Читать книгу Die Kinder Paxias (Leseprobe XXL) - Laura Feder - Страница 4

Kapitel 1

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Der Sturm war so schnell ausgebrochen, wie er unbarmherzig war. Alles mit sich reißend, tobte er durch ihre kleine Welt, nichts übrig lassend, was nicht fest verwurzelt in der Erde stand.

Nicht einmal vor dem Himmel machte er halt, er wischte den Tag einfach fort und hinterließ einen nachtschwarzen Horizont. Die Luft war erfüllt von grauem Nebeldunst, Schrecken und Angst.

Schreie der Panik wurden durch den Sturm fortgetragen, dass die ganze Welt die Melodie des Schreckens hörte. Sie erzitterte.

Es war der Weltuntergang, alle waren überzeugt davon. Das Ende konnte nicht mehr weit sein.

Brücken wurden krachend von ihren Pfählen gerissen und durch den Wind fortgetragen, Dächer von Häusern gefegt und ganze Ställe ins Nichts der Nacht gesogen.

Man sah brechende Augen von Tieren, die von wehenden Balken erschlagen wurden. Canidae, die versuchten, ihren Herrn unter einem umgestürzten Baum hervorzuholen und verzweifelt heulten. Riesige Wellen, die Fischerboote umschlossen und verschlangen.

Es war dämonisch, düster und unendlich machtvoll – so, als wüteten unkontrollierbare Kräfte.

Die Beobachter sahen dem Ganzen mit Schreck geweiteten Augen zu. Auch sie hatten niemals etwas Derartiges erlebt.

Angst und Unglaube lag in ihren Mienen. Selbst aus ihrer Distanz war dies die schlimmste und unheimlichste Katastrophe, die jemals über die Welt hereingebrochen war.

Sie standen wie erstarrt an ihren riesigen Fenstern, die einen unbegrenzten Ausblick auf das graue Dunkel ermöglichten. Totenstille herrschte in dem gewaltigen Saal. Lediglich das Knistern der brennenden Fackeln war zu hören.

Ein dumpfer Aufschlag riss sie aus ihrer Lethargie.

Aufschreiend stolperten sie zurück, als der Wollhufer gegen die Scheibe knallte und im Fallen eine dicke Blutspur hinterließ. Ursache war eine tiefe Kopfwunde über glanzlosen Augen.

„Jetzt reicht es!“ Die energische Stimme durchschnitt den Schock der anderen, die zusammenzuckend sich der Quelle zuwandten.

Eben diese wirbelte auf dem Absatz herum und strebte mit langen Schritten dem Ausgang des Aussichtssaales zu.

„Was habt Ihr vor, Iain!“, rief ihm ein wesentlich älterer Mann zu und versuchte ihn einzuholen.

Der andere blieb stehen, wandte sich aber nicht um. Seine Stimme war ruhig und voll, im Gegensatz zu der des Alten, die heiser aus dessen Brust röchelte. Doch vielleicht war es auch nur die Panik, die dies verursachte.

„Ich will sehen, ob Hilfe gebraucht wird. Du siehst doch, was da draußen los ist. Vielleicht sind Kinder irgendwo, die nicht nach Hause kommen, oder Verwundete.

Hier untätig herumstehen und glotzen, das kann ich nicht.“

„Nach draußen auch nicht, seht doch nur, was da passiert. Wie wollt Ihr da etwas ausrichten?“

Iain drehte sich widerwillig um und folgte der weisenden Hand seines Beraters zum Fenster.

Doch – es herrschte Stille.

Der Sturm war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nur Nebel und schwarze Nacht erinnerten noch daran.

„Ich hoffe sehr viel.“ Er lächelte leicht, ohne sich die Verwunderung anmerken zu lassen.

„Nun, da alles vorbei ist, müssen Überlebende geborgen und zerstörte Behausungen wieder aufgebaut werden. Außerdem wird man Kräuter für Medikamente benötigen.

Ich werde Cecil aufsuchen und ihn um Hilfe bitten.

Jetzt hast du wohl nichts mehr dagegen vorzubringen oder, Janos?“

Nur mühsam folgte der Berater seinen Worten. Das plötzliche Ende des Sturmes hatte seine Sinne verwirrt, er brauchte einige Momente, bis er sie wieder beisammen hatte. Entsetzt sah er auf den hochgewachsenen Mann vor sich.

„Was ist, wenn es nur eine vorübergehende Ruhe ist und der Sturm erneut losbricht? Seht nach draußen, Iain, der Nebel, die Nacht, all das steht noch drohend vor uns.

Keiner von uns hat es beschworen.“

„Ganz recht, Janos, keiner von uns.

Meinst du wirklich, dass derjenige, dessen Macht so groß ist, dass er unsere beherrschen kann, uns hier in unserem Reich nicht ebenso gefährlich werden kann wie den Lebewesen unter uns?“

Mit diesen Worten verließ er endgültig den Saal und ließ seinen Berater nachdenklich und mit hängenden Schultern zurück.

Immer diese Überbesorgnis, als ob er nicht selbst auf sich aufpassen könnte. Er war den Kindesbeinen doch nun lange genug entwachsen, dachte er belustigt, während er die an diesem Tag besonders endlos anmutenden Gänge und Treppen entlanglief.

Die Schuhe aus weichem Leder erzeugten kein Geräusch auf den polierten Steinfliesen, niemand begegnete ihm, und so erreichte er ungehindert die Tür zum Park, der von der Burg eingeschlossen wurde.

Endlich im Freien!

Er hob das Gesicht an und kostete die Luft. Sie war schwül, ein wenig schwer, aber noch weich genug für ihn.

Mit einem kurzen Anlauf sprang er hoch und flog über die gewaltigen Mauern seiner Heimat, sie hinter sich lassend.

Es waren freie Momente für ihn, wenn er seine Welt verlassen konnte und in die Welt der Paxianer eintauchte. Wenn er für eine kurze Zeit seine Mächte einfach mal vergessen, einfach jung sein, er selbst sein durfte, nicht an die ewige Verantwortung erinnert wurde.

Iain konnte nicht anders, er schrie seinen Jubel hinaus, erhöhte sein Tempo und dekorierte seinen Flug mit ein paar übermütigen Drehungen.

Er freute sich. Vielleicht würde er Cecil treffen, seinen besten Freund. Zusammen wäre ihre Hilfe viel wirksamer, ja, mit vereinten Kräften würden sie mehr erreichen.

Doch war der Nebel ein wenig lästig, wie er feststellen musste, als er um ein Haar Bekanntschaft mit einem Baum gemacht hätte.

Etwas aus der Fassung geraten, beschloss er seinen Weg auf dem Boden zurückzulegen, bis man mehr als die Hand vor Augen sah.

Es war aber auch wirklich eine zähe Brühe. Iain hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Er glaubte fast, sie berühren zu können. Er streckte den Arm aus. Der Nebel verschlang ihn augenblicklich, er ließ nur den Oberarm zurück.

„Als wäre er lebendig“, murmelte Iain, den Arm hastig bewegend, versuchend, das milchige Grau zu vertreiben.

Zu seiner Überraschung funktionierte es, der Nebel wich von seinem Arm zurück, er konnte ihn wieder vollständig sehen.

„Das ist ja richtig unheimlich. Was für Mächte sind hier am Werk?“, fragte er sich mehr als erstaunt und begann mit einem Finger darin zu rühren, als ob er mit Wasser spielen wollte. Tatsächlich reagierte der Nebel wie jenes und nahm die Bewegung an.

„Mächte, die offensichtlich keine Ahnung haben, wie sie mit sich umzugehen haben – noch nicht“, so seine Schlussfolgerung.

Er ließ von seinen Versuchen ab, um seinen Weg fortzusetzen, da hörte er nicht weit entfernt ein Geräusch.

Er horchte genauer – wieder das gleiche – er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein leises Stöhnen, vermutlich lag jemand verletzt in der Nähe.

In der Hoffnung, es handelte sich nicht um den bösen Scherz eines Dämons, folgte er langsam den schmerzvollen Lauten. Er konnte nicht weit weg sein von der Unglücksstelle.

„Hallo! Ist jemand da? Kann ich Euch helfen?“

Keine Antwort. Einzig das Wimmern war als Reaktion zu deuten.

„Wo seid Ihr? Ich kann Euch nicht finden!“

Stille!

Es war nichts mehr zu hören. Entweder seine Sinne hatten ihn genarrt oder die Person hatte das Bewusstsein verloren.

Verdammt, man konnte auch gar nichts erkennen.

Iain fluchte leise, als er gegen einen Dornbusch stolperte. Blut sickerte aus mehreren Wunden und beschmutzte sein weißes Hemd.

Er stellte sich die Frage, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, erst auf das Verschwinden des Nebels zu warten, bevor er den Schutz der Burg hätte verlassen dürfen.

Wie auf Kommando veränderte sich das Grau. Iain glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als sich die dichte Masse in eine rauchartige Substanz zu verwandeln begann. Sie schien ihm einen Weg weisen zu wollen – denn die Ver­wandlung war örtlich begrenzt.

„Das glaubt mir keiner“, murmelte er verwirrt, als er zuerst Bäume, dann Büsche und schließlich den Boden erkennen konnte.

Er blinzelte zweimal, da vorne im Laub blitzte doch etwas.

Er beschleunigte seine Schritte. Der Laubhaufen war groß genug, einen Körper vor seinen Blicken zu verbergen.

Ohne weiter nachzudenken, kniete er sich davor und begann in den Blättern zu wühlen.

Als Erstes sah er die Hand. Sie war klein, wunderbar geformt und – eiskalt.

Iain zuckte erschrocken zurück. Mit noch viel größerer Hast räumte er das Laub weg, um das arme Geschöpf zu befreien. Bald erkannte er auch den blitzenden Gegenstand, der ihn zuvor angelockt hatte.

Es war ein breiter, silberner Halsschmuck, der einen abnehmenden Mond darstellte, mit einem Auge aus einem dunkelblauen, geschliffenen Stein. Er schien ihm seltsam bekannt, und als er seinen Blick davon losriss, stockte ihm der Atem.

Vor ihm lag das faszinierendste Wesen – Mädchen –, das ihm je begegnet war.

Ihre nahezu schneeweiße Haut war mit einem silbrigen Schimmer überzogen. Tiefschwarze Locken, die ihr weit in den Rücken fallen mussten, ringelten sich kreuz und quer um ihr und auf ihrem Gesicht. Doch am auffälligsten war ihr einzigartiger Mund. Der Schwung ihrer Lippen schien von einem Künstler gezeichnet worden zu sein, der einem Schwarz-Weiß-Gemälde einen farbigen Akzent hatte geben wollen, denn sie glänzten in einem silbrigen Rosa.

Sie waren geöffnet, so dass sie den Blick auf ebenmäßige Zahnreihen freigaben, und …

Sie atmete nicht.

Diese Entdeckung riss ihn aus seiner Starre.

Hier war schnelles Handeln angebracht. Aufgeregt tastete er nach ihrem Puls und erschrak abermals über die Kälte ihrer Haut.

„Komm schon, halt durch! Ich habe Tausende von Fragen an dich.

Wo kommst du her? Wer bist du? – Was bist du?“, stieß er hastig hervor, während er an ihrem Handgelenk entlangfuhr, auf der Suche nach einem Lebenszeichen.

Es war ein ganz schwaches Puckern, sehr langsam, aber eindeutig vorhanden.

Iain atmete erleichtert auf.

Sie lebte – und sie brauchte offensichtlich schnellstens einen Mediziner.

Sie waren nicht weit entfernt von seinem Zuhause.

Ohne lange zu überlegen, hob er sie, sich aufrichtend, empor. Obschon es ihm keine große Mühe bereitete, war er doch verblüfft, wie schwer sie in seinen Armen lag. Bei ihrer Schlankheit hätte er nicht so viel Gewicht erwartet.

Er wollte sie ein wenig umbetten, damit er nicht beim Fliegen behindert war. Doch als er den Arm bewegte, stöhnte sie leise auf. Ein gequälter Zug erschien um ihren Mund, was ihn zu höchster Eile veranlasste.

Mit aller Vorsicht, die ihm möglich war, flog er los, die heimatliche Burg ansteuernd.

„Nur noch ein paar Minuten Geduld, gleich sind wir da. Dann kommst du in ein warmes Bett und unsere Medizinerin wird dir helfen, wieder gesund zu werden. Bei uns bist du sicher, da kannst du wieder alle Kräfte sammeln, die du brauchst, und in Ruhe genesen.“

Iain wusste nicht, ob sie ihn hören, geschweige denn verstehen konnte. Er redete, um sich selbst zu beruhigen, um diese Ruhe auf sie ausstrahlen zu können. Er wollte, dass sie spürte, dass sie nicht allein war und keine Angst zu haben brauchte.

Sie sollte sich am Leben festhalten, nicht aufgeben, nun, da Hilfe in nächster Nähe wartete.

Außerdem war er unendlich begierig darauf, sie kennenzulernen. Er wollte wissen, was für ein Wesen sich hinter diesem fremdartig schönen Körper verbarg.

Doch zunächst musste sie gerettet werden.

Er machte sich nicht die Mühe, über den Park die Burg zu betreten. Stattdessen wies er einige Leute im großen Saal an, eines der Fenster zu öffnen. Diese beeilten sich seiner Aufforderung nachzukommen.

Es waren noch immer nahezu alle Bewohner versammelt, die zuvor mit ihm den Sturm beobachtet hatten. Sein Berater eilte ihm mit besorgt entsetzter Miene entgegen, aber Iain beachtete ihn vorerst nicht.

Er winkte einem kleinen Jungen zu.

„Miro, lauf und hol Colia!“

Ohne zu zögern folgte das Kind seinem Befehl und rannte hinaus. Iain schmunzelte über den Eifer des Jungen, dann wandte er sich Janos zu.

„Das Mädchen braucht ein Zimmer.“

Der ältere Mann keuchte auf, er rang seine Hände.

„Iain, das ist kein Mädchen, es ist ein Dämon! Seht es Euch an, das ist nicht von unserer Welt, es gehört nicht hierher. Ich bitte Euch, bringt es schnell fort. Wer weiß, was es uns antun wird.

Vielleicht brachte es diesen Sturm!“

Iains Lächeln gefror augenblicklich. Mit drohend blitzenden Augen fixierte er sein Gegenüber.

„Ich bitte dich, Janos, sie ist schwer verletzt und braucht unsere Hilfe. Wahrscheinlich hat der Sturm sie so zugerichtet, sie hat ihn nicht verursacht. Was hat aus dir so einen Feigling gemacht?“

„Ich bin kein Feigling, Iain, aber in letzter Zeit sind so viele unerklärliche Dinge geschehen, dass man vorsichtig sein muss. Und dieses Wesen ist nicht von unserer Art – wir wissen nichts über sie.

Bringt sie zurück, und ihr Volk wird sich bestimmt um sie kümmern.“

Janos war ehrlich entsetzt über den Vorwurf Iains, er blickte ihn voller Verständnislosigkeit an. Dies war noch gar nichts im Vergleich zu Iains Fassungslosigkeit.

Er begriff die Abwehr seines Beraters nicht.

Doch nicht nur dieser, auch die anderen aus dem Saal fixierten das völlig hilflose, dem Tode nahe Mädchen auf seinen Armen mit einer Mischung aus Angst und Ablehnung. Keinerlei Mitgefühl zeichnete sich auf ihren Mienen ab.

Sie standen einfach da und starrten auf das Wesen, das so anders aussah als alles, was sie bisher zu Gesicht bekommen hatten. Einige wichen auch angewidert zurück, so dass Iain Zweifel kamen, ob er sich wirklich in seiner Heimatburg befand, oder es vielleicht eine Parallelwelt gab, in der seine Leute zu kaltherzigen Sklaven ihrer Zweifel geworden waren, die keinen Blick für außergewöhnliche Schönheit hatten. Auch wenn diese von anderer Art war.

„Was ist los?“ Den Jungen Miro an der Hand, schritt die hochgewachsene Gestalt der Medizinerin in den Saal und blickte suchend durch die Reihen der Schweigenden.

Wenn sie überrascht war von deren abweisenden, verkrampften Gesichtern, so ließ sie sich das nicht anmerken. Vielmehr suchte sie nach der Quelle derselbigen.

„Colia!“, rief Iain aufgeregt, die Last in seinen Armen ermüdete ihn. Außerdem ging es dem Mädchen auch nicht besser, wenn er nur mit ihr herumstand und über ihr Bleiben diskutierte.

Als ihre Blicke sich trafen und sie ihn so warm wie stets anlächelte, atmete er erleichtert auf. Doch dann entdeckte sie das Mädchen und erstarrte.

„Sie ist verletzt“, erklärte er eindringlich, bevor sie überhaupt zu Wort kommen konnte.

Er wollte nicht auf noch mehr Ablehnung stoßen. Am allerwenigsten von der großherzigen, energischen Frau am Eingang des Saales. Diese musterte ihn ernst.

„Das sehe ich, Iain, aber warum hast du mich hierher rufen lassen?

Sie gehört in ein Bett, damit ich sie untersuchen kann. Oder soll ich eine Ferndiagnose stellen?“

An dieser Stelle fand Iain sein Lächeln wieder. Er wandte sich nochmals an seinen Berater, dessen unveränderte Skepsis ignorierend.

„Wir brauchen ein freies Zimmer.“

Es war als Aufforderung gedacht, und obwohl Janos niemals Widerspruch gegen Colias Entscheidungen wagen würde, so schwieg er zumindest in innerer Auflehnung gegen die Vorstellung, dieses Wesen würde wochenlang, vielleicht sogar monatelang unter ihnen weilen – wenn es sie nicht zuvor alle vernichtete.

Die anderen im Saal schlossen sich seiner Haltung an. Niemand sagte etwas.

Iain schnaufte verächtlich.

„Bei allen guten Mächten Paxias, ich bin von Feiglingen umgeben.

Wir nehmen mein Zimmer, Colia!“

Damit kehrte er der Gesellschaft den Rücken und trat zu ihr, die mit strengen Augen um sich sah.

„Ich werde Hilfe brauchen.“ Sie sagte es laut genug, dass alle es verstehen konnten. Keiner reagierte.

Colia seufzte auf und sah Iain fragend an.

Er zuckte die Schultern, was der Verletzten auf seinen Armen abermals ein leises Wimmern entlockte.

Eine Träne fiel auf seine Hand, hinterließ einen schimmernden Film auf seiner Haut.

Sein Entschluss stand fest, noch bevor der winzige Tropfen den Boden berührte.

„Sie braucht Hilfe. Was soll ich tun?“

„Bring sie auf dein Zimmer, ich hole meine Sachen und komme dann nach.“

Ohne irgendwem aus dem Saal weitere Beachtung zu schenken, trennten sich die beiden.

Colia lief in ihr Turmzimmer zurück, um ihre Utensilien zu packen, und Iain flog mit der Unbekannten zu seinem Schlafraum unweit des Saales. Er wollte ihr keine weiteren Schmerzen bereiten, indem er sie den Erschütterungen eines Laufes aussetzte.

Dann, endlich, legte er sie auf sein Bett nieder.

Aufatmend lockerte er seine Arme. Das Mädchen rührte sich nicht. Wenn sie nicht ihr Gesicht so schmerzvoll verzogen hätte, würde er nicht glauben, dass sie überhaupt noch am Leben war.

Hoffentlich konnte Colia sie retten, sie schien noch so jung.

Er war davon überzeugt, dass sie einige Jahre jünger als er selbst war. Ihre Züge wiesen noch keine Unregelmäßigkeiten auf, sie konnte die sanften Rundungen eines Kindergesichtes noch nicht lange verloren haben, die volle Weiblichkeit noch nicht lange besitzen.

„Dann wollen wir mal.“ Colia stellte ihren Medizinbeutel auf einem Stuhl ab und schloss kurzerhand die Tür hinter sich ab.

„So kann uns wenigstens niemand stören!“, erklärte sie augenzwinkernd, wurde aber gleich wieder ernst, als sie ans Bett trat.

Ihre Augen glitten forschend über den Körper des Mädchens, während Iain unaufgefordert begann, ihre Utensilien auszupacken. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Colia neben der Patientin niederließ und mit der Hand Stirn und Puls befühlte.

Er wunderte sich ein wenig, warum sie nicht vor der Kälte des Mädchens zurückschreckte, wie er es zuvor getan hatte.

„Ist sie schon die ganze Zeit bewusstlos?“, wollte Colia ruhig wissen.

Mit der gleichen Ruhe zog sie der Unbekannten ihre silbernen Reifen von den Oberarmen und begann den Halsschmuck aufzunesteln.

Iain trat nachdenklich hinzu. Er ließ die vergangene Stunde noch einmal in seinem Geist aufleben, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich kann es nicht genau sagen, mir schien ihr Zustand die ganze Zeit unverändert. Anfangs dachte ich sogar, sie wäre tot. Sie ist so kalt, und sie atmet kaum, auch den Herzschlag ertastete ich nur mit Mühe.“

„Sie atmet nicht kaum, sie atmet überhaupt nicht“, korrigierte Colia ihn nachsichtig lächelnd.

Iain riss entsetzt die Augen auf. Er blickte zwischen den Frauen entgeistert hin und her.

„Heißt das, sie ist …? Aber ihr Herz schlägt doch noch, … und sie hat doch offensichtlich Schmerzen!“

Colia erhob sich und legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. Sie hielt seine Augen mit eindringlichem Blick fest.

„Iain, ihre Körpertemperatur muss dem Gefrierpunkt entsprechen, und sie hat eine kaum fassbare Herzfrequenz.

Es gibt nun einmal Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht erklären können, und bei diesem Mädchen ist es doch offensichtlich, dass sie keine Paxianerin ist.

Wir wissen nicht, wie vielen Kindern Paxia außer uns noch das Leben geschenkt hat. Wahrscheinlich gehört sie einem dieser unbekannten Sagenwesen an.“

„Aber woher genau kommt sie? Was ist sie?“, murmelte er hilflos.

Colia lachte, es klang unbekümmert.

„Wir werden es erfahren, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist.

Jetzt sollten wir lieber herausfinden, was ihr fehlt, und ihr Ruhe gönnen. Ihre Arme habe ich bereits untersucht, es ist nichts gebrochen. Also hilf mir sie zu entkleiden, damit ich weitersehen kann.“

Iain wusste, dies war normalerweise eine Tätigkeit, die sie mit einer Frau zusammen durchführte, um die Intimsphäre der Patientin zu schützen. Er versuchte so neutral es ihm möglich war, an diese Aufgabe heranzugehen.

„Sieh dir nur diese Stoffe an. Ich habe niemals etwas Derartiges zuvor gesehen.“ Colia bewunderte fasziniert die zwei verschiedenen Gewebe, aus denen die Kleidung der Unbekannten bestand.

Das eine war ein hauchfeines Überkleid, das aus dem dunklen Silber von Sternen gewoben schien. Es ließ die Schultern des Mädchens frei und reichte ihr vorne bis zum Knie, hinten fiel es bis fast zum Boden.

Ein schwerer Gürtel, besetzt mit silbernen Monden, hielt es in der schmalen Taille zusammen.

Der Stoff des langen, schwarzen Trägerkleides darunter war wesentlich schwerer und am Oberkörper sehr eng anliegend.

Colia wies Iain an, den Gürtel zu lösen und das Mädchen aufzusetzen, damit sie ihr das Überkleid ausziehen konnte. Das Unterkleid stellte ein wesentlich größeres Problem dar. Bis sie den Schließmechanismus entdeckt hatten, war eine ganze Zeit vergangen.

„Normalerweise stelle ich mich geschickter beim Ausziehen einer jungen Dame an“, lästerte Iain über sich selbst, während er die Schnürung an der Seite des Kleides löste.

Colia musterte ihn nur ironisch.

„Normalerweise ziehst du sicher nicht solch ein Mädchen aus.“

Nein, wirklich nicht, dachte er und ertappte sich dabei, dass er die Vorstellung genießen würde. Aber da wusste er auch noch nicht, was ihn unter den Kleidern erwartete.

Jedenfalls nicht das, was er letztendlich zu sehen bekam – einschließlich der Antwort, warum sie so schwer gewesen war.

Sie war einfach vollkommen.

Sprachlos betrachtete er die nackte Schönheit des Mädchens.

Sie war aufregend weiblich, mit schier endlosen Beinen, einer schmalen Taille und einem wunderbar geformten Busen, dessen Spitzen eben jenes reizvoll silbrige Rosa besaßen wie ihre Lippen.

Nur mühsam widerstand er dem Drang, sie zu berühren. Alles an ihr zog ihn an, brachte seinen Körper in Aufruhr.

Oder war es doch nur Neugier?

„Sie wird keinen Spaß verstehen, wenn sie wieder zu Bewusstsein kommt. Sie muss eine Kriegerin sein.“ Colia, die ihn durchschauen konnte wie ein offenes Buch, riss ihn aus seinen verbotenen Gedanken und brachte ihn zurück in die Realität.

Um sich nicht der Gefahr auszusetzen, verlegen zu erröten, beschäftigte er sich mit Colias Vermutung.

Er musste ihr innerlich Recht geben. Neutral betrachtet, waren die Muskeln der Unbekannten, bei aller Weiblichkeit, so ausgeprägt definiert, dass sie sich bestimmt zu wehren wusste.

Seltsamerweise erregte ihn dieser Gedanke noch mehr.

Unzufrieden mit seiner mangelnden Disziplin, sprang er auf und lief unruhig im Zimmer umher, versuchte zu übersehen, wie Colia den Körper nach möglichen Verletzungen abtastete.

Um sich abzulenken, holte er ein weißes Hemd aus dem Schrank, das sie dem Mädchen nach Abschluss der Untersuchungen anziehen konnten. Das brachte ihn dann hoffentlich auch von seinen unangemessenen Fantasien ab, die immer lebendiger – und erotischer – zu werden schienen, je mehr er sich dagegen wehrte.

Ein leiser Schrei drang vom Bett zu ihm durch, worauf er sofort an Colias Seite stand und besorgt das schmerzverzerrte Gesicht des Mädchens betrachtete.

„Sie hat sich den Unterschenkel gebrochen. Ich fürchte, ich werde den Bruch richten müssen.

Halt sie bitte fest, Iain, sie darf sich dabei nicht rühren.“ Colia leitete ihn an das Kopfende des Bettes und zeigte ihm wie er sie fixieren musste – nicht, ohne dem Mädchen zuvor mit bedeutungsvollem Grinsen das Hemd überzuziehen.

Iain hatte nichts dagegen. Dieses Wesen brachte ihn dermaßen aus der Fassung, dass er sich sicher nicht auf seine Aufgabe hätte konzentrieren können, wenn er ihren nackten Busen direkt vor den Augen gehabt hätte – seine Hände in Reichweite.

„Festhalten, Iain!“, mahnte Colia noch einmal, dann zog sie mit einem kräftigen Ruck an dem betroffenen Bein.

Er war auf alles gefasst gewesen, aber nicht auf diese Augen.

Der plötzliche Schmerz, der durch den Körper der Verletzten raste, musste sie aus ihrer Bewusstlosigkeit gerissen haben.

Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie Iain an.

Es war nichts, was er jemals zuvor gesehen hatte. Es war wie funkelnder, schimmernder, dunkler Nachthimmel voller Sterne. Überwältigt von dieser Schönheit wich er zurück.

Dann kam der Schrei.

Er schien aus ihrem tiefsten Innern zu kommen, ihrer Seele zu entfliehen. Ihr Körper bäumte sich mit ihm auf, fand keinen Halt.

„Iain!“, schrie Colia hinter ihm und riss ihn endlich aus seiner Lähmung. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Schultern des Mädchens.

Doch es wurde zum Kampf.

Ihre Stärke war seiner ebenbürtig. Sie wehrte sich, rang wild vor Schmerzen um ihre Freiheit.

Dann, endlich, erlöste sie abermals eine wohltätige Ohnmacht.

Schwer atmend lehnte Iain sich an das Kopfende des Bettes, Colia aus halb geschlossenen Augen betrachtend, die den Schienenverband vorbereitete – seelenruhig.

„Ganz schön kräftig die Kleine, oder?“ Die Frage war so betont beiläufig, dass er deutlich Schadenfreude heraushören konnte.

„Du hättest mir ruhig helfen können, schließlich bist du die Medizinerin“, murrte er ein wenig verstimmt.

Colia ließ sich Zeit, sie legte zuerst den Verband an, flößte dem Mädchen eine Kräutermixtur ein und sammelte ihre Sachen zusammen. Dann erst wandte sie sich Iain zu, musterte ihn mit undefinierbarem Blick.

„Ich dachte“, meinte sie dann verschmitzt lächelnd und schloss die Tür auf, „du könntest ein wenig Abkühlung gebrauchen.

Die Kräutermedizin lässt sie ungefähr sechs Stunden schlafen, dann komme ich wieder.

Pass auf sie auf und mach keine Dummheiten.“

Bevor er etwas erwidern konnte, war sie hinausgehuscht. Einigermaßen konsterniert blickte er ihr nach, doch dann siegte sein Humor. Grinsend schüttelte er den Kopf. Diese Frau.

„Iain.“ Janos näherte sich ihm mit einem Zettel in der Hand.

Er verdrehte die Augen. „Was willst du, Janos? Ich hoffe, du verlangst keine weiteren Absurditäten von mir, sonst sehe ich mich gezwungen, einen neuen Berater zu suchen.“

Dieser zuckte ein wenig zusammen angesichts der drohenden Worte, aber er reichte dennoch dem jungen Mann den Zettel. Eine Liste, wie Iain mit prüfendem Blick feststellte. „Was soll ich damit?“

Der Berater beugte sich mit einem verschwörerischen Lächeln vor. „Da dieses … Wesen Euch Eures Schlafplatzes beraubt hat, habe ich mir erlaubt eine Liste der jungen Damen zusammenzustellen, die gern bereit wären den ihren mit Euch zu teilen.“

Die Tür wurde Janos vor der Nase zugeschlagen.

Die Kinder Paxias (Leseprobe XXL)

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