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ОглавлениеIch hob den Koffer auf das oberste Bett. Es war mit einer verblichenen Wolldecke und einem Laken bedeckt, das sehr stark nach einem undefinierbaren, kräftigen Desinfektionsmittel roch.
Mit dem Schlafwagen der 2. Klasse zu reisen, ist nur etwas für Menschen, die mit wenig Gepäck unterwegs sind. Alle Dimensionen entspringen einem minimalistischen und asketischen Weltbild. Die Größe von Schlafplatz, Waschraum und Toilette deuten an, dass das Reisen nur ein Übergang ist, nur ein diskretes Intermezzo in einer langen Reihe von Ankunft und Abfahrt, Willkommen und Abschied, Sehnsucht und Erwartung, Küssen und Umarmungen, Tränen und Traurigkeit, die man unterwegs erlebt und die die flüchtigen Stationen einer jeden Zugreise und eines jeden Lebens kennzeichnen. Paradoxerweise ist dies auch der Beweis dafür, dass der Mensch und sein Dasein mehr als ein zufälliges Geflecht unbeständiger Eigenschaften und unvorhersehbarer Einflüsse sind.
Das Leben ist Ausdruck eines Ganzen, egal wie fragmentarisch es scheinen mag. Es dauerte viele Jahre, ehe ich das begriff. Erst als ich mein eigenes Leben als so eingeschränkt und begrenzt empfand, dass ich meinte, nicht genug Platz zum „da sein“ zu haben, erst als ich all das verloren hatte, von dem ich glaubte, es nicht entbehren und ohne es nicht leben zu können, also all das, was in Wirklichkeit das Dasein kompliziert und unmöglich macht, erst da fing ich an zu ahnen, wie großartig und unbegrenzt das Leben in all seiner Einfachheit sein konnte. Aber diese Erkenntnis war schmerzhaft.
Anzudeuten, dass es vielleicht eine andere, offenere und viel freiere Wirklichkeit gab – dass ein Ton zum Beispiel pyramidenförmig sein konnte und Vergebung schneller als das Licht —, war dasselbe wie es darauf anzulegen, auf dem Scheiterhaufen einer betäubten Zeit voller lärmendem Schweigen und herablassendem Sarkasmus verbrannt zu werden. Das sage ich Ihnen!
Das Schlafwagenabteil war voll, als der Zug mühsam anfuhr. Der Geschäftsmann im Bett gegenüber hatte unter großer Anstrengung und einem minutiös ausgearbeiteten Ritual folgend seine Abendtoilette beendet und einen blau-weiss gestreiften Pyjama angezogen. Im Bett darunter kämpfte ein korpulenter Deutscher mit seinem ebenso korpulenten Gepäck, und noch weiter unten tauschten zwei junge Kopenhagener Bierdosen und schlechte Witze aus, während ein älterer Herr im Bett unter meinem schon lautstark schnarchte. Ich ließ sachte los und schwebte in die frostklare Sternennacht hinaus, über die Schlafwagen hinweg und hinein in unbekannte Tunnel und die schwarzen Löcher fremder Universen, zurück zu dem Jahr, in dem ich hilflos im entferntesten Winkel des Labyrinths feststeckte, in der verfallenen Sackgasse meines eigenen Lebens.
Es war das Jahr, in dem ich die dunkle Seite der Seele kennenlernte. Es geschah in Form einer Reihe von Anfällen, die auf physischer Ebene bewirkten, dass ich lähmende Schmerzen im Nacken hatte; mir war übel, ich verlor alle Energie und musste oft mehrere Tage hintereinander im Bett liegen. Es war, als ob ich in einem Niemandsland zwischen bewusst und unbewusst, zwischen Wachen und Schlafen, in einem Zustand beleierner Schwere gefangen war. Eingeschlossen in einer beinahe hermetisch abgeriegelten Folterkammer, in der alles schwer und träge und zerschlagen war. Jeglicher Gedanke verschwand in einem apathischen Dämmerzustand, noch ehe er gedacht war. Schon die Vorstellung, nach einem Glas Wasser zu greifen, erschien mir als so unüberwindlich, dass ich es meistens sein ließ. Wenn ich hin und wieder zu mir kam, schaffte ich es gerade noch zu denken, dass dies die Hölle sein müsse, ehe ich wieder in bodenloser Finsternis versank. Etwas Vergleichbares hatte ich nur 1962 erlebt, als ich an meinem ersten Buch arbeitete, das entstand, während ich mich in einem ähnlichen Trancezustand befand.
Zwei Monate lang lebte ich damals in demselben Zimmer von Kaffee und Aspirin, während ich auf meiner alten Schreibmaschine vor mich hin klapperte oder bewusstlos auf einem genauso alten Sofa lag. Tag und Nacht verschwanden in einem monotonen Nebel und nur das Schreiben verwandelte ihn in eine Art Euphorie; ein unwirklicher, psychosomatischer Zustand, der nicht aufhörte, ehe der letzte Punkt im Buch gesetzt war.
Jetzt war dieser Zustand wieder da und führte dazu, dass ich während immer längerer Zeiträume nicht arbeiten konnte. Eine Reihe von Arztbesuchen, Untersuchungen in Krankenhäusern, bei verschiedenen Spezialisten und Heilpraktikern brachten kein Resultat. Einmal lag ich zwei Wochen lang fast bewusstlos im Bett und konnte nichts zu mir nehmen als Kekse und Wasser. Sogar als ich bei meinem Nachbarn umkippte und den Rest des Tages im Krankenhaus mit Sauerstoffgerät und am Tropf verbringen musste, konnte man die Ursache meines Zustandes nicht finden. Mit der Zeit verstärkte sich mein Gefühl, dass ich die Musik hinter mir lassen musste, weil sie von diesem anderen Ding in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Krise war also total. Nach mehr als zwei Jahren in diesem Zustand wollte ich nicht mehr länger leben.
Und dann geschah, was geschehen musste. Es passiert mindestens einmal im Leben eines jeden Menschen, auch wenn man es vielleicht nicht immer wahrnimmt. Der Zustand, in dem man sich befindet, ist von solcher Art, dass man leicht im Niemandsland von Schmerz und Selbstbezogenheit verschwinden kann, dort, wo alles verloren und unbeweglich ist. Aber die Zeit war reif, weil ich reif war, denn ich sah keinen anderen Ausweg mehr und hatte keinen Ort, an den ich gehen konnte. Man bekommt ein Zeichen oder es erscheint ein Engel. In meinem Fall geschah Letzteres. Ein Engel erschien in Gestalt einer Kollegin aus der langsam wachsenden, aber immer noch kleinen und unsichtbaren Familie. Sie gab mir die Telefonnummer, die alles auf den Kopf stellen würde.
„Ruf den Seher an und lass dir helfen!“ sagte sie, ehe sie sich wieder in Luft auflöste. Ich stand einfach nur da und starrte abwechselnd auf den Zettel, den sie mir in die Hand gedrückt hatte, und das Loch in der Luft, dass der Engel hinterlassen hatte. „Nur zwischen 8 und 9 Uhr“, stand in Klammern hinter der Telefonnummer.
Der Seher ?
An dem Abend machte ich einen langen Spaziergang auf der Frederiksberg Allé, bevor ich völlig erschöpft in meinem Zimmer im Webers Hotel ins Bett ging.
In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Darin gehe ich eine lange, verlassene Straße entlang. Plötzlich endet sie, ich stehe am Rand eines Abgrunds und schaue ins Universum hinaus. Die Stille wird von einem kaum hörbaren und doch unfassbar schönen, tragenden und tiefen Ton unterstrichen. Der Klang der Materie, der alles zusammenhält, ergreifend und unaussprechbar. Ich höre, wie ich Worte auf Aramäisch spreche: „Nehwey sibyanak aykana d’shmaya aph b’arab.“ Ich erinnere mich. „Dein Wille geschehe im Himmel, also auch auf Erden.“ Jetzt verstehe ich, was diese Worte in Wirklichkeit bedeuten: „Lasse geschehen auf Erden, was in den Sternen geschrieben steht. Entfalte das Licht des Universums in jedem und durch jeden von uns, in Übereinstimmung mit den universellen Gesetzen.
Als ich aufwachte, war es halb neun. Ich spürte sofort wieder dieses dumpfe, bleierne Gefühl am Rande meines Bewusstseins. Es dauerte etwas, ehe ich mich an die Ereignisse des gestrigen Tages erinnerte. Dann tauchten der Traum, der Engel und die Telefonnummer wieder auf. Benommen kam ich auf die Beine und fing an, in Jacken- und Hosentaschen zu suchen. Ich hatte kein Glück. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen. Es war, als ob ich bereits wüsste, was ich verlieren würde, wenn ich mir diese Sache entgehen ließe. Endlich. Ich fand den Zettel in der Brusttasche meines Hemdes. Ich wählte die Nummer und hielt den Atem an. Es dauerte eine Ewigkeit. An der Reihe wechselnder Signaltöne konnte ich hören, wie mein Anruf langsam vom Hotelnetz in das der Telefongesellschaft weitergeleitet wurde. Ich wollte gerade auflegen, als die Verbindung endlich zustande kam – es war besetzt. Im Bauch die Schmetterlinge eines ganzen Lebens. Ein Blick auf die Uhr. Fast neun. Abwarten und noch einmal versuchen. Immer noch besetzt. Zehn Minuten nach neun, ich kam durch. Ich saß da und dachte, dass mein Anruf in diesem Augenblick irgendwo bei einem fremden Menschen einen Ton hinterließ und dass dieser Mensch beim Aufhören des Klingeltons beschlossen hatte, meinen Anruf nicht zu beantworten. Ich ließ es noch eine Weile klingeln und legte dann den Hörer auf.
Zurück auf der Insel verbesserte sich mein Zustand und ich fand wieder zu meinem alten Rhythmus zurück, einem Wechsel zwischen meinem Studium des Aramäischen, das mich nun völlig in Anspruch nahm, und Zeiten, in denen mir schwindelig war. Mehrere Male war ich versucht, noch einmal die Nummer anzurufen, die ich erhalten hatte, aber aus irgendeinem Grund schob ich es immer wieder hinaus.
Während ich allmählich tiefer in die aramäische Sprache eindrang, eröffnete sich mir eine ganz neue Welt. Schon 1989 hatte Edith R. Stauffer von Psychosynthesis International mir die Kopie eines aramäischen Auszuges aus dem Neuen Testament geschickt – The Khaboris Manuscript. Aus dem ging hervor, dass Aramäisch die Transpersonale Psychologie so vollkommen ausdrückt, dass die Syntax gleichzeitig das Zusammenspiel von Gedanken, Erkenntnis, Wahrnehmung, Vernunft, Urteilskraft, Gemütsstruktur, Auffassungsgabe sowie von menschlichen Haltungen und Verhaltensweisen beschreiben kann. Es unterscheidet nicht zwischen dem Mentalen, dem Physischen, dem Emotionalen und dem Geistigen oder zwischen Ursache und Wirkung. Das bedeutet, dass jedes Wort, jeder Begriff in seiner Wurzel absolut neutral ist, aber durch das Hinzufügen der Endungen „-ta” oder „-oota” aktiviert und wertbestimmt wird. Das alles war für mich eine bahnbrechende Entdeckung, die Yeshuas Worten eine neue, tiefere Kraft und Bedeutung gab, als diejenige, die ich der üblichen griechischen Übersetzung des Neuen Testamentes entnehmen konnte. Und langsam fing ich an zu verstehen, dass nicht nur die Bedeutung der Worte, sondern auch ihr Klang sowohl auf der physischen wie auch auf der geistigen Ebene eine Wirkung haben.
Damals ahnte ich noch nicht, welche Rolle diese Studien später einmal spielen würden.
In dieser Zeit, in der ich am meisten mit Leshana Aramaya beschäftigt war, hatte ich eines morgens einen so heftigen Anfall, dass ich kaum aus dem Bett kam. Aber ich wusste, dass es hieß: jetzt oder nie. Der kleine Zettel mit der Telefonnummer war mit einer Stecknadel an der Wand in meinem Arbeitszimmer befestigt. Alle Vorbehalte und alle Schmetterlinge waren verflogen, als ich den Hörer abhob und die Nummer wählte.
„Ja?“, antwortete eine wohlartikulierte, neutrale Stimme.
Ich stellte mich vor.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Stimme.
„Ich hätte gerne einen Termin“, antwortete ich.
„Ich habe erst in einem halben Jahr wieder etwas frei. Was ist Ihr Problem?“
Ich erklärte meinen Zustand, so gut es ging.
„Einen Augenblick, ich will sehen, was ich tun kann!“
Es hörte sich an, als hätte er den Hörer hingelegt. Ich lauschte dem Klang der Stille, die in dem Raum am Ende der Verbindung herrschte, eine Art sanftes, weißes Rauschen, das sich ins Unendliche auszudehnen schien. Wie lange ich so dasaß, weiß ich nicht, aber plötzlich war die Stimme wieder da:
„Alles wird in Ordnung sein, bis wir uns wiedertreffen!“
Er gab mir die Adresse und legte auf.
Die Nacht
(Maske von Anne Maria Galmez, 1989 – Foto: Jan Jul)
Völlig überwältigt saß ich da, den Hörer in der Hand, bis ich ihn schließlich nach einer ganzen Weile wieder an seinen Platz legen konnte. Ich ließ die Gedanken über die Felder vor meinem Fenster schweifen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, von einem Hammer getroffen zu werden, und ich wusste, dass ich zurück ins Bett musste, bevor ich in Ohnmacht fiel. Ich konnte gerade noch denken, dass dieser Seher nur wieder einer dieser Quacksalber sei, als ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinüberglitt.
„Köln, in einer halben Stunde!“, rief eine Stimme draußen auf dem Gang.
Ich öffnete die Augen. Auf dem Bett gegenüber stand nur noch der sorgfältig gepackte Koffer des Geschäftsmannes. Ein dichte Wolke von Aftershave und Zahncreme zeugte davon, dass er längst aufgestanden war. Ich guckte auf meine Uhr. Es war halb sieben. Auch der ältere Herr, der so laut geschnarcht hatte, war auf den Beinen. Der Deutsche war wohl in Hamburg ausgestiegen, denn er war mitsamt seinen Habseligkeiten verschwunden. Die beiden jungen Kopenhagener schliefen noch tief und fest. Ich zog mich im Liegen an und schlüpfte in meine Schuhe. Der Geschäftsmann stand sorgfältig frisiert und gekleidet im Gang und rauchte eine Zigarre. Vor der Toilette hatte sich eine Schlange gebildet. Als ich endlich an der Reihe war und ihren Zustand sah, entschloss ich mich, sie lieber nicht zu benutzen. Irgendjemand hatte das WC mit Toilettenpapier verstopft und dann anscheinend ins Waschbecken geschissen. Der Boden schwamm von Urin und der Gestank war unbeschreiblich. In der Dusche war es nicht viel besser. Ich packte meine Taschen und stellte mich in den Gang. Dort betrachtete ich die lebhaften Aktivitäten und konnte nicht umhin, mich zu fragen, wer von diesen netten Menschen so von sich selbst eingenommen war, dass er sich buchstäblich einen Scheiß um andere scherte.
Der Kölner Hauptbahnhof war, wenn das überhaupt möglich ist, noch kälter und ungastlicher als der Hauptbahnhof in Kopenhagen. Überall herrschte sehr viel Verkehr. Mehr oder weniger verschlafene Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit. Ich hatte gerade noch genug Zeit, um auf die Toilette zu gehen und einen Kaffee zu trinken, ehe der Zug nach Paris abfahren sollte. Ich setzte mich in einem Bistro an einen Tisch und überlegte, warum wir so beschäftigt sind, dass wir nicht wahrnehmen, was um uns herum vorgeht. In fünfzig Jahren würden alle diese Menschen tot sein oder im Altersheim sitzen und an ihr hektisches Leben zurückdenken, während der Bahnhof genauso voll wäre, nur dass es dann andere geschäftige Menschen sind. Und wenn die weg sind, folgen wieder neue. Die Kulissen überleben die Schauspieler, Statisten und Stars in einem ewigen Wechsel, ein Team nach dem anderen. Weiter, weiter, nicht aufschauen und schon gar nicht zurück, als ob keiner sich traute anzuhalten aus Furcht, das Gesicht zu verlieren oder vielleicht wie der Obdachlose in der Ecke oder der Bettler auf der Bank zu enden. Vielleicht ist es besser, bis zu dem Tag, an dem wir alle diesen Ort verlassen müssen, die Illusion einer ewig dauernden, materiellen Sicherheit zu bewahren und all das andere zu vergessen. Eine ewige Flucht vor der Stunde der Wahrheit.
War es diese Stunde, die mich zu guter Letzt eingeholt hatte? An dem Tag, an dem ich glaubte, wieder einmal einen Quacksalber angerufen zu haben? Wenn mir jemand erzählt hätte, dass ich in dem Schlaf, in den ich hineinglitt, sterben würde, hätte ich es als eine vernünftige Lösung akzeptiert. Aber so sollte es nicht sein. Nach einer halben Stunde erwachte ich in einer neuen Welt. Ich merkte sofort, dass alles anders war, konnte es aber kaum glauben. War ich wirklich zu einem neuen Leben erwacht? War der mehr als zwei Jahre andauernde Alptraum wirklich vorbei?
Zum ersten Mal befand ich mich in der Nähe von etwas Friedlichem. Aber obwohl die Schmerzen weg waren, hatte ich sie nicht vergessen. Dagegen erlebte ich vielleicht eine tiefere Dimension der Dankbarkeit. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu der Stimme am Telefon zurück. Sie war ohne Anstrengung durch meinen Panzer gedrungen und hatte eine schmerzende Stelle geöffnet, die allzu lange verschlossen gewesen war. Nach dieser wunderbaren Verbesserung meines Zustands, war diese Stelle nun bloßgelegt und wartete darauf, dass ich selbst aufwachen und die Wunde heilen würde. Und ich sah, wie schön und wie hässlich der Schmerz war. Sah, dass er genauso sehr Tier wie Mensch war. Sah, dass man ihn streicheln konnte wie eine Katze. Das Wesen des Schmerzes ist so unbarmherzig, wie eine Katze es zu sein scheint, wenn sie mit der Maus spielt, ehe sie sie tötet. Aber wie ein Tier nicht wirklich böse sein kann, da es nur seiner Natur folgt, folgt der Schmerz so lange den Gesetzen, die für ihn gelten, bis der Mensch begreift, dass diese Gesetze nicht statisch, sondern beweglich sind und dass, wer leidet, geheilt und transformiert werden kann. „Einen Menschen, der zum Tode verurteilt wurde, kümmert es nicht, was es im Theater gibt», schrieb Johannes Klimakos schon im Jahre 630.
Ich fing an zu verstehen, welche Rolle der Schmerz für mich gespielt hatte, wie er auf einer anderen Ebene als der der Vernunft meine Augen für die Leiden anderer Menschen geöffnet hatte. Ich fing an zu verstehen, dass jeder Schmerz ein Werkzeug im Dienste einer höheren Sache ist, weil er auf die Dauer jede Art von Urteil und jede Art von Halbherzigkeit unterminiert, ja weil er bis ins Innerste dringt. Auf sehr effektive Weise verwandelt er Selbstmitleid und Egoismus in Mitgefühl und Aufmerksamkeit. Dies alles mit Leib und Seele zu verstehen, wurde erst an dem Tag möglich, als der Schmerz verschwand, und das verdankte ich einem Menschen, den ich nicht kannte und niemals getroffen hatte.
Einige ganz entscheidende Gewohnheiten in meinem Leben fingen an, sich aufzulösen. In all der Zeit, die ich auf der Insel gewohnt hatte, hatte ich begonnen, die äußere Umgebung, die Natur, den Wald, das Meer und die Elemente intensiver und auf eine Art zu erleben, die mir die Augen für die entsprechende Natur – die Elemente – in mir selbst öffnete. Über längere Zeit sah ich keinen anderen Menschen. Nicht weil ich mich bewusst isolieren oder der Gesellschaft anderer entziehen wollte, sondern weil es notwendig war, um zu dem zu finden, das sich viel zu lange hinter einer Karriere im Rampenlicht versteckt hatte. Ich hatte eine neue Einfachheit erlebt, die manchmal so intensiv war, dass es sich anfühlte, als ob ich dabei war zu verschwinden. Ich begann zu lernen, meine Gedanken zu fokussieren. Ich übte, sie zu kontrollieren, zu ignorieren oder ihnen freien Lauf zu lassen. Es war beinahe erschreckend leicht, der Versuchung nachzugeben, einfach loszulassen. Alles hinter mir zu lassen und in der Stille zu verschwinden. Es war ein Zustand, der es mir bestimmt nicht leichter machte, ganz da zu sein. Andererseits wusste ich, dass es keinen Weg zurück gab. Obwohl das in mancher Hinsicht alarmierend war, fühlte ich, dass die Dankbarkeit, die all dem zugrunde lag, zu einer sehr tief empfundenen Realität wurde, von der ich immer schon gewusst hatte, dass sie existierte, und die mir nun eine ganz neue Offenheit verlieh. Es war weder besonders melancholisch noch besonders melodramatisch. Es geschah einfach so. So, wie eine alte Biene im Sommer in Zeitlupe an einem Fenster herumsummt, wohl wissend, dass sie bald sterben wird. Nicht, dass sie nicht hätte hinausfliegen können. Aber warum sollte sie das tun? Sie konnte ja alles durch die Scheibe sehen. Ich war keine Biene, aber ein Teil von mir kannte den Zyklus der Bienen. Es geschah an einem Tag, an dem ich in den Wald ging. Ich schwebte plötzlich über der Lichtung und landete auf einem Baumwipfel. Ich saß einfach da und fiel aus der Zeit hinaus – hinein ins Universum, ins Zentrum. Ich sah, wie schön das Leben sein kann. Ganz unaufgeregt und ohne Filter. Aber ich spürte schnell, dass ich nicht allzu lange in dieser Offenheit bleiben sollte. Nicht als Mensch. Denn ich könnte mein Ziel vergessen und mich verirren, so dass ich nicht mehr in der Lage wäre, zurückzufinden.
Als ich dort im Baumwipfel saß und an nichts dachte, war es, als ob ich mich in einem inneren Raum befand. Dort musste es eine Öffnung geben, denn ein mildes, gedämpftes Licht fiel hinein. Die Schatten, die entstanden, verwandelten sich in eine Art von Verständnis und waren keine Hindernis mehr. Ich saß ganz still. Ohne Anstrengung. Ohne Wünsche. Ich spürte, wie die Wände sich auflösten und verschwanden, als wäre ein Schleier weggezogen worden. Alles geschah in nur einer Bewegung. Nichts anderes existierte. Ich befand mich mittendrin, wie ein schwaches Zittern. Langsam breitete ich die Arme aus. Das Licht fiel auf mich nieder wie leuchtender Regen, der mich mit etwas erfüllte – jenseits von Worten. Die Stille ist ein Teil der Wahrheit. „Gewissheit“ ist das einzige Wort, das es vielleicht ausdrücken könnte. Ich versank in der Gewissheit, in der alles vereint ist und aus der wir stammen und in die wir gehören. Es gab kein Drinnen und kein Draußen, kein Ich will oder Ich muss, nur diese stille Gewissheit. Etwas entfernt sah ich mein altes, aufgebrauchtes Selbst an einem kreuzförmigen Baum hängen. Nicht jämmerlich. Ohne Schmerz. Ohne Schuld. Ohne Sünde. Ohne Scham. Alles war Einheit. Im Licht. Hier! Und im selben Augenblick wusste ich, dass gerade jetzt eine alte Biene auf meinem Fensterbrett starb. Ich glitt vom Baum hinab. Ich konnte alles sehen. Das Leben strömte ungehindert durch mich hindurch. Im Wald kam ich wieder zu mir, in einem Strom von Tränen.
Das also war die Freiheit. Ich hatte sie gesehen. War in ihr gewesen. Wenn auch nur für einen Augenblick. Ich war ekstatisch, aber auf eine sonderbar stille Art, obwohl mein Herz raste. Denn ich hatte nicht den mindesten Zweifel, dass ich in meinem tiefsten Inneren gewesen war, völlig befreit von der endlosen Folge großer und kleiner Bedürfnisse, die uns normalerweise blind machen.
Nach ein paar Tagen in einem friedvollen, offenen Stillstand fühlte ich mich plötzlich orientierungslos, ein Zustand, der sich bald in Traurigkeit verwandelte. In dem Maße wie die greifbare Wirklichkeit wieder näher heranrückte, wurde mir der tiefe Abgrund zwischen den beiden Zuständen schmerzhaft bewusst, und es war schwer zu erkennen, wie sie je vereint werden sollten.
In dieser Zeit verschwand auch der letzte Rest meines Interesses am oberflächlichen Zirkus des Showgeschäfts. Ich ertrug es einfach nicht mehr, mich damit zu beschäftigen. Es ging mir schon lange so, aber erst jetzt verstand ich es auch auf physischer Ebene. Die vielen einsamen Jahre auf der Insel, ohne Zeitung, Radio und Fernsehen hatten es mir leichter gemacht, zu den Grundlagen des Lebens zurückzufinden, leichter, alle Masken loszuwerden, zu sehen, dass das Echte und Verwundbare in mir, von dem ich irrtümlich gedacht hatte, es seien Fehler oder Schwächen, die es zu verbergen galt, in Wirklichkeit die einzig wahren Voraussetzungen meiner Existenz darstellten. Dadurch, dass ich so lange weitab von allem gelebt hatte, hatte ich mir selbst sämtliche Fluchtwege abgeschnitten, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen. Ich hatte selbst erlebt, wie ich mich nur allzu oft an der unendlichen, rastlosen Jagd auf Ersatzbefriedigungen beteiligte, die das Leben versüßen und verhindern sollen, dass wir es genauer betrachten. Uns wurde immer gesagt, dass der Schmerz aufhören würde, wenn wir uns buchstäblich von der Stelle entfernten, an der wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt befanden. Dass es nie gut genug war, dort zu sein, wo wir gerade waren, dass das Fest woanders stattfand. Diese Haltung war mehr oder minder der Ursprung der gesamten gesellschaftlichen Struktur der westlichen Welt. Nur auf dieser Grundlage hatte sich die Illusion aufrechterhalten lassen, dass es moralisch vertretbar sei, das ungehemmte Wachstum und die Überproduktion unnötiger Verbrauchsgüter und betäubender Unterhaltung beizubehalten. Und ich begriff, dass selbst die scheinbar sinnvollen Illusionen genau genommen auch als Unterhaltung angesehen wurden. Sie waren nur eines mehr in der Reihe der sich selbst verstärkenden Alibis, auch wenn diese die Illusion möglicherweise erträglicher machten.
Natürlich war mir sehr bewusst, dass ich nicht der Erste war, der all das erkannt hatte. Ich wusste, dass ich durch die Krisen hindurchmusste, die entstehen, wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wird und alte Lebensweisen plötzlich in sich zusammenfallen. Wenn ich nicht von der Musik leben sollte, wovon dann? Wenn ich nicht länger Sänger war, wer war ich dann? Es war beängstigend, plötzlich ohne nennenswertes Einkommen dazustehen. Beängstigend, nicht zu wissen, woher die nächste Miete kommen sollte. Und es war umso beängstigender, je deutlicher es wurde, welche große Rolle diese Art von Sicherheit in meinem Leben gespielt hatte. Die Furcht, das Wenige, das ich noch besaß, zu verlieren, hatte wie eine unsichtbare Kraft auf der Lauer gelegen und mein Leben gesteuert. Es war das Jahr, in dem ich die Entscheidung traf, ganz und gar loszulassen. Das Jahr, in dem das Album erschien, das das endgültige Aus meiner Karriere kennzeichnete. Das bange Gefühl im Bauch – das große Loch im Herzen.
An dem Tag, an dem das Album herauskam, ging ich zum Strand hinunter, um die angekündigte Sonnenfinsternis zu sehen. Es war ein ganz außergewöhnliches Erlebnis zu sehen, dass alle großen und kleinen Steine, so weit das Auge reichte, hochkant standen, als ob sie zur Sonne hin zeigten. Ein Zeichen? Vielleicht, dass die Nacht fast zu Ende war.
Ich lief, so schnell ich konnte. Die Stimme im Lautsprecher hatte gerade angekündigt, dass der Zug nach Paris in wenigen Minuten abfahren würde. Ich warf den Koffer durch die Zugtür und konnte gerade noch aufspringen, ehe der Zug anfuhr.