Читать книгу Jackpot - eine Heidelberger Romanze - Lars Andersson - Страница 6

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Nach ein paar Wochen hatte sich Lucy an den Rhythmus aus Unterricht und pädagogischem Seminar gewöhnt. Ihre Formkurve stieg wieder spürbar an. Sie war zwei- bis dreimal die Woche im Fitness­studio gewesen und hatte fleißig an ihrer Ausdauer und Kraft gefeilt.

Eigentlich lief also alles prima. Nur der Profi, den sie beim ersten Besuch im Studio getroffen hatte, war wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte ihn nie mehr im Fitnessstudio getroffen, und angerufen hatte er auch nicht. Lucy hatte es wohl doch falsch ange­stellt.

Ihre Wohnung in der Uferstraße hatte sie sich inzwischen behaglich eingerichtet. Die Wohnung lag im ersten Stockwerk und hatte zwei große, hohe Zimmer mit Blick auf den Neckar. Frau Verdandi, ihre Vermieterin, brauchte den Platz seit Jahren nicht mehr und hatte die Wohnung nur noch als Abstellkammer genutzt, seit sie die Treppen nicht mehr gut bewältigen konnte.

Lucy hatte alle Wände frisch gestrichen und die alten Parkettböden abgeschliffen und versiegelt. Für das Schlafzimmer hatte sie sich ein 140er Bett gegönnt – breit genug für zwei, aber nicht so breit, dass man sich einsam fühlen würde, wenn man allein darin läge.

Ihren Schreibtisch, den sie aus Freiburg mitgebracht hatte, stellte sie im Wohnzimmer an das Fenster, so dass sie jederzeit den Blick auf den Neckar und die Neckarwiese genießen konnte. Sie liebte diesen Blick auf den Fluss, der immer in Bewegung war und einem fernen Ziel entgegenstrebte. Daneben hatte sie noch einen Platz für einen kleinen Esstisch in Bartresen-Optik, den sie sich zusammen mit zwei Barhockern neu gekauft hatte. An der Wand hatte Lucy eine kleine Küchenzeile aufgebaut. Zusammen mit ein paar alten Kommoden, die noch in der Wohnung gestanden waren, ergab sich so eine spannende und geschmackvolle Mischung aus neu und alt.

Für den Flur hatte sie die Bilderrahmen wiederverwendet, die in der Wohnung herumgelegen waren, und hatte darin ein paar Erinne­rungs­fotos ihrer Sportvereine und ihrer Familie aufgezogen.

Das Badezimmer hob sich Lucy für eine größere Renovierung auf. Die Wasserhähne waren wahrscheinlich 50 Jahre alt, die weißen Fliesen ebenfalls. Eine Duschwanne gab es nicht; dafür hatte die Badewanne Kingsize-Format. Ein bunter Duschvorhang rund um die Badewanne war das einzige Detail, mit dem Lucy das Bad verschönerte. Aber mit ein bisschen Musik und viel heißem Wasser war es in der Badewanne trotzdem sehr gemütlich. Sie war mit ihrer neuen Wohnung und ihrem neuen Leben sehr zufrieden. Einzig die vielen Gartenzwerge, mit denen Frau Verdandi den Garten gespickt hatte, störten ein wenig ihre Behaglichkeit. Aber wo steckte der Profi?


***


Theo schaute zum Fenster hinaus. Die ungehinderte Aussicht auf die sanften Hügel des Odenwalds war das Beste an seinem kleinen Zimmer im siebten Stockwerk des Studenten­wohnheims. Der Anblick der Berge vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit, wahr­scheinlich, weil er ihn an seinen Heimatort Gras-Ellenbach, das im nördlichen Odenwald lag, erinnerte. Er hatte das Zimmer vor zwei Jahren mit einem anderen Studenten getauscht, der durch die schattige Lage des Zimmers fast depressiv geworden war. Theo hatte ein sonniges Zimmer in Südlage gehabt und war froh, dieses gegen ein Zimmer einzutauschen, das weniger der Sonne zugewandt war. Seitdem konnte er von seinem kleinen Schreibtisch aus den Blick über den Odenwald schweifen lassen, statt sich hinter einem heruntergelassenen Rollladen vor den Sonnenstrahlen zu ver­schanzen.

Seit er vor drei Tagen Lucy im Fitnessstudio getroffen hatte, war Theos Hormonhaushalt außer Kontrolle. Er konnte nichts mehr unternehmen, ohne an sie zu denken.

Heute würde er zum ersten Mal ihre Nummer wählen – der Schlüssel zum Beziehungs-Jackpot. Theo hatte sich sehr gut darauf vorbereitet. Zuerst hatte er mit dem Leiter der Freizeit-Volleyballgruppe telefoniert und gefragt, ob er einmal mitspielen und eine Freundin mitbringen dürfe. Er hatte ein bisschen spekuliert und Lucy sehr gute technische Fähigkeiten angedichtet, obwohl er darüber nichts wusste. So hatte er sich eine Einladung zum nächsten Training besorgt, die er Lucy auf dem Silbertablett servieren würde.

Als optimalen Zeitpunkt für seinen Anruf hatte Theo den frühen Abend identifiziert. Er erinnerte sich, dass Lucy etwas über eine Lehramtsausbildung gesagt hatte. Also war sie wahrscheinlich tagsüber eingespannt. Theo hoffte, dass er sie in einem entspannten Moment erwischen würde.

Schließlich hatte er sich vorgenommen, ein kleines, unverfängliches Date vorzuschlagen. Er könnte Lucy ja die Altstadt zeigen, sein Revier, in dem er sich wirklich gut auskannte. Während des Grundstudiums hatte er sogar als Fremdenführer gearbeitet und sich so ein paar Euro hinzuverdient. Seine fundierten Geschichtskenntnisse, gepaart mit seinem Lokalkolorit, machten ihn zu einem gleichermaßen interes­santen wie amüsanten Guide. Der Vorschlag, Lucy die Sehens­würdig­keiten Heidelbergs zu präsentieren, würde für sie bestimmt attraktiv sein.

Trotz aller Vorbereitung war Theo ziemlich nervös. Wie immer, wenn er gestresst war, juckte es ihn zwischen den Schulterblättern. Irgend­etwas stimmte an dieser Stelle nicht mit seinem Rücken. Diese Schwachstelle hatte er erstmals bemerkt, als vor zehn Jahren sein Vater gestorben war. Damals hatte er deswegen tagelang kaum atmen können. Seitdem zwickte es ihn immer, wenn es ihm schlecht ging, zwischen den Schulterblättern, mal mehr, mal weniger. Er drückte seinen Rücken gegen die Stuhllehne und rieb ihn hin und her, um sich auf das Gespräch konzentrieren zu können.

Theo hatte sich den Verlauf des Gesprächs schon mehrmals vorgestellt und verschiedene Alternativen in Gedanken durch­gespielt. Er war auf alles, naja, fast alles, vorbereitet. Trotzdem pochte sein Herz wie wild, als er die Wähltaste drückte.

Eine Männerstimme meldete sich. Theo musste schlucken. War das vielleicht ihr Mann oder ihr Freund? Fuck!

„Äh, Entschuldigung, kann ich vielleicht Lucy sprechen?“

„Lucy?“

Theo fiel ein, dass er nicht mal den Nachnamen des Pumas kannte. Und Lucy war bestimmt auch irgendeine Kurzform oder ein Spitz­name. Theo war ratlos.

„Ja, Lucy.“

„Kenn ich nicht.“

Der Mann legte auf.


Verdammt! Hatte Theo die Nummer falsch eingetippt? Hatte er den Namen falsch verstanden? Oder hatte sie ihm absichtlich einen falschen Namen gesagt? Hatte sie ihm eine Phantasienummer diktiert? Oder die Nummer falsch im Kopf gehabt? Oder war es die richtige Nummer, und ihr Freund war rangegangen und hatte natürlich den Rivalen um die Gunst des Pumas eiskalt abgeblockt?

Theo war frustriert. Früher hätte er vielleicht sein Handy an die Wand geworfen vor Wut. Aber seit ein paar Jahren war er viel ruhiger geworden. Er saß einfach da und fraß seinen Schmerz in sich hinein. Sein Rücken schmerzte.

Von wegen Jackpot. Er hatte auf die falschen Zahlen getippt.


***


Es war Samstag. Die Wintersonne begann Mitte Februar schon wieder Kraft zu bekommen. Lucy hatte lang geschlafen und saß jetzt an ihrem Schreibtisch, um die nächsten Mathematikstunden vorzu­bereiten. Sie hatte sich vorgenommen, am Nachmittag erstmals wieder im Freien zu joggen; sie wollte einfach dem Neckar fluss­abwärts folgen und sehen, wie weit sie kam. Die Vorfreude auf den Lauf motivierte sie, ihre Arbeit konzentriert und schnell zu erledigen.

Auf der Uferpromenade spazierte eine Frau und schob einen roten Kinderwagen vor sich her. Immer wieder beugte sie sich liebevoll zu dem Baby hinunter, das dick eingepackt in dem Wagen lag. Die Mutter war jung, höchstens so alt wie Lucy. Sie sah müde, aber auch ein wenig stolz aus. Ob Lucy auch eines Tages Kinder haben würde? Im Augenblick erschien ihr das völlig undenkbar. Sie hatte noch so viel vor. Ein Kind hatte in ihren Plänen jetzt keinen Platz. Später vielleicht.

Sie wandte sich wieder ihrer Mathematik-Unterrichtseinheit zu, die sie in der kommenden Woche beginnen würde. Sie hatte vor, das Thema Stochastik in der Kursstufe mit ein paar Wahrscheinlich­keitsparadoxien einzuführen und suchte sich entsprechend skurrile Fälle heraus, die belegten, wie sehr sich der „gesunde Menschen­verstand“ irren kann, wenn es um die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten geht.

Lucys Freiburger Mathematikdozent, Professor Dietrich, hatte aus diesem Thema eine halbe Philosophieeinheit gemacht. Er führte gern aus, dass Menschen dazu neigen, in zufälligen Ereignissen ein Muster zu erkennen und daraus dem Geschehen einen tieferen Sinn zu verleihen. Seine Vorlesungen waren für Lucy ein Genuss, nicht zuletzt aufgrund des schweizerdeutschen Dialekts des Professors, der aus Bern stammte.

„Wenn ein schlimmes Ereignis eintritt, das eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit hat, wollen die Menschen immer ein Schicksal oder eine höhere Macht darin erkennen – alles Unfug!“ hatte er immer betont.

„Es wäre besser, sie würden an der Minimierung der Wahrschein­lichkeit eines negativen Ereignisses arbeiten, als über das Schicksal zu sinnieren.“

Gleichzeitig hatte er immer wieder darauf hingewiesen, dass die reale Welt – im mathematischen Sinne – ein chaotisches System sei.

„Der reine Zufall existiert nicht! Bei einer Abfolge von zufälligen Ereignissen kann eine minimale Abweichung in den Anfangs­bedingungen zu großen Abweichungen am Ende führen.“

Und deshalb sei es auch für den besten Mathematiker unmöglich, das Verhalten chaotischer Systeme zu berechnen.

Lucy konstruierte in ihrem Notebook die Grafik eines Ereignis­baums für das Lottospiel. Damit wollte sie den rechnerischen Teil der Unterrichts­einheit beginnen. Als sie in einer kurzen Pause den Blick aus dem Fenster schweifen ließ, sah sie, wie ein paar junge Männer auf der Neckarwiese zwei provisorische Tore aus Bierdosen ab­steckten und begannen, Fußball zu spielen. Lucy spürte, wie Adrenalin in ihre Blutbahn strömte. Fußball! Das wäre noch schöner als Joggen!

Lucy versuchte weiterzuarbeiten, aber es gelang ihr einfach nicht. Die Rufe und der sporadische Torjubel der Fußballer störten sie ein ums andere Mal auf. Immer wieder blickte sie vom Schreibtisch auf und schaute den Typen beim Kicken zu. Ihre Beine begannen zu kribbeln. Sie musste raus! Hastig zog sie ihre Sportkleidung an. Fragen konnte sie ja mal, und die Stochastik musste eben solange warten.


***


„Los, schnapp ihn dir!“

„Zu spät!“

„Tooor! Super gemacht, Richy!“

Lucy hatte dem Fußballspiel noch nicht lange zugeschaut, als das Tor fiel. Die Spieler klatschten sich gegenseitig ab. Lucy nutzte die Unter­brechung, um das improvisierte Spielfeld zu betreten.

„Hallo! Kann ich mitspielen?“

Die Männer schauten betreten auf den zerwühlten Rasen. Keiner wollte die unangenehme Aufgabe übernehmen, den Bittsteller abzu­weisen. Auf einmal kam der Profi aus dem Fitnessstudio auf sie zu. Der Typ, der ihre Nummer hatte, sie aber nicht anrief! Lucys Herz krampfte sich zusammen, aber sie ließ sich nichts anmerken.

„Hallo Lucy! Kennst du mich noch? Theo, wir hatten uns mal im Fitness First getroffen. Klar kannst du mitspielen, oder, Jungs?“

Die anderen sagten nichts, schienen aber nicht länger dagegen sein zu wollen. Lucy war es gewöhnt, dass Männer die Nase rümpften, wenn sie das erste Mal beim Fußball mitspielte. Sie wusste aber, dass sich das schnell ändern würde. Immerhin brachte sie aus ihrer aktiven Sportlerlaufbahn eine Menge Ballgefühl mit, und schnell war sie auch.

„Ihr seid doch eh nur zu sechst, dann geht Lucy zu euch“ schlug Theo vor.

„Jaja, schon gut, wir nehmen die Frau, dann sind wir auch sieben“, kam leicht sarkastisch die Antwort von Richy, der in Lucys Team offenbar den Ton angab. Genauso gut hätten sie gleich aufgeben können, dachte Lucy. Denen würde sie es zeigen!

Der Anfang fiel ihr ganz schön schwer. Nach ein paar Sprints war sie völlig außer Atem. Sie rannte sich die Seele aus dem Leib, um sich freizulaufen und anzubieten, bekam aber nur dann einen Pass aus der eigenen Mannschaft, wenn keine andere Anspielstation frei war. Also änderte sie ihre Strategie und holte sich die Bälle vom Gegner. Sie sparte jetzt ihre Kräfte, nutzte sie stattdessen für kurze, über­raschende Angriffe auf die Gegenspieler und konnte so einige Gegen­stöße einleiten.

Nach einer halben Stunde hatten ihre Mitspieler kapiert, was Lucy drauf hatte. Jetzt wurden die meisten auch zusehends müde, und Lucy konnte ihre Schnelligkeit und Ausdauer ausspielen. Immer wieder schickten ihre Mitspieler Lucy auf schnelle Gegenstöße, und sie schoss Tor um Tor.

Nach einer Stunde stand es 11 zu 11. Die Jungs waren müde. Die Sonne stand wie eine milchige, kalte Scheibe am Horizont und schien ihre ganze Kraft für heute verschwendet zu haben. Der Neckar sah mit einem Mal aus wie eine gigantische Bleischmelze. Giftige Rauchschwaden lösten sich aus dem Blei und trieben auf die Wiese zu.

Theo spürte, wie sich sein Rücken zu verkrampfen begann.

„Machen wir Schluss?“ fragte er in die Runde.

„Noch ein Tor, okay?“ schlug Richy vor.

Die Aussicht auf das entscheidende Tor brachte nochmals Schwung in die Partie. Die Angriffsaktionen wurden wieder entschlossener und die Verteidigung agierte verbissener als zuvor. In den folgenden Minu­ten gelang keiner Mannschaft ein Tor. Dann schickte Richy mal wieder Lucy mit einem langen Pass auf einen Tempogegenstoß.

Sie lief allein auf den Torhüter zu. Zehn Meter vor dem Tor setzte sie zum Vollspannschuss an. Im allerletzten Moment grätschte Theo in den Schuss. Lucy flog in hohem Bogen in den aufgeweichten Rasen. Der Ball landete im Neckar.

„Super gemacht, Theo!“ rief ein Mitspieler von Theo.

„Ja, echt ein Mega-Tackling!“, applaudierte ein anderer.

„Schade um den Ball. War übrigens meiner!“ ätzte Richy.

Der Ball schwamm ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt und begann, mit der Strömung Fahrt aufzunehmen. Theo zögerte kurz; weniger wegen des eiskalten Wassers, sondern weil er großen Respekt vor der Strömung hatte. Dann zog er hastig seine Schuhe aus und sprang ins Wasser. Bald hatte er den Ball erreicht und trieb ihn wie ein Wasser­baller vor sich her. Nach wenigen Augenblicken stand er schon wieder am Ufer, während Lucy im Gras saß und ihre Schien­beine inspizierte. Richy war glücklich, seinen Ball wiederzuhaben.

„Ist ja nochmal gutgegangen. Alles klar, Theo?“

„Alles klar“, antwortete dieser bibbernd.

Damit machte sich Richy zusammen mit den anderen auf den Heimweg. Theo stand da wie ein begossener Pudel und schlotterte am ganzen Leib. Lucy gab dem Profi noch eine letzte Chance.

„Willst du nicht vielleicht bei mir duschen? So kannst du ja schlecht mit dem Rad nach Hause fahren. Ich wohne gleich hier gegenüber.“

Das war ein Angebot, das Theo nicht ablehnen konnte. Er schnappte sein Fahrrad und folgte Lucy zu ihrer Wohnung. Er war ganz über­rascht, dass sie tatsächlich so nah am Neckar wohnte.

„Hier wohnst du? In dieser Villa? Das ist ja märchenhaft!“

Lucy wollte sich jetzt nicht die Zeit nehmen, um Theo die ganze Geschichte ihrer Wohnungssuche zu erzählen. Dafür zitterte er zu stark. Sie bugsierte ihn in ihr Bad, drückte ihm ein frisches Handtuch in die Hand und ließ ihn allein.


Jackpot - eine Heidelberger Romanze

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