Читать книгу Kein Weihnachtsessen ohne Nonna Lucia - Laura Benetti - Страница 6

Berlin. Mittwoch, 16. Dezember

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Seit Tagen warte ich darauf, dass die Bombe explodiert, doch nichts passiert. Ich sitze im Büro und schreibe den Bericht über die Werbekampagne eines Kunden aus der Telekommunikationsbranche, aber eigentlich denke ich die ganze Zeit darüber nach, was mit dem Brief passiert ist. Ist er nicht angekommen? Verschimmelt er irgendwo in einem Depot? Hat Mama ihn aus Versehen zusammen mit Werbeprospekten entsorgt? Ich hätte schwören können, dass mich ihre Flüche spätestens eine Woche, nachdem ich den Brief in den Kasten geworfen habe, erreichen würden . Doch stattdessen: nichts. Ist sie ernsthaft krank und hat es mir verheimlicht, damit ich mir keine Sorgen mache? Oder, noch schlimmer, ist etwas mit Nonna Lucia?

Ich stapfe gerade mit meinen Kollegen die Treppe hinunter zur Kantine, als das Telefon klingelt. Um die Uhrzeit ruft mich nie jemand an, da alle wissen, dass ich arbeite. Es gibt nur eine Möglichkeit, das muss Mama sein: Mein Brief ist angekommen, und sie kann nicht bis heute Abend warten, weil sie so wütend ist. Ich bleibe stehen und lasse die anderen weiterziehen, während eine unsichtbare Hand meine Kehle zusammendrückt.

Mein Kollege Jörg schaut mich von unten fragend an.

„Ich komme nach“, brülle ich und spüre, wie mein Herz beschleunigt, während ich zwischen benutzten Taschentüchern, Gummibärchen und Matchbox-Autos in meiner Handtasche wühle. Als ich endlich nach dem vibrierenden Gerät greife und einen Blick auf das Display werfe, beruhigt sich mein Puls schlagartig. Es ist nur Thomas. Ich atme wieder normal, und die Spannung lässt nach.

„Hey. Ich wollte mich auch schon melden. Der Klempner kommt heute Nachmittag vorbei“, sage ich.

„Klempner?“ Er klingt verschlafen. Ich stelle mir vor, wie er beim Gähnen die Hand vor den Mund hält und sich dabei an den blonden Bartstoppeln kratzt.

„Du machst heute Home-Office, oder?“

Stille, dann, nach einigen Sekunden, ein zähes „Hmmm“.

„Könntest du dann auf den Klempner warten? Ich habe schon dreimal abgesagt und ...“

„Alessandra, stopp. Warte. Und lass mich bitte ausreden. Der Klempner und unsere Spüle sind mir egal.“ Seine Stimme ist plötzlich so scharf wie eine Messerklinge.

Er tapst bestimmt mit dem linken Fuß, wie immer, wenn er verärgert ist. Nach dem Streit von letzter Woche haben wir uns versöhnt, nur um drei Tage später wieder eine heftige Diskussion vom Zaun zu brechen, weil er unseren gemeinsamen Kinoabend in letzter Sekunde abgesagt hat, um seinen Chef zu einem Geschäftsessen zu begleiten. Danach gab es ein Krisengespräch und zum millionsten Mal das Versprechen, aufeinander zuzugehen, doch stattdessen haben wir unsere Kommunikation auf ein Überlebensminimum reduziert.

Meine Anspannung ist sofort wieder da, und ich beginne zu zittern. Ich weiß, dass das, was er mir sagen wird, mir nicht gefallen wird. Und dennoch erreicht mich seine Botschaft wie ein Schlag auf den Hinterkopf.

„Ich habe meine Sachen gepackt. Ich schlafe ein paar Tage bei meinem Bruder. Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr. Wir keifen uns nur noch an. Und dann reden wir darüber und es ist für ein paar Tage gut, und dann geht alles wieder von vorne los. Und ich bin sowieso immer der Depp, weil ich dich betrogen habe, weil ich mich nicht genug um die Kinder kümmere, weil ich nicht nach deiner Pfeife tanze. Egal was ich mache, es ist falsch. Und das seit Jahren. Und das nervt.“

Ich schnappe nach Luft und fühle, wie das Blut in meinen Ohren rauscht. Mein Magen schrumpft auf die Größe einer Erbse, und meine Zunge klebt am Gaumen. Ich weiß, dass wir harte Zeiten durchmachen. Ich weiß, dass ich ihn manchmal hasse, und dann mich selbst. Aber er kann nicht einfach türmen. Wir haben zwei Kinder. Wir sind erwachsene Menschen. Wir müssen da irgendwie durch. Wir dürfen nicht den gleichen Fehler machen wie meine Eltern, die sich seit einem Vierteljahrhundert bekriegen.

„Es tut mir leid, wirklich. Ich wollte das nicht“, sagt er. Er verhaspelt sich, auch wenn er sich bemüht, langsam zu sprechen, als ob die Worte Zementblöcke wären, über die er stolpert.

„Was willst du eigentlich?“, frage ich, während ich meine salzigen Tränen schmecke.

„Ich weiß es nicht, Alessandra. Nachdenken. Zur Ruhe kommen.“

„Und dann?“

„Ich weiß es nicht“, flüstert er. Er hört sich wirklich so an, als ob auch er keine Kraft mehr hätte. Er, der immer für alles eine Lösung findet. Er, der in schwierigen Momenten immer die Ruhe bewahrt.

„Ich hole die Tage die Kinder. Gib ihnen einen Kuss von mir“, sagt er noch, und ich murmele ein „Ja“, weil ich zu mehr nicht in der Lage bin. Wir verabschieden uns nicht mal voneinander, ehe ich auflege.

Der Tag ist gelaufen, meine Mittagspause sowieso. Die E-Mails auf meinem Bildschirm sind nur ein Alibi, während ich mir den Kopf darüber zermartere, wie ich meinen Kindern erklären soll, dass ihr Vater weg ist. Emma kann ich vielleicht noch erzählen, dass Papa mit dem Auto unterwegs ist. Aber Noah mit seinen fünf Jahren kann ich nichts mehr vormachen, zumindest nicht lange.

Plötzlich bin ich wieder ein Kind und lausche hinter der Milchglasscheibe der Küchentür einem Gespräch zwischen Mama und Nonna Lucia. Ich höre, wie meine Mutter weint, und ich höre sie sagen, dass mein Vater nicht mehr zurückkehren wird. Ich bekomme mit, wie Nonna Lucia sie beruhigt, Gott wird alles richten. Ich spüre die Kälte, die sich in mir ausbreitet und mich festhält, so dass ich weder Arme noch Beine bewegen kann. Die Angst, dass auch Mama und Nonna Lucia irgendwann weg sind, und dass ich ganz allein dastehe. Ich will nicht, dass Noah sich verloren und allein fühlt. Es kommt mir vor, als ob ich in einem Zug eingesperrt wäre, der auf einen Brückenpfeiler zurast, und ich zittere, so wie damals, denn ich bin jetzt auch allein.

Ich haue ab und zu willkürlich in die Tasten, damit es so aussieht, als ob ich beschäftigt wäre. Die zwei Kollegen neben mir starren auf ihre Bildschirme und tippen ebenfalls auf ihren Tastaturen herum. Gelegentlich klingelt ein Telefon und ich höre, wie jemand sich im Namen der Werbeagentur meldet. Ich bete, es möge niemand für mich sein, denn ich wüsste nicht, was ich antworten soll. Während ich durch Meeting-Ankündigungen blättere, denke ich darüber nach, wie Mama ausrasten würde, wenn sie von Thomas’ Abgang erführe. Sie hat mir immer eingetrichtert, dass man sich in einer Partnerschaft nie in Sicherheit wiegen darf, weil Männer dich sowieso irgendwann für eine Jüngere verlassen, nachdem du jahrelang ihre schmutzige Wäsche gewaschen und ihre Kinder großgezogen hast. Deswegen muss man immer auf der Lauer sein, und nie zu nett. „Ansonsten kriegst du einen Arschtritt, ehe du bis drei zählen kannst.“

Auf der anderen Seite war es ihr immer wichtig, dass ich verheiratet bin, mit einem Mann, der in Lohn und Brot steht und aus einer guten Familie stammt. Ich erinnere mich noch daran, wie sie gezwinkert hat, als ich das erste Mal mit Thomas in Italien war.

„Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich mich auch sofort in ihn verlieben“, sagte sie.

Nonna Lucia hat ihn auch immer gemocht, weil er getauft ist und Jura studiert hat.

„Einen fleißigen Kerl hast du dir ausgesucht. Er wird dich nicht enttäuschen“, sagte sie zu mir, nachdem sie bei unserer Hochzeitszeremonie ihre Tränen mit einem Taschentuch getrocknet hatte.

Und nun hat er genug von mir und packt seine Koffer.

Zum Glück habe ich dafür gesorgt, dass wir Weihnachten nicht nach Italien fliegen müssen. Das hätte mir gerade noch gefehlt, meiner versammelten Familie zu erklären, warum Thomas nicht dabei ist.

Um sechzehn Uhr fahre ich meinen Rechner herunter, verabschiede mich von den Kollegen und verlasse das Büro. Ich weiß noch, dass wir Mittwoch, den sechzehnten Dezember haben, und dass ich gleich Noah und Emma aus der Kindertagesstätte abholen werde. Ich erinnere mich auch noch vage daran, dass ich eine Hose bei der Schneiderei einsammeln muss. Aber erst Nonna Lucias klagende Stimme am Telefon, während ich zum S-Bahnhof laufe, holt mich gänzlich zurück in die Realität.

„Was hast du denn gemacht?“, heult sie.

Ich stelle im gleichen Augenblick fest, dass ich mitten auf dem Fahrradweg stehe, und dass ein Radfahrer auf mich zurast. Ich kann gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, bevor wir zusammenstoßen, bekomme aber wüste Beleidigungen hinterhergerufen. Zwei Sekunden später donnert ein LKW an mir vorbei. Ehe ich mich versehe, werde ich von einer Schlammfontäne erwischt. Mit dem Handy in der Hand stehe ich nun nass und schmutzig am Straßenrand, doch ich habe keine Zeit, mich darüber zu ärgern, denn mir ist jetzt klar geworden, warum Nonna Lucia mich anruft: Der Brief ist angekommen. Sie winselt in den Hörer und redet ohne Punkt und Komma.

„Deine Mama ist gestern Abend schreiend vor meiner Haustür aufgetaucht. Sie hat so laut gebrüllt, dass ich gedacht habe, sie hätte deinen Vater getroffen.“

Trotz der dramatischen Lage kann ich nicht anders, als zu kichern. Das letzte Mal sind sich meine Eltern vor drei Jahren in einem Supermarkt in meiner Heimatstadt begegnet. Nachdem meine Mutter ihn daran erinnert hatte, was sie von ihm hielt, und mein Vater sich Kommentare über ihre Figur erlaubt hatte, artete der Streit dermaßen aus, dass sie beide des Ladens verwiesen wurden.

„Da gibt es nichts zu lachen. Ich wusste nicht, was ich mit ihr machen sollte. Die Nachbarin hat geklingelt, um zu schauen, ob alles in Ordnung war. Bei dem ganzen Gebrüll dachte sie, jemand sei bei uns eingebrochen. Wie kannst du sie so beleidigen?!“

„Ich kann mir vorstellen, dass sie überreagiert hat, aber ich habe sie nicht beleidigt. Ich habe nur geschrieben, dass ich Weihnachten mit meiner Familie in Berlin bleibe, und erklärt, warum.“

„Das sieht sie anders“, sagt Nonna Lucia. In ihrer Stimme höre ich eine Prise Wut. „Und überhaupt. Was soll das? Was heißt, du kommst Weihnachten nicht? Zio Andrea und Enrica haben den Tannenbaum gekauft, damit die Kinder ihn schmücken können, und ich habe beim Metzger schon drei Kochsalamis reserviert.“

Ich schüttele den Kopf. Ich hatte Zio Andrea, den Bruder meiner Mutter, vor zwei Wochen gebeten, Nonna Lucia in ihrem Weihnachtsvorbereitungseifer zu bremsen. Gewöhnlich fängt sie bereits Mitte November mit der Organisation von Verwandtenbesuchen und Essensbestellungen an, egal wie oft ich sage, dass wir spontan entscheiden können, was wir essen und wie wir unsere Zeit dort verbringen.

„Nonna, es tut mir leid. Es ist toll, wie ihr euch jedes Jahr für uns ins Zeug legt, wirklich. Aber es geht um etwas anderes.“

„Ja, habe ich gelesen“, sagt sie. „Angeblich hören wir nie zu und zeigen dich und deine Kinder wie Trophäen herum, während deine Gefühle uns egal sind. Und sowieso reden wir nur schlecht über deinen Vater. Ich weiß nicht, warum du einen solchen Unsinn von dir gibst.“

Nonna Lucia klingt, als ob ich wieder sechs Jahre alt wäre und heimlich Apfelkuchen stibitzt hätte, bevor sie ihn offiziell angeschnitten hat. Ich sehe vor mir, wie sie den Zeigefinger auf ihre Lippen drückt, die Hände in die Hüften stemmt und mich anschaut, ohne etwas zu sagen, wie immer, wenn sie verärgert ist. Trotz Regen und halb gefrorener Finger fühle ich, wie mir die Hitze in den Kopf steigt.

„Aber so ist es, Nonna! Mama fragt nie, wie es mir wirklich geht! Wichtig ist nur, dass ich irgendwann eine Gehaltserhöhung bekomme, damit sie das bei ihren Freundinnen herumposaunen darf. Und sonst fragt sie nur, wohin wir dieses Jahr in den Urlaub fahren. Aber ich muss Verständnis dafür haben, dass sie nach fast dreißig Jahren immer noch über ihre furchtbare Ehe klagt! Ich darf nie reden! Stelle dir vor, ich hätte ein Problem …“

„Hast du denn ein Problem?“, unterbricht sie mich.

Ich beiße mir auf die Zunge, ehe ich ihr erzählen kann, dass mein Mann heute abgehauen ist und dass ich mich seit Wochen erschöpft fühle. Ich weiß, dass sie unter Herzflimmern leidet, obwohl sie ihre Gesundheitsprobleme immer herunterspielt. Ich weiß, was für ein Schlag es für sie war, als meine Eltern sich scheiden ließen, und möchte nicht für die nächste Familienkatastrophe verantwortlich gemacht werden.

„Nein, keine Probleme“, seufze ich. „Aber es wäre trotzdem schön, wenn …“

„Was soll der Brief dann? Deine Mama hat die ganze Nacht geheult, du solltest dich schämen! Ich erwarte, dass du dich sofort bei ihr entschuldigst! Und selbstverständlich sehen wir uns in einer Woche! Denk mal an deine armen Kinder, die Weihnachten ohne ihre Familie verbringen sollen! Willst du sie aus einer Laune heraus bestrafen?“

Obwohl tausend Kilometer uns trennen, trifft mich ihre Mahnung wie eine Ohrfeige. Ich weiß, dass sie erwartet, dass ich mich ihrem Willen beuge, wie immer, wenn es um unsere Familie geht. Doch diesmal nicht.

„Nonna, ich bin dreiunddreißig. Du kannst mir nicht erzählen, was ich zu tun habe!“

„Dreiunddreißig bist du? Du benimmst dich, als ob du dreizehn wärst! Du hast schon einmal am ersten Weihnachtstag Theater gemacht …“

„Ja, vor fast zwanzig Jahren, weil Mama mich provoziert hat. Willst du mir das bis in alle Ewigkeit vorwerfen? Außerdem hat das mit jetzt nichts zu tun. Jetzt habe ich gute Gründe, warum ich nicht nach Italien kommen will.“

„Ja, der Grund, dass du schmollst, weil du nicht im Mittelpunkt stehst! Hast du schon darüber nachgedacht, wie ich und deine Mutter uns für euch geopfert haben?“

„Bitte nicht die Opfernummer, Nonna. Ich habe keinen Bock! Ihr habt viel für uns gemacht, und ich bin dankbar, aber ich lasse mich nicht damit erpressen!“

„Gut, wenn du damit leben kannst.“ Ich höre, wie sie sich laut schnäuzt. „Vielleicht ist es mein letztes Weihnachten auf dieser Erde, aber dir ist es scheinbar egal, dass du uns allen Kummer bereitest. Schönen Tag noch, Alessandra!“

Obwohl die Kindertagesstätte in einer halben Stunde schließt und die Fahrt zwanzig Minuten dauert, stehe ich vor dem S-Bahnhof und lausche den Regentropfen, die auf die Dächer der parkenden Autos prasseln. Ich will mir einbilden, dass das eben beendete Gespräch mit Nonna Lucia mich nicht tangiert. Sie hat ihre Maßstäbe, und ich habe mein Leben. Trotz ihrer Sanftmütigkeit und ihrer Großzügigkeit ist sie unbarmherzig, wenn es darum geht, die Einheit der Familie zu schützen. Dass ihre beiden Enkeltöchter im Ausland leben, ich in Deutschland, meine Schwester Eleonora in Frankreich, hat sie mit der Begründung der spärlichen beruflichen Perspektiven in unserer Heimat schweren Herzens akzeptiert, aber sie kann einfach nicht verstehen, dass wir uns nicht danach sehnen, jedes verlängerte Wochenende nach Italien zu fliegen. Und was die Konflikte zwischen mir und Mama angeht, versucht sie seit meiner Pubertät, sie herunterzuspielen und mir weiszumachen, dass ich meine Mutter nehmen muss, wie sie ist. Ich bin mir sicher, dass sie mir raten würde, mich auf die Knie zu werfen und Thomas anzuflehen, wieder zurückzukommen, was er, so wie ich ihn kenne, aus Mitleid auch machen würde.

Aber ich bin nicht wie sie.

Jahrelang bin ich zu nett zu meinen Mitmenschen gewesen, auch zu denen, die keineswegs nett zu mir waren, nur aus Angst, mich mit ihnen zu streiten.

„Alessandra, Sie könnten beruflich weit kommen, aber Ihnen fehlt der Mut“, sagte mir mein erster Chef vor vielen Jahren, als ich während meines BWL-Studiums ein Praktikum in seiner Firma machte.

Doch nun ist es vorbei mit der Nettigkeit. Nonna Lucias Harmoniesucht in allen Ehren, ich werde mich weder bei meiner Mutter entschuldigen noch meine Entscheidung revidieren, nicht nach Italien zu fliegen. Ich habe gerade ganz andere Probleme.

Ich muss meine eigene Familie retten.

Emma und Noah sind geladen wie zwei Duracell-Häschen, als ich sie abhole. Trotz Matschwetter und Dunkelheit protestieren sie, weil ich mich weigere, mit ihnen auf den Spielplatz zu gehen. Zum Glück kann ich sie doch noch mit dem Versprechen nach Hause locken, Zeichentrickfilme anzuschauen. Wir traben zur Bäckerei, kaufen Schokobrötchen und ein Baguette, und ich lasse sie zwischen den Pfützen Fangen spielen, obwohl sie keine Gummihosen tragen und ihre Jeans sich in null Komma Nichts mit Dreck vollsaugen.

„Hängen wir die Kugeln an den Weihnachtsbaum, Mama?“, fragt mich Noah, während wir die letzten Meter bis zur Haustür laufen.

„Ja, das machen wir.“

„Mama?“

„Was ist, kleiner Mann?“

„Schade, dass Papa nicht dabei ist.“

Ich streichele seine Bärenmütze. „Er kommt bald wieder. Und dann können wir die restlichen Kugeln mit ihm aufhängen. Oder Weihnachtslieder spielen.“

Ich habe Noah erstmal erzählt, dass Papa mit dem Zug gefahren ist und bis Montag in einer anderen Stadt bleibt, was er mir abgekauft hat, denn es ist schon oft vorgekommen, dass Thomas zu einem Mandanten fahren musste. Aber was soll ich sagen, wenn er irgendwann merkt, dass er nicht zurückkommt?

Ich muss an meinen ersten Schultag denken, als mein Vater mich mit seiner Alfa Giulietta abholte und wir in der Konditorei vor der Schule Cannoncini gegessen haben, Blätterteigröllchen mit Sahne. Er wohnte schon nicht mehr zu Hause, und ich erinnere mich daran, extra langsam gegessen zu haben, damit er mich nicht zu früh zu Mama zurückbrachte, weil ich so lange wie möglich etwas von ihm haben wollte. Das Wort „Trennung“ kannte ich damals noch nicht, aber es schwebte über meinem sechsjährigen Kopf, und ich spürte genau, was es bedeutete.

Ich will aber jetzt nicht von Trennung reden, noch nicht. Ich beruhige mich damit, dass mein Mann nur überarbeitet ist und ein bisschen Ruhe braucht. Sicher sieht im neuen Jahr alles schon wieder ganz anders aus. Manchmal muss man nur aus dem Alltag ausbrechen, um nach einer Woche zu erkennen, dass man es zu Hause gar nicht so schlecht hat.

In der Küche stehe ich an der Arbeitsplatte mit einem Schäler in der Hand, eine Schüssel und eine Tüte Möhren vor mir, und höre immer wieder Thomas’ Worte.

„Und ich bin sowieso immer der Depp, weil ich nicht nach deiner Pfeife tanze.“

Bin ich wirklich so furchtbar und herrschsüchtig? Ich weiß, dass ich ihm in den letzten Monaten fiese Dinge vorgeworfen habe. Auf der anderen Seite hat auch er keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu provozieren. Wie oft ist er erst um neun angeheitert aus dem Büro gekommen, nachdem er ein Feierabendbier mit einem Kollegen getrunken hat, ohne es vorher anzukündigen? Wie oft ging er den ganzen Tag nicht ans Telefon und meinte nur flapsig, er hätte meine Anrufe nicht gehört? Wie oft vergaß er wichtige Sachen, etwa Emma zum Impftermin zu bringen, und vertuschte seine Fehler, anstatt sich zu entschuldigen? Ich will den Mann zurück, der nach Noahs Geburt zwei Wochen Urlaub genommen hat, um bei seiner kleinen Familie zu sein. Den Mann, der mir Angeln und Reifen flicken beigebracht hat, der mir die Sachen auch dreimal erklärt hat, wenn ich mich doof angestellt habe. Ich will den Mann zurück, der mich davon überzeugt hat, unsere Hochzeitsreise in einem Fischerdorf in Lappland zu verbringen, was der tollste Urlaub meines Lebens wurde.

Ich schließe die Augen und sehe uns, die grünen Wälder und unsere kleine rote Hütte am See. Während dieser zwei Wochen, in denen wir am Feuer selbst geangelten Fisch gegrillt und uns ein Floß gebaut haben, haben wir Noah gezeugt. Ich umklammere mit meiner rechten Hand den Schäler, bis meine Knöchel weiß werden, um nicht wieder zu weinen. Was ist aus uns geworden?

Die Alessandra und der Thomas von jetzt sind von dem Liebespaar in der kleinen Hütte meilenweit entfernt. Ich verwerfe den Plan, Minestrone zu kochen, denn es ist viel zu spät und ich habe keine Lust mehr, Gemüse zu schnippeln. Nicht heute. Ich google nach einem Pizzalieferservice in unserer Nähe und überlege gleichzeitig, Nancy anzurufen, um ihr von meinem Horrortag zu berichten.

Nancy, meine beste Freundin seit unserer Uni-Zeit, selbst Mutter und mit einem schwierigen Ehemann ausgestattet, hat immer ein offenes Ohr für mich. Ich wähle ihre Nummer, doch es meldet sich nur die Mailbox. Ich versuche es ein zweites Mal, bis mir einfällt, dass sie am Mittwochabend immer zum Yoga geht. Lisa, meine andere beste Freundin, ist mit ihrem neuen Freund auf Gran Canaria, und ich will ihre Zweisamkeit nicht stören. Meine Schwester Eleonora sitzt um die Zeit vermutlich noch in der Uni, und sowohl Mama als auch Nonna Lucia sind sauer auf mich und würden sowieso nicht zuhören. Ich weiß, dass ich irgendwann zumindest Mama anrufen muss, auf jeden Fall vor Heiligabend, damit ich versuchen kann, unseren Streit zu beenden. Egal wie schwierig unser Verhältnis ist, ich kann unmöglich mit reinem Gewissen Weihnachten feiern, ohne vorher mit ihr Frieden zu schließen.

Ich wähle die Nummer von Call-a-Pizza und bestelle zwei Jumbo-Salamipizzen und eine Packung Häagen-Dazs-Eis mit Karamellsoße. Dann massiere ich meine rechte Schläfe, lege das Telefon auf den Tisch und lasse mich auf den Stuhl plumpsen. Zumindest das Thema „Abendessen“ ist erledigt.

Als ich die mittlerweile leeren Pizzakartons in die Papiertonne quetsche, ruft mein Vater an.

„Allora?“, fragt er mit seiner dunklen, kräftigen Stimme, die sich wie Sandpapier anhört. Seit ich denken kann, beginnt er grundsätzlich jedes Gespräch mit diesem „Allora“. Ich putze meine fettigen Finger an einer Serviette ab und murmele ein „tutto bene“, alles gut, während die Kinder vom Tisch aufstehen und in ihr Zimmer rennen. Ich laufe ins Schlafzimmer und fange an, die trockene Wäsche zu falten, während Papa über den Mitarbeiter vom Gesundheitsamt herzieht, der gestern seinen Laden besucht hat. Seit dem Konkurs seiner Baufirma vor zwanzig Jahren lebt er von den bescheidenen Einnahmen eines Tante-Emma-Ladens, den er mit seiner kolumbianischen Frau Luz betreibt. Trotz seiner geringen Kaufkraft ist seine Eloquenz nicht weniger geworden.

„Wie ein Schwein hat er ausgesehen, und genauso gestunken, diese Gesundheitsamtssau! Und dann geht er mir auf den Keks, weil die Tiefkühltruhe angeblich nicht ordnungsgemäß funktioniert. Schikane ist das! Sollen sie die Arschlöcher belästigen, die Millionen klauen und in St. Moritz Ski fahren! Die CIA, die Ärsche im Vatikan, eure tolle Kanzlerin, die stecken alle unter einer Decke!“ Mein Vater wäre nicht mein Vater, ohne seine Verschwörungstheorien. „Hmmm“, murmele ich.

„Unsere Juve hat übrigens am Sonntag Neapel geschlagen!“, wechselt er zu einem euphorischen Ton. „Gigi hat schon wieder gehalten!“ Gianluigi Buffon, der legendäre Torwart von Juventus Turin, wird von Papa immer nur Gigi genannt, um seine emotionale Bindung zu ihm zu unterstreichen. Ich erinnere mich nicht daran, dass er mir oder Eleonora je einen Spitznamen verpasst hätte.

„Super“, flüstere ich, während ich eine löchrige Unterhose von Thomas aus dem Wäschehaufen aussortiere.

„Sag mal, was hast du denn?“, fragt er plötzlich.

„Nichts.“

„Kauf ich dir nicht ab. Du hörst dich an, als ob jemand dich gerade niedergeknüppelt hätte.“

„Ist aber nicht so“, sage ich. Einen Augenblick lang überlege ich tatsächlich, Papa reinen Wein einzuschenken und ihm von mir und Thomas zu erzählen. Doch von einem Mann, der behauptet, romantische Liebe sei so vergänglich wie ein Furz im Fahrstuhl, möchte ich mich gerade nicht trösten lassen. Und überhaupt ist es immer schwierig, mit Papa über etwas anderes als Politik und Fußball zu sprechen, ohne dass er nach zwei Minuten versucht, das Thema zu wechseln.

„Den Kindern geht es gut?“

„Ja.“

„Thomas auch?“

Ich seufze. „Ja.“

„Wann fliegt ihr nach Italien?“

„Gar nicht. Dieses Jahr gar nicht. Zu lange Geschichte. Ich brauche meine Ruhe und hab keine Lust auf Mamas Weihnachtsinszenierung.“

Er prustet los, bis sein Lachen in einen Hustenanfall übergeht. „Scheißerkältung“, grölt er.

Ich höre das Klacken eines Feuerzeugs, mit dem er sich die wahrscheinlich fünfzigste Zigarette des Tages anzündet. Ich sehe ihn vor mir, in den übergroßen Pantoffeln in den Farben von Juventus Turin, wie er die Asche in den überquellenden Aschenbecher hereinschnippt, neben ihm ein Teller mit den Mandarinenschalen, der dort bleibt, bis Luz ihn wegräumt. „Im Ernst. Was ist passiert?“, fragt er.

„Ich habe mich mit Mama gestritten.“

„Als ob das eine Neuigkeit wäre.“

„Nein, diesmal ist es anders“, sage ich. „Ich habe ihr meine Meinung klipp und klar gesagt. Jedes Mal komme ich mir an Weihnachten vor wie in einer Zirkusvorstellung. Meine Karriere, meine tollen Kinder. Und wir sind sowieso die Besten. Oder es geht darum, was du für ein furchtbarer Ehemann warst. Tiefergehende Gespräche, egal zu welchem Thema, sind nicht möglich.“

Mein Vater räuspert sich. „Und das bewegt dich?“, fragt er.

„Ja! Dich nicht?“

Ich höre ein dumpfes Geräusch, gefolgt von derben Flüchen. Erst nach einer Minute ist mein Vater wieder da.

„Sorry, der Aschenbecher ist mir auf den Fuß gefallen“, sagt er. „Nein, mich regen deine Mutter und ihre Sippe nicht auf. Sie waren immer so. Und ich habe seit fast dreißig Jahren nichts mehr mit ihnen zu tun. Hast du sie wirklich angerufen und ihr das alles gesagt? Und deine Mutter hat dich ausreden lassen?“

„Nein. Ich habe ihr einen Brief geschrieben. Sie hat ihn gelesen und ist beleidigt, und Nonna Lucia genauso. Sie hat mir heute vorgeworfen, herrschsüchtig zu sein.“

„Ganz im Gegensatz zu ihr!“, kichert er. „Aber mach dir keine Sorgen, die werden ein Weihnachten ohne dich überleben. Ist zwar schade, Luz hatte schon überlegt, was wir den Kindern kaufen sollen. Aber wir holen alles nach.“

„Ja, auf jeden Fall. Mir ist die Entscheidung auch nicht leichtgefallen.“

„Komm, es gibt Schlimmeres. Und deine Mutter wird es überleben, glaub mir.“

Ich setze mich auf die Bettkante, ziehe die Knie an meine Brust und lege den Kopf auf die Beine. Ich sehe vor mir, wie Mama an einem Weihnachtstag vor vielen Jahren in ihrem roten Mantel in unserem Hof steht und ein Taschentuch vor ihren Mund presst, während ich zu meinem Vater ins Auto steige und ihr zuwinke. Ich fühle mich schuldig, weil sie traurig ist und ich glücklich bin, bei Papa zu sein. Aber darüber reden kann ich mit ihm nicht, weil er nur mit den Schultern zucken und sagen würde, dass man nie, aus keinem Grund, weinen oder traurig sein soll.

„Deine Abwesenheit hat für deine Mutter ohnehin einen Vorteil“, fährt mein Vater fort.

„Und zwar?“

„Sie kann die ganzen Süßigkeiten allein essen! Dann wird sie noch dicker!“ Ich höre, wie er in einen Lachanfall ausbricht. Zumindest hat einer von uns Spaß, denke ich, als ich ihm eine gute Nacht wünsche und auflege.

Kein Weihnachtsessen ohne Nonna Lucia

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