Читать книгу Zauberhaft - Victoria - Larissa Schwarz - Страница 4
ОглавлениеMagnus schmunzelte. Es beruhigte ihn, dass sie offenbar noch gesprächig war.
🎓 Bin gerade aus der Dusche raus. Werde mich jetzt so langsam Richtung Schlafzimmer bewegen. Eigentlich müsste ich noch tausend Sachen erledigen, aber dann sind es morgen halt zweitausend – was soll’s ...
💎 O je ... Aber das war auch alles ein bisschen viel für den ersten Tag. Oder? Klingt jetzt vielleicht blöd, aber: Kann ich dir irgendwie helfen!?
🎓 Danke für das Angebot, nur solange du nicht meine Gürteltiere für mich erledigst oder mir als eine Art Babelfisch in meinem Ohr die Namen zu den Gesichtern der Mitarbeiter zuflüsterst, fürchte ich nicht.
💎 Also, was ein Babelfisch ist, weiß ich ja glücklicherweise aus »Per Anhalter durch die Galaxis«, aber warum soll ich denn ein armes Gürteltier »erledigen«? 😁
Victoria schmunzelte. Per Anhalter durch die Galaxis. Die Romanreihe von Douglas Adams hatte sie im ersten Semester verschlungen und war seinem Humor von dieser Sekunde an verfallen. Offenbar war auch Magnus kein Unwissender. Konnte es tatsächlich sein, dass es jemanden gab, mit dem sie so sehr auf einer Wellenlänge lag? Für einen Moment beschlich sie ein dunkler Gedanke: was, wenn er längst wusste, wer sie war und ein hinterhältiges Spiel mit ihr trieb? Sich ihr Vertrauen erschleichen und sie dann hintergehen wollte?
🎓 Gürteltiere heißen im Amtsjargon die dicken, umfangreichen Akten, die durch einen Gürtel zusammengehalten werden müssen, weil sie so voluminös sind, dass sie sonst platzen würden. Und davon liegen momentan zehn in meinem Büro und zwei in meiner Wohnung. Ein nettes Erbe ... Aber eigentlich mag ich auch gar nicht an die Arbeit denken jetzt ...
Es fröstelte sie. Obwohl es noch relativ warm war, warf sie ein Cardigan über. Victoria öffnete die Flasche Contur und schenkte den Wein in ein Glas. Sie sah auf und starrte ins Nichts. Nein, dieser Typ Mann war Magnus definitiv nicht. Sie täuschte sich nie in jemandem und sowohl ihr Kopf als auch ihr Bauch signalisierten ihr, dass er zwar gerade vielleicht eine Phase des Strauchelns erlebte oder erlebt hatte, aber ein unehrlicher Richter? Unwahrscheinlich. Wobei – die Menge der Gemeinsamkeiten war auch unwahrscheinlich. Und plötzlich wurde ihr klar, warum sie Statistik als Fach immer gehasst hatte. Nein. Magnus ist kein Arsch. Punkt.
💎 So, so. Woran möchtest du denn lieber denken?
Blöde Frage, dachte Victoria, aber es konnte nicht schaden, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Es kribbelte in ihren Fingerspitzen. Und in anderen Körperteilen. Sie errötete unweigerlich.
🎓 Morgen der Tag wird ziemlich busy, ich weiß nicht genau, ob ich dazu komme, dir zu schreiben. Deswegen (ohne dass ich jetzt drängeln will) sollten wir vielleicht schon mal überlegen, wann wir uns morgen wo treffen und was wir dann machen!?
💎 Alles gut. Ich habe solche Tage auch zur Genüge. Dann schaue ich abends auf das Handy und wundere mich, dass sich die Welt auch ohne mich gedreht hat ... Also, ich kann gegen 18 Uhr in Eschberg sein. Wenn du magst, sammle ich dich bei dir ein und wir entscheiden spontan, was wir machen?
Es wurde unvermeidlich. Einer von beiden würde den anderen abholen. Dann lieber ich sie oder irgendwo treffen, dachte Magnus.
🎓 Ich werde auch um die Zeit Feierabend machen. Spontan entscheiden klingt erst mal gut. Mountainbike fahren behalten wir uns aber vielleicht besser für ein Wochenende vor, oder?
Hm. Neutraler Boden wäre vielleicht gut, überlegte er und schrieb noch eine weitere Nachricht.
🎓 Sonst ... Lass uns doch im Café Daily treffen!?
💎 Gute Idee. Falls es bei einem von uns beiden später wird, verhungert /verdurstet der andere nicht direkt 😉 Halten wir gegen kurz nach sechs fest?
🎓 Ja, gern.
Gerettet, dachte Magnus.
🎓 Was machst DU denn noch Schönes?
💎 Sitze auf der Couch, höre Musik und trinke den Weißwein, den ich mir heute Mittag versprochen habe. Werde aber auch gleich ins Bett fallen und hoffentlich schnell schlafen. Gestern Nacht hat mich eine Mücke immer wieder geweckt.
🎓 Auweia ... Ich schlage vor, dass ich mich sofort daran mache, Mücken mit Glühwürmchen zu kreuzen, dann weißt du demnächst schneller, wo du hinschlagen musst.
Victoria grinste.
💎 Fürchte nur, dass das noch eine Weile dauern wird ... Wenn du also heute noch von einem Amoklauf in Eschberg hörst, dann war ich das und die Mücke war wieder da.
Magnus lachte.
🎓 So blutrünstig hab ich dich gar nicht eingeschätzt ...
💎 Eigentlich bin ich auch ganz lieb und handzahm. Aber wenn ich meinen Schlaf nicht bekomme, werde ich sehr schnell sehr ungeduldig.
🎓 Gut, dann lass ich dich jetzt besser schlafen ☺
💎 Schon in Ordnung, für ein nettes Gespräch bleibe ich gern etwas länger auf ...
🎓 Das nehme ich jetzt mal als Kompliment. Aber mir fallen schon zwischendurch die Augen zu. Nicht böse sein, wenn ich gleich auf einmal weg bin. Was hörst du denn Schönes?
💎 Du musst dich nicht rechtfertigen. Reicht schon, wenn ich das immer tue. Ich höre gerade (Schande über mein Haupt) Chicago – You’re the inspiration.
🎓 Warum Schande? Ich mag das Lied total gern. 80er eben.
Magnus malte gedankenverloren auf einem Blatt Papier herum. Irgendwann schrieb er ein paar Worte auf. Duplo. Erdbeeren. Schokoladeneis. Chicago. Pastafari. *meow* Als sein Handy die nächste Nachricht signalisierte, legte er das Blatt beiseite auf den Nachttisch.
💎 Schade, dass du gerade nicht hier bist.
Victoria las noch einmal, was sie geschrieben hatte. Lachte über sich selbst und ihre Direktheit. Und wartete.
Wartete. Zwei blaue Häkchen. Gelesen hatte er die Nachricht. Aber warum kam keine Antwort?
Sie widmete sich dem Weinglas und blickte durch die Terrassentür in den Garten. Die Beleuchtung im Pool tauchte die Umgebung in ein diffuses, aquamarinblaues Licht. Ein wenig gespenstisch. Eigentlich eine Verschwendung, dachte Victoria. Mehr als dreihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche für einen einzelnen Menschen, ein Pool, den sie höchst selten benutzte, ein riesiger Garten, für den sie einen Gärtner in Festanstellung beschäftigte und über allem lastete diese fürchterliche Leere. Ihr Vater, der ein paar hundert Meter entfernt wohnte, in einer fast baugleichen Villa, hatte sie gewarnt. Ohne zumindest ein Haustier aufzunehmen würde sie schnell an der Einsamkeit ersticken. Nur: Für ein Haustier hatte sie keine Zeit und sie wollte es nicht für die Haushälterin und den Gärtner anschaffen. Letztlich verbrachte sie ohnehin kaum Zeit zu Hause. Genau genommen war sie die letzten Wochen quasi nur zum Schlafen und Duschen hergekommen. Sie wohnte jetzt seit einem Jahr in der Villa und hatte es noch nicht einmal geschafft, sie wohnlich einzurichten.
»Mir fehlen die Zeit und der Elan dazu. Andererseits will ich nicht irgendeinen Interieurberater beauftragen ... Das muss irgendwie von mir kommen und nicht von jemandem durchdesignt werden, der mich einmal kurz anschaut und glaubt, er wüsste, was zu mir passt ... Ich habe eine Couch und ein Bett, eine funktionierende Küche und drei Bäder, das reicht für den Anfang«, hatte sie neulich noch zu Elisabeth gesagt, als diese fragte, wann Victoria denn nun richtig einziehen würde.
Armes, reiches Mädchen, schoss es ihr durch den Kopf, als ihr Handy eine Nachricht signalisierte.
Magnus. Endlich. Auf dem Foto sah er süß aus, ein bisschen in Bond-Manier. Der Dreitagebart stand ihm gut. Generell mochte sie seinen Look, die nicht zu kurzen dunkelblonden Haare, der leicht bronzene Teint. Und was sich unter dem Anzug erahnen ließ, war auch nicht von schlechten Eltern. Mountainbiken war sicherlich nicht der einzige Sport, den er betrieb.
🎓 Sorry, war eingenickt. Krabble jetzt unter die Bettdecke. Wobei ich eigentlich lieber mit dir auf der Couch sitzen würde. (Wenn ich das »Schade, dass du nicht hier bist« so verstehen darf.)
💎 Darfst du. Sollst du sogar. Aber jetzt schlaf erst mal schön und träum was Süßes. 💋
🎓 Danke. Dir auch eine angenehme Nacht. 😚
Magnus zog die leichte Sommerdecke hoch und drehte sich auf die Seite. Als er die Augen schloss, überkam ihn die Sehnsucht. Sie hatte ihn verzaubert. Keine Frage. Aber wie um alles in der Welt? Und vor allem: Wie sollte er es ohne sie aushalten? Heute Nacht, morgen tagsüber. Hatte sie nicht erwähnt, dass sie bald auf Geschäftsreise ging? Er griff wieder zu seinem Handy.
Anrufen? Nicht anrufen? Anrufen? Nicht anrufen?
Anrufen!
»Hey ... War das Sandmännchen noch nicht da?« Sie flüsterte fast. Aber ihre Stimme klang angenehm ruhig und sanft.
»Nein, leider nicht«, entgegnete er. »Eigentlich gehe ich auch nie vor zehn ins Bett, wahrscheinlich kommt sich mein Körper gerade vor, als machte ich einen schlechten Scherz.«
»Na ja, es ist auch erst halb. Ich komme sonst aber auch selten vor elf in die Federn ... Wenn du jetzt hier wärst, würde ich dir den Nacken kraulen, bis du eingeschlafen bist.« Victoria biss sich auf die Zunge. Sie meinte es so. Hatte es aber eigentlich nicht verraten wollen.
»Hmmmm. Stellt sich die Frage, ob ich dann überhaupt schlafen könnte. Wobei, das wäre mir in dem Moment auch egal ... Sag mal, du hast vorhin erwähnt, dass du vor dem Wochenende, an dem der Mittelaltermarkt in Bärenthal stattfindet, beruflich unterwegs bist. Darf ich fragen, wo es hingeht?«
»Scheiße«, fluchte Victoria und kniff die Augen zusammen.
»Scheiße?«, schmunzelte Magnus.
»Sorry, ist eigentlich nicht meine Ausdrucksweise ... Ich hab das total verdrängt. Du darfst übrigens auch immer alles fragen, was du möchtest, und musst das nicht einleiten ... Ich fliege nach Dubai. Für knapp zwei Wochen. Montags hin und in der Woche drauf komme ich donnerstags zurück. Ein … VIP-Kunde. Alle sechs Monate dasselbe Spiel.« Sie war tatsächlich so bedrückt, wie sie klang. Für diesen Abend hatte sie Hakim und die Reise in die VAE völlig vergessen. Und nun hörte sie sich plötzlich so geschäftsmäßig-wichtig an. Was ihr eigentlich völlig zuwider war.
»Oh.« Magnus‹ Herz polterte. Zwei Wochen? Undenkbar. »Dubai ... klingt aufregend. Aber wenn du sagst, dass es Routine ist?«
»Hm. Irgendwie schon. Klar, Dubai ist eine wahnsinnig tolle Stadt, den Kunden kenne ich auch irrsinnig lange und ich gebe zu, dass ich auch immer einen gewissen Erholungsfaktor erlebe, wenn ich dort bin, aber letztlich ist es Arbeit. Ich muss in der kurzen Zeit eine Halbjahresbilanz erstellen, prüfen und das Resultat den zuständigen Behörden vorlegen. Und das für einen multinationalen Multimilliarden-Konzern. Klingt wahnsinnig wichtig und toll, ist aber eher öde.«
»Rechtfertigst du dich schon wieder?«
»Ja.«
»Du bist süß ...«
»Findest du?«
»Ja. Sehr sogar ...«
Für einen Moment schwiegen sie.
»Bist du noch da?«, flüsterte Victoria.
»Ja, ich hab nur gerade einen Moment nachgedacht ...«
»Worüber?«
»Hm ... Ich kenne dich jetzt seit schätzungsweise 13 Stunden und kann mir gerade nur sehr schwer vorstellen, wie ich es nur einen Tag ohne dich aushalten soll. Und dann erfahre ich, dass du sooo schnell für sooo lange sooo weit weg gehen wirst.«
»Mach dir keinen Kopf, bisher bin ich immer wieder zurückgekommen. Dubai wäre auch keine Lebensweise für mich. Urlaub, ja. Arbeiten, ja. Aber ich würde nicht dort wohnen wollen ...«
»Hm, aber wenn du sagst, dass dieser VIP-Kunde so anspruchsvoll ist, handelt es sich sicherlich um einen Scheich oder so. Und dann wirst du zur Prinzessin aus Tausend und einer Nacht und lässt alles hinter dir ... Aber lass mich raten, Betriebsgeheimnis?«
»Hm, prinzipiell geheim, ja. Aber ich will dir nichts vormachen; ja, es ist eine der Herrscherfamilien der Emirate. Das hat alles eine ewig lange Vorgeschichte. Erzähle ich dir in Ruhe. Und das mit der Prinzessin ... Pfffft ... Nein. Nicht mein Ding. Ich bin froh, dass wir in einem demokratischen Staat leben und alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht ...«
»Du bist süß. Sag ich doch. Und: alles gut. Ich wollte nicht neugierig sein. Oder. Hm. Na ja, ich bin schon neugierig, aber ich wollte nicht, dass du dich aus dem Fenster lehnen musst, von wegen Compliance oder so.«
»Das geht schon in Ordnung, ich kann das ganz gut vertreten. Mach dir keine Sorgen.«
»Duuu ...«
»Ja?«
»Versteh das nicht falsch, aber ...«
»Ja, ich fliege allein.«
»Woher ...?«
»Ich höre das an deiner Stimme ...«
»Oh.«
»Spooky?«
Magnus lachte leise. »Nein. Minimal vielleicht.«
»Wir sollten nur die Zeitverschiebung berücksichtigen, ich bin dir dann zwei Stunden voraus ...«
»Aber wir schreiben?«
»Natürlich. Jetzt hab ich ja deine Nummer ...« Sie schmunzelte hörbar. »Duuuuu ....«
»Ja?«
»Ich freu mich darauf, dich morgen zu sehen ...«
»Und ich mich erst ...«
»Krieg ich einen Gute-Nacht-Kuss?«
»Einen? Hunderte. Von mir aus 1001 ...«
»Dann mach schnell, damit ich dir auch für jeden einen zurückgeben kann ...«
Wenige Minuten später war Magnus eingeschlafen. Victoria hörte ihn leise atmen und legte beruhigt auf. Die Nacht war über den Garten hereingebrochen, Grillen zirpten und vom Teich im hinteren Teil der Anlage hörte sie die Frösche quaken. Mit einem gezielten Schwung schob sie die große Terrassentür zu und ging die wenigen Stufen hoch in ihr Schlafzimmer. In die frische Leinenbettwäsche gekuschelt, überkam sie schlagartig die Sehnsucht. Der Moment, als Magnus sie auf dem Parkplatz im Arm gehalten hatte, fuhr ihr in den Kopf und vernebelte ihr die Sinne. Er roch so unsagbar gut und der Gedanke an seine sanfte Berührung jagte ihr einen warmen Schauer über den Rücken.
Dienstag, 16.07.
Victoria genoss die Atmosphäre in den frühen Morgenstunden, wenn in der Firma noch nicht alles auf Hochtouren lief, die Geräuschkulisse sich durch leises Geschirrklappern und ein paar gemurmelte »Guten Morgen« noch in Grenzen hielt und man dem Tag noch nicht ansah, welchen Verlauf er nehmen würde. Der Empfangstresen war noch unbesetzt; es gab eine strikte Regelung, dass die Mitarbeiter nur zwischen sieben und sieben ihre Arbeit verrichten durften. Ausnahmen liefen direkt über Victorias Tisch beziehungsweise Telefon. Wollte jemand eher kommen oder blieb länger, bekam sie eine Benachrichtigung und musste den Zutritt regeln. Vertretungsweise konnten dies auch die Abteilungsleiter, aber letztlich hatten sich alle daran gewöhnt, dass Feierabend nicht nur ein Wort im Duden war. Victoria saß in der modernen Eingangshalle des alten Fabrikgebäudes, las sich die Zielerreichung der letzten Woche auf dem Tablet durch und nickte still und zufrieden. Die Mitarbeiter trudelten nach und nach ein, versorgten sich im Café mit Kaffee, Backwaren und Nervennahrung, tauschten die eine oder andere Neuigkeit aus und nahmen kaum Notiz von ihr. So soll es sein, dachte sie sich. Primus inter Pares.
Sie saß morgens die erste Stunde in der Lobby, einfach, um da zu sein, sichtbar zu sein, die ersten Arbeiten zu erledigen, aber auch, um ansprechbar zu sein. Anfangs hatte es die Mitarbeiter irritiert, inzwischen aber war ihr kleines Sit-in zu dieser frühen Zeit eine Institution. Man konnte sich zwar ohnehin jederzeit an Victoria wenden, aber gerade in diesen Stunden kamen oft die konstruktivsten und besten Ideen zustande. Um neun würde sie dann den Morning-Huddle mit den Abteilungsleitern besuchen, nur um auf dem Stand der Dinge zu sein, und ab halb zehn ging es dann »ans Eingemachte« wie ihr Vater zu sagen pflegte.
»Guten Morgen, Victoria.«
»Guten Morgen, Markus. Na, wie geht es Marie?«
»Prima, sie geht ab Montag in den Mutterschutz. Kann sich auch kaum noch bewegen, die Ärmste.«
»O je, kann ich mir gut vorstellen. Sie hat sich ja neulich schon so gekugelt. Ist das mit deiner Elternzeit eigentlich jetzt geklärt?«
»Ja, alles gut. Firat und ich haben das gestern final besprochen und terminiert.«
»Prima. Dann drück ich mal die Daumen, grüß Marie ganz lieb.«
»Mach ich, bis später!«
Kleine Begegnungen wie diese mit Markus Bruckmann waren es, die Victoria am Puls der Firma blieben ließen. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, sich morgens in ihrem Büro zu verschanzen und erst abends aus ihrem Mauseloch zu krabbeln.
Es war gerade halb Acht, als sie zum Handy griff. Magnus müsste um diese Zeit eigentlich auch wach sein. Wenn nicht, würde er ihr das sicherlich verzeihen.
💎 Guten Morgen, der Herr. Ich hoffe, du hast gut geschlafen und schön geträumt.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
🎓 Guten Morgen, die Dame. Gut geschlafen ist relativ. Es war sehr einsam ... Aber ich bin froh, dass ich den gestrigen Abend nicht geträumt habe. Gab es Mückenalarm oder konntest du unbehelligt nächtigen?
💎 Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier. Komisch, das mit der Einsamkeit kommt mir bekannt vor ... Etwas mehr als zehn Stunden noch ...
🎓 Erinner mich bitte nicht daran ... Es kommt mir vor, wie eine Ewigkeit ... Werde jetzt losfahren, bin dann leider erst mal offline ... Wusste übrigens nicht, wann du morgens anfängst, wollte dich nicht wecken. Sonst hätte ich dich aber um neun angeschrieben ...
💎 Mach dir keinen Stress. Ich habe auch fast eine Stunde überlegt, ab wann ich dir wohl schreiben kann ... Ich muss auch gleich ins erste Meeting.
🎓 Freu mich auf nachher ... 😚
💎 Ich mich auch. 💋
Magnus stieg ins Auto, legte die beiden Gürteltiere auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Noch bevor er sich angeschnallt hatte, läutete sein Handy über die Freisprecheinrichtung.
»Hallo Tobias, was verschafft mir die Ehre, so früh am Morgen?«
»Moin ... Bist du im Auto? Das hallt so fürchterlich ...«
»Ja ... Leider, aber das kennst du ja inzwischen. Also, schieß los. Was gibt es?«
»Leider keine guten Neuigkeiten. Der zuständige Richter, der deine Scheidung bearbeitet, ist längerfristig krank und deine geliebte Fast-Ex-Frau besteht per anwaltlicher Mitteilung weiterhin auf den Trennungsunterhalt. Auch wenn sie Vollzeit arbeitet und du die Kredite zahlst. Ich weiß, dass das Schwachsinn ist, aber du kannst besser jetzt zu viel zahlen und dir das nachher zurückholen, als dass du aus irgendeinem Grund doch noch auf alles auf einen Schlag zahlen musst.«
»Mal ohne Quatsch jetzt, wir beide haben Jura studiert und das sogar sehr erfolgreich. Und ich lass mich von ihr über den Tisch ziehen? Tobias, in was für einem System leben wir?«
»Hm. Ich weiß ja, was du meinst. Aber sicher ist sicher ... Sieh nur zu, dass du alle Unterlagen aufbewahrst, insbesondere die Kontoauszüge.«
»Tobias, ich bin nicht blöd ... Alles ordentlich abgeheftet. Ich krieg nur gerade die Krise und frag mich, ob ihr irgendwie klar ist, dass ich quasi kurz vor dem Existenzminimum lebe, während sie sich in Berlin ein schönes Leben macht ...«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das weiß und dass sie genau dieses Ziel verfolgt. Aber mir will nicht in den Sinn, dass sie nicht aufgibt. Sie wird keinen nachehelichen Unterhalt erstreiten können. Dafür wart ihr zu kurz verheiratet, es gibt keine Kinder und sie kann sich selbst bestens versorgen ... Wenn ich so drüber nachdenke ... Eigentlich eine Farce.«
»Ach, was du nicht sagst. Aber weißt du, ich bin Richter, nicht Advokat. Das ist dein Job. Es wäre nur schön, wenn ich bis zur Scheidung nicht in die Privatinsolvenz laufe. Okay?«
»Ich tu mein Bestes.«
»Ich hoffe es. Für dich. Für mich. Für Ilona.«
»Kommst du nach Bärenthal?«
»Ja, denke schon. War ja so geplant. Ich hoffe nur, dass Ilona dort nicht auftaucht. Sie hat ja manchmal so seltsame Anwandlungen ...«
»Kann ich mir kaum vorstellen. Die hat sich im Verein kaum gemeldet, seit eurer Trennung. Aber vielleicht kommt sie ja, um dir zum Geburtstag zu gratulieren.«
»Au fein. Da wird Victoria sich freuen ...«
»Victoria?«
»Jap. Erzähle ich dir ein anderes Mal, ich bin gleich da.«
»Heeeeeyyyyy, stopp! Nix da! Erzähl! Ich, als dein Anwalt, muss das wissen!«
»Jetzt schwindelst du aber ... Außerdem: Ich weiß es ja selbst noch nicht. Ich hab sie gestern erst kennengelernt. Aber irgendwie ...«
»Nachtigall ick hör dir trapsen ... Magnus ist verliiiie-hiebt ...«
»Ja, so viel kann ich wohl schon sagen ...«
»Und du bringst sie mit?«
»Na, nicht wirklich. Sie ist selber Mitglied einer Mittelaltergruppe und hatte Bärenthal schon eingeplant. Aber vorher ist sie zwei Wochen in Dubai und wird wohl erst spät dazustoßen.«
»Dubai ... So, so. Klingt interessant.«
»Ja, beruflich irgendwie. Sie arbeitet als Unternehmensberaterin. Aber Tobias, ich muss jetzt echt rein. Ich hab um halb zehn die erste Verhandlung und noch nichts vorbereitet.«
»Na, dann viel Spaß.«
»Danke. Und, bleib bitte eng an der Sache mit Ilona dran ... ja?«
»Ehrensache. Wirst schon sehen, in ein paar Wochen ist das durch.«
»Ich verlass mich auf dich. Bis dahin.«
»Allons-y ...«
In seinem Büro warteten Berge von Akten und Thomas Bachmann auf Magnus. Der Bürgermeister von Eschberg war früh dran für seinen Termin, es sollte auch nicht lange dauern. Sie hatten sich vor Magnus‹ Amtsantritt kurz telefonisch kennengelernt, ihr erstes Treffen sollte ein ebenso kurzes One-on-one werden, nur, dass man sich mal gesehen hatte.
Als Magnus zur Tür hereinkam, fiel ihm die Sache wieder siedend heiß ein und er war froh, sich wenigstens an den Namen zu erinnern.
»Herr Bachmann, bin ich zu spät? Guten Morgen.« Er deutete ihm, Platz zu behalten, und schüttelte ihm flink die Hand.
»Nein, ich bin zu früh. Sorry. Frau Scharnweber hat mich reingelassen.«
»Schön ... Wenigstens Sie. Ich habe gestern fast zwei Stunden im Café Daily gewartet, nachdem sie mich ausgesperrt hatte und ich nicht mehr reinkam, weil alle meine Identität angezweifelt haben.«
»Ernsthaft?« Thomas Bachmann lachte.
»Ja ... Ich habe wirklich geglaubt, ich wäre im falschen Film ...«
»Tja, willkommen in Eschberg, es kann nur aufwärtsgehen ...«
»Auch wieder wahr.«
Für einen Moment war es ruhig im Raum. Die beiden Männer beäugten sich kurz und fingen im gleichen Augenblick an zu grinsen.
»Okay, ich habe eigentlich mit einem älteren Herrn gerechnet, Spätfünfziger vielleicht und irgendwie ... Anders!?«
»Ich auch. Ich gestehe, ich war die letzten drei Wochen im Urlaub und habe mich nicht wirklich über Sie informiert, Herr Dr. Brandt ...«
»Oh, bitte. Lassen wir das. Ich habe gestern gelernt, auf unnötige Höflichkeitsfloskeln unter Gleichaltrigen zu verzichten ... Also, ich bin Magnus.« Er reichte ihm die Hand. Thomas Bachmann schlug ein.
»Und ich bin Thomas ... Und verwirrt.«
»Wieso?«
»Meine Freundin Victoria benutzt genau diese Redewendung, wenn sie sich vorstellt.«
»Ähm. Ja. Wenn wir von Victoria Berg sprechen, dann habe ich das von deiner Freundin.« Magnus betonte das Wort Freundin absichtlich etwas mehr.
»Also, sie ist eine Freundin, nicht direkt meine Freundin. Ich bin ledig. Und seit genau vier Wochen offiziell geoutet. Wenn ich das so frei ansprechen darf?«
»Um Himmels willen, sicher. Ich bin aus Berlin ja quasi ›daran gewöhnt‹, was ich jetzt absolut nicht despektierlich meine.«
»Schon gut.« Thomas lachte. Und es klang ehrlich. »Wo hast du sie kennengelernt?«
Magnus erzählte ihm kurz, wie er und Victoria sich begegnet waren und gestand ihm auch vorsichtig, dass er sie mochte. Als Frau Scharnweber die beiden Männer mahnte, dass es höchste Zeit für die morgendliche Besprechung mit Magnus würde, verabschiedeten sie sich, tauschten noch schnell ihre Handynummern aus und verabredeten sich für die kommende Woche auf einen Sundowner im Daily.
Der restliche Tag zog sich für Magnus wie Kaugummi. Vier gähnend langweilige Verhandlungen, bei denen er regelmäßig den Faden verlor, unzählige Stellungnahmen und Berichte zu Gesetzesvorhaben, noch mehr offene Fälle, die beschlossen werden mussten und zu guter Letzt zwei Personalangelegenheiten, die keinen Aufschub duldeten.
Um halb sechs hatte er, außer dem Nutella-Toast zum Frühstück, nichts gegessen, zwei Liter Dr. Pepper getrunken und eine Aspirin eingeworfen. Frau Scharnweber war bereits vor einer Stunde gegangen. Er hatte bisher kaum Zeit gehabt, sie kennenzulernen. Magnus schätzte sie auf Ende fünfzig, ihre bisherige Attitüde war eher mütterlicher Natur. Er würde schon noch mehr über sie herausfinden. An einem anderen Tag.
Jetzt galt sein Interesse einer ganz anderen Frau, viel aufregender, attraktiver, netter und anziehender. Im Gehen löste er seine Krawatte, schmiss sie auf den Beifahrersitz, drehte das Radio auf und wippte mit dem Kopf zum Takt der Musik. Irgendein Chart-Song. Egal. Klang nach guter Laune. Ruckartig hielt er vor dem Blumenladen, stieg aus und verharrte. Grübelte.
Rote Rose? Zu aufdringlich.
Lilie? Erinnerte ihn an seine Oma.
Gerbera? Auch nicht das Wahre.
Pinke Rose? Erst recht nicht. Pink passte nicht zu Victoria.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Floristin.
»Hmmm.« Magnus überlegte.
Und entschied sich dann doch für den Klassiker. »Eine Baccara, bitte.«
Im Hinausgehen roch er daran und sog den Duft der tiefroten Rose ein. Er hatte gestern nur kurz die Gelegenheit gehabt, so nah an Victoria heranzukommen, dass er nur noch wusste, wie gut sie roch, aber nicht mehr genau sagen konnte, wonach. Vanille, Ingwer, Süßholz?
Victoria blickte auf das Display im Armaturenbrett. Ein bisschen auf das Gaspedal gedrückt und sie würde es pünktlich schaffen. In der Firma gab es intern eigentlich kein Zuspätkommen. Sofern die Arbeit erledigt wurde und die entsprechenden Abteilungsleiter zumindest regelmäßig an den Meetings teilnahmen, konnte zwischen sieben und sieben jeder kommen und gehen, wann er wollte. Termine bei und mit Kunden jedoch waren in Stein gemeißelt, keine Frage. Aber das war ein Selbstverständnis der Branche, für das Victoria keine Werbung machen musste. So unkonventionell ECG arbeitete, so konservativ war der öffentliche Auftritt.
In der letzten Kurve vor dem Café brach das Heck des Mustangs aus, da Victoria ein wenig zu sportlich abgebogen war; im allerletzten Moment fing sie den Wagen wieder ein und hoffte, dass Magnus es nicht mitbekommen hatte.
Hatte er aber. Er stand an den Kofferraum des A4 gelehnt und grinste. Als der Wagen in der Parklücke zum Stehen gekommen war, öffnete er ihr die Tür und half ihr beim Aussteigen.
»Rasant ...«, spottete er, schloss die Autotür und Victoria in seine Arme.
»Ich hatte gehofft, du würdest drinnen warten ...«, gab sie kleinlaut zurück und zog die Nase kraus.
»Hätte ich auch, aber ich habe dich schon gehört, als du vor fünf Minuten die Autobahn herunter gekommen sein musst. Du machst einen Höllenlärm ...« Magnus lachte und hob ihr Kinn mit seinem Finger.
»Ja, das ist wohl wahr. Für Schleichfahrten ist das Baby gänzlich ungeeignet.«
»Beschweren sich deine Nachbarn nicht, wenn du mal spät heimkommst?«
»Nö. Die meisten sind taub oder mit mir verwandt. Nichts zu befürchten.«
»Na dann ...« Er zwinkerte ihr charmant zu. Wie am Abend zuvor lehnte er seine Stirn gegen ihre und stupste sie an. Mit der Rose strich er über ihre Wange. Victoria schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und fuhr mit dem Kopf seine Berührungen nach.
Magnus. Der Große. Der Bedeutende, schoss es ihr in den Sinn und als sie die Augen wieder öffnete, blinzelten ihr die beiden Smaragde entgegen. Sie legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn näher zu sich heran, begann, ihn zu kraulen und sah zu ihm auf. Er küsste ihre Stirn und nahm ihre Hand, legte die Rose hinein und sah Victoria an.
»Sollen wir reingehen ... oder?«
»Hmmm ... Sollen ...« Sie blickte verlegen zur Seite. »Ich hab noch ein paar Unterlagen, die ich Jo geben wollte. Außerdem ... Ich kam noch nicht dazu, was zu essen und in meinem Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Ich befürchte, wir sollten die Gunst der Stunde nutzen.«
»Kein Problem. Ich wollte nur gefragt haben ...« Mit seinen Lippen fuhr er die Konturen ihres Ohres nach und küsste sie auf die Wange. Nur zu gern hätte er an dieser Stelle weiter erkundet, jedoch rief er sich zur Zurückhaltung auf. Immerhin standen sie an einem der belebtesten Plätze in Eschberg und er wollte sie beide nicht Verlegenheit bringen. Die leichte Gänsehaut und das leise Schnurren, das Victoria entwichen war, waren ihm aber nicht verborgen geblieben. Auch nicht der festere Griff um seine Hand, als sie erneut die Tür öffnete, die Mappe mit den Unterlagen vom Sitz nahm und sanft an seinem Handgelenk zog, als sie losgehen wollte.
Im Café übergab sie die Mappe einer der Angestellten und bat, sie Zeilinger auszuhändigen. Das Daily war für einen Dienstagabend gut besucht, aber sie ergatterten trotzdem einen Platz auf dem voluminösen Ledersofa in der Ecke. Ohne zu zögern lehnte sich Victoria in Magnus‹ Arm und ohne zu fragen, löste er den strengen Knoten aus ihrem Haar und spielte mit einer Strähne.
»Weißt du eigentlich, dass ich, bis auf meinen Friseur Dominik, bisher jedem anderen Mann mit einem gewaltsamen Ableben gedroht habe, wenn er sich an meinen Haaren vergriffen hat!?«
»Okay ... Damit habe ich jetzt nicht gerechnet ... Böse?«
»Nein, ganz und gar nicht.« Sie blickte seitlich zu ihm auf und schmunzelte. Als Magnus ihr einen Kuss auf die Wange gab, erschien die Kellnerin, um die Bestellung aufzunehmen.
»Essen ... Da war ja was ...«, seufzte Victoria. »Ich bekomme bitte den Double Daily Burger, Wedges, Sour Cream und zwei Red Bull.«
In Magnus‹ Gesicht zeichnete sich Belustigung ab; dass so viel Essen in diese kleine Person passte, war fast nicht zu glauben.
»Für mich dasselbe, aber statt Bull bitte eine große Cola.«
Eine Sekunde später widmete er sich wieder ihrem Unterarm, den er zwischenzeitlich zu kraulen begonnen hatte. Er fühlte sich plötzlich wieder wie dreizehn, nicht wie dreiunddreißig. Einerseits so unbeschwert und frei, andererseits so verzaubert und im siebten Himmel, dass er hoffte, bis in alle Ewigkeit dort sitzen bleiben zu können und diesen Moment nie zur Vergangenheit werden zu lassen.
Victoria schloss die Augen und vergaß das Geschehen um sie herum, spielte mit Magnus‹ Hand, genoss das Schweigen und das Gefühl, dass die Zeit stillzustehen schien.
»Sooo, eine Coke und zwei Bull, Essen dauert noch eine Viertelstunde.« Die Kellnerin hatte die Getränke abgestellt und war davongeeilt. Ungewollt unterbrochen rappelten sich beide auf und lösten sich aus der engen Umarmung. Die erste Dose Red Bull war in einem Zug geleert, die zweite ließ Victoria noch unangetastet.
Magnus amüsierte sich. »Hebst du eigentlich ab, wenn du das Zeug im Auto trinkst?«, frotzelte er.
»Ha-ha. Du bist ganz schön frech.« Sie kniff ihn sanft in die Seite. Wobei es dort nicht viel zu kneifen gab, außer Muskeln.
»Hast du gerade geschnurrt, als du mich gekniffen hast?«, fragte er gespielt theatralisch.
»Ich? Niemals ...« Grinsend schüttelte Victoria den Kopf.
»Ah, ich dachte, ich hätte da so was gehört ... Schade ...« Statt ihre Antwort abzuwarten, zog er sie mit einem festen Ruck nah an sich heran und legte den Arm wieder um sie. Er musste jetzt dringend ein belangloses Thema anschneiden, um sich von dem Wunsch abzubringen, an Ort und Stelle ganz andere Sachen mit ihr anzustellen.
»Duuu ... Ich hab heute Morgen Thomas kennengelernt.«
»Thomas Bachmann? Ist ja interessant. Wie das?«
»Wir hatten vor meiner Abreise in Berlin miteinander telefoniert und den Termin ausgemacht. Ich hatte es nur total vergessen und bin gerade eben noch pünktlich gewesen. Er hat übrigens innerhalb einer Minute herausgefunden, dass du und ich uns kennen.« Magnus erzählte von der kurzen Begegnung mit dem Bürgermeister und nippte hin und wieder an seiner Cola.
»Tja, dann kennst du ja inzwischen gut die Hälfte der wichtigsten Personen in Eschberg ...«, lachte Victoria. »Fehlen hauptsächlich noch Elisabeth und Moritz, aber wenn ich das richtig sehe, kommen die beiden gerade da vorne durch die Tür ...« Sie winkte dem Paar, das justament das Café betrat. Elisabeth stürzte sofort auf Victoria zu, die ihr mit ein paar Schritten entgegenlief.
»Heyyyyyy, schön dich hier zu sehen! Hoher Besuch ...«
»Ha-ha ... Umgekehrt wird ja wohl eher ein Schuh draus ...« Die beiden Frauen fielen sich in die Arme.
»Wen hast du da mitgebracht???« Elisabeth deutete auf Magnus, der in Sicht- aber nicht Hörweite saß. Moritz stand immer noch hinter ihr. »Erzähl ich euch gleich gern. Tu mir bitte nur einen Gefallen: kein Wort über ECG. Wir sind noch nicht so weit.«
»Alles klar, meine Liebe.«
Im gleichen Atemzug fiel Victoria Moritz um den Hals, begrüßte ihn und schleifte die beiden zu ihrem Tisch. Magnus war aufgestanden und schüttelte ihnen die Hand.
»Magnus Brandt, Elisabeth und Moritz von Eschberg.« Sie setzten sich.
»Hey, unser neuer Direktor des Amtsgerichts?« Elisabeth grinste.
»Liest hier eigentlich jeder Zeitung?«, seufzte Magnus ironisch.
»Ich nicht ...« Moritz zwinkerte ihm zu. »Aber keine Bange, das spricht sich so oder so schnell rum. Seit wann bist du in der Stadt?«
»Seit dem Wochenende umgezogen und seit gestern im Amt«, erklärte er. »So? Und schon hat Victoria dich unter ihre Fittiche genommen?« Elisabeth hatte ihren investigativen Ton angeschlagen.
»Wenn man so will ...« Magnus lachte. »Woher kennt ihr drei euch?«
Moritz hielt sich bedeckt, Elisabeth schmunzelte und Victoria ergriff das Wort.
»Wir haben früher zusammen gearbeitet. Moritz hat dann vor anderthalb Jahren die Firma verlassen und ein halbes Jahr später auch meine liebe Elisabeth abgeworben. Lange Geschichte. Erzähle ich mal in Ruhe.« Victoria hoffte, damit zunächst unter dem Radar zu bleiben.
»Und woher kennt ihr beide euch?«
»Liebling, sei nicht so neugierig.« Moritz küsste seine Frau auf die Wange. »Ich dachte, meine Familie hat Hunger ...«
»Moooment ... Familie?« Victoria blickte in die Gesichter von Moritz und Elisabeth.
»Jap.« Moritz grinste zufrieden. »Wir wussten es schon letzten Monat auf der Hochzeit, aber wollten es da noch nicht sagen ...«
Im Sturm der Glückwünsche ging die Kellnerin mit dem Essen fast unter. Als Victoria die zweite Dose Red Bull öffnete, sah Elisabeth sie mit großen Augen an. »Darf ich mal dran riechen? Nur ganz kurz. Bittööööö.«
»Herrje, du darfst ja im Moment nicht ... Natürlich. Bitte.« Sie reichte ihr die Dose und wandte sich erklärend zu Magnus. »Elisabeth und ich waren früher quasi die ›Bullyparade‹. Wenn du der Spur aus leeren Dosen gefolgt bist, hast du mindestens eine von uns beiden gefunden. Na ja, jetzt wo sie schwanger ist, darf sie ja nicht mehr ...«
Moritz schüttelte nur den Kopf. »Das ist so ziemlich das größte Opfer, das sie bringt. Abgesehen vom Meiden diverser Käsesorten, Verzicht auf rohen Fisch und pffft, tausend anderen Sachen ...«
Kurz nachdem auch Moritz und Elisabeth gegessen hatten, lösten die beiden die illustre Runde auch schon wieder auf. »Ich bin nur noch müde. So oder so. Ich könnte von morgens bis abends schlafen und von abends bis morgens. Der Arzt meinte, wir sollten uns auf Zwillinge einstellen.«
Die Verabschiedung verlief dann mehr als herzlich. Moritz und Magnus hatten sich für die kommende Woche zum Boxtraining verabredet. Allmählich dämmerte es Victoria, wie er sich in Form hielt.
»Bist du böse, dass ich sie an unseren Tisch gelotst habe?«
»Nein, keineswegs. Ich finde die beiden sehr sympathisch. Außerdem hast du mir damit einen, wie ich mal schätze, ebenbürtigen Sparringspartner verschafft und ich kenne jetzt offiziell alle wichtigen Leute in Eschberg. Was will ich mehr?« Magnus hielt sie im Arm und sah sie herausfordernd an.
»Keine Wünsche mehr offen? Schade ...« Victoria wand sich aus seinem Griff und verfinsterte ihre Miene. Doch Magnus hatte schnell reagiert und hielt sie wieder fest. Sein Gesicht vergrub er zwischen ihren Haaren und ihrem Hals. Als sie sich merklich entspannte küsste er sie ein-, zweimal und fuhr mit seinen Fingern wieder über ihren Arm. »Hiergeblieben ... Da sind noch sehr viele Wünsche offen«, wisperte er in ihr Ohr. Er spürte, dass er sie damit um den Verstand brachte, aber nach außen hin ließ sich Victoria so gut wie nichts anmerken.
»Als Erstes wünsche ich mir, zu wissen, was du gerade denkst ...«, flüsterte er.
»Das ist gemein ...« Victoria schmollte. »Aber na gut. Ich kann ja nicht dauernd offene und ehrliche Kommunikation von meinen Mitmenschen einfordern und dann selbst mit meiner Meinung hinter dem Berg halten. Alsoooo. Bevor du gefragt hast, habe ich noch kurz an Elisabeth und Moritz gedacht. Die beiden hatten einen ziemlich, nennen wir es ›turbulenten Start‹ in ihre Beziehung. Ich weiß auch nicht alle Details, aber das war schon sehr schicksalsträchtig. Beide verwitwet, sie wusste zunächst nicht, dass er Prinz von Eschberg ist, er hat sie dann nach einer kurzen Beziehung verlassen und dann hat es eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis sie wieder zusammengekommen sind. Aber total süß. Er ist ihr extra nach Irland hinterhergeflogen letztes Jahr.«
»Oh. Hätte ich jetzt auf den ersten Blick nicht vermutet. Beide verwitwet sagst du?«
»Ja, Moritz‹ erste Frau starb an einem Hirntumor und Elisabeths damaliger Mann bei einem Flugzeugabsturz. Moritz war zu dem Zeitpunkt aber dauerhaft beurlaubt. Dass er jahrelang unter falscher Identität gelebt hat, wussten in der Firma nur eine Handvoll Leute. Na ja, als Eschbergerin kannte ich ihn natürlich. Mir war es aber immer herzlich egal, er hat ja keinen Unsinn angestellt. Nur Elisabeth hat es damals wie der Schlag getroffen. Deswegen freue ich mich umso mehr, dass die beiden jetzt so glücklich sind. Wie im Märchen.«
»Und was denkst du jetzt?« Magnus‹ Blick war fest und ungetrübt.
Victoria wagte sich ein Stück näher an ihn heran, flüsterte ihm ins Ohr: »Ich denke, dass du mich bitte nicht so ansehen solltest, da ich dir kaum widerstehen kann, wenn deine Augen so funkeln ...«
Die Worte und das Gefühl ihrer Lippen auf seiner Haut jagten ihm einen sanften Schauer über den Rücken. Er schmiegte seinen Kopf an ihren und flüsterte: »Dass sie so funkeln, liegt ausnahmslos an dir. Also wirst entweder du dich daran gewöhnen müssen oder ich sollte ab sofort immer eine Sonnenbrille tragen, wenn wir uns sehen ...«
Doch bevor sie sich noch näher kommen konnten, platzte Joachim Zeilinger völlig überraschend dazwischen.
»Was sehen meine erstaunten Augen?«
Victoria und Magnus fuhren hoch wie zwei Teenager, die man erwischt hatte.
»Jo ... Musst du uns so erschrecken?« Victoria keuchte.
Der stämmige Riese lachte. »Eigentlich war es keine Absicht ... Ich wollte nur kurz hallo sagen, nachdem mir meine Angestellte gerade die Mappe ausgehändigt hat. Vielen Dank dafür!«
»Keine Ursache. Ich muss euch beide ja nicht bekannt machen, oder?« Sie deutete auf Magnus, dem Zeilinger zwischenzeitlich zur Begrüßung die Hand geschüttelt hatte.
»Alles bestens, ich würde es nur begrüßen, wenn auch wir uns duzen könnten!?«
Magnus lachte. »Klar. Magnus.«
»Joachim, aber so nennt mich nur meine Mutter. Also, bitte Jo.«
Zeilinger nahm sich ungefragt den Stuhl, auf dem Moritz zuvor gesessen hatte, und blickte gespannt in die Gesichter der beiden. »Victoria, wie hat er das angestellt?«
»Wie hat wer was angestellt?«
»Stell dich nicht dümmer an, als du bist, Frau Doktor. Gestern noch fragt mich Magnus nach deiner Nummer und heute lässt du nicht eine Sekunde die Finger von ihm?«
»Bsssss. Böser Jo. Betriebsgeheimnis. So.« Sie verschränkte theatralisch die Arme vor dem Körper und rümpfte die Nase.
»Ich hab sie nur einmal gefüttert .... Seitdem werde ich sie nicht mehr los ...« Magnus spielte auf die Pommes vom Vorabend an. Victoria lachte auf.
Augenzwinkernd verabschiedete sich Jo. »Ich seh schon ... Ich gönne euch mal lieber eure Privatsphäre ...«
Als er außer Hörweite war, zog Magnus Victorias Kopf am Kinn zu sich heran und blickte sie forschend an. »Saaaaaag mal ...«
»Hm?« Sie wusste, worauf er hinaus wollte. Wollte aber eigentlich nicht darüber reden.
»Was genau hat es mit dem ›Frau Doktor‹ auf sich, mit dem Jo dich gerade angesprochen hat?«
»Was soll ich sagen ... Ich gehöre nicht zu der Fraktion, die den Titel im Namen führt. Zumindest nicht privat. Auf meiner Visitenkarte bei ECG steht es drauf, aber das ist auch schon alles. Nicht im Ausweis eingetragen und im Endeffekt auch kein Teil meines Selbstverständnisses.« Zerknirscht versuchte sie, in seinem Gesicht eine Reaktion abzulesen. »Sag bitte was ...«
»Was!?« Magnus klang ein wenig eingeschnappt.
»Ich hab doch gesagt, dass wir alle Leichen im Keller haben«, entgegnete sie. Ihr Herz stolperte und ein Kloß bahnte sich in ihrem Hals an. Warum reagierte er so empfindlich?
»So, ein Doktortitel ist also eine Leiche im Keller?« Schmunzelnd gab er ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Erleichtert lehnte Victoria sich wieder an ihn.
»Na ja, so würde ich das nicht sagen. Aber ich leg halt keinen gesteigerten Wert darauf. Und da du dich ja auch nicht mit Dr. jur. Magnus Brandt vorstellst, dachte ich, dass es keine Rolle spielt.«
»Tut es auch nicht.« Magnus küsste ihren Hals und strich über ihre Hand. »Wobei mich schon interessiert, worüber du promoviert hast.«
»Asymmetrische Information.«
»Alles klar.« Magnus lachte. »Beschimpf mich ruhig.«
»Okay. Die Langversion: Adam Smith hat belegt, dass es keinen freien Markt gibt und der Kapitalismus dazu tendiert, dass sich Monopole und oder Preiskartelle bilden. Aus staatlicher Sicht höchst problematisch und nur extrem schwer vernünftig zu kontrollieren. Insbesondere, wegen der asymmetrischen Information. Im Klartext bedeutet das, dass die Kontrolleure weniger wissen, als die zu kontrollierenden Unternehmen. Ein Wissen-Machtgefälle; für die Kartellbehörden gibt es kaum eine Möglichkeit, ein Unternehmen realistisch und angemessen zu taxieren. Mein ehemaliger Doktorvater hat inzwischen eine Theorie entwickelt, wie man dieses Problem lösen kann.«
»Ist es schlimm, wenn ich bei ›Kapitalismus‹ den Faden verloren habe?«
»Nein. Wenn du öfter und länger mit mir zusammen bist, wirst du irgendwann fließend Ökonomisch sprechen. Ich wette, dass ich dir auch nicht folgen kann, wenn du mir von deiner Dissertation erzählst ...« Sie küsste ihn zur Ermunterung auf die Wange.
»Hm. Um es in zwei Worte zu fassen ›Ungenaue Richter‹.«
»Auch schön.« Victoria kicherte. Magnus zwinkerte ihr zu, sie blickte fragend. »Aber im Ernst, worüber hast du geschrieben?«
»Aaalso«, blickte er auf die Uhr, »gut, dass die hier noch ein Weilchen aufhaben. Es war einmal ...«
Victoria lachte, Magnus wog nachdenklich den Kopf hin und her: »Urknall ... Unendliche Weiten ... bla bla ... De Bello Gallico ... globale Erwärmung ... bla bla ... Ist das so wichtig?« Er wurde ausweichend. Karlsruhe? Jetzt?
»Na ja, wichtig nicht. Aber warum zierst du dich so?« Victoria beschlich ein ungutes Gefühl.
»Ich muss ein bisschen weiter ausholen.« Er zog sie näher zu sich heran, sicher ist sicher.
»Wie du schon angemerkt hast; wir haben Zeit. Und nicht nur du bist neugierig.«
»Gut. Also: Ich wusste schon relativ früh, dass ich Jura studieren wollte. Keine Ahnung warum, ich war nie der klassische Gerechtigkeitsfanatiker oder praktizierender Pazifist oder so. Meine Eltern sind ganz normale Leute, für die war das schon ein Highlight, dass der Erstgeborene ein Einser-Abitur gemacht hat. Von der Welt an der Uni haben sie nie viel verstanden, ganz anders als die Eltern meines Freundes Tobias. Er hat mit mir studiert, ist inzwischen Anwalt mit eigener Kanzlei an einer der besten Adressen in Hamburg. Sein Vater ist Richter am Europäischen Gerichtshof, seine Mutter Staatsanwältin. Der ist in diese Welt geboren und über ihn und seine Familie habe ich glücklicherweise viele Erfahrungen sammeln können, als Student und auch in den ersten Berufsjahren. Nach dem ersten Staatsexamen – und da kommt jetzt der erste Bogen Richtung Dissertation – habe ich mich ein bisschen orientieren müssen, wo die Reise hingehen soll und nach ewigen Gesprächen mit Tobias und auch seinem Vater war klar, dass ich gern nach Karlsruhe wollte.«
»Bundesgerichtshof. Verstehe. Wollte oder will?«
»Kann ich die Frage aufschieben?«
»Darfst du.«
»Alles was ich dann beruflich unternommen habe, zielte darauf ab, irgendwie dorthin zu kommen. Dass das nicht mal eben so passiert, muss ich dir ja nicht explizit erklären. Nach dem Abschluss habe ich erst mal ein halbes Jahr nur gearbeitet und dann mein Promotionsstudium aufgenommen. Nächtelang durchgemacht, um irgendwie fertig zu werden. Letztlich ist meine Dissertation eine Kritik an der Arbeitsweise des BGH.«
»Mutig.«
»Na ja, nichts, was nicht inzwischen auch die Boulevardpresse erreicht hätte. Bei jeder Revision, von denen mehr als 90 % übrigens rein schriftlich entschieden werden, müssen fünf Richter das Urteil gemeinsam fällen. Aber: Gelesen und bearbeitet werden die Fälle nur im Vier-Augen-Prinzip, die anderen drei Richter werden vom Vorsitzenden und dem Berichterstatter über die Aktenlage informiert. In der Masse der Fälle ist das auch eigentlich kein Problem, das sind alles versierte und lebenserfahrene Richter, aber dennoch neigen wir Menschen ja rein sprachlich schon zur Manipulation. Ich habe mir erlaubt ein paar Fälle anzuführen, bei denen klar war, dass Fehlentscheidungen des BGH auf diesem Prinzip beruhten. Dass es dafür nicht nur Applaus von oben gab, war abzusehen, schlussendlich aber konnte ich die Arbeit sehr gut verteidigen und ich denke, dass meine Versetzung hierher auch ein bisschen damit zu tun hatte.« Magnus hatte inzwischen die Vermutung, dass auch Tobias‹ Vater die Finger im Spiel gehabt haben könnte.
»Und was daran war jetzt so schlimm, dass du mir ausgewichen bist? Etwa die Tatsache, dass Eschberg für dich erst mal nur ein Durchgangsbahnhof ist?« Es klang nicht böse, eher sachlich, nüchtern.
»Eher die Tatsache, dass ich das noch nicht so genau weiß. Ich bin seit zwei Tagen hier im Amt, meine Welt steht Kopf und ich hab noch den berühmten ›Koffer in Berlin‹, den ich am liebsten erst mal auf Weltreise schicken würde, bevor ich mich da ran traue.« Seine Stimme war brüchig geworden. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Leichen im Keller, Koffer in Berlin ... Wir beide sind schon seltsam ...« Victoria fasste sich ein Herz und küsste ihn. Schüchtern. Auf den Mund. Nur kurz.
»Wir!?«, fragte er leise.
»Nicht?«
»Doch. Gern ein ›wir‹.« Ebenso schüchtern und flüchtig küsste er sie zurück.
»Duuu ...«
»Hm?«
»Ist es schlimm, wenn ich ein bisschen zurückhaltender bin, als ich gern wäre?« Magnus hielt sie immer noch im Arm, in den letzten Minuten war die Umgebung um sie herum vollständig verschwommen, es gab im Café Daily nur sie und ihn.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich mag es, dass du so überlegt bist. Und, um ganz offen zu sein, es kommt mir auch ein Stück entgegen.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
»Inwiefern?«
»Ich hatte ein paar Dates in den letzten Monaten und in Summe würde ich sie alle als ›negative Erfahrung‹ abstempeln. Also rein juristisch kein Handlungsbedarf, aber emotional nicht gerade aufbauend.«
»Verstehe. Woran lag es, liegt es?«
»Es liegt an mir. Du hast es ja gerade selber erlebt, die Sache mit dem Doktortitel binde ich halt nicht jedem bei erstbester Gelegenheit auf die Nase. Meine Autos parke ich auch lieber um die Ecke und laufe den restlichen Weg zu Fuß –«
»Moment, Autos? Plural?«
»Ja. Neben dem Shelby fahre ich noch einen Landrover. Und über die Firma habe ich Zugang zu diversen anderen Autos. Irgendwie muss ich ja meinen Hofstaat von Mittelaltermarkt zu Mittelaltermarkt transportieren.«
»Klar, eine Anhängerkupplung am Sportwagen sieht auch sehr bescheiden aus.«
»Siehst du.« Und wieder erlaubte sie sich einen dieser flüchtigen Küsse, die signalisierten, dass sie ihn wollte, mehr wollte, aber auch, dass die Zeit noch nicht gekommen war.
»Also, Doktortitel und zwei Autos. Aber das macht noch lange keine beziehungsunfähige Schreckschraube aus dir.«
»Nein. Das nicht. Ich habe ja nur schon erwähnt, dass ich viel arbeite. Teilweise auch sehr lange und sehr konzentriert. Aber ich verdiene eben auch gut, meistens mehr, als die Männer, die ich gedatet habe. Und das hat dann in der Regel zur Konsequenz, dass sie entweder zu schnell zu großes Interesse hatten oder aber damit nicht umgehen konnten.«
»Und bei mir befürchtest du genau was?«
»Das ist eine fiese Frage.«
»Ist sie das?«
»Menno ... Ich hab Angst, das, was sich hier gerade so vorsichtig aufbaut, kaputt zu machen. Mit meiner Art.«
Magnus hielt sie fest und sicher im Arm. »Ich finde deine Art ganz zauberhaft.«
»Noch.«
»Ja. Noch. Und irgendwann werde ich sie lieben.«
Dass Victoria mit den Tränen kämpfte, konnte Magnus nicht sehen, ihr Kopf lag immer noch an seiner Schulter und er gab ihr einen Kuss ins Haar. Es roch nach ihrem Parfum und unwiderstehlich nach Süßwarenladen. Noch unwiderstehlicher war aber das Gefühl, das sich in ihm ausbreitete, als sie so vertraut und nah bei ihm im Arm lag. Verstohlen blickte er auf ihr Handgelenk, sie trug die Uhr rechts. Er konnte erkennen, dass es weit nach 22 Uhr war. Das Daily schloss unter der Woche um elf.
»Du weißt, dass die hier gleich zu machen?«, flüsterte er.
»Ja, leider. Wobei Jo uns sicherlich niemals rausschmeißen würde. Aber du hast ja recht. So laaaaangsaaaam sollten wir vielleicht an den Aufbruch denken.«
»Hab ich eigentlich erwähnt, dass ich morgen Mittag in Düsseldorf bin?«
»Nein. Hast du nicht. Was führt dich dorthin?«
»Immer noch wegen des Amtsantritts. Ein paar Dokumente unterschreiben und Hände schütteln. Um elf muss ich dort sein und gegen zwölf ist der Spuk vorbei.«
»Sollen wir uns dann in der Stadt treffen? Wir könnten zusammen was essen?«
»Klingt gut. Wenn du es irgendwie in deinem Terminkalender unterbringen kannst!?«
»Ja, bestimmt. Ich schreib dir sonst frühzeitig. Apropos früh ... fahr bloß früh genug los, damit du pünktlich bist, ich weiß, wovon ich rede.«
»Ich hab schon gesehen, bei dichterem Verkehr fast anderthalb Stunden. Warum tust du dir das eigentlich jeden Tag an?«
»Tja, das frage ich mich auch seit Jahr und Tag. Aber ich kann nicht anders. Die Firma gehört zu mir und ich gehöre in die Firma.« Bitte, stell keine Nachfragen jetzt, schoss es ihr durch den Kopf.
»Ah ja. Wenn das so ist. Du hast aber nicht irgendwie ein Verhältnis mit deinem Chef oder bist durch einen Sklavenvertrag an die Firma gebunden?« Magnus griente.
Lachend antwortete Victoria: »Nein ... Definitiv nicht. Wobei, meine Seele hab ich schon mehrfach für den Laden verkauft, aber das bringt der Job so mit sich und ich denke, dass es anderswo nicht anders wäre.«
»Na, solange du dein Herz nicht anderswo anderswie verschenkst ...« Und wieder funkelte das Grün seiner Augen ihr entgegen und stahl sich den Weg in ihr Herz.
»Nein, niemals.«
Magnus versank in diesem Moment in ihrem Blick. Sein Herz klopfte wie wild und seine Hand zitterte, als er ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht strich und sich ihr näherte.
»Ihr Turteltäubchen, ich störe nur ungern, aber wir schließen jetzt gleich.« Die Kellnerin grinste die beiden an. Sie war aus dem Nichts aufgetaucht und sammelte die leeren Gläser ein.
Magnus und Victoria seufzten beide; wieder so kurz davor, wieder unterbrochen, wieder ein Moment dahin. »Liebe Grüße von Jo übrigens, ihr seid heute eingeladen.«
»Ah, okay. Danke und liebe Grüße zurück«, entgegnete Victoria. Im Aufstehen zog sie ihre Kleidung zurecht und nahm die Rose aus dem Wasserglas. Sie roch daran und sah Magnus an. »Danke übrigens ...«
»Sehr gern. Nur ich finde ja, dass du viel besser riechst ...«
»Meinst du?«
Er nickte. »Mhm. Dein Shampoo riecht nach Süßwarenladen und dein Parfüm hat so etwas ... Zauberhaftes. Aber nur an dir. Ich weiß, dass ich das schon mal irgendwo gerochen habe, aber es damals nicht mochte.«
»Hypnotic Poison. Ich habe dich also nicht verzaubert, sondern vergiftet.« Lachend griff sie seine Hand und verließ mit ihm das Café. Magnus hielt kurz inne. Hypnotic Poison. Ilona hatte es eine sehr lange Zeit sehr häufig verwendet. Ihm wurde für einen Augenblick schlecht. Und Victoria sah es ihm an.
»Ex-Freundin?«
»Nicht ganz, aber so ähnlich. Was aber nicht heißen soll, dass ich es an dir nicht mehr riechen mag. Im Gegenteil, es passt sehr gut zu dir.«
»Danke.« Augenzwinkernd hielt sie vor den Autos an.
Magnus nahm ihre Hand und küsste sie darauf. »Können wir meine Vorgeschichte vielleicht morgen oder übermorgen oder wann auch immer bereden?«
»Ja, natürlich. Ich wollte jetzt auch auf nichts anderes hinaus als einen Gute-Nacht-Kuss und eine klitzekleine Antwort auf eine klitzekleine Bitte.« Sie zeigte mit Daumen und Zeigefinger das »klitzeklein«, woraufhin Magnus ihr einen flüchtigen Kuss gab.
»Ja, immer. Aber erst die Frage, dann das Vergnügen.« Er zog sie näher an sich heran und schlang seine Arme um ihre Taille, legte seinen Kopf an ihre Schulter und hörte zu.
»Versprichst du mir, mich nicht zu googeln, bis morgen Mittag?« Sie sah ihn skeptisch an.
»Ja. Auch wenn du mich damit jetzt erst recht neugierig gemacht hast.« Er hob den Kopf an und sah in ihre Augen.
»Ich weiß, ich habe schlafende Hunde geweckt. Aber wenn du morgen nach Düsseldorf kommst, werde ich anders sein als hier. Hier bin ich privat, Düsseldorf ist Business. Wir gehen gern zusammen was essen und ich hoffe, dass nichts dazwischen kommt. Aber im Internet steht eine Menge Unwahrheiten über mich, meine Arbeit. Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht mit falschen Informationen in die Stadt kommst und dich wunderst, warum ich so komisch bin. Falls ich komisch werde.«
»Du bist so süß, wenn du dich rechtfertigst, obwohl nichts passiert ist.« Er wiegte sie in seinem Arm. »Versprichst du mir auch was?« Es brach ihm jetzt schon das Herz, obwohl er sie noch gar nicht gefragt hatte.
»Ja!?«
»Dass wir uns erst wirklich näherkommen, wenn du aus Dubai zurück bist?«
»Der Koffer in Berlin?« Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die ihr gerade in die Augen stiegen.
»Auch. Nichts Gefährliches, Ansteckendes oder Illegales. Nur eine Baustelle, die ich gern vorher abschließen würde.« Er atmete tief, sog wieder den Duft ihrer Haare ein und seufzte.
»Ja.«
»Ja? Einfach nur ja?«
»Ja.« Sie nickte. »Ich werde in Dubai auch einen Flughafen BER zu Ende bauen.«
»Der Fairness halber hake ich jetzt nicht weiter nach. Scheherazade.«
»Ich auch nicht ... Sofern ich einen klitzekleinen Gute-Nacht-Kuss bekomme!?«
Sie bekam ihn. Und wenn er noch so klitzeklein war, stellte er doch alles in den Schatten, was sie je zuvor gefühlt hatte.
Magnus fiel erschöpft in den Autositz. Sein Herz schlug wie wildgeworden und als er sich angeschnallt und den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte, drehte er zunächst das Radio leiser. Dann wieder lauter. Chicago – You’re the Inspiration. Ein Blick zur Seite. Victoria hatte die Scheibe auf der Fahrerseite ihres Wagens bereits heruntergelassen. Er öffnete seine auf der Beifahrerseite. Sie sah ihn an. »Hörst du?«
»Ja, ich höre.«
Die letzten zwei Minuten des Songs blieben sie selig lächelnd und sich immer wieder ansehend in ihren Autos nebeneinander stehen. Erst, als der letzte Takt verklungen war, heulte der Motor des Shelbys auf und auch Magnus trat den Heimweg an.