen niederließ, wusste sie, sie würden zusammen springen.
Was hatte sie für eine Angst! War sie denn völlig bescheuert, aus einem Flugzeug zu springen?
Cassie hatte noch kein Ticket. Eine Weile drückte sie sich auf dem Parkplatz herum, um sich selbst Mut zu machen. Er beobachtete sie dabei, und sein Grinsen machte sie richtig wütend. Sie tat so, als könnte sie es gar nicht erwarten in die Luft zu gehen, aber das Arsch feixte nur noch breiter. Sie war auf Hundertfünfundneunzig, als sie schließlich an ihm vorbei zum Ticketschalter ging. Na klar, der letzte Flug war natürlich ausgebucht – online über die Website, seit gestern schon. Verdammt!
Als Cassie sich umdrehte, lungerte er hinter ihr herum und drehte den Ständer mit Postkarten von Canyonlands. Der Mistkerl war ihr gefolgt und hatte tatsächlich gelauscht! War sie wütend, als sie nach draußen floh! Als Cassie sich auf den Stufen zum Parkplatz noch einmal umwandte, sah sie ihn mit gekreuzten Beinen lässig am Schalter lehnen und sie angrinsen.
Mit hochgezogenen Schultern stapfte Cassie zu ihrem Mietwagen, um zum Arches Nationalpark zu fahren. Auf den Trails konnte sie das Flugzeug hoffentlich nicht hören und die Fallschirmspringer nicht sehen.
Hey, da parkte ein Wagen, gleich neben ihrem. Ein verrosteter, staubiger Pickup. Nummernschild aus Arizona, Grand Canyon State. War das seiner? Cassie warf einen Blick auf den Beifahrersitz. Dort lag eine CD. Love over Gold von Dire Straits. Prima Musik für lange Fahrten. Das Lied Telegraph Road passte toll zur Landschaft des Colorado Plateaus. Auf dem Handschuhfach klebte ein Sticker. I love Sedona. Stammte er von dort?
Als Cassie einen Schritt zurücktrat, um in ihren Wagen zu steigen, prallte sie gegen ihn.
»Hallo, Fremde!«, lächelte er, und er brachte sie völlig durcheinander. Cassie konnte den Blick nicht von ihm wenden.
»Hallo.«
Er hielt ihr einen Umschlag hin. »Hier, bitte.«
Cassie starrte auf das Foto des Skydivers, der mit ausgebreiteten Armen über Canyonlands schwebte. »Was ist das?«
»Unser Ticket.«
In diesem Augenblick war es passiert, einfach so. Sie hatte sich in ihn verliebt. »Ich verstehe nicht ...«
»In der Maschine ist kein Platz mehr frei. Also hab ich umgebucht.« Er zwinkerte verschwörerisch. »Ich hab denen gesagt, du bist meine Freundin. Du springst daher mit mir. Ich meine, wenn du dich traust, während des Fluges auf meinem Schoß zu sitzen.«
Was hätte sie sagen sollen, außer: »Okay. Danke.«
»Gern geschehen.«
»Cassie O’Shea.«
»Alex Lacey.«
»Freut mich.«
»Jetzt schon? Ich hatte gehofft, erst nach dem Sprung ...«
»Du ...« Sie schlug nach ihm, aber er lachte nur.
Seine Freundin, hm? Ganz schön selbstbewusst! Aber so war er. Mit Freude sprang er ins Leben, legte sein Herz in alles, was er tat, und lebte spontan und intuitiv.
Alex half ihr, die Gurte anzulegen. O ja, er hatte seinen Spaß, als sie sich auf dem Parkplatz auf den Bauch legte, die Beine anhob, die Füße kreuzte und die Hände in die Schultergurte krallte. Lachend packte er ihre Füße und zog sie hoch, bis sich ihr Rücken durchbog wie während des Sprungs. Dann nahm er ihre Hände und breitete ihre Arme aus.
Für das Erinnerungsvideo standen sie Arm in Arm vor dem Flugzeug. Dann klinkte Alex sich in Cassies Gurte ein, schob sie vor sich her in die Maschine und zog sie auf seinen Schoß. Thumbs up, und los ging’s.
Während des halbstündigen Fluges legte Alex seine Arme um sie, und Cassies Hände lagen auf seinen Knien. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, die Wärme seines Körpers, selbst seinen Herzschlag. Er hielt sie fest an sich gepresst, als sie gemeinsam zur offenen Tür taumelten, und er lachte ausgelassen, als sie zusammen sprangen. »Yahoohoohoo!«
Der Flieger über ihnen wurde immer kleiner. Eine Minute freier Fall! Sechzig Sekunden mit Alex, der sie an sich presste und in den Nacken küsste: Ein Viel-Glück-Kuss!
Die Welt drehte sich um sie! Der kalte Luftstrom und der Ruck an den Tragegurten, als Alex den Fallschirm öffnete, versetzten Cassie in ein Hochgefühl, und sie schrie vor Vergnügen! Adrenalin pur!
Alex hing jetzt über ihr, packte ihre Hände und breitete ihre Arme aus. Wie ein Doppeldecker drehten sie ihre Runden über Canyonlands, und die roten Felsformationen von Island in the Sky rasten auf sie zu. Der Himmel glühte in den feurigen Farben des Sonnenuntergangs, und Cassie genoss die Schönheit der Landschaft unter ihr und Alex’ Körper über ihr.
Alex zog an den Steuerschlaufen, um den Flug zu stabilisieren und den Schirm zu lenken. Und er zeigte Cassie alles: Dead Horse Point mit der engen Schleife des leuchtend grünen Colorado. The Land of Standing Rocks mit seinen Canyons und Mesas im Herzen von Canyonlands. The Maze, ein unzugängliches Labyrinth aus engen Schluchten. The Needles, rot und ockerfarben gestreifte Felszinnen am fernen Horizont. Selbst einen der Arches konnte Cassie sehen, als Alex sie darauf aufmerksam machte. Er war Geologe, verriet er ihr. Er kannte sich hier aus.
O ja, und wie! Sie landeten fünf Meilen westlich der Drop Zone am Rand eines Canyons. Vom Wind abgetrieben? Von wegen! Alex wusste offenbar genau, was er tat.
Den Landeaufprall fingen sie mit angewinkelten Beinen ab, dann fielen sie übereinander in den Sand. Bevor Alex die Schultergurte abschnallen und den Fallschirm einholen konnte, bauschte ein Windstoß die Seide auf. Vom geblähten Fallschirm ließ er sich mit ihr über den Rand des Canyons ziehen, kichernd, lachend, johlend vor Vergnügen, trotz der Gefahr.
Sie sprangen über den Felssturz und landeten schließlich wie zwei Basejumper zwischen den vertrockneten Büschen im weichen Sand. Na toll! Und jetzt? Alex holte den Fallschirm ein und verstaute ihn im Rucksack, dann marschierten sie los. Die Landschaft glühte vor Hitze. Sie folgten einem schmalen Flusslauf nach Süden. Sie gingen. Sie schauten. Sie staunten. Sie redeten. Als Cassie stolperte, fing Alex sie auf. Wenn sie durstig wurde, gab er ihr einen Lifesaver mit Kirschgeschmack zum Lutschen. Als sie rasten wollte, hockte er neben ihr auf dem Felsvorsprung und legte seinen Ellbogen ganz selbstverständlich auf ihr angezogenes Knie.
Nach acht Meilen erreichten sie den Highway nach Moab. Als sie die mit Büschen und Bäumen überwucherte Böschung hinaufkletterten, standen sie direkt vor Hole ’n the Rock, einem roten Felsen mit einer Höhlenwohnung, einem Souvenir Shop und einem Trading Post. Hier wartete der Pickup, der sie nach Moab bringen sollte. Während der Fahrt legte Alex seinen Arm um sie, und Cassie lehnte sich an ihn, als würden sie sich seit vielen Jahren kennen, nicht erst seit wenigen Stunden.
Er rieb seine Nase an ihrer Wange und küsste sie sanft.
Sie wich ihm nicht aus. »Wofür war der?«
»Du siehst erschöpft aus nach der langen Wanderung. Ich dachte, der Kuss würde dir gut tun.«
Sie lachte. Dann drehte sie sich zu ihm um und küsste ihn auf die Lippen. »Du siehst aus, als könntest du auch einen vertragen.«
Ankunft in Moab: Alex und Cassie standen auf dem Parkplatz, verschwitzt, verstaubt, verlegen, verliebt. Und jetzt? Cassie wollte ihn zum Abendessen einladen, um sich für den Sprung bei ihm zu bedanken. Sie wollte ihn gerade fragen, in welchem Motel er wohnte, und ob sie bei ihm mal schnell duschen konnte ...
... da klingelte sein Handy.
Alex zog es aus der Tasche seiner Jeans, schaute auf das Display und presste die Lippen aufeinander. »Hallo, Shyla. Wie geht’s dir?« Seine Stimme klang sanft. »Ich komme gerade aus Canyonlands zurück, deshalb konntest du mich nicht erreichen. Der Sprung war toll ... Ja ... Okay ... Keine Ahnung, Shyla, ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme ... Ich brauche noch etwas Zeit für mich ... ein paar Tage ...«
In ihr zerbrach etwas. Ein Traum. Eine Sehnsucht.
Na klar, Alex hatte eine Freundin.
Während er mit Shyla sprach, drehte Cassie sich um und ging mit Tränen in den Augen. Als sie den Highway erreichte, weinte sie mit zuckenden Schultern.
Eine Weile saß Cassie reglos auf dem Bett und versuchte, die verträumten Erinnerungen an die Zeit vor zehn Jahren abzuschütteln. Wie schnell sie sich in Alex verliebt hatte! Wie überwältigend ihre Gefühle für ihn gewesen waren!
Wenn sie zurückblickte, gab es vieles, das sie gern ändern würde. Entscheidungen, die sie heute anders treffen würde. Die Höhen und Tiefen einer turbulenten Beziehung, verletzte Gefühle und zerstörte Hoffnungen. Und Tränen, von denen sie sich wünschte, sie hätte sie nie geweint.
Eines stand fest: Sie beide, Alex und sie, hätten sich mehr Zeit füreinander nehmen sollen, für ihre Liebe und ihr Glück.
Nun war es zu spät.
Mit dem Daumen strich Cassie über das verschmitzt lächelnde Gesicht des Playmobils am Fallschirm, dann hängte sie die Figur zurück an Jolies Infusionsständer und wischte sich die Tränen ab.
Alex’ Brief, den sie heute Morgen gelesen hatte, hatte sie ...
Es klopfte leise, und die Tür öffnete sich.
Dr Mayfield kam herein. Bevor sie die Tür hinter sich zufallen ließ, sah Cassie auf dem Gang das Fernsehteam von CBS San Francisco. Wo war Jolie? Sie musste doch erst mit ihr darüber reden!
»Hallo, Cassie.«
»Hallo, Karen.«
Mit verkniffenem Gesicht und hängenden Schultern kam Karen mit den geballten Fäusten in den Taschen ihres weißen Kittels auf sie zu. Offenbar wollte sie etwas sagen und wusste nicht wie.
Cassie las in ihren Augen, ihrer Stimme, ihrer Haltung und ihren beherrschten Gesten.
Karen, sonst die taffe Chefärztin, wirkte verletzlich. Ihr trauriger Blick sagte mehr als alle einfühlsamen Worte, mit denen sie das Schreckliche aussprach und das Befürchtete wahr machte: Jolie würde sterben.
Auch die besten Ärzte, die Mitfühlenden, die inmitten piepsender Geräte Menschlichkeit und Herzenswärme zeigen konnten, waren für diese belastende Aufgabe nicht ausgebildet. Mit dem Gefühl der Ohnmacht musste Karen den verwaisten Eltern mitteilen, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal war, unbeschwert und glücklich.
Der verzweifelte Schrei blieb Cassie in der Kehle stecken. Stöhnend rang sie nach Luft und wimmerte wie erstickt.
Karen umarmte sie und hielt sie fest. »Es tut mir leid, Cassie«, versuchte sie, die Wucht der Angst und des Schmerzes zu lindern. »Er tut mir so unendlich leid.«
Cassie lehnte die Stirn gegen Karens Schulter und schluchzte auf.
Die Chemo ... die Blutwerte ...
Es ist so weit. Jetzt.
»Jolie?«, presste Cassie hervor, während sie gegen die körperlichen Reaktionen des Schocks ankämpfte: Sie begann zu schwitzen, sie zitterte, ihr war schwindelig, und sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Sie fühlte sich wie im freien Fall, als würde sie gleich hart aufprallen, als würde sie gleich sterben.
»Sie weiß es, Cassie. Ich hab’s ihr gerade gesagt.«
Die Hoffnung stirbt nicht. Sie krepiert qualvoll über Wochen und Monate.
»Wie geht’s ihr?«, schniefte Cassie an Karens Schulter.
»Sie ist gefasst, ein tapferes kleines Mädchen. Sie ist so stark wie du, Cassie.«
Meine Tochter stirbt.
Ich würde mein Leben für sie geben, wenn sie nur weiterleben dürfte. Sie ist das Wertvollste in meinem Leben.
Cassies Knie zitterten, sie taumelte, und Karen führte sie behutsam zum Bett. »Setz dich, Cassie.«
Karen hockte sich neben sie und legte ihre Hand auf Cassies. Es war ein Zeichen der Verbundenheit. Karen nahm dieselbe versunkene Haltung ein wie Cassie und brachte sie auf diese Weise dazu, dass sie sich aufrichtete. Ein psychologischer Trick, ja klar, aber er wirkte.
Dr Mayfield war mehr als nur Jolies Kinderonkologin, die ihre Krankheit festgestellt hatte, als sie vier war, und die sie seitdem behandelte. Karen war eine Freundin, die Cassie durch ihre offene, unkomplizierte Art Hoffnung und Zuversicht gab. Seit einer durchwachten Nacht an Jolies Bett, die auf der Intensivstation der Kinderklinik mit dem Tode rang, duzten die beiden Frauen sich.
Die Chefärztin der Kinderonkologie und Expertin für Intensivmedizin arbeitete fast immer am Limit. Welche Belastung war es für Karen, wenn sie monatelang vergeblich um das Leben eines Kindes rang! Aber sie hatte noch die Kraft, sich Cassies Gefühlen zu stellen, und das rechnete Cassie ihr hoch an.
»Wo ist Jolie?«
»Bei Nell«, sagte Karen sanft. »Sie ist letzte Nacht gestorben.«
Cassie nickte schwach. »Finn hat es mir eben erzählt.«
»Ich wollte es dir sagen. Tut mir leid.«
»Schon gut. Karen ...« Cassie holte tief Luft.
Dr Mayfield ahnte, was sie sagen wollte und drückte ihre Hand. »Nein, Cassie.«
»Aber es ist ihre letzte Hoffnung!«
»Nein, Cassie«, wiederholte Karen eindringlich und besonnen. »Als Mutter kommst du als Spenderin nicht infrage. Du hast ihr das Leben geschenkt, aber du kannst sie nicht retten. Jolie hat die Hälfte der HLA-Merkmale von dir, die andere Hälfte von Alex.«
Cassie atmete langsam aus.
Alex.
Sein Brief.
Die Dokumente, die sie unterschreiben sollte.
Sie lagen noch auf ihrem Schreibtisch, wo sie sie gelesen hatte ... wo sie Alex gegoogelt hatte ... wo sie herausgefunden hatte, wo er jetzt lebte. Sie waren der Beweis dafür, dass alles, was ihr wichtig war, von einem Tag auf den anderen zu Ende gehen konnte ...
Mit beiden Händen fuhr Cassie sich über das glühende Gesicht. Dann betrachtete sie das Foto auf Jolies Nachttisch von ihnen beiden am Strand. Nick hatte die Aufnahme im sanften Gegenlicht des Sonnenuntergangs über dem Pazifik gemacht. Hand in Hand ging Cassie mit Jolie über den schimmernden nassen Sand, der den Himmel, die Wolken und die Sonne spiegelte. Jolie hopste kichernd neben ihr durch die Gischt der heranrollenden Wellen. Dabei berührte sie ihren reflektierten Schatten nicht, und es sah so aus, als tanzte ihr funny little girl über Wolken aus fliederfarbenem und orangerotem Licht.
Das Foto einer glücklichen Familie, so erschien es auf den ersten Blick: Mommy, Daddy und ihre süße Kleine am Strand. Aber so war es nicht. Denn das Foto war am Abend vor Jolies Zusammenbruch und der Untersuchung durch Dr Mayfield aufgenommen worden.
Karen missverstand ihre hochgezogenen Schultern, ihre ineinander verkrampften Hände. Sie legte ihre Hand auf Cassies Arm. »Ich werde nicht transplantieren, Cassie. Wenn ein Kind an einer unheilbaren Krankheit stirbt, ist das etwas, womit ich als Ärztin gelernt habe umzugehen. Aber wenn ein Kind an den Folgen eines Eingriffs, den ich vorgenommen habe, qualvoll zugrunde geht, kann ich das als Mensch nicht verantworten. Tut mir leid, Cassie. Die Abstoßungsreaktion ist das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst, das Schrecklichste, was du deiner Kleinen antun kannst. Ich kann dein Kind nicht heilen, wenn wir keinen passenden Spender finden, und ich will Jolie nicht zu Tode quälen.«
Cassie nickte langsam. Ihr Nacken war so verkrampft, dass die Bewegung schmerzte. »Wie lange noch?«
Karen schnaufte durch die Nase. »Ich weiß es nicht.«
»Monate?«
»Nein, Cassie.«
»Wochen?«
Karen nickte stumm.
Cassie barg das Gesicht in beiden Händen und schluchzte auf. Der Schmerz in ihr war unerträglich. Er zerriss sie.
»Ich kann gut verstehen, wie du dich jetzt fühlst, Cassie. Du hast panische Angst. Du bist wütend, traurig und hilflos. Du willst schreien und um dich schlagen. Dein Kind zu verlieren!« Karen atmete tief durch. »Natürlich willst du alles tun, um Jolies Leben zu retten. Du schenkst ihr Liebe, Geborgenheit, Sicherheit. Du erklärst ihr anhand von Bilderbüchern für Kinder, warum sie so leiden muss.
Du und ich, Cassie, wir haben alles getan, wirklich alles. Spritzen. Infusionen. Tabletten. Einspritzungen in die Wirbelsäule. Bluttransfusionen. Operationen. Bestrahlungen. Morphiumspritzen gegen die Schmerzen. Antibiotika gegen die Infektionen. Wochenlang lag deine Kleine im Halbkoma auf der Intensivstation. Deine Tochter lebt in diesem Zimmer, hier hat sie zwischen Hoffnung und Todesangst die schlimmsten Stunden ihres Lebens verbracht.
Ich weiß noch, wie sie war, als du sie in jener Nacht zu mir gebracht hast. Und sieh sie dir jetzt an. Das Gefühl, der Krankheit, den Symptomen und den Schmerzen hilflos ausgeliefert zu sein, hat sie schwermütig gemacht. Jolie ist ein stilles, ernstes Kind, das viel zu früh erwachsen werden musste. Selbstständig.
Ich bitte dich, Cassie, quäl deine Kleine nicht länger und gib ihr die Chance, die letzen Wochen ihres Lebens so zu verbringen, wie sie es sich wünscht. Hol sie nach Hause, zu Nick und dir, und schenk ihr die Liebe und die Geborgenheit, nach der Jolie sich sehnt. Und erfülle deinem Kind seinen Herzenswunsch. Ich hoffe, dass Jolie noch so lange lebt, bis ihr letzter Wunsch in Erfüllung geht.«
Cassie sah Karen von der Seite an. »Und was wünscht sie sich?«
»Und dieser graue Plüschdelfin? Ist der süß!«, lachte Janelle Gillingham, die Autorin des National Geographic-Artikels über die Armada of Golden Dreams. Die Reportage über den Fund des Schiffswracks wenige hundert Yards vor der Skyline von San Francisco sollte in einer der nächsten Ausgaben erscheinen.
»Meine Tochter hat ihn mir geschenkt ... Cassies Tochter.« Nick erinnerte sich an das letzte Weihnachtsfest, als Cassie und er Jolie für einige Tage nach Hause geholt hatten. Kichernd war die Kleine zu ihnen ins Bett gekrochen, um noch ein bisschen zu kuscheln, und hatte Nick ihren flauschigen Delfin vom WWF geschenkt.
»Dr Cassie Lacey?«, fragte Janelle Gillingham nach.
»Yup.«
»Und Ihre Tochter ist die kleine Jolie Lacey?«
Nick senkte den Kopf.
»Ich kenne Ihre Website. Es tut mir sehr leid.«
Er nickte verhalten.
»Ist es möglich, Dr Lacey zu interviewen? Ich hätte gern ein Foto von ihr. Tauchanzug, hochgeschobene Atemmaske, nasse Haare ...«
»Cassie ist nicht an Bord.«
»Sie ist bei Jolie«, vermutete Ms Gillingham.
»In der Klinik«, bestätigte Nick.
»Okay, dürfen wir dann ein Foto von Ihnen mit dem Delfin machen? Das gefällt mir besser als der Fotostream von Dr Nicholas Talcott im eleganten Armani-Anzug mit grauer Seidenkrawatte. Nicht, dass Sie im Anzug nicht umwerfend aussehen würden, Dr Talcott, ziemlich hip und sehr easy. Aber in Shirt und Shorts mit dem niedlichen Delfin gefallen Sie mir noch besser.« Janelle Gillingham wandte sich zu ihrem Fotografen um, der lässig in der Tür der Kommandozentrale des Forschungsschiffes lehnte. »Russ, kommst du? Dr Talcott, setzen Sie sich bitte vor diesen Monitor! Und während Peter Russell das Foto macht, könnten Sie uns erklären, wie das Gerät funktioniert?«
»Na klar.« Nick fuhr sich durch die von Wind und Salz zerzausten Locken und setzte sich an den Arbeitstisch. »Also, das ist das Gerät mit dem Ping.«
Janelle lachte ausgelassen. »Monty Python. Der Sinn des Lebens. Der Sketch im OP. Das Gerät mit dem Ping. Okay, Dr Talcott, haben Sie auch das teuerste Gerät hier?«, griff sie den Dialog aus dem Film auf und lehnte sich neben der Tastatur an den Arbeitstisch.
Nick konnte ihr Parfum riechen. Ein sommerlicher Duft, frisch und luftig wie eine Brise vom Meer, eine leichte Note von reifen Früchten, aber auch von Blüten.
Als er dieses Parfum als Stimmungaufheller für Cassie gekauft hatte, hatte ihm der Duft gefallen, am Pappkärtchen bei Macy’s und an ihr, auf der feuchten Haut nach dem Duschen. Aber er würde ihr einen neuen Duft kaufen, der ihn nicht an Janelle erinnerte. Etwas Frisches, das nach Natur und Meer duftete und Cassies spontane, unbeschwerte Lebensfreude widerspiegelte, etwas Warmes, das ihre natürliche Sinnlichkeit unterstrich.
Ich sehne mich nach ihr, dachte Nick, und ich freue mich auf den Abend mit ihr. Nach dem Interview mit CBS SF würde Cassie hoffentlich für ein paar Stunden zur Ruhe kommen, und sie konnten einen Sommerabend auf dem Deck ihres Hausboots genießen. Der erste seit ... keine Ahnung.
Nick lächelte Janelle an, die auf der Tischkante noch ein wenig näher an ihn herangerutscht war. »Das Ding mit dem Ping ist ein hochempfindliches Magnetometer«, erklärte er. »Das Gerät entdeckt selbst kleinste Gegenstände aus Metall, auch wenn sie mehrere Inches tief im Schlick der Bay vergraben liegen.«
»Und so haben Sie das Wrack gefunden?«
»Neben einem alten Auto und anderem Metallschrott, der während des Bebens vom Oktober 1989 von der Bay Bridge gefallen ist. Wie es scheint, hat das Beben das Wrack freigelegt.«
Janelle verzog die Lippen, und ihre Augen funkelten. »Und dann haben Sie entschieden, dass eine Untersuchung sich lohnt? Des Schiffes, meine ich – nicht des Autos.«
Nick grinste frech. »Die Corvette Stingray, Baujahr 1969, war noch gut erhalten, ebenso das Sixpack Bier, das wir gefunden haben.«
Janelle lächelte verschmitzt, und ihr Flirten wurde offensiver: »Fahren Sie jetzt die Corvette?«
Sind wir hier in einem Clive-Cussler-Roman? Bin ich Dirk Pitt, oder was? »Nein, der Besitzer hat sie wieder, und er hat sich sehr gefreut. Also, ich fahre einen Z4, am liebsten offen als Cabrio. Oder mein Bike. Sie wissen schon, schweres Gerät, wie man es sich in der Midlife Crisis zulegt.« Na? O ja, sie lächelt verträumt. Kerle in der Midlife Crisis sind ja für nichts zu gebrauchen, aber für alles zu haben. Okay, Nick, weiter im Text: »Damit komme ich am schnellsten von Oakland über die Bay Bridge und die Golden Gate Bridge nach Sausalito.«
Hey, jetzt kapiert? Hier in der Kommandozentrale rinnt schon manchmal Adrenalin von den Stahlwänden, aber im Moment ganz sicher nicht Testosteron.
Okay, sie hatte es kapiert, denn sie nickte verhalten. Sie hatte verstanden, dass Nick in Oakland wohnte, und Cassie in Sausalito. War sie enttäuscht, weil er gegen ihr Lächeln resistent war?
»Nebel, Felsen, Strömungen.« Janelles Tonfall war jetzt wieder ... ja, enttäuscht, sogar verlegen, als sie sich von der Tischkante abstieß. »Die San Francisco Bay ist berühmt für ihre mehr als zweihundert Wracks. Okay, nehmen wir das King Philip Shipwreck von 1878, das im April 2011 wieder mal aus dem Sand des Ocean Beach auftauchte. Es gilt als das am besten erhaltene Wrack eines Holzschiffes in der Bay Area. Was ist an Ihrem Wrack denn nun so aufregend?«
»Während des Goldrauschs segelten tausende Schiffe durch die Bay. Bei Sutter’s Mill am American River nordöstlich von Sacramento war 1848 Gold gefunden worden. Denken wir an den Goldrausch, stellen wir uns lange Trecks aus Planwagen vor, die aus dem Osten kamen.«
»Hollywood-Western. Lagerfeuer-Romantik. John Wayne und Randolph Scott.«
»Und in letzter Minute rettet die heranstürmende Kavallerie den Treck vor den Indianern. Nur ... die meisten Fortyniners kamen auf Schiffen nach San Francisco.«
»The Armada of Golden Dreams – die Flotte der goldenen Träume. So lautet übrigens die Headline meines Artikels. Die Fortyniners suchten ihr Glück auf den Goldfeldern, die Seeleute verließen ihre Schiffe und folgten ihnen. Eine Geisterflotte vermoderte im Hafen von San Francisco.« Mit den Händen formte Janelle den imaginären Rahmen für ein Foto, das sie in ihrer Vorstellung wohl gerade in ihren Artikel einfügte. »Die Schiffe in den Docks wurden zu Lagerhäusern, Gefängnissen, Bordellen, Saloons und Hotels umgebaut. Einige wurden versenkt, um Besitzansprüche auf Baugrund am Hafen zu sichern.
Das verrottende Holz, aufgefüllt mit Sand, wurde zu Land, heute eine der teuersten Gegenden von San Francisco, der Financial District an der ehemaligen Waterfront. Viele der begrabenen Schiffe sind in den letzten Jahren bei Bauarbeiten entdeckt worden. Im Internet gibt’s eine interessante Karte der Schiffswracks unter den Straßen von San Francisco. Die Transamerica Pyramid, das Wahrzeichen der Skyline, ist auf den verrotteten Schiffen der Fortyniners errichtet worden, die San Francisco zu einer der größten und bedeutendsten Städte Amerikas gemacht haben. Ja, so könnte mein Schlusssatz lauten.«
»Was, glauben Sie, passiert, wenn The Big One kommt?«, fragte Nick.
»Darüber werde ich in meinem nächsten Artikel für National Geographic schreiben. Ich will Dr Alex Lacey interviewen, der die katastrophalen Auswirkungen des nächsten großen Bebens erforscht hat, als er noch für den Katastrophenschutz in San Francisco gearbeitet hat. Sagen Sie ... Dr Lacey und Dr Lacey ... die beiden sind verheiratet, oder?«
Was sollte denn das? Jetzt noch? »Yeah.«
Okay, zugegeben, es klang vielleicht ein bisschen unwillig, aber verdammt!
»Tut mir leid.« Beschwichtigend hob Janelle beide Hände. »Also, Dr Talcott. Hundert Schiffswracks unter den Gebäuden und Straßen von San Francisco, ausgegraben und erforscht. Und ein gesunkenes Schiff in hundertfünfzig Fuß Tiefe am Grund der Bay. Wozu der Aufwand?«
»Gold.«
»Das Schiff hatte das Gold der Fortyniners an Bord?«
»Es sollte die Goldsucher nach Panama bringen, wo sie die Landenge überqueren wollten, um ein Schiff an die Ostküste zu besteigen. Das war damals der kürzeste Weg nach Hause.«
»Gold«, wiederholte Janelle andächtig.
»Und andere interessante Dinge. Wir haben menschliche Überreste gefunden. Das Wrack wurde nie geplündert.«
»Wow.«
»Das war auch die Reaktion der UNESCO und der Stadt San Francisco.«
Janelle war begeistert. »Dr Talcott, als Projektleiter könnten Sie das Wrack verlegen und konservieren. Sie könnten ein Unterwassermuseum errichten. Mit Glasgängen, die am Meeresgrund bis ans Wrack heranführen. Mit 3D-Filmen, die den Besuchern ...«
»That’s the idea. Die UNESCO will nicht nur die archäologisch interessanten Funde, sondern das gesamte Wrack als Underwater Cultural Heritage konservieren. Weltweit gibt es bisher nur drei solcher Unterwassermuseen. Eines davon ist das geplante Alexandria Underwater Museum Project über dem versunkenen Palast der Kleopatra. Hey, warum nicht eines in San Francisco?«
»Echt toll.«
Nick stemmte sich vom Stuhl hoch. »Nachdem Sie jetzt mein Schiff besichtigt haben, bringe ich Sie mal runter.«
Als sie an Deck der Pacific Sunset, einem der modernsten Forschungsschiffe der Welt, den Abstieg vorbereiteten und ihre Tauchausrüstungen anlegten, fiel Peter Russell Nicks leichtes Hinken auf. Russ’ weite Geste umfasste die Aufbauten mit den Nasslabors mit fließendem Seewasser, die Lagerräume für die Unterwasserfahrzeuge, Kameraschlitten und Tauchausrüstungen, die Tische an Deck, an denen das Archäologenteam arbeitete. »Ihr Schiff könnte aus einem Bestseller von Clive Cussler stammen. Es verfügt über Bugstabilisatoren, sodass Sie auch in rauer See ohne Probleme den Kurs halten und praktisch auf der Stelle wenden können. Aber Sie, Dr Talcott, haben ein bisschen Schlagseite.«
Nick schnallte sich den Tariergürtel mit Bleigewichten um, den Gordy ihm borgte. Cassie hatte seinen und ihren Tauchanzug samt Tauchermesser, Flossen, Brillen, Atemreglern und Pressluftflaschen in ihrem Ford Ranger liegen, denn am Wochenende wollten sie mal für ein paar Stunden verschwinden. In den letzten Monaten hatten sie kaum Zeit für sich gehabt. »Ein Andenken an den Kampf mit einem Hai.«
»Eine archäologische Expedition?«
»Ein Urlaub in Australien. Ein Tauchgang am Great Barrier Reef.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Dem Hai eins auf die Nase gegeben.«
»Waren Sie allein?«
»Dr Lacey war bei mir. Cassie hat dem Hai gleich noch eine verpasst, und er ist abgezogen.«
Russ nickte respektvoll, dann schob er sich das Mundstück zwischen die Zähne, packte die Gurte der schweren Flasche auf seinem Rücken und folgte Nick.
Die beiden brauchten keinen Einführungskurs über die Gefahren des Tauchens und das Atmen unter Wasser, sie waren beide schon getaucht. Nachdem Nick den Sicherheitscheck bei ihnen durchgeführt hatte, sprangen Peter Russell, Janelle Gillingham und er mit geschlossenen Beinen nacheinander in die Bay.
In einer glitzernden Wolke aus Milliarden von Luftbläschen, eine Hand an der Tauchbrille, die andere an den Gurten, damit das Flaschenventil beim Aufprall aufs Wasser nicht gegen den Hinterkopf knallte, sanken sie in die Tiefe. Das kalte Wasser der Bay drang zwischen Haut und Neopren ein, und Nick fröstelte.
Mit kräftigen Flossenschlägen schwamm er voran zum Meeresboden in hundertfünfzig Fuß Tiefe. Im trüben Wasser wurde bald eine Reihe sich kreuzender Linien aus weißem Kunststoff sichtbar. Sie markierten die Grabungsfelder.
Nahe den gut erhaltenen Planken des Rumpfes stellte Nick die beiden Cassies Team aus sieben Taucharchäologen vor, das im Licht der starken Scheinwerfer mit der großen Saugpumpe arbeitete, um das Areal von Schlick und Sand zu befreien. In den gelben Plastikboxen neben dem Wrack lagen erste kleine Fundstücke, die aus dem Sieb am Ende des Schlauchs stammten. Cody bereitete auf seinem Zeichenbrett eine maßstabsgetreue Skizze des gesunkenen Schiffes vor. Nur wenige Yards entfernt vermaß Jill für ihn eine Planke.
Peter Russell schoss Fotos vom Rumpf des Forschungsschiffes über ihnen, vom Wrack unter ihnen, den Archäologen und den Funden, während Nick erklärte, die Schicht der Taucher dauere nur vierzig Minuten. Dann müssten sie zurück an die Oberfläche, ein Aufstieg in Etappen. Denn aus dieser Tiefe brauchte der Körper eine Stunde, um sich wieder an den normalen Druck anzupassen. Ein zweites Team, ebenfalls unter Cassies Leitung, setzte unterdessen die Arbeit fort.
Mike MacMillan schüttelte gerade einen Porzellanteller aus dem Schlick, als Nick das NG-Team zu ihm brachte. »Micmac«, sagte er über Funk, »das sind Janelle Gillingham und Peter Russell.«
Micmac winkte den beiden zu. »Hi.«
Nick wandte sich an Janelle. »Mike MacMillan führt Sie ein bisschen rum und erklärt Ihnen alles. Er bringt Sie auch wieder rauf zum Schiff und achtet darauf, dass Sie die Deko-Stopps ... äh, die Dekompressionspausen ... einhalten.«
»Okay, danke.«
»Wenn Sie nach der Sightseeing Tour noch Fragen haben, rufen Sie mich jederzeit an.«
»Klar, mach ich.«
Nick wollte sich schon abwenden, da berührte Janelle ihn am Arm. »Dr Talcott ...«
»Ja?«
»Sie sind der Projektleiter, aber Dr Lacey leitet die Archäologenteams am Meeresboden. Ich hätte wirklich gern ein Foto von Ihnen beiden, wie Sie im Tauchanzug nacheinander an Bord kommen. Mr Boss und Mrs Boss ...« Das verkniffene Lächeln unter ihrer Atemmaske konnte Nick nur erahnen, als er ihre Zähne rund ums Mundstück aufscheinen sah.
Okay, sie hatte es endlich kapiert.
»Ich werde sehen, was ich machen kann.«
Von der Golden Gate Bridge preschte Nick über den Highway bis zur Ausfahrt Sausalito. Ein paar Schlenker mit dem Motorbike, dann hatte er den Parkplatz vor dem Liberty Dock erreicht. Nichts frei, wie immer.
Die Sonne brannte ungewöhnlich heiß, als er mit röhrendem Motor die schwere Maschine durch den Holzpavillon mit dem Namen des Docks steuerte und über die silbergrauen Planken vorwärtsschoss.
Zwischen den Hausbooten und den Segelschiffen an den Bootsstegen paddelten Touristen in Kayaks umher und machten Fotos von den abenteuerlichsten Floating Homes. Ein beliebtes Motiv waren auch die bunt bemalten Mailboxes auf dem Gerüst am Eingang des benachbarten Piers. Oder die pazifischen Nebel, die wie ein feines Gespinst die Hügel hinunter bis zum Hafen glitten und sich im Wasser spiegelten. Bei Mondschein auf dem Pier hatte Nick selbst schon solche Fotos gemacht.
Hey, über die Liberty Dock Alley flitzte ihm mit ausgebreiteten Armen ein kleiner Junge entgegen.
Connor, na klar!
Der niedliche Kleine, im gleichen Alter wie Jolie, war Nicks größter Fan. Aber noch lieber als Nick hatte er sein mattschwarzes, chromfunkelndes Bike. Wenn Nick damit ein bisschen Gas gab, bebten die Planken des Docks, und die Hausboote begannen auf den Wellen zu schaukeln. Sagte Connor. Und grinste dabei.
Connor winkte, und Nick hielt an und nahm den Helm ab.
»Hi, Nick.«
»Hi, Kumpel.«
Connor war wirklich süß. Große, dunkle Augen, die immer ein bisschen traurig wirkten, niedliche Stupsnase, empfindsame Lippen und ... hey, derselbe kurze Haarschnitt wie sein Daddy, der zurzeit in Afghanistan stationiert war.
»Fahren wir ein Rennen?«, fragte Connor, beide Fäuste verwegen in den Taschen seiner Shorts. Sein rechtes Knie war aufgeschlagen, und seit gestern fehlte ein Zahn. Oops, das muss wehgetan haben.
»Steig auf, Kumpel!«
»Hi hi hi.« Connor streckte ihm beide Arme entgegen, und Nick rutschte nach hinten und hob den Kleinen vor sich aufs Bike. Connor war noch zu klein, um den Lenker zu erreichen. Kichernd hing er über dem Tank und reckte die Arme nach vorn. »Bwwwwww.«
Nick stülpte dem kleinen Rennfahrer seinen Helm über, natürlich verkehrt herum. Connor richtete sich auf, drehte den Helm auf seinem Kopf und klappte das verspiegelte Visier hoch. Über ihn gelehnt, packte Nick die Griffe und gab donnernd Gas.
»Yippie!«, rief Connor, und los ging’s!
Ein Motorradrennen auf der Liberty Dock Alley in Sausalito über die Distanz von zweihundertdreißig Yards! Das aufregende Rennen würde in nur drei Minuten entschieden sein! Und der Sportreporter von CBS San Francisco war natürlich live dabei und feuerte die beiden tollkühnen und übermütigen Rennfahrer an!
Mit dröhnendem Motor preschte Nick an den Hausbooten mit den winzigen blühenden Vorgärten in Terrakottatöpfen vorbei bis zu dem Schlenker, den die Liberty Dock Alley machte. Die abgestellten Kayaks, Surfboards und Fahrräder atmeten noch das Lebensgefühl der Flower Power. Nicht umsonst belegte Sausalito mit seinen fast vierhundert Hausbooten in einem Lifestyle-Magazin Platz drei von America’s Happiest Seaside Towns.
Aufgeregt kommentierte Nick mit verstellter Stimme als Sportreporter: »Connor in Aktion! Zu Beginn der Saison war er ein Außenseiter! Aber jetzt ist er ein erfahrener Rennfahrer! Schauen Sie, wie die beiden Rallyefahrer sich in die Kurve legen! Was für ein Manöver! Aber Connor auf Platz eins liegt bei diesem Rennen immer noch eine Handbreit vor Nick auf Platz zwei! Bleiben Sie dran, Ladies and Gentlemen, der Wettkampf ist noch nicht zu Ende.«
Connor kreischte vor Vergnügen, als Nick wieder beschleunigte und die schwere Suzuki einen gewaltigen Satz nach vorn machte.
Die Stimme des Reporters überschlug sich fast: »Dies ist eines der spannendsten Rennen, die jemals auf diesem Dock in Sausalito stattgefunden haben! Connor liegt immer noch vor Nick, und es ist nicht mehr weit! Aber was passiert denn jetzt? Nick greift mit einem Trick von hinten an!«
Er kitzelte Connor ordentlich durch, und der Kleine kippte vor Lachen fast von der Maschine, als Nick abwechselnd bremste und beschleunigte.
Connor in meinen Armen fühlt sich an wie Jolie, dachte Nick wehmütig. Ein Kind, das gesund ist, das lacht und spielt und tobt, das seinen Eltern Freude macht. Ich wünschte, ich könnte mit Jolie so herumtoben.
»Nick holt auf!«, schrie er mit der Stimme des Sportreporters. »Er ist schon ganz nah, und Connors Führungsposition ist in Gefahr! Wenn er jetzt nicht aufpasst, wird er ...«
Connor kreischte vor Vergnügen. »Yippie! Ich gewinne! Ich gewinne!«
»Jetzt biegen die Fahrer auf die Zielgerade ein! Das Publikum jubelt frenetisch! Yayayay! Das Rennen ist entschieden! Connor ist vor Nick ins Ziel gefahren! Er ist der Champion!«
Nick hielt vor Cassies Hausboot, stemmte den Fuß auf die Planken, um die schwere Maschine zu halten, hob Connor aus dem Sattel und stellte ihn auf den Boden. Der Bengel nahm den Helm ab und grinste Nick an, während der den Motor ausmachte. »Das war voll cool.«
»Das nächste Mal gewinne ich«, versprach Nick ihm.
Connor zeigte ihm seine Zahnlücke. »Nee.«
»Wetten, dass?«
»Hi hi hi.«
Connor sah zu, wie Nick das Bike auf Cassies Steg abstellte und die Tüten seiner Shopping Expedition am Union Square aus den Satteltaschen zog. Na klar, die pinkfarbene Lacktüte von Victoria’s Secret fiel dem Kleinen sofort auf. Harte Kerle schleppten knallbunte Surfboards oder neongelbe Pressluftflaschen oder leuchtend grüne Mountain Bikes über das Liberty Dock, aber nie, nie pink und rosa gestreifte Lacktüten mit pinken Seidenbändern, aus denen oben hellrosa Seidenpapier mit dunkelrosa Rankenmuster hervorspitzte. Nie, echt nicht.
»Du, Nick? Wer ist Victoria? Und welches Geheimnis hat sie? Und was ist da in der Tasche?«
Sexy Dessous aus zartblauer Spitze und schimmerndem Satin, der Cassies gebräunte Haut gut zur Geltung bringen würde, aber das verriet Nick dem Kleinen nicht. »Ein Geschenk für Cassie. Sie kommt heute Abend nach Hause.«
Connor zog die Mundwinkel hoch. »Wie verschenkt man ein Geheimnis?«
»Wenn ich’s dir verrate, ist es keines mehr. Whoosh, und weg ist es. Und wofür hab ich dann so viel Geld ausgegeben?«
Okay, kapiert. »Und was ist in den anderen Tüten?«
Nick antwortete nicht, denn in Gedanken war er wieder in jener Nacht, als der Anruf aus Australien kam, dass Coop gestorben war. Es war lange nach Mitternacht gewesen, als er gehört hatte, dass ihr Atem plötzlich unregelmäßig wurde.
»Cassie?«, flüsterte er, doch sie antwortete nicht.
Nick drehte sich auf die Seite, legte seinen Arm um sie und kuschelte sich an sie. »Hey.« Er küsste sie.
Sie schüttelte den Kopf, und im Mondlicht konnte er die Tränen auf ihrem Gesicht erkennen.
Tröstend schloss er sie in seine Arme und küsste ihre Schultern und ihren Hals. Ihr Herzklopfen konnte er deutlich spüren. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Nick schob seine Hand über ihre Hüfte und ihren flachen Bauch bis zum Saum ihres Slips. Sie zog die Knie an und atmete tief ein, wie eine Ertrinkende, die im letzten Moment, bevor sie in die Tiefe gezogen wird, ein rettendes Stück Treibgut packt.
Ja, sie wollte vergessen, genau wie er, das Leben spüren.
Behutsam glitt Nicks Hand tiefer zwischen Stoff und Haut, und seine Finger wühlten sich durch den Wirbel von weichen Haaren.
»Bitte!«, flüsterte sie erstickt.
Er war hart, als er sich gegen sich presste und sein angewinkeltes Bein über ihre Schenkel schob. Doch als er sie berührte, war sie trocken.
Mit einem Stöhnen schlug sie die Decke zurück, sprang aus dem Bett und flüchtete aus dem Schlafzimmer ins Bad. Als er sie fand, hockte sie weinend auf dem Badewannenrand. Er blieb in der offenen Tür stehen, bis sie schließlich aufblickte. Dann kniete er sich vor sie hin und nahm sie fest in die Arme, um sie zu trösten.
Nick besann sich. »Ich brauch mal deinen Rat, Kumpel.«
Connor strahlte ihn an. »Okay.«
Eine Möwe drehte kreischend ihre Runde über dem Dock, als Nick sich auf den Steg zu Cassies Hausboot hockte. Er ließ die Beine über dem Wasser baumeln und winkte Connor neben sich. Der Junge lehnte sich gegen ihn, als Nick einen Umschlag hervorzog und ihm zeigte. »Guck mal, ich hab im Internet ein Geschenk für Jolie gekauft.«
»Was’n das?«
»Ein Stern.«
Da guckte er! »Echt jetzt? Wie der kleine Prinz einen Stern hat?«
»Na ja, so ähnlich. Erst wollte ich ihr eine Sternschnuppe kaufen, du weißt schon, weil die Glück bringen. Aber dann hab ich mich für einen echten Stern entschieden. Die Galaxien, die ich mir angesehen habe, haben mir nicht gefallen. Zu viel dunkle Materie und zu viele schwarze Löcher – solche Galaxien sind echte Mogelpackungen, die bestehen zum größten Teil aus Nichts. Und Jolie ist sowieso kostbarer als alle Sterne des Himmels.«
Connor kicherte. »Welchen Stern hast du denn für Jolie gekauft?«
Nick warf einen Blick zum Himmel. »Er ist noch nicht zu sehen. Ich schick dir nachher eine Mail mit der Nummer des Sterns auf den Sternkarten. Dann kannst du Jolies Stern bei Google Sky suchen. Und vielleicht am Nachthimmel finden.«
»Au ja, das mach ich.«
»Und, wie ist das?«
»Ich bin total geflasht.«
»Du meinst, Jolie wird sich freuen, wenn ich ihr morgen von ihrem Stern erzähle?«
»Na klar«, meinte Connor. »Du bist der coolste Daddy von der ganzen Welt.«
Nick legte dem Kleinen die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn durch. »Und du bist der beste Freund von allen.«
Cassies Hausboot hatte drei Stockwerke, von den Kellerräumen unter der Wasserlinie bis zum Dachgeschoss mit schrägem Dach. Der Steg führte auf einen Vorplatz mit Bäumchen in Terrakottagefäßen und einer blühenden Bougainvillea, die sich an der hölzernen Hauswand hochrankte. Von hier aus genoss man einen unvergesslichen Blick über die Liberty Dock Alley und die grünen Hügel von Sausalito, über die am späten Nachmittag bereits wieder der Nebel floss. Dahinter ragten die rostroten Pfeiler der Golden Gate Bridge in den tiefblauen Himmel.
Auf den Stufen vor der Haustür fand Nick wie so oft einen frischen Blumenstrauß und eine Auflaufform mit köstlich duftender Lasagne, beides von den Nachbarn nebenan abgeliefert. Oft stellten sie die Blumen aus ihren Vorgärten und die selbst gekochten Speisen auf die Stufen, weil sie Cassie und ihn nicht stören wollen – sie hatten nur wenig Zeit füreinander, weil fast immer einer von ihnen bei Jolie in der Klinik war, oft auch über Nacht.
Aber manchmal kamen ihre Freunde von gegenüber auch mit einem eisgekühlten Sixpack unter dem Arm vorbei, um ihnen Mut zuzusprechen und sie mit ihrer unkomplizierten Lebensfreude zum Lachen zu bringen. Ihre Freunde schienen die letzten Überlebenden des Summer of Love von 1967 zu sein. Sie stiegen immer noch in ihre zerrissenen Jeans und flochten sich Blumen ins Haar, wenn Scott McKenzies San Francisco über das Wasser hallte.
Andere Nachbarn gingen Cassie und Nick aus dem Weg, verschwanden rasch vom Steg ins Haus, wenn sie mit oder ohne Jolie vorbeikamen, senkten mit verkniffenen Lippen den Blick, wenn sie ihnen nicht mehr ausweichen konnten – als ob Unglück ansteckend wäre.
Mit den Tüten, den Blumen und der Auflaufform im Arm versetzte Nick der Haustür einen Tritt, um sie zu schließen, und ging durch Cassies Wohnzimmer in die offene Küche, wo er alles auf den Tresen stellte. Die Lasagne schob er in den Kühlschrank – die würde es morgen Abend geben, wenn er aus der Klinik kam. Darauf freute er sich schon.
Außer einem Stapel zerlesener Clive-Cussler-Romane in Cassies Wohnzimmerregal und ein paar Freizeitklamotten in ihrem Kleiderschrank hatte er auf diesem Hausboot in den letzten zwei Jahren ihrer On/Off-Beziehung nicht viele Spuren hinterlassen – außer nassen Fußabdrücken, wenn er in der Bay geschwommen war. Okay, ein Joke.
Der große Raum mit der hohen Galerie und der Wendeltreppe bis unter das schräge Dach war ganz in Cassies Stil gehalten. Viel Licht, viel Weiß, ein bisschen funkelndes Kristall zwischen den weißen Orchideen, ein paar Farbtupfer auf dem hellen Ledersofa: Seidenkissen in den leuchtenden Schattierungen des Abendrots. Es war toll, ja klar. Aber Nick würde gern noch ein paar dunkle Akzente setzen. Wie ein schwarzer Lacktisch vor dem Sofa, der die Wirkung der schwarzen Granitplatte in der offenen weißen Küche noch unterstrich. Mehr Kontraste, ja, mehr Spannungen zwischen weißem Leder und schwarzem Lack.
Aber seine Transportkisten in Oakland waren schon gepackt. In den nächsten Tagen würde Nick hier einziehen – sobald er sein Haus mit Blick aufs Golden Gate verkauft hatte, um die Kosten für die Knochenmarktransplantation aufzubringen. Seine Krankenversicherung zahlte nicht – natürlich nicht, Jolie war ja nicht seine Tochter. Und Cassies Versicherung finanzierte nur Therapien, die Jolie jetzt nichts mehr nützten. Bis Cassie und er die Verantwortlichen überzeugt hatten, eine Kostenübernahmeerklärung für die Transplantation abzugeben, Jolies letzte Chance, war ihre Kleine tot. Selbst wenn sie durch den Beitrag auf CBS San Francisco heute Abend einen passenden Spender finden würden ...
Unser Baby, dachte Nick, Cassies und mein Kind, wäre vielleicht ein Spender gewesen – wenn es gelebt hätte. Ich weiß nicht, wie wir den Tod noch eines Kindes gemeinsam durchstehen sollen, die Schuldgefühle, die Wut, die Verbitterung, die Trauer. Nach der Todgeburt letztes Jahr hatte Cassie sich von mir getrennt, so verzweifelt war sie.
Cassie zurückzugewinnen, war wirklich nicht leicht. Aber das unablässige Ringen um Jolies Leben wurde zur größten Herausforderung meines Lebens, eine emotionale Reise zu allen Höhen und Tiefen des Lebens.
Mit dem Tod deines Kindes konfrontiert zu werden, ist ein harter Schlag, der dich in die Knie zwingt. Während du dich wieder aufrappelst, findest du heraus, was für ein Mensch du eigentlich bist. Was dich stark macht, und was schwach. Wofür du kämpfen willst. Wie wichtig die Liebe in deinem Leben ist. Die Hoffnung.
Jede Stunde, die ich Jolie in meinen Armen halten darf, ist ein kleines Glück. Jeder Tag mit ihr ist ein Geschenk, das ich für immer festhalten will. Und ich denke: Nein, heute stirbt sie nicht.
Nick seufzte.
Nicht noch mal das alles, bitte nicht! Cassie ein zweites Mal zu verlieren, das würde ich nicht ertragen!
Neben ihrem Notebook auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Post. Einer der Umschläge war aufgerissen. Nick warf einen Blick darauf. Cassies Anschrift. Er drehte den Umschlag um. Die Adresse eines Anwalts in Seattle, Washington.
Aha?
Cassie stammte aus Seattle. Ihre Eltern hatten bis zu ihrem Tod dort gelebt. Verwirrt legte Nick den Umschlag zurück auf den Schreibtisch.
Okay, der Anrufbeantworter blinkte.
Die Nachricht war von Cassie: »Hi, Nick. Ich bin in der Klinik. Ruf mich an.«
Nick zog sein Handy aus der Tasche seiner Jeans und drückte die Kurzwahltaste. Es klingelte endlos, aber sie ging nicht ran. »The person you have called is temporarily not available.« Nick schaltete wieder ab und las die eingegangenen Nachrichten. Cassie hatte drei Mal versucht, ihn zu erreichen, während er das NG-Team zur Ausgrabungsstelle brachte.
Na gut, dann eben später. Sie musste ja bald kommen.
Über die offene Galerie ging Nick hinauf ins Schlafzimmer. Er stellte die Tüte von Victoria’s Secret aufs Himmelbett mit den duftigen weißen Vorhängen und streute einige Blütenblätter über die kühlen Laken. Das Fläschchen Duftöl, das er vorhin bei Macy’s gekauft hatte und das ganz köstlich nach gebrannten Mandeln roch, schob er auf Cassies Nachttisch. Eine sanfte Massage würde ihr nachher sicher gut tun. So, jetzt noch die geschliffenen Windlichter neben das Bett, dann öffnete er die Schiebetüren zum offenen Sonnendeck mit einem atemberaubenden Blick auf die Bay.
Cassies kleines, einmastiges Boot lag neben der Veranda vertäut. Wie oft paddelten Touristen in ihren Kayaks näher heran, um das hübsche weiße Boot zu betrachten oder zu fotografieren, um es ihren Freunden zu zeigen! Cassie und er hatten eine Menge Spaß dabei, mit dem Boot an der Waterfront von Sausalito entlangzusegeln. Manchmal tranken sie in einem Café mit Blick auf die Golden Gate Bridge und die Segelschiffe, die unter der Brücke in die Bay einliefen, einen Cappuccino. Oder sie aßen in einem der Restaurants im Hafen und beobachteten dabei die Pelikane. Aber diese kostbaren Augenblicke des unbeschwerten Glücks waren selten geworden.
Nick sah nach Süden. Hinter den Hügeln von Sausalito war die in der Sonne gleißende Skyline von San Francisco zu sehen. Die weißen Boote an den Piers, die kleinen Restaurants an Fisherman’s Wharf, die Transamerica Pyramid mit ihrer metallisch glänzenden Spitze, die Bay Bridge und im glitzernden Wasser davor Nicks und Cassies Tauchspot. Ja, dort drüben lag sein Forschungsschiff über der Ausgrabungsstelle.
In der leichten Brise vom Meer bereitete Nick auf der Veranda schon mal das Candle Light Dinner vor. Die Joggingschuhe und die Surfboards schob er nach oben aufs Sonnendeck. In der City hatte er weiße Himmelslaternen gekauft, die er über dem Esstisch aufhängte. Die Kerzen in den Papierlaternen würden die Veranda in ein zauberhaftes Licht tauchen und ihr Abendessen zu einem romantischen und unvergesslichen Erlebnis machen. Cassie und er brauchten einen schönen Ort zum Feiern, wenn sie sich das Fernsehinterview in der Spätausgabe der Eyewitness News noch mal angesehen hatten. Auf dem gedeckten Tisch lagen weiße Wunschkarten, geschmückt mit Blütenblättern. Cassie sollte ihre Herzenswünsche auf die weißen Karten schreiben, sie an die Himmelslichter hängen, die sie in den Himmel steigen ließ, und Nick würde versuchen, sie ihr alle zu erfüllen.
Okay, jetzt noch das Sushi, das er vorhin am Union Square besorgt hatte: eine bunte Mischung aus Nigiri-Sushis mit Lachs, Thunfisch, Hummer, Garnelen, Muscheln, Roastbeef und exotischen Früchten, aber auch aus California Rolls, die Cassie so liebte.
In Cassies Regal wollte Nick nach der passenden Musik für romantische Stunden suchen, da entdeckte er die offene CD-Hülle von Dire Straits. Die Disc lag im Player. Hatte Cassie wieder Love over Gold gehört und dabei an Alex gedacht?
Ihr Ex hatte die CD vergessen, als er vor sechs Jahren seine Sachen in seinen Chevy lud und mit unbekanntem Ziel verschwand.
Cassie hatte keine Ahnung, wo er steckte.
Sagte sie.
Die Eifersucht versetzte ihm einen Stich in die Brust.
Sie trug noch immer seinen Ring. Und sein Foto lag noch immer in der Schublade ihres Nachttischs, zwischen der Spitze und der Seide ihrer Dessous.
Unschlüssig starrte Nick auf die leere Hülle in seiner Hand. Schließlich drückte er die Play-Taste.
In ihrer ersten Nacht in Alex’ Bett in seinem Hotel in Moab hatten Cassie und er immer wieder diese Platte gehört.
Wie oft hatte Cassie ihm erzählt, wie sie Alex wiedergefunden hatte, nachdem sie ihn verlassen hatte, als sein Telefon klingelte und Shyla anrief. Am nächsten Tag war sie im Arches Nationalpark gewandert und auf den Felsen herumgeklettert. Am späten Nachmittag erreichte sie den Delicate Arch. Die tief stehende Abendsonne reflektierte auf dem Display eines Handys. Cassie zog es aus einer Vertiefung im Fels. Wer hatte es verloren? Bevor der Akku zu schwach wurde, klickte Cassie durch die Telefonlisten und Mails. Nee, oder? Das Handy gehörte Alex. Und jetzt?
Cassie fasste sich ein Herz und rief Shyla an. Sie war nicht Alex’ Freundin, sondern seine Schwester, die in Sedona wohnte. Alex’ und Shylas Mom war vor kurzem gestorben, und Alex war ins Red Rock Country gefahren, um auf andere Gedanken zu kommen, bevor er nach Hause zurückkehrte, nach San Francisco. Shyla gab Cassie die Adresse des Hotels, in dem ihr Bruder wohnte. Alex freute sich sehr, Cassie wiederzusehen. Er hatte nach ihr gesucht, hatte am Delicate Arch sogar auf sie gewartet. Dabei hatte Alex sein Handy verloren, das Cassie kurz darauf gefunden hatte. Total irre, oder? Sie hatten sich nur um fünf Minuten verpasst.
Das Gespräch an der Bar beim kühlen Bier und das romantische Abendessen auf den rustikalen Holzbänken in der Wildnis hinter dem Hotel hätte aus einem Roman von Nora Roberts oder Nicholas Sparks stammen können. Der weitere Verlauf des Abends auch: Nach einem mitternächtlichen Spaziergang und einem langen Gespräch über ihre Lebensträume landeten Cassie und Alex schließlich miteinander im Bett. Eine Woche später kehrten beide nach San Francisco zurück, einen Monat später zogen sie zusammen auf das Hausboot, ein Jahr später heirateten sie.
Nick atmete tief durch. Okay, er versuchte es noch mal bei Cassie. Er wollte sie fragen, wann sie nach Hause kam, aber sie ging nicht ran. Wo steckte sie bloß?
Nick machte sich Sorgen.
War das erst vorgestern gewesen, als er hinter einer Tür in der Klinik ein Schniefen hörte? Er war auf dem Weg zu Jolie gewesen, blieb im Gang stehen und lauschte auf das verzweifelte Weinen. Leise öffnete er die Tür der Abstellkammer. Das Licht vom Flur beleuchtete die Regale voller Kisten und Kartons. Medikamente, Latexhandschuhe, Mundschutze. Der Raum schien leer zu sein. Nick wollte die Tür schon wieder hinter sich schließen, als er in der Dunkelheit zwischen den Regalen ein ersticktes Keuchen hörte. Cassie hockte auf dem Boden und weinte. »Es geht mir gut«, flüsterte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Ehrlich, es geht mir gut.« Nick ließ die Tür zufallen, tastete sich durch die undurchdringliche Dunkelheit und hockte sich neben Cassie, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten.
Wo war sie? Und wieso ging sie nicht ans Handy?
Beunruhigt hockte Nick sich auf die Veranda, um den Blick auf die glitzernde Bay und die gleißende Skyline zu genießen, dann sprang er wieder auf und irrte ziellos umher, bis er schließlich wieder vor dem Schreibtisch stand.
Der Brief aus Seattle ...
Nick hockte sich vor Cassies Notebook und zog das Schreiben zu sich heran, das aus etlichen Seiten bestand. Die Blätter, die Cassie unterschreiben sollte, waren mit roten Klebestreifen markiert.
Seine Hände zitterten, als er die ersten Zeilen überflog.
Alex hatte die Scheidung eingereicht.
Seine erste Reaktion? Freude, was sonst! Cassie und er konnten endlich heiraten. Er konnte für Jolie ein richtiger Daddy sein.
Aber als Nick mit den Scheidungspapieren aus Versehen gegen die Maus stieß und der Screensaver auf dem Monitor erlosch, blieb ihm fast das Herz stehen.
Alex.