Читать книгу Kein Weihnachtsessen ohne Nonna Lucia - Laura Benetti - Страница 5
Berlin. Freitag, 04. Dezember
ОглавлениеDas Telefon klingelt, während ich unter dem heißen Wasserstrahl meinen Körper einseife. Unser Anrufbeantworter schaltet sich ein, und mein fünfjähriger Sohn meldet sich mit der Botschaft „Thomas, Alessandra, Noah und Emma sind nicht da, ruf uns bitte später an“, doch keiner spricht nach dem Piepton auch nur ein Wort, und nach einer Minute legt Vivaldi mit den Vier Jahreszeiten wieder los. Ich fand den Klingelton immer nervig, doch Thomas liebt ihn, und so habe ich nachgegeben, damit wir einen Konflikt weniger haben. Es ist nicht so, dass wir zurzeit nicht genug Stress hätten. Ich verteile Shampoo auf meinem Kopf und massiere mit langsamen Kreisbewegungen der Fingerkuppen meine Kopfhaut, während der Anrufbeantworter immer wieder anspringt.
Als es zum zehnten Mal klingelt, drehe ich den Wasserhahn zu, hüpfe zähneklappernd aus der Duschkabine und spurte durch den Flur. Ich greife nach dem Telefon und drücke auf die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen. Noch bevor ich „Hallo“ sagen kann, fegt ein Wortgewitter über mich hinweg. Ich registriere den Klang meiner Muttersprache Italienisch, die schrille Stimme meiner Mutter und Satzfetzen, die ich nicht zu einem Ganzen formen kann. Scheinbar geht es um meine Oma, um eine defekte Heizung und um Kleidung für meine Kinder, aber ich kapiere nicht, wie diese Begriffe miteinander verbunden sind, da Mama alles wie ein Maschinengewehr runterrattert. Es war schon immer schwierig, bei ihr zu Wort zu kommen, aber mit zunehmendem Alter bekommen ihre Gesprächspartner immer weniger Zeit zum Reagieren.
Ich tapse ins Schlafzimmer, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und hinterlasse dabei feuchte Fußabdrücke auf dem Dielenboden, während Mama mir von der Eröffnung einer neuen Bäckerei in ihrer Straße in Kenntnis setzt, von dem Tod eines Pfarrers, den ich nicht kenne, von einem Läusebefall in einer benachbarten Kindertagesstätte und von dem Sohn einer Nachbarin, der mal wieder seinen Job verloren hat.
„Die Kioskbesitzerin munkelte, dass er in den Armen einer Prostituierten gestorben sei.“
„Wer denn jetzt?“, frage ich, während ich mir ein Handtuch nehme und es um meine tropfenden Haare wickele.
„Na, Don Gino, der Pfarrer! Ich habe doch gesagt, dass er gestorben ist!“
„Sorry, ich war bei dem Sohn der Nachbarin“, sage ich.
Mama seufzt. „Ah der Sohn der Nachbarin. Das ist ein Taugenichts, sage ich dir. Steht mittags auf, mit seinen fünfunddreißig Jahren, und sieht den ganzen Tag fern. Kein Wunder, dass seine Freundin ihn verlassen hat. Und zottelige Haare hat er immer, wie ein Penner!“ Sie atmet tief und redet dann noch schneller und lauter. „Apropos Haare, du ahnst nicht, was für einen dämlichen Haarschnitt mir die Azubine vom Friseur verpasst hat! Komplett schräg, und viel zu kurz alles!“
„Tut mir leid, Mama, ich ...“
„Ich verstehe, dass die jungen Dinger lernen müssen, aber ich bin doch kein Versuchskaninchen!“
Ich massiere meine rechte Schläfe, während ich ihr zuhöre. Ich fühle mich, als ob ein Zwerg in meinem Kopf sitzen würde, der gegen meinen Schädel hämmert. Nachdem Mama ihrer Wut über die unfähige Friseurin Luft gemacht hat, zieht sie weitere fünf Minuten über die Leiterin des Urkundenamtes her, in dem sie seit dreißig Jahren arbeitet.
„Sie hat gestern gemeckert, ich würde zu viele Pausen machen. Als ich dort angefangen habe, hat sie noch in die Windel gemacht, die Schnepfe!“
„Hhhmmm“, murmele ich. Ich sehe vor mir, wie ihre Halsvene anschwillt, während sie durch ihre fünfzig Quadratmeter große Wohnung tigert und ins Handy brüllt, bis sie hyperventiliert. Erst am Ende der Tirade folgt eine kurze Pause und schließlich die Frage „An welchem Tag kommt ihr denn genau?“
Jedes Jahr, seit ich in Deutschland wohne, fliege oder fahre ich spätestens am vierundzwanzigsten Dezember nach Italien zu meiner Familie. Seitdem ich Kinder habe, meistens ein paar Tage früher, damit sie den Weihnachtsbaum bei meiner Oma schmücken und bei Mama die Krippe mitaufbauen können. Aber allein bei dem Gedanken, in nicht mal mehr drei Wochen bei Mama zu sein, bekomme ich in diesem Jahr Gänsehaut.
Wir brauchen noch ein paar Tage für uns, bevor wir uns in den Familienwahnsinn begeben. Mein Mann hat mir vor einer Stunde zu verstehen gegeben, dass er gerade über jede Stunde froh ist, die er nicht mit mir verbringen muss. Mein letzter Urlaubstag war irgendwann im September. Ich brauche dringend Ruhe, um mich selber wieder auszuhalten, aber auch, um für andere zum Aushalten zu sein, und wenn ich eins bei meiner Mutter nicht kann, ist es, mich zu entspannen, weil jedes Jahr eine ellenlange Terminliste auf uns wartet. Und bei allen Besuchen und Versammlungen von Cousins, Tanten und Nachbarn, die mich kaum kennen, muss ich lächeln und erzählen, wie toll mein Leben in Deutschland ist, was für eine großartige Bildung meine Kinder bekommen, wie viele renommierte Kunden ich betreue, und zum Schluss muss ich preisgeben, wie hoch mein Gehalt ist. Dabei darf ich ruhig übertreiben, Hauptsache, bei meiner Angeberei reißen alle Anwesenden ihre Augen auf und gratulieren mir zu meiner steilen Karriere und zu der Entscheidung, nach Deutschland auszuwandern, während Mamas Brust vor Stolz anschwillt und ich am liebsten im Boden versinken möchte.
„Du hast doch schon die Tickets gebucht?“, fragt Mama mit einem leisen Vorwurf in ihrer Stimme.
„Klar, Mama, habe ich. Aber ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn wir schon am zweiundzwanzigsten kommen. Es ist während des Jahres hier zu Hause so viel liegengeblieben und ...“
„Was heißt liegengeblieben? Was musst du machen? Ist putzen und Schränke aufräumen wichtiger als deine Familie? Außerdem könnt ihr euch, bei dem, was dein Mann verdient, ohne Probleme eine Haushaltshilfe leisten!“
Ich schlucke, laufe in die Küche, setze mich auf einen Stuhl und lege meine nackten Füße auf die warme Heizung. Ich kann Mama nicht erzählen, dass ich mich danach sehne, einen ganzen Tag allein in einem Wellnessbad zu verbringen, weil sie nie in ihrem Leben mehr als vierundzwanzig Stunden ohne ihre Mutter verbracht hat. Ich würde mich gerne bei ihr ausheulen, weil Thomas und ich uns mal wieder gestritten haben, was seit Emmas Geburt die Regel ist, aber sie würde spätestens dann selber anfangen zu heulen, wenn ich ihr von der anderen erzählen würde, von deren Existenz ich durch eine eindeutige WhatsApp-Nachricht erfahren habe, als Thomas das Handy auf meinem Schreibtisch liegengelassen hatte. Ich weiß, dass meine Mutter meine Eheprobleme nicht lösen kann, aber ich will ihre kräftigen Arme um meine Taille spüren, wie früher, wenn ich heulend und mit blutigen Knien zu ihr gerannt kam, auf ihren Schoß kletterte, und sie mir ein Pflaster auf die Wunde klebte. Ich will, dass sie mir sagt, dass alles gut wird und meine Haare streichelt. Doch ich weiß ganz genau, dass es damit enden würde, dass ich sie tröste.
„Mama, ich will hier nicht putzen. Ich bin einfach sehr müde, und es geht mir nicht so gut und ...“
„Ah so, bevor ich es vergesse: Die neue Couch ist endlich da!“, tönt sie in die Leitung. „Ich habe sie extra gekauft, damit ihr es bequem habt, wenn ihr hier bei mir seid. Die Matratze ist weich und fest, ein Traum. Federkern, plus …“
„Super, Mama. Aber ich wollte dir gerade was erzählen. Kannst du mir eine Sekunde zuhören?“
„Ja, tesoro, sofort, eine Sache noch. Weißt du, wen ich getroffen habe? Kennst du noch Elena Maggi, deine Freundin aus der Mittelschule? Sie spazierte mit ihrer Mutter über die Piazza gestern. Ich habe von dir und den Kindern erzählt, und auch von deinem Beruf.“
„Da hat sie sich bestimmt tierisch gefreut“, erwidere ich. Ich habe die Frau seit zwanzig Jahren nicht gesehen, und mein Alltag dürfte ihr herzlich egal sein. Doch die Ironie bekommt Mama nicht mit. Ich habe es geschafft, ich bin das Aushängeschild meiner Familie, und sie sonnt sich in meinem Ruhm, weil sie mich geboren hat. Selbstverständlich, dass alle sich für uns freuen. Ich lege das Telefon auf den Küchentisch, greife nach einem T-Shirt, das über der Stuhllehne hängt, und streife es über meinen Kopf. Als ich wieder da bin, redet sie immer noch über meine ehemalige Klassenkameradin. Sie hat meine Abwesenheit nicht mal bemerkt.
„Sie arbeitet in einem Call Center. Sie hat es nicht gesagt, aber ich denke, ziemlich mies bezahlt. Sie war so beeindruckt, als ich meinte, dass du in Deutschland lebst und Managerin bist.“
„Toll. Bin ich noch nicht mal. Ich habe BWL studiert und arbeite in einem popeligen Werbebüro als Assistentin der Geschäftsführung.“
„Ja, ist egal, auf jeden Fall hast du einen Master in Management. Ich bin so froh, dass bei dir alles so wunderbar läuft.“
„Wenn du meinst“, sage ich gähnend in den Hörer. Ich denke an die Tage, an denen ich todmüde aufstehe, weil ich am Tag davor schon wieder bis siebzehn Uhr im Büro gesessen habe, obwohl ich offiziell nur dreißig Stunden pro Woche arbeite, dann weitergehetzt bin in die Kita, wo ich als letzte der ganzen Einrichtung meine Kinder abgeholt habe. Schließlich spurte ich nach Hause, wasche, koche das Abendessen und spiele mit den Kindern, bevor Thomas um zwanzig Uhr von der Kanzlei kommt, in der er seit zwei Jahren angestellt ist. Wenn Noah und Emma schlafen, schauen wir meistens fern oder irgendwelche Serien, wobei ich oft währenddessen auf der Couch einnicke, oder, wenn wir miteinander reden, regen wir uns über die Verteilung der Aufgaben auf.
Ich muss daran denken, wie er mit der Tür geknallt hat, als er vor einer Stunde mit den Kindern zum Baumarkt gefahren ist, um Weihnachtsdekoration zu kaufen. Mein Leben läuft alles anders als wunderbar.
Doch Mama sieht das anders. „Was heißt, wenn du meinst? Eine feste Stelle ist heutzutage ein Privileg! Und du hast einen Partner an deiner Seite. Du hast keine Ahnung, wie glücklich du dich schätzen kannst!“ Ihre Stimme hallt in meinem Ohr wie ein explodierender Böller in einem U-Bahnschacht. „Du weißt doch, wie ich kämpfen musste, weil ich mit euch allein war! Und wie wenig der Arsch von deinem Vater sich gekümmert hat. Erzeuger, müsste ich sagen. Mehr als ein Erzeuger war er nicht.“
Und obwohl ich genug eigene Sorgen habe, höre ich mir also abermals die Geschichte meines bösen Vaters an, der uns im Stich gelassen hat, um ein Leben in Saus und Braus zu verbringen. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert ertrinken die Hälfte unserer Gespräche in den Vorwürfen gegenüber ihrem Ex-Mann, den sie gerne als porco imbecille bezeichnet, was auf Deutsch so was wie „grenzdebiles Schwein“ bedeutet.
„Ganz allein warst du nicht, Mama“, höre ich mich sagen. „Nonna Lucia hat fast bei uns gewohnt.“
„Natürlich, es war alles ein Kinderspiel!“ Die bittere Note in ihrem Lachen entgeht mir nicht. „Ein Kinderspiel! Vor allem die Tage, an denen ich trotz hohem Fieber ins Auto gestiegen bin, um euch zur Schule zu bringen. Und die Tage, an denen ich bis Mitternacht Wäsche gebügelt habe, um dann wieder um sechs aufzustehen und euch Frühstück zu machen.“
Ich presse meine linke Handfläche gegen meine Stirn. „Ich will nicht kleinreden, was du getan hast, Mama. Das hast du super hingekriegt. Aber …“
„Ja, ist mir schon klar, du verteidigst mal wieder deinen Erzeuger! Den, der bis auf gelegentliche Geldgeschenke nichts für dich getan hat!“
Ich atme tief ein und lehne mich zurück. „Mama, kannst du mir eine Minute zuhören, bitte? Du hast mich gefragt, wann wir nach Italien fliegen, und ich wollte dir was sagen, bevor du mich mindestens dreimal unterbrochen hast.“
„Aha, du willst das Thema wechseln! Es ist mir schon klar, dass es dir unangenehm ist, über deinen Vater zu reden! Schämen müsste er sich!“
Bei jedem Satz zucke ich zusammen, bis ich, ohne viel zu überlegen, das Gespräch beende. Ich lege das Telefon auf den Tisch, atme tief ein und aus und beobachte minutenlang den Feierabendverkehr unten auf der Straße. Ich kann und will gerade an nichts denken.
Ich erinnere mich daran, dass ich mir einen Tee machen wollte, hole eine Tasse aus dem Schrank, fülle den Wasserkocher und warte, bis das Wasser zischt und gurgelt. Ich gieße das Wasser über einen Beutel und schaue, wie die gelben Fäden sich in dem klaren Wasser verwirbeln, dann werfe ich einen Blick auf die hupenden Autofahrer unten und überlege, wie toll es wäre, einfach ins Auto zu steigen und mit Thomas und den Kindern zu einer verschneiten Hütte zu fahren und die Feiertage in der weißen Einöde zu verbringen, anstatt mit meiner Mutter, meiner Oma und sämtlichen Verwandten.
Ich will am liebsten die Augen schließen, mich ins Bett legen und einschlafen. Doch das Telefon spielt schon wieder die Vier Jahreszeiten und ich weiß, dass ich den Anruf entgegennehmen und mich dafür entschuldigen muss, dass ich aufgelegt habe. Nicht nur das, ich muss Mama vorsichtig beibringen, dass wir dieses Jahr besser erst nach den Weihnachtsfeiertagen fliegen. Es wird ziemlich teuer sein, jetzt die Flüge umzubuchen, aber Thomas und ich brauchen ein paar Tage nur mit unseren Kindern und ohne berufliche Termine, um wieder zueinanderzufinden.
„Mama, jetzt hör mir zu und unterbrich mich bitte nicht. Wir können dieses Jahr nicht schon vor Weihnachten zu euch fliegen. Es geht nicht. Thomas und ich haben uns zu Tode gearbeitet, und wir wollen nicht an unserem ersten Urlaubstag die Koffer packen und abhauen.“
Ich höre, wie meine Mutter tausend Kilometer weiter in den Hörer atmet. „Das ist ein Scherz“, sagt sie schließlich. Ihre Stimme ist so ernst wie die eines Polizeikommissars am Tatort.
„Nein, kein Scherz, ich packe es nicht. Ihr könnt Noah und Emma die Geschenke einfach später geben, wenn wir am siebenundzwanzigsten kommen.“
„Darum geht es nicht! Weißt du, was das für uns alle bedeutet? Schon mal an Nonna Lucia, an Zio Andrea, an alle anderen Verwandten gedacht, die seit Monaten auf euch warten? Nein, natürlich nicht. Die Prinzessin muss ausschlafen, weil sie so viel gearbeitet hat. Als ob wir hier nichts machen würden.“
Ihr sarkastisches Lachen verletzt mich mehr als ihr Schreien. Ich atme tief ein und spiele meine letzte Karte.
„Mama, es geht nicht darum, dass ich müde bin. Thomas hat keine Lust, so früh zu fliegen. Er ist nie zu Hause und braucht seine Ruhe.“
„Seine Ruhe? Er soll dankbar sein, dass er eine Familie wie uns hat! Wie einen Sohn haben wir ihn aufgenommen! Wie oft melden sich seine Eltern, obwohl sie bei euch um die Ecke wohnen? Und wie oft kaufen sie etwas für die Kinder?“
Ich balle meine Hände zu Fäusten und versuche, meine Lautstärke zu drosseln. „Thomas’ Familie hat nichts damit zu tun. Wir müssen uns nicht entschuldigen, wenn wir Weihnachten zu Hause sein wollen.“
„Nein, dafür nicht. Aber dafür, dass ihr zwei Egoisten seid. Ich hoffe, eure Kinder werden nicht so wie ihr!“ Den letzten Satz schreit sie in die Leitung, ehe sie auflegt.
Ich schließe die Augen und bleibe zitternd mit dem Telefon in der Hand stehen, während Wuttränen meine Wangen überfluten. Ich habe mir immer eingebildet, dass ich meine Mutter ertragen muss, weil sie eben meine Mutter ist und sich für mich ein Bein ausreißen würde, wenn Not am Mann wäre. Doch gerade habe ich das Gefühl, mein Leben geht den Bach runter, wenn ich nichts dagegen tue, und sie hört mir nicht zu. Schlimmer noch, ich komme noch nicht mal zu Wort.
Ich stelle mir die Weihnachtstage bei ihr in Italien vor. Allein der Gedanke, mit Thomas eine Woche in ihrer Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung ohne Ausweichmöglichkeiten zu verbringen, verschlimmert meine Kopfschmerzen. Hier in Berlin können wir uns gut aus dem Weg gehen. Offiziell trifft er dann einen Freund zu einem Bier, oder ich gehe abends ins Fitnessstudio, wenn ich nicht allzu müde bin. In meiner Heimatstadt gibt es aber nach zwanzig Uhr nichts zu tun, und wir müssten erst einmal ein klärendes Gespräch führen, bevor wir am Küchentisch mit den Kindern Mensch-ärgere-dich-nicht spielen können.
Meine Freunde aus der Schulzeit verbringen die Feiertage mit ihren Familien, meine einundachtzigjährige Großmutter redet nur über Krebs- und Scheidungsfälle in der Nachbarschaft, mit meinem Onkel und seiner Freundin streite ich mich am Ende immer über Politik, und mein Vater wird vermutlich auch dieses Jahr darauf bestehen, seinen Tante-Emma-Laden während der Feiertage zu öffnen, so dass er keine Zeit für uns haben wird.
Ich male mir aus, wie Thomas und ich uns die ganze Zeit Gemeinheiten an den Kopf knallen, wie Mama sich einmischt und wie wir uns alle anschreien und langsam verrückt werden.
Seitdem ich auf der Welt bin, habe ich immer Weihnachten im Kreis meiner Familie verbracht. Seitdem ich im Ausland lebe und selbst Kinder habe, ist diese Tradition umso wichtiger geworden, um zu beweisen, dass auch fünfzehn Jahre in Deutschland aus mir keine Fremde gemacht haben, die ihre Wurzeln vergessen hat. Doch bedeutet diese Tradition so viel, dass ich meine Beziehung und meine psychische Gesundheit aufs Spiel setzen muss, um meine Familie nicht zu enttäuschen?
Ich reiße das Fenster auf, atme die feuchte Regenluft ein und fasse die Entscheidung meines Lebens: Dieses Jahr fliegen wir nicht. Gar nicht.
Schon seit einer Stunde laufe ich mit dem verdammten Blatt Papier in der Hand herum. Es wiegt in meinen Händen eine Tonne, obwohl es sich dabei um ein ganz normales DIN-A4-Blatt handelt. Allein die Idee, einen Brief zu schreiben, ist absurd. Wer nimmt im Jahr 2018 noch den Weg zum Briefkasten auf sich, wenn ein Klick auf eine Taste genügt, um tausende Gigabytes in einer Sekunde um den Globus zu verschicken? Und doch habe ich keine andere Wahl.
Meine Mutter gehört zu dem kleinen Prozentsatz der Menschen, denen das World Wide Web ein Buch mit sieben Siegeln ist. „Ich verstehe nichts von diesem Zeug“, sagt sie immer, wenn ich sie darauf aufmerksam mache, dass ein Notebook und eine Internetverbindung unsere Kommunikation zwischen Berlin und Italien enorm erleichtern würden. Ich sehe sie vor mir, wie sie ihre Lippen aufeinanderpresst, die Hände in die Hüften stemmt und ihren Kopf so kräftig schüttelt, dass ihre schwarzen Locken wie Papierschlangen in der Luft tanzen.
Ich könnte sie natürlich auch anrufen, ihr meine Entscheidung mitteilen und sie bitten, mich zu verstehen. Doch nachdem sie schon vor einer Stunde ausgerastet ist, als ich nur versucht habe, ihr beizubringen, dass wir fünf Tage später fliegen, scheint mir das keine gute Alternative.
Ich stelle mir vor, wie die Wut nach meiner Ankündigung sich in ihren Gliedern staut, bis ein Gegenstand dran glauben muss, vermutlich einer von diesen Minizwergen, die sie in Ein-Euro-Läden in großen Mengen kauft, um sie auf ihren Möbeln neben gehäkelten Deckchen und bunten Engeln aus Plastik verstauben zu lassen. Viele davon sind schon gegen die Wand gepfeffert worden und haben die Misshandlungen nicht überlebt. Manchmal stellt sie sie wieder auf, obwohl ein Stück Hut oder ein Fuß fehlt.
Es bringt mich immer wieder in Verlegenheit, Noah zu erklären, warum bei Nonna Patrizia so viele Zwerge verstümmelt sind. Wie kann ich so einem sensiblen Jungen erzählen, dass seine Oma immer wieder zur Zwergenmörderin mutiert?
Ich habe die Flüge schon vor Monaten gebucht, und ich bin nicht Krösus, und doch werden die dreihundertetwas Euro, die die Tickets gekostet haben, mich nicht umbringen. Thomas wird erleichtert sein, dass ihm die endlosen Mahlzeiten und das permanente Geschnatter meiner Familie erspart bleiben. Während unserer ersten gemeinsamen Jahre fand er sie alle lustig und verrückt, genauso wie mich, doch seit drei oder vier Jahren fragt er mit immer mehr Nachdruck, ob es sein muss, dass wir jedes Jahr die Feiertage dort verbringen. Letztes Jahr ist er nach dem zweiten Weihnachtstag ohne uns zurück nach Deutschland geflogen, angeblich wegen eines wichtigen Termins.
Ich habe stets meinen Wunsch verteidigt, bis Anfang Januar in Italien zu bleiben. Doch dieses Jahr habe ich nicht die Kraft, zwei Wochen lang meine Sippe zu ertragen. Meine Entscheidung steht.
Ich könnte den Brief am Computer schreiben und ausdrucken, aber handgeschrieben ist es viel persönlicher. Ich will, dass Mama weiß, dass mir diese Entscheidung keineswegs leichtfällt. Ich habe zum Glück eine schöne Handschrift. Nur, wie soll ich anfangen? Ich sitze auf meinem Drehstuhl mit dem guten Füller in der Hand, drücke die Spitze aufs Blatt, bewege meine rechte Hand und schaue zu, wie die Worte entstehen.
„Cara mamma, ihr versteht mich einfach nicht.“
Ich halte inne, seufze und vernichte den Satz mit einem dicken Strich. Sofort mit Anschuldigungen zu starten, ist die schlechteste Idee überhaupt. Schon bei den ersten Worten würde sie nach Luft schnappen, das Gesicht so rot wie eine Chilischote. Womöglich würde sie den Brief nicht mal zu Ende lesen, sondern aus dem Haus stürmen und direkt zu Nonna Lucia rennen, die drei Türe weiter wohnt und in ihrem Alter keine Unruhe gebrauchen kann. Sie würde sich bei ihrer Mutter über ihre undankbare Tochter ausweinen, die sich aus dem Staub gemacht hat, sie ohnehin viel zu selten besucht und nun auch noch unverschämte Briefe schreibt. Nein, ich muss zuerst die Gründe in meinem eigenen Leben darstellen.
Ich laufe mit dem Zettel in der Hand in die Küche und koche mir noch einen Ingwertee, aber ich merke schon beim Trinken, dass ich dringend einen Energiekick brauche. Ich habe letzte Nacht zu viel gegrübelt und den leeren Platz neben mir schmerzhaft gespürt, da Thomas seit Wochen auf dem Wohnzimmersofa schläft. Ich hole meinen Mokkakocher aus dem Schrank, fülle den unteren Teil mit Wasser und den mittleren mit Kaffee, zünde die kleine Flamme an und setze mich an den Küchentisch, an dem noch die Krümel von den Reiswaffeln haften, die die Kinder gegessen haben, bevor sie mit Thomas aufgebrochen sind.
Ich wische sie mit einem Schwamm weg und fange wieder an zu schreiben.
„Cara mamma, bei mir geht zurzeit alles drunter und drüber.“ Oder ist es doch nicht so schlau, so anzufangen?
Als ich mich vor ein paar Wochen bei ihr darüber beschwert habe, dass Thomas sich mal wieder im Büro verschanzt hatte und alles an mir hängenblieb, faselte sie plötzlich nur noch Sätze wie „streitet euch nicht vor den armen Kindern“. Ich zerknülle das Blatt, werfe es in die Mülltonne und gönne mir eine Pause. Der Kaffee gurgelt inzwischen aus der Düse der Maschine. Ich hole eine kleine Tasse aus dem Schrank, gieße die dämpfende Brühe ein und schließe die Augen.
„Cara mamma, bitte setz dich hin und lies diesen Brief zu Ende, bevor du durchdrehst.“ Nein, auch Mist. Meine Mutter zu ermahnen, ruhig zu bleiben, ist wie einen englischen Hooligan zu bitten, sich nicht zu ärgern, wenn seine Mannschaft verliert. Mama ist Emotionen pur.
Ich denke daran, wie sie mit mir und meiner Schwester im Wohnzimmer zu Swing aus den Sechzigern barfuß getanzt hat, als wir klein waren, und an ihr lautes Lachen, das die ganze Wohnung erfüllte, während sie uns hochhob und in die Luft warf. Und dann fällt mir ein, wie sie mir half, einen bösen Brief an meinen ersten Freund zu schreiben, der mir mit vierzehn das Herz gebrochen hatte. Ihre Emotionalität hat sicherlich auch positive Seiten, doch sie ist nicht hilfreich, wenn man schwierige Themen besprechen muss.
Auf dem Blatt bildet sich eine große, weiße Pfütze, als ich das Tipp-Ex auf den Satz pinsele. Ich trinke den Kaffee aus, stelle die schmutzige Tasse und den kleinen Löffel in die Spülmaschine, strecke meine Beine und schaue auf die Uhr. Achtzehn Uhr dreißig, Thomas wird bestimmt bald mit Noah und Emma wiederauftauchen, und ich muss etwas kochen. Ich weiß nicht, ob ich ihn auf unseren heutigen Streit ansprechen oder den Kopf in den Sand stecken soll. Beide Strategien habe ich schon oft genug angewendet, ohne dass es zwischen uns besser wird. Aber auf jeden Fall muss ich den Brief an Mama zu Ende schreiben, bevor die drei wiederauftauchen.
Ich schreibe einfach drauflos, fünf Minuten lang, und plötzlich geht es ganz leicht. Ich weiß sowieso, dass ich nie mit dem Ergebnis zufrieden sein werde, und trotzdem muss es raus. Die Gedanken brennen in meinem Kopf wie Kerosin, egal wie ich sie formuliere.
Es ist achtzehn Uhr sechsunddreißig, als ich fertig bin. Wenn ich den Brief noch heute einwerfe, ist er spätestens in drei Tagen in Italien. Mama wird ihn am Montagabend lesen, wenn sie aus dem Büro nach Hause kommt. Ich sehe sie schon, wie sie die warme Milch und das Nutellabrot, ihr übliches Abendessen, stehen lässt und den Umschlag zerreißt, nachdem sie vergeblich nach einer Schere gesucht hat. Sie wird sofort zum Hörer greifen. Aber ich bin stark genug, um ihre Reaktion auszuhalten.
Bevor ich zum Briefkasten gehe, scanne ich den Brief noch ein, damit ich genau weiß, was ich geschrieben habe und mich wehren kann, wenn sie jede Zeile auseinanderpflückt. Ich ziehe meinen dicken Pullover an und werfe einen Blick in den Spiegel. Meine noch nassen braunen Haare kleben an meinen Wangen und an meiner Stirn. Rund um meine Hüften hat der Alltagsstress der letzten Jahre einige Fettpolster wachsen lassen, denen ich jeden Frühling den Krieg erkläre, um sie im Herbst wieder auftauchen zu sehen, wenn ich mit Thomas vor dem Fernseher Chips knabbere. Ansonsten gibt es nichts an meinem Aussehen, was mich stört, aber auch nichts, was mich begeistert. Mein Gesicht ist weder rund noch spitz noch füllig. Meine braunen Augen sind weder groß noch schmal, ich habe weder eine römische noch eine Stupsnase, sondern eine, die ganz gerade nach unten geht, ohne aufzufallen. Ich denke daran, wie Mama mir vor dem Spiegel das dichte Haar kämmte und zu Zöpfen flocht. La mia bella bambina, mein schönes Mädchen, nannte sie mich immer, bevor die Pubertät aus mir eine nachdenkliche, anstrengende junge Frau machte.
Gehe ich mit dem Brief zu weit? Ich weiß, dass es für Mama unerträglich gewesen sein muss, nach der Scheidung von Papa das Tratschobjekt der Nachbarschaft zu werden, denn damals konnte man die geschiedenen Frauen bei uns im Städtchen an einer Hand abzählen. Und doch kann ich nicht immer den Mund halten, wenn sie nur von vor dreißig Jahren redet und sich ihr Weltbild zurechtbastelt, in dem ich zu funktionieren habe, damit sie behaupten kann, zumindest eine Sache gut gemacht zu haben. Nein, ich muss mich endlich mit ihr aussprechen.
Ich renne die Treppe hinunter, stürze mich in die feuchte Winternacht und erkämpfe meinen Weg zwischen den Einkaufswütigen, die sich selbst vom Schneeregen nicht davon abhalten lassen, die Geschäfte zu stürmen und mit prall gefüllten Tüten durch die Straßen zu hasten. Vor dem Briefkasten schaue ich nochmal, ob der Brief gut verschlossen ist und die Marke ordentlich klebt. Dann wiege ich ihn kurz in meiner Handfläche, atme ein und schmeiße ihn in den linken Schlitz, auf dem „Andere Postleitzahlen“ steht. Mit schnellen Schritten entferne ich mich vom gelben Kasten, wie ein Verbrecher, der vom Tatort türmt. Ich habe plötzlich das Gefühl, eine Lawine losgetreten zu haben, die ich nicht mehr anhalten kann. Auf dem Weg nach Hause lasse ich mir noch den ersten Satz auf der Zunge zergehen „Cara mamma, diese Weihnachten werde ich nicht zu euch fliegen.“