Читать книгу Sportsoziologie in 60 Minuten - Lars Riedl - Страница 5
Оглавление1 Einführung – Themen und Phänomene der Sportsoziologie
Die Sportsoziologie ist in Deutschland institutionell vor allem in der Sportwissenschaft verankert. Sie gewinnt jedoch ihre theoretischen und methodischen Vorgaben weitgehend aus ihrer Mutterdisziplin, der Soziologie. Insofern gilt es, sich zunächst mit der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin zu befassen, wenn man wissen will, was unter Sportsoziologie zu verstehen ist. Der Begriff Soziologie wurde vom französischen Wissenschaftler Comte zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen. Er besteht aus dem lateinischen Teil „socius“ (gemeinsam, verbunden, verbündet) und dem griechischen Teil „logos“ (Lehre, Sinn, Prinzipien) und diente zur Begründung einer neuen, sich am Vorbild der Naturwissenschaften orientierenden Disziplin.
Es handelt sich demnach um die Wissenschaft, die nicht den einzelnen Menschen, sondern das Soziale, also das Zusammenleben von Menschen, in den Mittelpunkt stellt. Die Soziologie untersucht, wie Menschen miteinander interagieren und gemeinsam bzw. in Bezug aufeinander handeln und welche sozialen Prozesse und Strukturen dem zugrunde liegen. Ihre grundlegenden Fragen lauten: Wie ist soziale Ordnung möglich? Und: Auf welchen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten basiert das Soziale?
Dabei lässt sich zwischen der allgemeinen Soziologie einerseits und den speziellen Soziologien – den sogenannten Bindestrichsoziologien, z.B. Arbeits-, Wissenschafts-, Familiensoziologie, politische Soziologie oder eben Sportsoziologie – andererseits unterschieden. Einem generellen Gültigkeitsanspruch folgend befasst sich die allgemeine Soziologie vor allem mit basalen Theorien und den Grundbegriffen des Sozialen, z.B. soziales Handeln, Interaktion, Kommunikation, Normen, Rollen, Macht, Herrschaft, sozialer Wandel, soziale Ungleichheit, Sozialisation, Organisation, Gruppe, Gesellschaft. Die speziellen Soziologien hingegen sind auf die Erforschung bestimmter gesellschaftlicher Teilbereiche und spezifischer Problemstellungen ausgerichtet. Entsprechend erforscht die Sportsoziologie den Sport aus soziologischer Perspektive, indem sie die dort vorzufindenden sozialen Prozesse und Strukturen untersucht.
Mit den eingangs genannten Beispielen deutete sich bereits an, dass sich das Soziale im Kontext des Sports auf ganz unterschiedlichen Ebenen entdecken lässt. In der Soziologie ist es üblich, zwischen der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene zu unterschieden und damit soziale Strukturen unterschiedlichen Komplexitätsgrads zu bezeichnen.
Beispielsweise rücken auf der Mikro-Ebene kleinere soziale Gebilde, wie Face-to-Face-Interaktionen in den Fokus der sportsoziologischen Analyse. Gerade im Sport gibt es eine Vielzahl solch kleinerer und häufig auch relativ flüchtiger – deswegen aber nicht weniger bedeutsamer – sozialer Zusammenhänge. Man denke nur an die im Wettkampf aufeinandertreffenden Athleten, aber auch an das Gespräch zweier Fußballfans auf der Tribüne, an die Selbstinszenierungen von Bodybuildern in Fitnessstudios, das gesellige Beisammensein im Vereinsheim, die Interaktion zwischen Trainer und Athlet während einer Auszeit oder die Kommunikation innerhalb einer Trainingsgruppe.
Dem gegenüber lassen sich auf der Meso-Ebene stabilere und komplexere soziale Ordnungsmuster identifizieren. Dabei handelt es sich vor allem um formale Organisationen und Institutionen, die sich wiederum in unterschiedliche Organisationsformen, z.B. Sportvereine, Verbände oder kommerzielle Sportanbieter, unterscheiden und hinsichtlich ihrer spezifischen Strukturbesonderheiten untersuchen lassen. An dieser Stelle begegnet man beispielsweise Analysen zum Autonomiegrad, respektive zur Umweltabhängigkeit von Sportorganisationen. Ebenso wird danach gefragt, welche Ziele diese Organisationen verfolgen, wie sie ihre Mitglieder gewinnen und binden, über welche Abteilungen und Stellen sie verfügen, welche Formen der Machtverteilung und Entscheidungsverfahren (z.B. Hierarchie oder Demokratie) sie entwickeln und welche spezifischen Werthaltungen und Organisationskulturen sie hervorbringen.
Und schließlich lässt sich auf der Makro-Ebene, also der umfassenden Ebene von Gesellschaft und ihren Teilsystemen die Entwicklung des Sportsystems in Abhängigkeit von unterschiedlichen Gesellschaftsformen untersuchen, die Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels, z.B. von Globalisierungs- und Individualisierungsprozessen, auf den Sport analysieren oder auch die Austauschbeziehungen zwischen dem Sportsystem und seinen Umweltsystemen – vor allem Wirtschaft, Massenmedien, Politik und Erziehungssystem – in den Blick nehmen.
Bereits mit der Differenzierung in diese drei Ebenen deuten sich die Komplexität des Gegenstandsbereichs der Sportsoziologie und damit auch die Vielzahl möglicher Forschungsfragen an. Prinzipiell unbeantwortet bleibt hierbei allerdings – und darauf hinzuweisen ist wichtig – die Frage, wie das Soziale sein soll? Mit anderen Worten:
Die (Sport-)Soziologie analysiert zwar die soziale Ordnung und kann somit aufzeigen, was der Fall ist und was dahintersteckt. Sie kann und will aber keine Aussagen darüber machen, ob diese soziale Ordnung „gut“ oder „schlecht“ ist. Es handelt sich vielmehr um ein weit verbreitetes Missverständnis, dass die Soziologie immer auch eine Vorstellung von „besserer“ Gesellschaft haben müsse. Die Soziologie versteht sich jedoch als eine Wissenschaftsdisziplin, welche die soziale Wirklichkeit wertfrei erforscht.
Schon Weber, der als einer der Gründungsväter der Soziologie gilt, hatte darauf verwiesen, dass es in der Wissenschaft keine Möglichkeit gibt, Seins-Aussagen in Sollens-Aussagen zu transformieren (Weber, 1968, S.229–279). Die Produktion wissenschaftlichen Wissens orientiert sich an der Unterscheidung „wahr/unwahr“, nicht aber an der Unterscheidung „moralisch gut/moralisch schlecht“ oder „wünschenswert/nicht wünschenswert“. Deshalb kann die (Sport-)Soziologie als Wissenschaftsdisziplin auch nicht sagen, in welche Richtung sich Gesellschaft im Allgemeinen und der Sport im Speziellen entwickeln sollen. Sie kann nur analysieren, welche Konsequenzen und nicht-intendierte Nebenfolgen möglicherweise aus einer (un-)gewünschten Veränderung resultieren.