Читать книгу In Gedanken bei dir - Lara Myles Barbara Goldstein - Страница 6

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Elf Stunden achtundvierzig Minuten.

Mit beiden Händen am Lenkrad ihres roten Ford Ranger Wildtrak ließ Cassie die verspannten Schultern kreisen. Sie war die ganze Nacht gefahren. Müde blinzelte sie in das Licht des neuen Tages. Ein rascher Blick zur Uhr auf ihrem Tablet, das in der Halterung neben dem Lenkrad klemmte: Es war kurz vor acht.

Vor Stunden hatte sie mit Nick geskypt. Das erste Mal kurz vor Mitternacht. Sie war gerade am Mount Shasta vorbeigerauscht, dessen schneebedeckter Gipfel im Mondlicht durch das Gebüsch am Rand des Cascade Wonderland Highways schimmerte. Nick hatte angerufen, um sich zu entschuldigen. Er hatte falsch reagiert, ja klar. Aber die Nachricht, dass Jolie starb, übers Fernsehen zu erfahren ... Dass ihr Kind, ihr kleiner Schmetterling – er konnte nicht weitersprechen, so aufgewühlt war er immer noch ... Und jetzt auch noch Alex. Dass Jolie ihn kennenlernen wollte, okay, er war ihr Daddy. Dass sie zum Mount St Helens fuhr, um Alex von ihrer gemeinsamen Tochter zu erzählen, auch okay ... aber ...

Aber.

Das ist es, dachte Cassie. Nick hat Angst, panische Angst. Dass Jolie stirbt, dass Alex zurückkommt, dass ich mich in meinen Ex verlieben könnte, dass wir ... Ach, verdammt!

Nein, Nick hatte sich während der Nacht nicht wieder eingekriegt. Auch morgens um drei, Cassie war schon nicht mehr in Kalifornien, sondern in Oregon, war er so aufgewühlt wie gestern Abend, als er sich mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern gegen die Kommode lehnte, ihr zusah, wie sie einen Stapel Klamotten in ihre Tasche stopfte, und leise, fast resigniert fragte: »Wie lange willst du denn wegbleiben?«

Cassie wusste nicht, was sie antworten sollte: Drei Tage, fünf, sieben? Bis sie so weit war, Alex von seiner Tochter zu erzählen? Bis er bereit war, nach San Francisco zurückzukehren? »Ich werde Jolie nicht sterben lassen, ohne ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen.«

Eine Weile hatte Nick ihr bei ihrer einsamen Fahrt über Skype Gesellschaft geleistet. Kurz vor halb vier hatten sie im matten Licht ihres Tablets ein virtuelles Candle Light Dinner genossen, mit der Sushibox auf dem Beifahrersitz und leiser Musik. Und irgendwie war es schön. Na ja, nicht so romantisch wie es ein Abend auf ihrem Hausboot gewesen wäre, aber doch berührend.

Wie er versucht hatte, sie zu trösten! Von Jolie Abschied zu nehmen, war so schwer gewesen. Cassie wusste nicht, ob sie ihrer Kleinen ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen konnte: »Daddy und du, Mommy, könnt ihr euch nicht wieder liebhaben?« Jolie hatte geschluchzt und geschrien, und sie hatte sich an ihr festgeklammert, als Cassie sie verließ, um nach Hause zu fahren und zu packen. »Ich komme doch bald zurück, Süße. Und Nick wird jeden Tag bei dir sein.« Ihr verzweifeltes Weinen übertönte das Schnaufen der Beatmungsgeräte und das Piepsen der Infusionspumpen in Cassies Gedanken, und es verfolgte sie bis zum Aufzug.

Die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern, dachte sie. Werde ich meine Kleine lebend wiedersehen?

Sie zog die verkrampften Schultern hoch und spreitzte die Finger am Lenkrad. Zwei Tage, vielleicht drei. Dann muss ich zurück. Mit oder ohne Alex.

Ich darf Jolie nicht länger allein lassen.

Ich muss für sie da sein, bis sie ...

Ein grünes Highway-Schild huschte vorbei.

Über die Schulter blickte sie zurück. War das schon die Abfahrt von der Interstate 5? Cassie warf einen Blick auf das Tablet. Das Navi sagte: Exit 49. Abbiegen. Jetzt.

Sie schaltete den Tempomat aus und stieg auf die Bremse. Da war schon die Ausfahrt. Als sie auf die rechte Spur wechselte, um die Interstate zu verlassen, merkte sie, dass etwas mit ihr geschah.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie das, was sie jetzt empfand, beschreiben sollte. Sie entspannte sich, und ihr Kopf wurde frei. Sie war endlich bereit, sich die Atempause zu gönnen, die Karen ihr schon vor Wochen nahegelegt hatte. »Cassie, ich weiß, du hast das Gefühl Jolie im Stich zu lassen, wenn du mit Nick mal für ein paar Tage verschwindest, um zu entspannen. Wenn ihr ins Kino geht, statt an Jolies Bett zu sitzen und ihr Geschichten vorzulesen. Wenn ihr euch einen romantischen Abend macht, statt die Nacht in der Klinik zu verbringen. Aber du kannst nicht ständig auf Hochtouren laufen, ohne irgendwann mit einem Burnout zusammenzubrechen. Tu deiner Kleinen das nicht an, Cassie!«

Durchatmen. Entspannen. Loslassen. Nachdenken.

Mein Leben hat an Tiefe gewonnen, dachte sie. Diese Erkenntnis, die mir gestern Abend kam, als ich auf die Interstate gefahren bin – darüber will ich in Ruhe nachdenken.

Reden.

Mit Nick. Mit Alex?

Über Jolie, ja, aber auch über mich. Ja, über mich. Karen hat recht, ich habe auch Bedürfnisse. Wünsche. Sehnsüchte. Und ich darf sie haben!

Im Augenblick kann ich nicht den Finger drauflegen und sagen: Das will ich, und so will ich es. Dazu stehe ich unter zu großer Anspannung, schon seit Monaten, und meine Angst ist viel zu groß.

Ich will wahrgenommen werden. Das ist es. Ich will beachtet werden. Nicht als Mutter eines sterbenden Kindes, die schon mal ein Kind verloren hat. Nicht als Mommy, die alles für ihr Kind tut, wirklich alles. Sondern als Frau. Einfach so. Klingt ganz leicht, oder? Ist es aber nicht.

Ich will herausfinden, was Alex will. Okay, ja, er will die Scheidung. Aber wovon träumt er?

Na gut, eines nach dem anderen.

Durchatmen.

Cassie fuhr die Scheibe runter, hielt ihr Gesicht in den kühlen Wind und atmete tief ein, um die Müdigkeit zu vertreiben.

Sie fühlte sich jetzt irgendwie anders, und sie spürte dem verstörenden Gefühl nach. Sie war eine andere als die, die gestern Abend von der Klinik in San Francisco aufgebrochen war. Und sie war auch nicht mehr die, die in Sausalito ihre Sachen in den Pickup lud, weil sie nur mal schnell zu ihrem Ex wollte, um mit ihm zu reden. Sie war unterwegs zu ... ja klar, zu Alex ... aber auch zu sich selbst. Sie fing noch mal von vorne an.

Die Ausfahrt endete an einer Kreuzung. Das Navi sagte: rechts abbiegen. Eine Tankstelle, eine Pizzeria, ein Subway, ein Burger King. Sollte sie anhalten, tanken und frühstücken? Ein Kaffee wäre jetzt toll. Bacon & Eggs oder Waffeln mit Ahornsirup. Sie hatte wirklich Hunger. Aber bis zu Alex’ Haus war es noch ein Stück zu fahren, und sie wollte ihn nicht verpassen. Der Sprit reichte noch bis zum Mount St Helens, also weiter.

Auf dem Spirit Lake Highway fuhr sie nach Osten, in den Morgennebel hinein. Die entgegenkommenden Fahrzeuge hatten Licht an.

Silver Lake 6 miles.

Der Nebel wurde dichter, und Cassie konnte die Bäume und Schilder am Straßenrand nur noch schemenhaft erkennen.

Sie reckte den Arm vor und tippte auf dem Tablet in der Halterung Skype auf. Der sanfte Klingelton spielte endlos. Aber Jolies Gesicht erschien nicht auf dem Bildschirm.

Was war passiert?

Cassies Finger zitterten so, dass sie die Tasten auf ihrem Smartphone kaum drücken konnte. Nach dem sechsten Klingeln meldete sich das UCSF Medical Center.

»Dr Cassie Lacey. Ich würde gern mit meiner Tochter sprechen. Jolie.«

Ein Klicken, dann Funkstille.

»Hallo?«, flüsterte Cassie in das Schweigen hinein.

»Cassie?«, meldete sich Dr Mayfield. »Wo bist du?«

»Karen, hi! Ich bin schon auf dem Weg zu Alex. In einer halben Stunde bin ich bei ihm. Ich wollte vorher kurz mit Jolie reden. Aber sie ist nicht in ihrem Zimmer. Ich muss wissen, wie es ihr geht.«

Dr Mayfield atmete langsam ein und aus, und es klang wie ein tiefer Seufzer aus dem Herzen.

Cassie spannte sofort wieder alle Muskeln an, und eine Hitzewelle lief durch ihren Körper. Ihr Herz raste. Jolie starb.

»Cassie, deine Kleine ist im Labor und wird gerade gepikst. Soll ich ihr was ausrichten?«

»Sag ihr, ich bin auf dem Weg zu ihrem Daddy. Sag ihr, sie muss durchhalten, bis Alex und ich wieder bei ihr sind.«

»Ich sag’s ihr«, versprach Karen mit ruhiger Stimme.

»Sie muss leben, Karen. Sag ihr, sie soll auf mich warten ... auf Mommy und Daddy.«

»Cassie ...« Dr Mayfield seufzte. »Okay, mach ich.«

Cassies Herz klopfte so schnell, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. »Danke, Karen. Ich komme so schnell wie möglich zurück.« Mit zitternden Fingern beendete sie das Gespräch.

Die Sonne brach jetzt durch den dichten Dunst, dann hüllten die wabernden Schwaden sie wieder ein. Außer dem Highway vor ihr und den Bäumen konnte sie nichts erkennen. Hätte es nach einigen Meilen nicht aufgeklart, wäre sie am Silver Lake Visitor Center vorbeigefahren.

Noch eine Viertelmeile, sagte das Schild, dann verließ Cassie die Straße und parkte ihren Wildtrak vor dem wuchtigen Gebäude. Für fünf Dollar konnte sie die Ausstellung besichtigen und einen sechzehnminütigen Film über den Vulkanausbruch ansehen, aber sie hatte keine Zeit. Am Verkaufsstand neben dem Visitor Center holte sie sich einen Coffee-to-go. Dort fragte sie auch nach Indian Island. Fünf Meilen über den Spirit Lake Highway, rechts ab, kein Schild. Thanks and bye.

Vom Visitor Center führte ein Trail, ein hölzerner Boardwalk, zu den Silver Lake Wetlands. Am Ende des Stegs sollte man einen tollen Blick auf den Mount St Helens haben, der sich zwischen den blühenden Seerosen im Wasser des Silver Lake spiegelte. Das würde sie sich wirklich gern ansehen, aber sie musste zu Alex.

Cassie trank ihren Kaffee aus und stieg wieder in den Pickup. Fünf Meilen. Sieben Minuten.

Sie fuhr am Silver Lake Resort vorbei. Eine Straße nach rechts. War’s hier schon? Kein Schild. Sie schaute auf den Meilenstand. Nein, noch weiter. Ein kleines Waldstück. Dahinter musste der Silver Lake liegen. Eine einsame Mailbox am Straßenrand, ein weißes Haus. Der Nebel löste sich auf, der Himmel riss auf, die Sonne blendete sie. Eine Straße, die nach rechts in die Einsamkeit führte. Nein, noch nicht. Dann kam der Silver Lake in Sicht. Den Vulkan musste sie von hier aus sehen können. Aber der Horizont war noch zu dunstig. Der Highway führte am See entlang, das Wasser blitzte immer wieder zwischen den Bäumen durch. Dann kamen die Wetlands – Seerosen blühten auf den Tümpeln, die das Blau des Himmels reflektierten. Beinahe wäre sie an der Straße vorbeigefahren, so sehr genoss sie den Anblick der bezaubernden Landschaft.

Hey, eine Straße nach rechts, und kein Schild. Hier musste es sein.

Ein kleines Waldgebiet tauchte vor ihr auf. Dann kam eine Ansiedlung in Sicht, und ein Schild: Indian Island. So hieß der Ort, wo Alex wohnte. Hier war sie richtig. Die zweite Straße rechts, also gut. Immer am See entlang, das stimmte auch. Lake Road, und da war der Silver Lake. Jetzt langsam. Sie hielt nach Hausnummern Ausschau, aber es gab keine.

Das Haus da vorn, das mit dem Bootssteg unter den hohen Bäumen, das könnte es sein!

Cassie fuhr ein paar Schritte weiter um die Ecke, dann parkte sie am Straßenrand und schaltete den Motor aus.

Durchatmen.

Sie lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze, schloss die Augen und lauschte auf das Knacken des abkühlenden Motors.

Entspannen.

Sie stellte sich vor, ihre verspannten Muskeln und Gelenke würden knacken, und das half. Die Schmerzen ließen nach.

Du schaffst das, Cassie! Was sind schon sechs Jahre? Ihr habt euch mal geliebt. Ihr wart mal glücklich. Ihr seid verheiratet.

Ja. Noch.

Cassie spürte, wie ihr die Tränen kamen, wie gestern, als sie den Umschlag aufriss.

Verdammt!

Mit beiden Händen rieb sie sich übers Gesicht, als ihr Tablet den Skype-Klingelton spielte.

Nein, Nick, nicht jetzt!

Sie ließ es klingeln, öffnete die Tür und stieg aus. Als sie die Tür schloss, sah sie durch die Scheibe Jolies rote Lackschachtel auf dem Rücksitz liegen. Ihre Wunschbox. Ihr ungelebtes Leben.

Über die Straße ging sie hinüber zu Alex’ Haus. Das Garagentor war geschlossen, und sie konnte nicht erkennen, ob er da war.

Sie könnte klopfen ... Sie könnte vor der Tür stehen ... Sie könnte sagen: Hi Alex. Lange nicht gesehen. Wie geht’s dir so?

Nein.

Am Haus vorbei führte ein Sandweg unter den Bäumen hindurch zum Bootssteg am See. Ein Motorboot lag dort vertäut. Über dem Wasser kreiste ein Adler, eine Entenfamilie paddelte um den Steg, und Cassie konnte Frösche hören. Und Zikaden.

Sie wandte sich zum Haus um. Eine Veranda mit weiß gestrichenen Schaukelstühlen, wie schön. An der Brüstung lehnte eine Angelausrüstung. Die Treppe in den Garten war völlig überwuchert – Wildnis pur. Das Gras im Garten wuchs kniehoch. Unter den schattigen Bäumen stand in einem Meer von Pusteblumen ein altes Autowrack. Ein Pickup aus den Fifties, ohne Lack, ganz rot vor Rost. Ein echtes Schmuckstück. Ja klar, hier wohnte Alex.

Dann sah Cassie den Ball neben den geplatzten Reifen.

Sie blieb stehen.

Ein Ball?

Durch das Gebüsch tastete sie sich näher heran. Ja, tatsächlich. Und da war noch mehr. Ein Baumhaus mit Kletterseil und Leiter. Eine Rutsche. Eine Schaukel.

Und da lag ein Kinderfahrrad im hohen Gras.

Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Alex hatte eine Familie.

Wie gelähmt starrte sie das Fahrrad an.

Er hatte Kinder.

Und Jolie? Und wenn er seine andere Tochter, die kranke, die bald sterben würde, gar nicht kennenlernen wollte?

Cassie zuckte schmerzhaft zusammen, als sie das Garagentor rattern hörte. Er war noch hier!

Sie stürmte los, den Sandweg entlang zur Straße.

Die Garage war geschlossen. In der Ferne verklang Motorengeräusch.

Sie hastete zur Straßenecke und sah ihn an ihrem Wildtrak vorbeifahren. Das kalifornische Nummernschild hatte er nicht gesehen. Wieso auch? Er kannte den neuen Wagen ja nicht. Er bog ab und war verschwunden.

Und jetzt?

Ihm folgen? Bis zum Mount St Helens? Und dann?

Alex hatte Kinder.

Bleib ruhig, Cassie. Überleg, was du jetzt tun willst.

Sie ging zurück zu ihrem Auto und stieg ein. Dann nahm sie das Tablet aus der Halterung und tippte Skype auf. Nick hatte keine Nachricht hinterlassen. Sie würde ihn nachher anrufen, um ihm zu sagen, dass sie angekommen war.

Jetzt klickte sie Google auf und suchte die Website des Silver Lake Resorts. Es gab ein Waterfront Motel und einige Cabins. Okay, da stand eine Telefonnummer. Sie rief im Resort an und buchte ein Zimmer. Für zwei? Nein, für sie allein. Wann sie anreisen wollte? Jetzt.

Sieben Minuten später lud Cassie ihr Gepäck aus dem Wildtrak und schleppte es auf ihr Zimmer mit Seeblick. Den Mount St Helens konnte sie immer noch nicht sehen. Sie warf ihre Sachen aufs Bett, stellte Jolies Wunschbox auf den Nachttisch, stopfte die Scheidungspapiere in ihren ledernen Rucksack, zog sich die Wanderstiefel an und machte sich auf die Suche nach Alex.

Das Johnston Ridge Observatory am Mount St Helens kannte das Navi. Fünfundvierzig Meilen, dreiundfünfzig Minuten, und Alex hatte eine halbe Stunde Vorsprung. Vielleicht erwischte sie ihn dort. Auf einer Website des US Geological Survey gab es ein Bild von ihm am Observatorium, im Hintergrund der Gipfel des Mount St Helens.

Am Toutle River entlang fuhr sie nach Osten. Im Hoffstadt Bluffs Visitor Center versuchte sie ein Frühstück zu bekommen, aber das Restaurant war noch geschlossen. Die Karte las sich jedoch toll: Salat, Fire Mountain Burger, Lava Cake. Vielleicht würde sie hier zu Abend essen, bevor sie ins Resort zurückfuhr. Und sich den Stapel Videos ansah, den sie im Gift Shop kaufte. Grand Canyon, Monument Valley, Canyonlands, Arches. An diesen Orten, über die Alex in seinen Forschungsabenteuern berichtete, waren sie gemeinsam gewesen. So viele Erinnerungen ... so viele Gefühle ...

Sie wollte schon gehen, da entdeckte sie im Regal noch einen Bildband, auch von ihm. Alex in der Antarktis, Alex in Afrika, Alex in Australien, am Ayers Rock. Hey, das Foto, auf dem er grinsend das Kängurubaby im Arm hielt, hatte sie gemacht. Und das nächste auch. Und da stand es auch – Fotos: Dr Cassie Lacey.

Die Fotos besaß sie gar nicht. Alex hatte die Foto-CD mitgenommen, als er sie verließ. Okay, neunundzwanzig fünfundneunzig, und sie gehörten wieder ihr. Cassie schleppte zwei Tüten mit Büchern und Videos von ihrem Ex zurück zum Auto und schwang sich hinters Steuer.

Das im Schlamm und im Geröll des Ausbruchs versunkene Tal des Toutle River war beeindruckend, aber der Vulkan war immer noch nicht zu sehen. Sie fuhr weiter, Meile um Meile. Dann folgte sie einer weiten Kurve, und da war er plötzlich. Der Berg im Morgenlicht – blau und rosa schimmerte der Dunst, der ihn verhüllte. Ein Motiv wie aus einem Bildband.

Sie war so ergriffen ... so überwältigt von dem unerwarteten Anblick des majestätischen Vulkans, der bei der Eruption seinen Gipfel verloren hatte, dass sie auf dem Tablet Cat Stevens andrehte und mit brennenden Augen den Text von Morning has broken mitsang.

Während sie weiterfuhr, musste sie an die Verwüstung denken, die der Vulkan hier vor zweiunddreißig Jahren angerichtet hatte. Die umgestürzten Bäume in der Blowdown Zone, ohne Zweige oder Blätter, die graue Asche, die alles zudeckte – doch aus dieser Asche entstand das neue Leben.

Die Rückkehr des Lebens – dieser tröstliche Gedanke schenkte ihr Hoffnung, und die Tränen rannen ihr übers Gesicht, so aufgewühlt war sie.

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10.08.2012, 08:14 Hayley, Oakland

Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was einem Menschen in seinem Leben passieren kann. Ich weiß wovon ich rede. Nachdem bei meiner kleinen Jeannie Leukämie festgestellt wurde, kämpfte sie drei Wochen lang um ihr Leben. Vor wenigen Monaten hat sie den Kampf verloren. Sie war erst zwei Jahre alt. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie uns so früh verlassen hat. Cassie, ich wünsche dir und Nick sehr viel Kraft für die kommende Zeit. In diesen traurigen und hoffnungslosen Tagen müsst ihr euch euren Lebensmut bewahren. Hayley

10.08.2012, 09:11 Joy, San Francisco

Liebe Cassie! Ich habe gestern Abend die Nachrichten auf CBS SF gesehen. Das Foto von Jolie lässt mich einfach nicht mehr los. Ich habe selbst vor vier Jahren meine kleine Tochter verloren und ich kenne den Schmerz und die Verzweiflung, die du jetzt durchlebst. Es war dieselbe Art von Leukämie, die Jolie hat. Kim war so stark. Alle haben gestaunt, wie sie die harten Therapien weggesteckt hat. Sie hat immer gelacht. Dann kam die Katastrophe. Ich mag gar nicht darüber reden. Darmversagen. Infektion. Einblutungen. Nierenversagen. Nur wenige Tage später war mein kleines Mädchen tot. Sie ist nur vier Jahre alt geworden. Ich konnte nichts tun außer ihr Geschichten vorzulesen und mit ihr Kinderlieder zu singen. Ich trage meine Süße immer noch in meinem Herzen. Ich fühle mit dir, Cassie. Und ich umarme dich ganz fest. Joy

10.08.2012, 10:01 Jayden, San Jose

Libe Cassi ! Ich habe das von Joli beim abend essen in den nachrichten gesehn. Und ich muste ganz doll weinen . Ich hab mein taschengelt gespart weil ich will mir einen drizeradrops kaufen oder wie der heist . Das ist ein dienosaurier weist du . In meiner spardose hab ich 18 dollar und 34 cent . Die will ich Joli geben damit sie wieder gesunt wird . Mommy hat gesagt sie tut das geld zu euch . Und ich guck dabei zu wenn sie das macht weil ich weis nicht wie das geht . Bitte sag Joli viele grüsse von Jayden

Der Spirit Lake Highway wand sich jetzt an bewaldeten Berghängen oberhalb des Toutle River entlang, und hinter jeder weiten Kurve tauchte der Vulkan vor Cassie auf, schöner und größer als zuvor.

Der Himmel über den Bergen der Coldwater Ridge vor ihr war jetzt leuchtend blau, die Sonne blendete sie. Gab es überhaupt eine Wolke am Himmel? Ja, doch, genau über dem Krater des Mount St Helens schwebte eine. Irre, oder?

In weiten Serpentinen schlängelte sich der Highway zum Coldwater Ridge Visitor Center, und die Perspektive auf den Vulkan änderte sich von Minute zu Minute, von Meile zu Meile. Ein Berg der idyllischen Cascade Range mit blühenden Wiesen und einem blauen Bergsee. Ein Vulkan mit geborstenem Gipfel, der aus einer grauen Bimssteinebene ragte, eine Wolke über dem weit offenen Krater. Ein spektakulärer Gipfel vor der Kulisse des im Morgenlicht glitzernden Coldwater Lake und den bewaldeten Höhenzügen.

Auf dem Parkplatz vor dem Visitor Center oberhalb des Sees lag einer der umgestürzten Baumstämme, von der Hitze des Ausbruchs vom 18. Mai 1980 verbogen und silbern verblichen. Cassie berührte das schimmernde Holz, das zu Stein geworden zu sein schien. Begann hier die Blowdown Zone?

Im Visitor Center fragte sie nach Alex. Er sollte im Johnston Ridge Observatory sein. Am Ende der Straße. Also weiter.

Je näher sie dem Vulkan kam, desto spärlicher wurde die Vegetation. Zu beiden Seiten des Highway gab es keine alten Bäume mehr, nur junge, grüne Wildlinge, hieß das so? Auf den Hängen lagen Baumstämme und Felsen, und wie sie so auf den offenen Krater dort vorn zufuhr, vermutete sie, dass die Gesteinsbrocken aus dem geborstenen Gipfel stammten.

Cassies Hände verkrampften sich ums Lenkrad, und sie wusste nicht, lag es an dem Ehrfurcht gebietenden Vulkan, an der schieren Naturgewalt, die hier alles Leben vernichtet hatte, oder war sie einfach nur angespannt, weil sie gleich Alex gegenüberstehen würde. Sie wusste nicht, was sie eigentlich empfand. Sie war nervös, ja klar – Alex und sie waren seit sechs Jahren getrennt. Überreizt, weil Karen gesagt hatte, dass Jolie sterben würde und Cassie nichts mehr für sie tun könnte. Ungeduldig, ja aufgeregt, weil so viel von diesem Treffen mit Alex abhing. Nein, alles: Das Glück ihrer Tochter. Das war alles, was jetzt noch zählte.

Immer steiler wand sich der Highway zwischen den Abhängen hindurch und erreichte schließlich eine Hochebene. Dort war Cassie wieder auf Augenhöhe mit dem Gipfel des Vulkans. Die Wolke schwebte noch über dem Krater.

Was für ein Bild: Der Mount St Helens überragte einen Haufen umgestürzter, zerborstener, zersplitterter Bäume, zwischen den toten Stämmen wucherte das frische Grün.

Jetzt war’s nicht mehr weit.

Nur noch wenige gepresste Atemzüge und pochende Herzschläge.

Dass der Parkplatz am Johnston Ridge Observatory so groß und voll wäre, hätte sie nicht gedacht. Und dass hier so viele Baumstümpfe mit Wurzeln standen. Auf einem hockte inmitten der faserigen Bruchstelle ein Squirrel und guckte sie mit großen Augen an, als sie ihren Wildtrak einparkte und den Motor ausmachte. Die Touristenhorden, die mit umgehängten Fotoapparaten und Handys in der Hand zur Aussichtsplattform des Visitor Centers strömten, störten das putzige Streifenhörnchen nicht.

Okay, wo steckte Alex?

Ein Bus hielt, die Türen öffneten sich, und eine Gruppe Japaner quoll hervor.

Cassie wollte ihnen schon zum Observatorium folgen, als sie ihn plötzlich sah. Er lud irgendwelche Geräte auf die Ladefläche seines Geländewagens, der neben dem Weg zur Aussichtsplattform parkte. Zwei Kollegen vom US Geological Survey, wie er in Bergstiefeln, Cargohosen und Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln, halfen ihm dabei. Zwei andere, mit dem Aufnäher des US Forest Service auf den kurzen Ärmeln, lehnten mit gekreuzten Beinen am Wagen und sahen ihnen dabei zu: Forest Rangers. Die Kumpels von Smokey Bear.

Scheint so, als hätte Alex hier oben das Equipment abgeholt, um irgendwo in der Restricted Area seismische Messungen durchzuführen.

Langsam ging Cassie auf die Männer zu.

Smokey Bear’s Kumpels erzählten sich gerade die neuesten Park Ranger Witze, die sie gegoogelt hatten, johlten und schlugen sich auf die Schenkel.

Alex’ ausgelassenes Lachen, diese unbeschwerte Lebensfreude ...

Überwältigt von ihren Gefühlen, blieb sie einige Schritte entfernt stehen.

Der Fahrer eines Geländewagens hupte sie genervt an, ließ den Motor aufheulen und preschte mit knirschenden Reifen an ihr vorbei.

Einer der Forest Rangers bemerkte sie, stieß sich lässig vom Wagen ab, richtete sich auf und ruckelte schneidig seinen Gürtel höher. Mit einem Hut sähe er aus wie sein Kumpel Mr Bear. »Ma’am? Kann ich Ihnen helfen?«

Die anderen beruhigten sich kichernd und schnaufend und sahen sie an. Alex wuchtete die Klappe der Ladefläche hoch und drehte sich zu ihr um.

Keiner von ihnen rührte sich. Keiner machte den ersten Schritt auf den anderen zu. Keiner streckte die Hand aus, um den anderen zu berühren.

Der Schmerz, den sie in sich spürte, heiß am Herzen, trocken in der Kehle, war Trauer. Cassie trauerte um das, was sie verloren hatte.

Und auch Alex brachte keinen Ton heraus, kein Wort, kein Seufzen, nicht mal ein entnervtes Stöhnen, dass sie ohne Vorwarnung hier auftauchte und ihn überrumpelte, einfach so.

Ja, okay, sie hätte ihn anrufen sollen. Sie hätte ihm sagen sollen, dass sie kommen würde, um mit ihm zu reden. Aber gestern Abend war sie sprachlos vor Entsetzen, und während der langen Fahrt hatte sie gehofft, ihr würden die richtigen Worte einfallen. Und jetzt? Alles was sie sagen konnte, klang irgendwie unpassend und ziemlich albern.

Ihr Herz klopfte wie verrückt. »Hallo, Alex.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Hallo, Cassie. Wie schön, dich zu sehen.«

Sie lächelte, und Tränen verschleierten ihren Blick. »Dich auch«, quälte sie heraus. »Ich freue mich wirklich.«

Er nickte, und sie spürte, dass er so verwirrt war wie sie ... so aufgewühlt ... so traurig.

Was ist da noch zwischen uns?, fragte sie sich. Herzklopfen? Ja, und wie! Gefühle? Auch, und jede Menge schöner Erinnerungen. Herzlichkeit? Ja, sehr viel. Liebe? Leidenschaft?

Sie gingen aufeinander zu, umarmten sich und küssten sich.

Na ja, nicht auf die Lippen. Sondern nur verlegen auf die Wangen. Und trotzdem, sie musste den Impuls unterdrücken, ihm dabei übers Haar zu streichen, so wie früher.

Cassie konnte seinen vertrauten Duft riechen. Ein sehr männlicher Duft von warmer, sonnengebräunter Haut, ein Hauch Schweiß, den sein kühlendes, erfrischendes After Shave fast überdeckte.

An Alex’ Schulter hörte sie das Tuscheln seiner Freunde: »Ist das seine Ex?« – »Dr Cassie Lacey.« – »Ich stelle sie mir gerade im sexy Tauchanzug vor. Ob ich sie um ein Date bitte?« – »Frag doch Alex nach ihrer Telefonnummer.« – »Besser nicht. Sieh dir die beiden an ... Da besteht akute Waldbrandgefahr.«

Schließlich löste Alex sich von ihr und sah sie an. »Alles in Ordnung?«

Cassie schaute zu Boden, wischte eine Träne fort und versuchte, sich wieder zu beruhigen.

Hey, ich bin todmüde – ich bin seit achtundzwanzig Stunden auf den Beinen, ich habe erfahren, dass meine Tochter stirbt, dass mein Mann sich scheiden lassen will, dass mein Freund mit der Situation nicht klar kommt, und ich bin die Nacht durchgefahren, um meiner Kleinen ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Nein, Alex, nichts ist in Ordnung! Und wie es aussieht, wird es das auch nie wieder sein!

Alex sah ihr an, wie entsetzlich sie sich fühlte. »Du hast meinen Brief bekommen.«

»Gestern.«

»Und heute bist du hier.«

»Ich wollte dich sehen.« Sie zog die Scheidungspapiere aus ihrem Rucksack. »Können wir reden?«

Alex zögerte, warf einen Blick auf die Uhr und schaute sie wieder an. »Hast du unterschrieben?«

»Was glaubst du?«

Er bemerkte den Ring an ihrem Finger und berührte seinen unwillkürlich mit dem Daumen. »Nein.«

Cassie nickte.

»Und wieso nicht?«

»Können wir reden?«, wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte dabei.

Verunsicherung. Das war es, was sie empfand. Sie wusste nicht genau, was sie wollte. Alex mit nach San Francisco nehmen, Jolies letzten Wunsch erfüllen – und dann? Die erneute Trennung? Die Scheidung?

Alex hob die Augenbrauen, sah ihr in die Augen, bemerkte etwas darin, das er nicht kannte und das er erforschen wollte, weil es ihn betroffen machte, und nickte langsam. »Okay.«

»Jetzt?«

»Cassie ...« Er atmete tief durch. »Ich kann nicht. Ich muss zum Toutle River, um Messungen durchzuführen.«

»Ich wollte dich wiedersehen, Alex. Aber es geht um mehr. Ich muss dir was sagen ...«

»Aha, und was?«

Sie wich seinem Blick aus. »Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll. Ich dachte, es wäre ...«

Alex wartete, dass sie weitersprach, aber Cassie zuckte nur mit den Schultern, schon wieder den Tränen nah.

»Du könntest mich begleiten und mir helfen, die schweren Geräteteile über die Geröllhalden ins Tal des Toutle River zu schleppen.«

Cassie nickte. »Okay.«

»Wir verlassen den Trail.«

Sie hob den rechten Fuß und zeigte ihm das dicke Profil ihres Wanderstiefels. Dann zog sie eine Rolle Lifesavers mit Kirschgeschmack aus ihrem Rucksack und hielt ihm die Bonbons hin.

Er lächelte, und seine Augen funkelten, als er sich an ihre Wildnistour nach dem Fallschirmsprung über Canyonlands erinnerte. »Ich fahre in die Restricted Area. Du brauchst ein Permit, eine Genehmigung.«

»Ich kümmere mich darum«, meldete sich einer der Forest Rangers zu Wort, die Alex und Cassie aufmerksam beobachteten. Rusty Barrett, der Name stand auf dem Aufnäher an seiner Hemdtasche, legte Alex die Hand auf die Schulter, als er an ihm vorbei zum Observatory ging und dabei sein Funkgerät vom Gürtel nahm.

»Danke, Kumpel.«

Rusty winkte ab. »Kein Ding.«

Alex sah wieder Cassie an. »Wir werden den ganzen Tag unterwegs sein.«

»Ist gut.«

»Der rote Wildtrak, ist das deiner?«

»Yup.«

»Flotter Flitzer, ganz neu«, nickte Alex anerkennend. »Aber wir nehmen meine Kiste. Hast du Proviant dabei? Ich meine, außer Lifesavers?«

»Nee, ich habe noch nicht mal gefrühstückt.«

»Okay, dann besorgen wir was in der Imbissbude auf dem Parkplatz des Visitor Centers.«

Wir.

Als wären wir wieder ein Team, dachte Cassie. Als würden wir wieder zusammen auf Abenteuertour gehen.

Alex zögerte. »Im Tal des Toutle River ist kein Handyempfang. Du wirst für Stunden nicht erreichbar sein. Musst du jemandem Bescheid sagen, bevor wir aufbrechen?«

Cassie sah ihm in die Augen, dann schüttelte sie den Kopf.

In Gedanken bei dir

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