Читать книгу Parasit - Lars Burkart - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеKapitel 1
„Jake, das ist eine beschissene Idee. Das sollten wir nicht tun“, flüsterte Richie mit einer Stimme, die ängstlich und besorgt zugleich klang. Er kannte Jake schon fast zehn Jahre und war überzeugt, dass dieser es ernst meinte.
„Mach dir bloß nicht gleich ins Hemd, du Hasenfuß! Was ist denn schon dabei? Der tut dir nichts mehr.“
„Trotzdem“, bettelte er fast, „ich halte nichts davon.“
„Wie du willst, dann werde ich eben alleine gehen“, fuhr er ihn wütend an, setzte dann noch mit einem listigen Grinsen einen drauf, „du bist ein jämmerlicher Feigling, weiter nichts. Bescheißt dir wahrscheinlich fast die Hacken, was?!“
Es war fies und gemein, ihn so zu nennen, aber es war auch berechnend. Er wusste, Richie flippte immer gleich aus, wenn man ihn beleidigte. Es hatte eine eigenartige Wirkung auf ihn. Es verletzte ihn nicht nur, nein, die Worte spornten ihn geradezu an. Fast wie ein zwingender Reflex, so unbeherrschbar wie das Atmen. Sein Widerstand schmolz wie Schnee in der Frühlingssonne dahin.
„Okay“, sagte er schließlich kleinlaut. „Du hast es geschafft. Ich komme mit.“
Sie bestellten sich noch ein letztes Bier, tranken es zügig aus und machten sich dann auf den Weg in ihr Verderben.
Es war weit nach Mitternacht, aber immer noch sehr warm. Keine Wolke versperrte ihnen die Sicht auf die Sterne. Es wehte auch kein Wind.
„Dann packen wir es also an“, sagte Jake, wie um seinem Vorhaben Ausdruck zu geben. Dann stieg er in seinen Wagen, einem alten verrosteten Fiesta und bedeutete Richie es ihm gleichzutun.
„Warte mal, Jake! Bestimmt ist die Tür verschlossen.“ In seiner Stimme schwang Hoffnung mit. Vielleicht wurde dieser hirnrissige Plan ja dadurch abgeblasen.
Doch Jake grinste nur bis über beide Ohren, mit dem Daumen deutete er dabei über seine rechte Schulter. Richie, dessen Hoffnung dadurch schon wieder dahin schwand, blickte hinter sich und sah, ohne sonderlich überrascht zu sein, eine Axt.
„Damit ist das Problem verschlossene Tür erledigt, meinst du nicht auch?“ Sein Grinsen entblößte gelbe Zähne. Dann sah er wieder nach vorn und steuerte den Ford durch die dunkle Nacht, weiter seinem Ziel entgegen.
Richies Kehle wurde staubtrocken und eng. Er sehnte sich nach einem Bier, mit dem er das alles runterspülen konnte. Die ganze Idee war bescheuert. Das wusste er. Aber Jake schien total begeistert zu sein. Er war hin und weg, als wäre es die Idee des Jahrhunderts.
Endlich erreichten sie den Friedhof. Jake parkte den Wagen hinter einer dichten Hecke. Es war zwar nur ein kleiner Ort, in dem sie lebten, aber es fuhren dennoch jede Nacht mindestens zwei Streifenwagen. Und deren Insassen würden neugierig werden, wenn nachts um zwei ein Wagen vor der Friedhofseinfahrt parkte.
Sie schnappten sich die Axt, die überraschend schwer war und deren scharfe Klinge im Licht der Sterne glänzte und ließen den Wagen unverschlossen zurück.
Über die knapp zwei Meter hohe Steinmauer waren sie im Handumdrehen drüber.
Unter ihren Füßen knirschte der feine Sand.
Sie waren zwar inmitten dutzender Gräber gelandet, aber zum nächsten Weg sind es nur wenige Schritte gewesen.
Jake trug die schwere Axt in der rechten, mit der linken deutete er nach vorn, dem Verlauf des Weges folgend. „Die Aufbahrungshalle muss sich irgendwo da vorn befinden. Nur ein paar Schritte.“
„Aha“, gab Richie von sich. Er fühlte sich mehr und mehr wie in einem Traum. Was machte er hier nur? Verdammt? Er wollte das nicht sehen! Und noch war er mitgegangen. Warum?
Die Aufbewahrungshalle lag zentral des Friedhofes, umringt von drei hohen Trauerweiden, die mit ihren herunterhängenden Zweigen schon tagsüber einen tiefen Schatten spendeten. In der Dunkelheit ließen sie es fast gänzlich verschwinden. Sie sahen es erst, als sie schon fast davor standen.
Die dezente braune Farbe tat ihr übriges dazu.
Mit einem riesigen Satz hatte Jake die zwei Stufen in den Eingangsbereich genommen, dann hieb er schon mit der Axt auf die Tür ein. Richie war bewegungslos stehen geblieben und sah seinem Freund zu, der schon nach drei, vier Schlägen außer Atem war. Dennoch war nach zwei Dutzend weiteren Schlägen die Tür zerstört. Zufrieden ließ Jake die Axt sinken und betrachtete stolz sein Werk.
Die beiden Flügel der Tür hingen windschief, wie nach einem Hurrikan in den Angeln, ihr Holz war zersplittert, auseinandergesprengt und wild verteilt.
Aus der Halle strömte ihnen Kühle entgegen. Und in der Mitte war der schwarze Sarg aufgebahrt.
Es war schon alles für die in wenigen Stunden anstehende Beerdigung vorbereitet. Stühle rundherum aufgebaut. Ein mit schwarzem Samt eingekleideten Pult für den Bestatter. Blumendekorationen auf und um den Sarg herum. Mehrere Bilder des Verstorbenen zwischen all den Blumen.
William Backer war in den besten Jahren gewesen. Mitte Vierzig, als ihm ein tödlicher Herzinfarkt auf dem Laufband aus dem Leben riss. So stand es zumindest im Obduktionsbericht. Woran er jedoch wirklich gestorben war, war unentdeckt geblieben. Der Grund seines frühen Todes, war ebenso der Grund, warum Jake hierher gekommen war.
Er warf die Axt in eine Ecke, wo sie einen Stuhl polternd umriss. Dann stürmte er auf den Sarg zu.
Seine Finger zitterten begierig, als er sich an den Ösen zu schaffen machte. Schließlich gelang es ihm den Deckel aufzuklappen.
Dann begann er zu sprechen, aber nicht zu Richie, sondern zu dem Leichnam.
„Oh Herr, nimm von mir! Ernähre dich von mir! Viel zu lang dauerte dein Hunger. Du hast nach mir gerufen. Ich bin hier.“
Und der Leichnam öffnete die Augen.
Sie waren gelb, mit feinen roten Äderchen durchlaufen und hatten kleine, schwarze Linsen, die suchend die Umgebung abtasteten. Das war zuviel für Richie, der bis eben nur stocksteif und stumm Jakes Treiben zugesehen hatte. Das ging weit über einen schlechten Scherz hinaus. Er drehte sich um und lief schreiend davon.
Jake war das einerlei. Er war jetzt im Banne dieser Kreatur, die dem verstorbenen William Backer nur noch wenig ähnelte. Das Gesicht war eine verschobene Fratze, die Lippen dünn und blutig, die Zähne schwarz, die Fingernägel gelb und lang. Kein Vergleich zu dem gepflegten Mann auf den Fotos.
Jake war weit davon entfernt, dies zu bemerken. Er fingerte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und schnitzte sich die Handflächen auf. Da es stumpf war brauchte er mehrere Versuche dazu, bis er seine Hände zu dem faltigen Mund führen konnte.
Es trank gierig, wollte jedoch mehr. Also schlitzte es mit seinen langen, scharfen Fingernägeln Jakes Pulsadern auf. Das feuchte schmatzen breitete sich in der Halle aus.
Richie rannte als wäre der Teufel hinter ihm her. Sein Schweiß lief in Strömen. Er brannte auf seiner Haut, obwohl er sie eigentlich kühlen sollte. Auch in die Augen lief er, wo das Salz höllisch brannte. Ihn quälte heftiges Seitenstechen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Atem ging rasselnd und pfeifend.
Er rannte so schnell, dass er über seine eigenen Beine stolperte und kopfüber hinfiel. Der feine Sand riss seine Haut auf und verstärkte das brennen noch. Ein heftiges Zittern breitete sich in ihm aus. Er wurde sich vage bewusst, dass das nicht real gewesen ist, nicht real gewesen sein kann.
„Heilige Scheiße, was war das denn eben?“ Allmählich wich seiner Angst der Überzeugung, dass er verarscht wurden war. „Ja, so muss es gewesen sein. Jake und ein Freund wollen mich verarschen. Diese Penner. Anders kann es nicht gewesen sein. Bestimmt sitzen sie gerade zusammen und amüsieren sich auf meine Kosten.
Ja, so musste es gewesen sein“, wiederholte er noch einmal für sich. Dann stand er auf, klopfte sich den Schmutz von der Hose, begutachtete die Schürfwunden an Handflächen und Ellenbogen und machte sich eilig davon. Er verschwendete keinen Gedanken an Jake. Und als er den Friedhof verlassen hatte, er hinaus auf die dunkle Straße getreten war, war Jake und sogar das eben geschehene nur noch eine verschwommene, schwache Erinnerung, als läge es Jahrzehnte in der Vergangenheit
Als er einige Stunden später erwachte, mittlerweile war es heller Tag, war von der verschwommenen, schwachen Erinnerung nichts mehr übrig. Es war völlig in Vergessenheit geraten.
Richie verbrachte den Tag ohne irgendwelche sonderbaren Ereignisse, bestellte sein Essen beim Chinesen um die Ecke, zockte seine Konsole heiß und ging, als es abends wurde, in ihre Stammkneipe. Dort saß er allein, trank Bier, rauchte Zigaretten und starrte trübsinnig die Wand an. Nein, Jake wird wohl heute nicht mehr kommen, überlegte er.
Erst nach Stunden machte er sich wieder auf den Heimweg.
Ein stürmischer Wind blies ihm die faden Gerüche der Nacht entgegen. Feiner, kalter Nieselregen spritzte ihm ins Gesicht. Der Regen störte ihn nicht besonders, aber der Wind griff ihn genau von vorn an und verlangsamte seinen Schritt. Mit nach vorn geneigten Körper und gesenktem Kopf stemmte er sich gegen ihn. Er sah nicht die Gestalt, die langsam auf ihn zuschwebte. Aber er spürte einen gewaltigen Schlag, dann flog er in die Büsche am Wegesrand. Sein Panikschrei hallte laut durch die Nacht, doch das nutzte ihm schon nichts mehr.
Im Licht der umliegenden Straßenlaternen erkannte er die Kreatur wieder. Die Kreatur, die er im Sarg liegen gesehen hatte. Und da fielen ihm auch die Geschehnisse der letzten Nacht wieder ein, während er noch um einiges lauter schrie.
Es handelte sich ganz eindeutig um diese Kreatur, obwohl es auch etwas anders aussah. Irgendwie jünger, frischer, genährter, kraftvoller.
Richie hing immer noch halb in den Büschen. Er war außerstande so viel Kraft aufzubringen und aufzustehen. Harte Äste drückten in seinem Rücken. Auch das nahm er kaum war. Sein Blick war in das Gesicht der Kreatur regelrecht versunken. Und es sah ihn an, mit beinahe freundlich wirkenden Augen. Dann sprach es zu ihm, mit einer Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte und sehr dumpf klang. „Richie, ich liebe dich. Sei mir zu Diensten! Sei mein Sklave und du wirst es nicht bereuen!“ Sie klang blubbernd, sabbernd, kreischend und doch irgendwie auch angenehm und beruhigend.
Richie schrie immer noch aus Leibeskräften, doch das registrierte er schon lange nicht mehr. Sein Verstand hatte sich bereits von ihm gelöst – war in tausend Teile gesprungen. Er war jetzt der Diener seines neuen Herren, ein Diener der Kreatur.
Er erwachte schweißgebadet in seinem Bett und eine Stimme dröhnte fordernd in seinem Kopf, „diene mir, diene mir, diene mir!“ Dieser Stimme konnte er sich nicht entziehen. Eine Gänsehaut kroch ihm den Rücken und an den Beinen hinunter. Ihm war eiskalt. Er hatte keine Ahnung, was diese Worte bedeuten sollten. Krampfhaft versuchte er sich an seinen Traum zu erinnern, musste jedoch enttäuscht feststellen, dass ihm das nur bruchstückhaft gelang. So etwas wie, das er willenstark sei und die nötigen Kräfte besäße, die für seine Pläne – wessen Pläne, gebraucht wurden. Das er, wenn alles zu seiner Zufriedenheit verläuft – wessen Zufriedenheit, reich für seine Dienste belohnt wird. Das alles war jedoch nur zusammenhangloses, wirres Zeug, mit dem er nichts anfangen konnte. Sein Kopf dröhnte schon, er musste sich ein Aspirin holen.
Auf wackligen Beinen stolperte er gleich wieder ins Bett. Kurz bevor der Schlaf ihn erneut übermannte, klang noch einmal die Stimme tief ein seinem Kopf. „Morgen beginnt deine ehrenvolle Aufgabe“, dann versank Richie in einen unruhigen, leichten aber traumlosen Schlaf.
Erst viele Stunden später erwachte er. Sein Kopf brummte, wie von zuviel Alkohol. Doch er glaubte nicht, dass es davon kam. Irgendetwas hatte sich verändert, er konnte jedoch nicht definieren, was es war. Die Sonnenstrahlen brannten auf seiner Haut, der Tag war geräuschvoller. Aber er hörte es nicht nur mit den Ohren, sondern fühlte es in seinem Kopf. Jede noch so kleine Erschütterung spürte er bis in seine Eingeweide hinein. Die Sinne schienen abnormal gesteigert zu sein.
Als er aufstand, drehte sich alles in seinem Kopf und ihm wurde schwindelig. Benommen und schwach fiel er aufs Bett, zog die Decke über den Kopf und lag einfach nur da.
Bis weit nach Sonnenuntergang lag er so da.
Obwohl er ziemlich sicher war, nicht mehr geschlafen zu haben, fühlte er sich frisch und ausgeruht. Genau genommen konnte er sich an kein vorheriges Nickerchen erinnern, welches erholsamer gewesen wäre. Ihm fehlte auch jeglicher Appetit auf Bier, Zigaretten und was man sonst so zum Überleben braucht.
Etwas, das sich tief in seinem Kopf befand, drängte ihn das Haus zu verlassen. Er tat es augenblicklich, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.
Seine Schritte führten ihn geradewegs in den Stadtpark, obwohl er ihn für gewöhnlich nicht besuchte. Er fragte sich, warum er ausgerechnet dorthin ging. Seine Füße schienen die Antwort zu kennen. Sie trieben ihn zielsicher voran, so als gehören sie zu jemand anderem.
Im Stadtpark angekommen, ging er zum unbeleuchteten Abschnitt, in dem sich nachts nur Junkies und Huren rum trieben, setzte sich dort unter einen großen Baum und starrte wie gebannt auf das Gras zu seinen Füßen. Immer noch rätselte er, was ihn hierher verschlagen hatte.
Obwohl ihn nicht nach einer Zigarette verlangte, zündete er sich eine an. Die Macht der Gewohnheit. Doch der Rauch kratzte und brannte in seinem Hals. Schon nach dem ersten Zug schnippte er sie im hohen Bogen fort. Er verfolgte ihre Flugbahn gebannt mit den Augen und war kein bisschen überrascht, als er in der Dunkelheit plötzlich seinen neuen Herren erkannte. Dieser kam langsam auf ihn zu. Doch Richie spürte keine Angst, nur Ehrfurcht und einen bedingungslosen Gehorsam, dessen Ausmaße ihn selbst überraschten.
Das Wesen aus dem Sarg, die Kreatur, die in dem Körper des Verstorbenen William Backer wandelte, hockte sich neben ihn ins Gras, legte sanft seine Hand auf Richies Stirn. Augenblicklich wusste dieser was zu tun war. Er kannte seine Aufgabe.
Wenig später zog es seine Hand zurück, daraufhin verlor Richie das Bewusstsein. Und als er es endlich zurück gewann, war er unterwegs zu seinem ersten Opfer. Richie konnte sich nicht erklären, wie er ohne Bewusstsein soweit laufen konnte. Den Stadtpark hatte er bereits weit hinter sich zurück gelassen. Allerdings war ihm das auch völlig gleichgültig.
Auch als er sich Zutritt ins Haus des Polizeichefs verschaffte, war es ihm gleichgültig. Ein bisschen fühlte er sich wie in einem Film, in dem er alles sah, was er tat. Als handelte dieser Film von seinem Leben und er spielte sich selbst.
Als er mit der geballten Faust die Scheibe in der Garage einschlug schepperte es zwar, aber nicht sehr laut. Er hangelte sich durch die neu geschaffene Öffnung, es interessierte ihn dabei nicht, dass er sich an den hervorstehenden Glassplittern die Haut einriss. Der Schmerz gelangte nicht in sein Empfinden.
Die Tür, die die Garage vom Rest des Hauses trennte, war schnell überwunden. Ein kräftiger Tritt und sie sprang auf. Auch hierbei machte er sich keine Gedanken wegen des Lärms. Sein Meister hatte ihm gesagt, dass er nicht entdeckt werden würde. Und das glaubte er.
Zielsicher lenkte er seine Schritte durchs Haus, geradewegs durch die Küche, dann in den Korridor, dort die Treppe in die obere Etage, schließlich noch zur zweiten Tür auf der linken Seite. Er fand es gar nicht merkwürdig, dass er sich in diesem fremden Haus so gut auskannte. Auch das hatte er von seinem Meister.
Vor der Tür blieb er stehen, und lauschte auf die Geräusche von hinter der Tür. Es war still. Er hörte nur seinen eigenen Atem. Er war aufgeregt und konnte mit seinen inneren Augen beinahe sehen, wie sie ahnungslos in ihrem warmen Bett lagen.
Mit kräftigem Tritt trat er auf die Tür ein, die krachend nachgab und beinahe aus ihren Angeln sprang. Dann war er mit einem einzigen raubtiergleichen Sprung auf der erschrockenen Frau. Noch bevor sie überhaupt etwas registrierte, packte er ihren Kopf und drehte ihn brutal nach rechts, bis ihr Genick laut brach. Dann wandte er sich dem Mann zu und packte auch ihn, allerdings hatte der Meister für den Polizeichef ein anderes Schicksal auserkoren.
Richies Hände drückten den Kopf fest zusammen, sie griffen zu wie Schraubstockbacken. Im selben Moment explodierten rasende Schmerzen in dessen Schockumwölkten und immer noch müden Verstand. Fassungslos starrte er in die Augen seines Gegenübers, doch was er sah war nichts als grenzenlose Bosheit und abgrundtiefer Wahnsinn. Er erschlaffte und wäre auf den Boden gestürzt, hätte Richie ihn nicht mit seiner unmenschlichen Kraft gehalten.
Richies Mund öffnete sich unnatürlich und etwas, das wie eine Schlange aussah, glitt aus ihr heraus. Nur einen kurzen Augenblick war es zu sehen, dann kroch es eilig in den Mund des Polizeichefs, von dort in die Speiseröhre um dann endlich den Magen zu erreichen. Dort legte es ein einziges Ei ab und zog sich dann ebenso schnell wieder in den Körper seines Wirtes zurück.
Es war vollbracht. Der Polizeichef, der nun nicht mehr gehalten werden musste, fiel wie ein Sack Mehl zu Boden.
Richie beobachtete interessiert, wie sein Opfer trotz der tiefen Ohnmacht am ganzen Körper zitterte. Seine Arbeit war getan, also drehte er sich um, ging wortlos fort. Er musste sie noch an einen anderen Ort wiederholen.
Nur wenig später schlüpfte aus dem Ei ein weiteres dieser schlangengleichen Kreaturen. Schließlich wurde die Ohnmacht des Polizeichefs ein tiefer Schlaf.
Richie lief gedankenverloren durch die einsamen, dunklen Straßen der Stadt. Er wusste nicht, wohin ihn seine Füße diesmal trugen. Es kümmerte ihn auch nicht. Ein heftiger Regenschauer prasselte auf ihn ein, doch er bemerkte ihn kaum.
Endlich kamen seine Füße vor einem Bordell zum stehen, und als er in einer Pfütze das Spiegelbild der roten Neonreklame sah, verstand er den Plan seines Meisters. Ein Lächeln huschte über seine rissigen Lippen. Ein wissendes, wahnsinniges Lächeln, das nichts Menschliches mehr an sich hatte.
Richie ging hinein, nahm sich die erste Prostituierte und begann das Spiel von neuem.
Nachdem auch diese Arbeit erledigt war und sie bewegungslos am Boden lag, verging er sich an ihr. Er war geil. Und warum auch nicht? Er hatte es sich verdient.
Er verließ ihr Arbeitszimmer mit zufriedenem Gesichtsausdruck und hängte das „Besetzt“ Schild an die Türklinke.
Für heute hatte er sein Nachtwerk beendet.
Richard Hagemann, wie der hiesige Polizeichef hieß, erwachte erst frühmorgens aus seinem Schlaf.
Auch er hatte eine Aufgabe. Und er wird mit ihr beginnen, sobald er in der Polizeistation ist. Jedoch musste er vorher noch den Leichnam seiner Frau beiseite räumen. Er hob sie also auf, trug sie durch das gemeinsame Haus. Ihr Kopf hing, wegen dem gebrochenem Genick und dem verdrehten Hals, unnatürlich wippend zwischen den Schulterblättern. Dann warf er sie lieblos in den Schrank, ohne sich dabei an die vielen gemeinsamen Jahre zu erinnern. Zu guter letzt zog er seine Uniform über, stieg ins Auto und brauste gutgelaunt pfeifend zur Arbeit.
Da die Streifenpolizisten an diesem Tag viele Einsätze fahren mussten, (unter anderem wurde die Leiche eines frisch Verstorbenen vor seiner Bestattung aus dem Sarg entwendet – auf Ideen kommen die Leute) stand sein Vorhaben unter keinem guten Stern. Sie waren ständig außerhalb seiner Reichweite. Dennoch gab er es an zweien weiter.
Die Hure erwachte fast zur selben Zeit. Auch in ihrem Körper war der Parasit gewachsen und bereit sich fortzupflanzen.
Sie hatte gegenüber Richard einen Vorteil: ihre Opfer kamen zu ihr. So schaffte sie an diesem Tag acht Freier, die dann daheim, nur wenige Stunden später, sehr viel zu erledigen hatten.
Am nächsten Morgen erwachte der jüngere von Richards Kollegen mit den schrecklichsten Kopfschmerzen auf, die er jemals hatte.
Steve war Junggeselle und ein ordentlicher Kater nach einer durchzechten Nacht war keine Seltenheit. Doch das hier war etwas völlig anderes. Es war ihm ein Rätsel wie er ihn bekommen konnte, schließlich hatte er am Abend zuvor keinen Tropfen Alkohol getrunken.
Um nichts auf der Welt wollte er aufstehen, einfach nur im Bett bleiben. Doch das war ihm nicht möglich, seine Blase war berstendvoll. Mühsam richtete er sich auf, wobei eine neue heiße Schmerzwelle in seinem dröhnenden Kopf flutete. Ihm wurde schwindelig. Seine Nerven brannten lichterloh. Die Muskeln, Gelenke und Knochen standen in Flammen. Sein Magen fuhr in einer Art Raketenfahrstuhl mit rasender Geschwindigkeit auf und ab, auf und ab, auf und ab.
Irgendwann aber war auch dieser beschwerliche Weg geschafft und als sein Blick flüchtig über den Wandspiegel streifte, registrierte er, dass er sich nicht nur schlecht fühlte, sondern auch so aussah. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf, die Augen blutunterlaufen und von tiefschwarzen Ringen gesäumt. Seine geschwollenen Lippen waren rissig und bluteten stark. Die Haut hatte eine ungesunde, gelbgraue Färbung angenommen.
„Drauf geschissen“, schnauzte er die unvorteilhafte Spiegelung an, „hab eh nicht vor das nächste Topmodel zu werden.“
Er schob seine Pyjamahose über die Knie und pflanzte sich kraftlos auf die Schüssel.
Danach ging es ihm etwas besser, nur dieser eklige Geschmack im Mund machte ihm zu schaffen. Mit zittrigen Fingern griff er nach der Zahnbürste. Aber noch bevor sie packen konnte, verkrampfte sein Magen, dann übergab er sich ins Waschbecken.
Durch die Tränen war seine Sicht verschwommen, aber was er da sich im Waschbecken winden sah, trug nicht dazu bei sich besser zu fühlen.
Steve glotzte ungläubig mit weit aufgerissenen Augen. Wahrscheinlich wäre er ewig so stehen geblieben, hätte das Wesen nicht seinen schlangenartigen Kopf gehoben und mit seinen scharfen Zähnen versucht ihn zu packen.
Sein Atem war flach, unregelmäßig und keuchend, dennoch kreischte er laut. Seine linke Faust prügelte auf das Wesen ein, das sich bereits um seinen rechten Arm gewunden hatte. Panisch und kopflos rannte er durch das Badezimmer, rutschte fast auf dem Wannenvorleger aus und hämmerte schließlich seinen umschlungenen Arm heftig gegen die Wand. Die Verzweiflung und Angst verdeckte zuerst noch den eigenen Schmerz, aber der kam mit jedem Schlag mehr durch. Nach einem Dutzend dieser Schläge schrie er noch lauter. Dennoch machte er weiter. In seinem Kopf existierte nur ein Gedanke: Dieses Vieh muss runter von meinem Arm!
Endlich platzte es unter seinen Schlägen auf und warme, schwarze Flüssigkeit spritzte ihm ins Gesicht. Die Eingeweide, ekelhaft und schwarz, hingen zuckend an den Fliesen. Steve kreischte und hämmerte den Arm unaufhörlich gegen die Wand.
Nur schwer bekam er sich wieder unter Kontrolle. Er zitterte immer noch sehr stark. Endlich ließ er seinen rechten Arm sinken; der ein einziges Epizentrum des Schmerzes war. Blutunterlaufen war er, allerdings konnte er nicht wissen, ob es mehr von ihm oder mehr von diesem Vieh war. Es hatte sich miteinander vermischt und war eine dunkelbraune zähe Soße geworden. Außerdem war der Arm derartig angeschwollen, um mehr als das doppelte an Umfang. Und tat es noch.
An die Ereignisse dieser und der kommenden fünf Minuten sollte er sich erst sehr viel später erinnern können. Irgendwann wurde ihm schwarz vor Augen und er stürzte in eine tiefe Ohnmacht.
Der Körper des anderen Polizisten wehrte sich nicht gegen seinen Eindringling. Er wurde, wie seine Frau und auch die beiden gemeinsamen Kinder, Sklaven des Wesens.
Richie lief durch den stillen nachtschwarzen Wald. Er war allein. Die Bäume, die aus der Dunkelheit heraus auftauchten, schienen zu krächzen und zu stöhnen und mit ihren vertrockneten, abgestorbenen Ästen nach ihm zu greifen. Er beschimpfte sich wegen seiner kindischen Furcht. Der Wind pfiff. Es regnete förmlich Bindfäden.
Er verließ den Trampelpfad und bahnte sich, während Zweige und Äste ihm in sein Gesicht, an den Hals, an seine Brust, den Bauch und an die Beine schlugen, einen Weg durch das Dickicht. Seine Schlammverdreckte, von Dornen zerfetzte Hose hing nutzlos an seinen dürren Beinen.
Er stürzte einen Abhang hinunter, rappelte sich wieder auf, lief eilig weiter.
Die Füße trugen ihn zu seiner Behausung. Sie kannten den Weg ganz genau, obwohl er noch niemals in diesem Teil des Waldes war und auch keinen blassen Schimmer hatte, wo und was seine Behausung nun eigentlich war.
Regenwasser lief ihm von der Stirn in die Augen und ließ seine Sicht verschwimmen.
Er lief und lief, schließlich gelangte er an einen alten umgestürzten Baum. Wo einmal dessen Wurzeln gewesen waren, bevor ein lange zurückreichender Sturm ihn umgeworfen hatte, war jetzt ein dunkles Loch, aus dem ein bestialischer Gestank drang. Schon einmal hatte Richie ihn wahrgenommen. An seinem Meister.
Mit einem beherzten Sprung war er unten. Dreckiges schimmeliges Wasser spritzte auf.
An einer Wand des Wurzelloches versteckte sich, unter dicht wucherndem Moos und herabhängenden verrottenden Baumteilen, ein dunkler Eingang. Dort strömte der Gestank nach draußen; mit der Wucht eines Hammerschlages.
Richie ging in die Knie, zog den Kopf ein und quetschte sich in den engen Durchgang.
Nach ungefähr zwanzig Metern auf allen vieren glaubte er, ein schwaches, rotes Licht über sich zu bemerken. Er sah noch oben und stellte erstaunt fest, dass der Abstand zwischen Decke und Boden groß genug war um aufrecht zu gehen.
Ohne Angst ging er tiefer in die jetzt schwach rot beleuchtete Höhle hinein. Seine Augen tasteten suchend die Umgebung ab. Er sah das stinkende, schwarze Wasser in ergiebigen Bächen von Decke und Wände fließen. Über Unmengen an Tierkadavern ergoss es sich. Ein Bein, welches zur Hälfte abgenagt war, lag neben dem Kopf eines Hundes. Durch ein faustgroßes Loch in der Schädeldecke sah er die letzten Reste des Hirns.
Noch tiefer in der Höhle wurde die Anzahl der Knochen größer. Fette Maden und Würmer stritten sich um die letzten übrig gebliebenen Fleischfetzen.
Es machte ihm nichts aus. Er wusste, dass sein Meister Nahrung braucht und solange die Anzahl seiner Diener noch gering war, mussten es eben streunende, wilde Tiere sein.
Er drang noch tiefer ein. Bis er schließlich vor einem hell erleuchteten, großen Raum stand. Ein brennender, übler Verwesungsgeruch stürzte sich ihm entgegen. Es stank zwar bestialisch, aber es lagen keine toten Tiere, oder abgerissene, angeknabberte Überreste von ihnen herum.
„Pingelig sauber“, hörte er sich selbst sagen.
Er trat ein und sah sich mit großen, glotzenden Augen ungläubig um.
In der einen Ecke lag ein menschlicher Körper in einer riesigen Blutlache. Seine Haut war abgezogen. Sein freiliegendes Fleisch, die ebenso freiliegenden Muskeln glänzten feucht.
Und in der Ecke gegenüber sah er ihn. Seinen Meister. In stiller Erwartung hatte er ihm den Rücken zugewandt.
Sofort fiel Richie auf die Knie und ließ den Blick zu Boden sinken.
Es drehte sich nicht um, doch er ließ seine Stimme ertönen: „Steh auf Richie! Du hast hervorragende Arbeit geleistet. Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet.“ Seine Stimme klang dumpf, mit einem Unterton, den Richie nicht ganz einordnen konnte. War es ein drohen? War es Gefahr? „Du warst mir bei der Erfüllung meiner Pläne sehr behilflich. Du hast es nicht nötig, im Drecke zu liegen. Du darfst mir auf andere Art den nötigen Respekt zollen. Steh jetzt auf!“
Richie tat wie ihm geheißen.
Endlich drehte sich das Wesen um und ließ bereitwillig zu, dass es aufmerksam gemustert wurde.
Es hatte blaue Augen, das braune Haar war lang und verfilzt, sein Mund gaukelte ein Lächeln vor.
Dann blickte Richie von seinem Meister zu dem menschlichen Kadaver in der Ecke.
„Ja, es war einmal seine Haut gewesen. Er war ein Landstreicher und mein Körper, der jetzt ausgereift ist, brauchte eine neue Hülle. Eine mit der ich auch mal unter die Leute gehen kann.“
„Ja, aber …“
„Nichts aber! Unterbrich mich nie wieder, wenn du nicht augenblicklich getötet werden willst!“ Da schwang die Gefahr und die Drohung doch sehr viel deutlicher mit.
„Ich brauchte seine Haut und er hat sie mir geliehen. Hahaha“, nach einer kleinen Pause, „ich glaube aber nicht, dass er jetzt noch Verwendung für sie hat. Du etwa, Richie?“
Aber Richie schwieg lieber.
„Als du mich das erste Mal gesehen hast, war ich noch im … ähm, wie sagt man bei euch? Säuglingsalter? Ja genau, im Säuglingsalter. Ich war nicht größer als ein Hühnerei und befand mich in seinem Gehirn. Ich rief diesen Unwürdigen, Jake, denn ich wusste, dass du ihn begleiten wirst. Ich habe euch zwei, aber ganz besonders dich, mein Freund, schon lange beobachtet. Ich wusste, ihr würdet mich gemeinsam befreien. Jake war nichts weiter als eine Nahrungsquelle für mich. Aber du Richie, du bist etwas Besonderes für mich. Du wirst mein getreuer Diener sein.“
„Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?“ Richies Stimme zitterte wie Laub im Herbstwind. „Was ist das für ein abgefucktes Spiel?“ Er wollte nicht fluchen, doch es war schon über seine Lippen gehuscht, als es eigentlich noch ein Gedanke in seinem Kopf gewesen war.
„Sachte, sachte, mein lieber Freund. Alles hübsch fein der Reihe nach. Am besten wird es wohl sein, wenn ich bei meiner Geburt beginne. Meine Mutter gebar mich in diesen ersten Körper. Wie hieß er doch gleich? Wilson? Nein, William? Ja, so hieß er. William Backer. Eigentlich eine miserable Wahl, aber sie hatte keine Zeit, mir etwas Besseres zu suchen. Während ich noch in ihm war, entwickelte ich mich weiter und gewann schon bald die Kontrolle über ihn.“ Seine Zähne wuchsen zur dreifachen Länge, seine Augen wurden feuerrot, sahen so aus, als würden sie tatsächlich in Flammen stehen. Aus der Nase und den Ohren quoll dichter Rauch, der stark nach Schwefel roch. Dann kreischte er. „Ich bin ein Dämon.“ Das kreischen nahm noch zu. „Mein Vater und meine Mutter kommen aus der Hölle.“ Er nahm wieder ein etwas menschlicheres Aussehen an und beruhigte sich etwas. Auch seine Stimme bekam wieder einen freundlicheren Klang, dennoch sprach sie energisch befehlend. „Ich bin hier, weil ich Schmerzen, Leid und Tod auf die Menschen herabregnen lassen werde. Ihr, der Abschaum, der sich Menschheit nennt, seid nichts anderes als eine Seuche, die Viren dieser Welt. Wir, meine Dämonenfamilie und ich und alle anderen Wesen aus der Unterwelt, werden euch schon sehr bald vernichtet haben, und dann sind wir endlich die Krönung der Evolution. So wie wir es verdient haben. Einige wenige von euch werden für unsere Belustigung am Leben bleiben.“
Während es diese Worte sprach, drang gelber, stechend riechender Rauch aus seinem Mund. Das Wesen brüllte vor Lachen, dabei verrutschte die lockere Haut auf seinem Gesicht und enthüllte eine hasserfüllte Horrorfratze. Trotz dieses Anblicks stimmte Richie in das hysterische, wahnsinnige Lachen mit ein. Sein letztes bisschen Menschlichkeit war längst verflogen. Er befand sich tief in den Fängen dieses Wesens, dieses Dämons aus der Unterwelt.
„Schluss jetzt, wir haben wahrlich genug gewitzelt!“ Seine Heiterkeit war spurlos verschwunden, so als hätte es sie nie gegeben. „Du hast mir genug Sklaven besorgt. Jetzt brauche ich dringend Fleisch. Bring mir Menschenfleisch!“ Seine Stimme schwoll wieder an. „Und wenn du mich nicht erzürnen willst, dann rate ich dir, mir lebendes Fleisch zu bringen! Es schmeckt am besten, wenn es noch warm ist. Du verstehst schon.“ Es lachte wieder schallend, entblößte dabei Zähne, die stark an die eines Haies erinnerten und wahrscheinlich ebenso gnadenlos, zerstörerisch zupackten.
Der Meister drehte sich blitzschnell um, sodass Richie jetzt wieder nur seinen Rücken sah. Es schien kein Interesse an einer weiteren Unterhaltung zu haben.
Bevor Richie den Raum verließ, wanderte sein Blick noch einmal zu dem Körper, dem die Haut abgezogen war und erschauerte kurz.
Seine Füße erkannten den Weg, auf dem er gekommen war. Sie folgten ihm schnurstracks in die Stadt zurück. Die ganze Zeit gingen Richie nur zwei Gedanken durch den Kopf: Er wollte ihm ein sehr, sehr guter Diener sein. Und er wollte alles zu seiner Zufriedenheit erfüllen.