Читать книгу Die Kinder Paxias (Leseprobe XXL) - Laura Feder - Страница 5

Kapitel 2

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Sie kämpfte gegen die Leere in ihrem Kopf an, versuchte dem traumähnlichen Zustand, der ihre Sinne gefangen hielt, sie regelrecht zu lähmen schien, zu entkommen.

Irgendetwas oder irgendjemand hielt sie in einem Bann, doch sie vermochte weder Angst noch Wut zu spüren.

Es musste ein machtvoller Zauber sein, der sie sogar ihrer elementarsten Gefühle beraubt – sie in ein Nichts gestoßen hatte, mit Körper, Herz und Seele.

Vielleicht war dies ja der Tod, und sie befand sich an einem Übergangsort, bis Paxia sie wieder in sich aufnahm, sie wieder ein Teil des Ganzen wurde, bevor die Reise des individuellen Lebens abermals ihren Kreislauf nahm und sie einer neuen Herausforderung entgegenblicken ließ.

Eine Realität, die nahezu ihre Akzeptanz erlangt hatte, als ein Strahl hellen Lichtes den Schleier über ihrem Bewusstsein durchschnitt und sein wohltuendes Zerstörungswerk begann.

Sie spürte ihren Verstand die Herrschaft zurückgewinnen, allem voran mit der Erkenntnis: Sie war unsterblich.

Die Unsinnigkeit ihrer ersten Vermutung überwältigte sie fast und brachte ihr gleichermaßen ihre Willenskraft zurück, die nun gemeinsam mit ihrem Verstand den Kampf um ihr Bewusstsein verstärkt aufnahm.

Mühsam versuchte sie sich zu konzentrieren.

Da sie nicht tot sein konnte, in welch seltsamem Zustand befand sie sich dann?

Und wo befand sie sich?

Und vor allem – wie war sie hierher gekommen?

War sie überhaupt auf Paxia?

Konnte es sein, dass dem Ältesten ein schrecklicher Fehler bei der Aktivierung des Transferturms unterlaufen war?

Oder waren die bösen Mächte, die das Unglück ihres Volkes verursacht hatten, so stark, auch Paxia selbst verschlungen zu haben, und sie war nun ebenfalls eine Gefangene?

Existierte Paxia womöglich gar nicht mehr?

Existierte sie selbst dann auch nicht mehr?

Konnte die Macht eines fremden Wesens solche Ausmaße annehmen, so überwältigend sein?

Nein, das konnte nicht sein – sie spürte es tief in ihrem Innern. Wo auch immer sie war, das pulsierende Leben Paxias umgab sie sicher und beständig – sogar wesentlich intensiver als in ihrer Heimat.

Ihre Sorge war zu sehr von wachsender Panik beherrscht gewesen, hatte ihre Gedanken auf absurde Wege geleitet, die sie mit ruhigen Überlegungen nie beschritten hätte.

Sie hatte ein weiteres Mal zu viel ihre Emotionen über den Verstand siegen lassen – angesichts ihrer Situation verständlich, aber nicht entschuldbar für eine Gelehrte der Sternwächter.

Mit dieser Erkenntnis kehrte ihr Bewusstsein endgültig zurück. Es war, als erwachte sie aus einer Art tiefer Ohnmacht.

Wärme umgab sie, und sie konnte etwas hören, das man ihr oft als das Flackern von Feuer beschrieben hatte. Dazu das leise Knistern der brennenden Holzscheite und die seidige Weichheit, in die sie gebettet lag. Es vermittelte Geborgenheit und ein gewisses Maß an Sicherheit.

Vorsichtig horchte sie in sich hinein, doch zu ihrer Erleichterung, wie auch zu ihrem Erstaunen, verspürte sie keinerlei Schmerz. Dabei war sie sicher, nach dem Transfer mitten im Auge eines Tornados gelandet zu sein.

Dieser hatte sie jedoch gewiss nicht in ein weiches Bett gelegt und unnötigerweise zugedeckt, wo sie Kälte als solche doch gar nicht empfinden konnte.

Mühsam sammelte sie ihre Gedanken und versuchte sich ganz auf ihre Erinnerungen seit dem Transfer zu konzentrieren. Doch jedes Mal, wenn sich ein Bild vor ihrem inneren Auge zusammenzufügen schien, verschwamm alles gleich wieder in dem milchigen Dunst eines Nebels, der diesen Teil ihrer Vergangenheit verschlang.

In jeder anderen Situation hätte sie längst die Nerven verloren. Doch die Atmosphäre um sie herum ließ nicht zu, dass ihr ihre Ruhe genommen wurde.

Nichts davon erschreckte sie.

Nichts beunruhigte sie …

Bis sie bemerkte, dass sie nicht allein war.

Ein leises Rascheln von Stoff, nicht weit entfernt, ließ sie keuchend einatmen – einen Schrei mit aller Kraft zurückhaltend. Sie wollte aus dem Bett springen und sich dem Anwesenden oder sogar den Anwesenden stellen, sich verteidigen, solange sie es vermochte. Vielleicht würde die Tatsache, dass man sie nicht töten konnte, die Fremden dazu bewegen, sie gehen zu lassen. Aus Angst.

Sie konnte sich nicht rühren – ihr Körper war vollkommen gelähmt. Nicht einmal ihre Augen wollten ihr gehorchen und sich öffnen.

Panik machte sich in ihr breit, wie bei einem Tier, das man in die Falle gelockt hatte.

Am liebsten hätte sie wild um sich geschlagen, diese absolute Hilflosigkeit trieb sie an den Rand des Wahnsinns. In ihrem Kopf überschlugen sich Gedankenfetzen, ohne Ordnung, ohne Ziel.

Schließlich erfüllte leidenschaftliche Mordlust auf diejenigen, die ihr das angetan hatten, ihr ganzes Sein. Ihre Energie erwachte und verhalf ihr endlich dazu, mit auftosender Kraft die Augen zu öffnen. Eine einfache Handlung, die sie nun an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit brachte.

Das Feuer war weiter weg, als sie vermutet hatte. Ganz am Ende des Raumes konnte man ein schwaches Leuchten entdecken, wahrscheinlich befand sich dort ein Kamin. Ihr Blick glitt suchend weiter. Auch in der Dunkelheit hatte sie keine Schwierigkeit, jede Einzelheit zu erkennen. Das Zimmer war sehr groß, mit mehreren riesigen Fenstern in den rohen Steinwänden, die sicher für eine fast unbegrenzte Aussicht konstruiert worden waren.

Oder unbegrenzte Kontrolle?

Eine These, mit der sie sich bei Gelegenheit befassen würde.

Ein großer polierter Holzschrank und eine Sitzgruppe entgingen ihrer Aufmerksamkeit ebensowenig, aber da auch sie nicht dem Ziel ihrer Suche entsprachen, schenkte sie ihnen keine weitere Beachtung.

Es war anstrengend, aber es gelang ihr, den Kopf ein wenig zu drehen, so dass sie zu ihrer Linken endlich die Ursache des Raschelns erblickte.

Ihre Panik ließ spürbar nach. Es war nur eine einzelne Person, ein Mann, und er schlief.

Wahrscheinlich war das Rascheln seiner Kleidung einem Positionswechsel zuzuschreiben, soweit das auf dem kleinen Sessel möglich war.

Wo immer sie sich auch gerade befand, dieser Mann hatte offensichtlich die Aufgabe, sie zu bewachen.

Dies war ihre Schlussfolgerung, und sie maß den Fremden abschätzend und auch ein wenig verächtlich. Er war groß, wenn auch kein Riese und recht muskulös, zumindest soweit sie das aus seiner halb liegenden Stellung erkennen konnte. Viel älter als sie schien er auch nicht zu sein. Allerdings konnte sie das nicht endgültig beurteilen, da seine hellblonden Haare – sie hatte diese Farbe noch niemals zuvor gesehen – ihm wirr ins Gesicht fielen und den größten Teil desselbigen verbargen.

Was ihr aber auffiel, war der dunkelgraue Dolchgürtel, der sein weites Hemd an der Hüfte zusammenhielt. Und dieser war leer.

Sie zweifelte keinen Moment daran, dass sie ihn überwältigen könnte, wäre sie im Vollbesitz ihrer Kräfte.

Oder hätte ihren Körper zumindest unter Kontrolle.

Diese Erkenntnis schürte ihre ohnmächtige Wut aufs Neue, Tränen der Verzweiflung verschleierten ihren Blick. Ungeduldig blinzelte sie sie weg, da wurde sie von einem blitzenden Gegenstand auf ihrem Nachttisch abgelenkt – es war offensichtlich der fehlende Dolch. Es kostete sie viel Kraft, das plötzliche Triumphgefühl und das höhnische Auflachen zurückzudrängen. Der Fremde musste ein unglaublich einfältiger Idiot sein oder sie maßlos unterschätzen.

Dennoch beobachtete sie ihn wachsam, als sie versuchte ihren Arm unter Kontrolle zu bekommen. Es war nicht leicht. Auch als er sich endlich auf den Dolch zubewegte, hatte sie das Gefühl, er wäre kein Teil von ihr. Sogar ihre Hand, die sich mühsam um den Dolchgriff schloss, übersandte ihrem Kopf keinerlei Nervenboten. In der Tat, hätte sich in diesem Augenblick der gesamte Arm von der Schulter gelöst, wäre es ihr nicht einmal aufgefallen.

So war es also auch nicht weiter verwunderlich, dass ihr Gehör als Erstes begriff, dass ihre Hand die Waffe nicht sicher genug gehalten hatte und sie ihr entglitten war.

Der Klang des Aufschlags, das Klirren der Schneide auf dem glänzenden Steinfußboden hallte unnatürlich laut in dem großen Raum.

Erschrocken schrie sie auf, entsetzt auf den Fremden starrend, der, aus seinem Schlaf gerissen, mit beeindruckender Schnelligkeit an ihr Bett geeilt war.

Sie sah leuchtend blaue Augen, dann gewann Panik die Macht über sie.

Wild versuchte sie die Decke von sich zu stoßen, stellte dabei im Hinterkopf fest, dass nur ein Bein beweglich war und schlug stattdessen nach dem Fremden.

Doch sie hatte keine Chance. Mit einer enervierenden Ruhe hielt er ihre Arme mit nur einer Hand fest, das Knie auf dem Bett abstützend.

Sie stöhnte dumpf auf und funkelte ihn hasserfüllt an. Blind vor Wut zielte ihr Tritt auf sein Knie – und verfehlte.

Doch zu ihrem Glück und zu seinem außerordentlichen Unglück, traf sie eine andere, eine viel empfindlichere Stelle. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er von ihr ab und sank keuchend zu Boden.

Im gleichen Augenblick erlangte sie die Herrschaft über ihren Körper zurück. Das kaum bewegliche rechte Bein ignorierend, folgte sie ihrem Gegner und griff nach dem Dolch.

Auf ihm sitzend wäre nur eine Handbewegung nötig gewesen, ihm die Waffe durch den Hals zu stoßen, doch er reagierte geistesgegenwärtig.

Ihr Rücken bestand nur noch aus Schmerz, als sie gegen die Wand geschleudert wurde. Ihre Kämpfernatur brauste auf. Mordlustig sprang sie auf ihre Beine, bereit, sich abermals auf ihren Gegner zu stürzen.

Die Flammen in ihrem Unterschenkel raubten ihr beinahe den Verstand. Erschrocken entfuhr ihr ein peinvoller Laut.

Sie wäre in sich zusammengesunken, wäre der Fremde nicht vor ihr aufgetaucht und hätte sie hochgenommen. Es gab kaum ein wirkungsvolles Wehren, ihre Schmerzen lähmten sie zu sehr. Auch ihre Kampflust fand keine Gelegenheit. Wieder im Bett, wollte sie zwar sofort ihren Angriff erneut aufnehmen, aber diesmal war der Fremde vorbereitet.

Es half kein Schlagen, kein Winden, er setzte sich einfach auf sie, ihre Arme über dem Kopf fixierend. Auch ihre wütenden Schreie erstickte er sofort, indem er seine Hand auf ihren Mund legte. Das Einzige, was sie noch zu tun vermochte war, ihn voller Hass und Wut anzusehen.

Doch sie war überrascht, in seinem Blick nichts dergleichen vorzufinden. Im Gegenteil, er schien eher neugierig, ein wenig erstaunt und auch sehr erschöpft. Eine ganze Zeitlang starrten sie sich in verschiedenen Stadien der Abschätzung an, ohne dass sich ihre aggressive Haltung änderte.

„Verstehen wir uns?“, fragte er schließlich mit einer für einen Mann nicht sehr dunklen Stimme. Dabei lockerte er seinen Griff gerade genug, um ihr ein Nicken zu ermöglichen.

Sie reagierte nicht, glaubte so etwas wie Enttäuschung in seiner Miene zu erkennen, während er ergeben aufseufzte.

„Das dachte ich mir fast. Wie kann ich dir jetzt bloß beibringen, dass du hier nichts zu befürchten hast? Dass du hier in Sicherheit bist?

Ich will dir nicht wehtun, wenn du mich nicht dazu zwingst.“

Sie entspannte sich merklich unter ihm. Misstrauen mischte sich in ihren Blick, den Hass ein wenig mildernd.

Er schrieb dies dem beruhigenden Klang seiner Stimme zu und beeilte sich fortzufahren.

Alles war besser als eine Fortsetzung des Kampfes mit ihr. Sie musste unglaubliche Schmerzen leiden, er hoffte inständig, ihr nicht noch mehr davon zuzufügen, während er sie im Bett festhielt.

Aus diesem Grund hatte er vor ihrem Kampf nur ihre Hände ruhiggehalten.

Bei allen guten Mächten Paxias, niemals hätte er gedacht, dass noch so viel Kraft in ihr steckte. Colias Kräutermixtur hätte sie nicht nur sechs Stunden schlafen lassen sollen, sondern für diese Zeit auch ihren Körper betäuben müssen. Nun waren gerade vier Stunden um, und sie war gefährlich wie ein wildes Raubtier. Ihr Angriff hätte ihm sicherlich sein Leben gekostet, wäre er nicht unsterblich und hätte sie nicht ein gebrochenes Bein.

Der Schmerz, der vor wenigen Momenten ihr schönes Gesicht verzerrt hatte, war ihm selbst fast körperlich spürbar gewesen, deswegen hatte er sie mit besonderer Vorsicht zurück ins Bett gebracht. Ungeachtet seines eigenen Zustandes.

Sie hatte ihn tatsächlich an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Er war nur mit Mühe einer Ohnmacht entgangen, und es war mehr ein Reflex gewesen, der ihn sie wegschleudern ließ.

Bei ihrem qualvollen Schrei hatte er seinen eigenen Schmerz übergangen und ihr nur helfen wollen, sich nicht noch mehr zu verletzen.

Und nun, da er auf ihr saß, das äußerst schmerzhafte Pochen in seinem Schritt ignorierend, war er von dem Bestreben erfüllt, ihr ihre wahrscheinlich große Angst zu nehmen und ihn als Freund statt als Feind anzusehen.

„Mein Name ist Iain, ich …“

„Wo bin ich?“, unterbrach sie ihn aggressiv.

Es gab nichts Schlimmeres als formellen Austausch, vor allem, wenn die Fronten weit davon entfernt waren, geklärt zu sein.

Ihre erniedrigende Lage trug auch nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu heben und vorgeben zu können, ein friedfertiger Wächter zu sein. Leider ließ ihr der verlorene Kampf keine Wahl. Er zwang sie zu Verhandlungsbereitschaft.

Und Iain war mehr als erfreut, als ihre klangvolle Stimme ihn herrisch anfuhr. Auch wenn er seine Ansichten über ihre vermutete Angst schleunigst revidieren musste.

Das Wesen unter ihm, dessen angespannte Muskeln er an seinen Beinen deutlich spüren konnte, war eindeutig ein kriegerischer Geist mit einer Unerschrockenheit, von der selbst er sich noch eine gute Scheibe abschneiden konnte.

Er war voller Bewunderung und so erleichtert, dass sie eine Sprache besaßen, dass er ihre Frage ohne Zögern beantwortete.

„Du bist in der Himmelsburg, ich selbst habe dich …“

„Bin ich auf Paxia?“, unterbrach sie ihn abermals ungeduldig. Wollte er ihre Frage nicht verstehen?

„So ähnlich.“ Nun lächelte er sogar über sie. Hatte er denn überhaupt keinen Respekt vor ihrem Kampfmut?

Ihre Wut flackerte erneut auf.

Iain bemerkte seinen Fehler sofort. Offensichtlich teilten sie nicht das gleiche Verhaltensmuster, und er beeilte sich, ihr den Stachel zu nehmen.

„Diese Welt ist Paxia, das stimmt. Doch du befindest dich im Reich des Himmels, weit über der Oberfläche Paxias, dort, wo die Wolken aufhören.“

Nun war es an ihr, überrascht zu sein.

Das Reich des Himmels.

Konnte es sein, dass ihre erste Begegnung auf dieser Welt der lebende Beweis für die Authentizität der Sagen war?

Einen Moment vergaß sie ihre feindliche Haltung.

„Dann bist du ein Sagenwesen?“

„Wenn du es so nennen willst. Zumindest findet man einiges über mein Volk in den Überlieferungen.“

Sie erinnerte sich gut daran. Diese Wesen sollten ohne Flügel fliegen können und große Macht über das Wetter Paxias haben. Sie bestimmten, wann die Sterne Paxias zu sehen waren und wann nicht. Es war an ihnen, den Himmel mit Wolken zu bedecken und den Regen zu beherrschen – wenn die Wesen des Windes ihnen mit einem Sturm nicht die Pläne zunichte machten und die Wolken wegfegten.

Ihre gelehrte Seite drängte ihr unzählige Fragen auf und erweckte ihr Interesse. Doch noch war ihr Misstrauen größer, erst mussten die Unklarheiten beseitigt werden.

„Wie bin ich hierher gekommen? Und was ist mit mir? Was hast du mir angetan?“

Iain zuckte betroffen zusammen. Sie traute ihm keinen Moment, dachte noch immer, sie wäre unter Feinden. Und das war das Letzte, was er wollte. Es war an der Zeit, dieses Missverständnis zu beseitigen.

„Ich habe dich bewusstlos gefunden, nachdem der Sturm vorbei war. Du schienst in Lebensgefahr und große Schmerzen zu haben, also habe ich dich hierher gebracht, damit unsere Medizinerin dir helfen konnte.“

„Der Sturm“, murmelte sie, dann war ihre Erinnerung doch richtig. Der Tornado hatte sie durch die Luft gewirbelt und dann ganz unvermittelt aufgehört. Sie war über einem Wald abgestürzt …

„Heißt das, du hast mich von Paxia fortgebracht!? Ich muss sofort wieder zurück!“

Aufgebracht wand sie sich unter ihm, versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Iain reagierte, indem er sie fest ins Bett drückte und seine Arme gegen ihre Schultern drängte.

Sein Gesicht war dicht über ihrem, dass sie seinen Atem auf ihren Wangen spürte, während er aus eindringlichen grauen Augen ihren Blick suchte.

Fasziniert hielt sie inne, ihr fiel ein, dass in einer der ältesten Überlieferungen vermerkt war, dass Himmelswesen ihre Gefühle nicht verbergen konnten, da ihre Augen, gleich dem Himmel, mit den Stimmungen ihre Farbe wechselten.

Im Augenblick glichen sie einem dicht bewölkten Horizont – sie durfte seiner Betroffenheit glauben.

„Ihr wart verletzt, Fremde. Iain hat Euch retten wollen!“ Colias ironische Stimme durchschnitt die erstarrte Atmosphäre. Beider Köpfe fuhren erschrocken zu der Medizinerin herum, die mit verschränkten Armen an einem Fenster lehnte. Sie war völlig lautlos eingetreten und hatte die beiden eine Zeitlang interessiert beobachtet.

Iain war ein wenig verlegen, sie gaben sicher ein seltsames Bild ab. Doch seine Gegnerin hatte ganz andere Sorgen.

„Ich bin verletzt?!“ Entsetzt sah sie zwischen den anderen hin und her.

Iain nickte ernst.

„Du hast dir dein rechtes Bein gebrochen. Colia hier hat es dir richten müssen.“ Damit wies er auf die Frau, die nun näher getreten war und sie ruhig betrachtete.

„Aber ich darf nicht verletzt sein! Ich habe einen Auftrag, den ich erfüllen muss – so schnell es mir möglich ist!“

„So schnell es Euch möglich ist“, unterbrach die Medizinerin sie bestimmt; den wütenden Blick, der darauf folgte, ignorierte sie. „Und das wird in den nächsten sechs Wochen nicht der Fall sein.

Bei Paxia, Ihr braucht jetzt Eure ganze Kraft für die Heilung. Ich habe Euch extra ein Mittel gegeben, das Euch noch mindestens eine Stunde hätte schlafen lassen müssen, damit der Prozess schneller eingeleitet wird und Ihr keine Schmerzen spüren braucht.“

„Keine Herrschaft über meinen Körper.“ Sie explodierte innerlich. Wie konnten diese Fremden es wagen, ihr so etwas zuzumuten? Andere Lebensweise schön und gut. Andere Denkweise, auch das war akzeptabel. Aber ihr in so einer Art und Weise nahezutreten, das kam einer Vergewaltigung gleich.

„Das ist leider eine unangenehme Nebenwirkung.“ Colia erahnte den Gedankengang des Mädchens und wollte ihr mit Offenheit den Stachel ziehen. Die beiden musterten sich schweigend. Schließlich nickte das Mädchen als Zeichen der widerwilligen Akzeptanz.

„Ich glaube, Iain, unsere Patientin braucht keine Hilfe mehr, die sie ans Bett fesselt. Auch wenn es dir unangenehm ist, du kannst dich jetzt von ihr lösen, damit sie sich vorstellen kann.“ Amüsiert sah sie dem jungen Mann zu, wie er vorsichtig zuerst seinen Unterleib vor ihr in Sicherheit brachte – sie konnte sich in etwa vorstellen, was passiert war, nachdem sie die kriegerische Art der Fremden erlebt hatte – und dann endgültig zurücktrat.

Das Mädchen setzte sich augenblicklich auf, bewegte ihre Arme prüfend, aber sie machte keine Anstalten anzugreifen. Sie kam sogar Colias indirekter Aufforderung nach.

„Ich bin Saya vom Volk der Sternwächter.“

Iain war begeistert. Eines der sagenumwobensten Wesen Paxias, und er hatte sie gefunden. Es gab nur wenige Aufzeichnungen über sie, und diese waren meist widersprüchlich und verschwommen. Ganz selten nur schien etwas von sicheren Quellen zu stammen. Gerade bei dieser Art von Sagen konnte man nur schwer Fiktion von Realität trennen. Alles, was man über sie und ihre Lebensart erfahren konnte, war so unglaublich für sie, die auf Paxia lebten, dass es nicht leichtfiel, auch nur Bruchstücke für wahr zu halten.

Und er, Iain, hatte nun die einmalige Gelegenheit, diesen Zustand zu ändern.

Wochenlang würde er mit diesem Wesen gemeinsam Zeit verbringen können, würde alles über sie erfahren, was für neue, authentische Überlieferungen notwendig war. Vielleicht vermochte er sogar, neue Freundschaften zu einem anderen Volk zu knüpfen.

Es musste möglich sein, Brücken über die unterschiedlichen Verhaltensmuster zu bauen, so dass sie sich ohne Aggressionen und Missverständnisse begegnen und unterhalten konnten.

Dieses Wesen reizte ihn wie nichts zuvor in seinem Leben und stellte gleichfalls eine Herausforderung dar, die er nicht imstande war abzulehnen. Seine Aufgabe lag vor ihm.

Colia dagegen nahm Sayas Eröffnung ruhig auf. Auch sie war recht bewandert in den Sagen Paxias, doch als nüchterne Medizinerin bevorzugte sie die Lebenden vor dem Papier. Und als solche war sie an Sayas Gesundheitszustand wesentlich interessierter als an dem Wahrheitsgehalt der toten Überlieferungen. Ihr lag eher daran, mehr über die Anatomie der Sternwächter zu erfahren, um dem Mädchen helfen zu können, statt über irgendwelche Eigenarten ihrer Herkunft zu philosophieren.

So war sie dann auch die Erste, die nickend das Wort ergriff.

„Nun dann, Kriegerin Saya, willkommen im Reich des Himmels, Eure Zufluchtsstätte für die Phase Eurer Genesung.

Gestattet mir, Euch dabei zu helfen, und verratet mir, was ich über Eure Körperfunktionalitäten wissen muss, damit ich dieser Aufgabe auch gewachsen bin.“

Saya starrte sie überrascht an – angenehm überrascht, weil die Medizinerin der korrekten Ansprache ihres Volkes mächtig war, aber auch ein wenig unangenehm berührt, weil diese dennoch einen Fehler begangen hatte. Diesen konnte sie allerdings schnell ausräumen – diesmal auf wesentlich höflichere Art.

„Ich fühle mich geehrt, dass Ihr mich als Kriegerin einstuft, Medizinerin, jedoch bin ich vom Rang einer Gelehrten und würde die korrekte Anrede bevorzugen.“

Das hatten beide nicht erwartet. Ungläubig blickten sie auf die deutlich muskulöse Gestalt Sayas.

Wenn sie schon keine Kriegerin war, wie stark mochten dann erst diese sein?

Iain spürte noch immer pochend den Beweis ihrer Kraft – er zweifelte auch keine Sekunde daran, dass sie mit seinem Dolch hätte hervorragend umgehen können, wäre es zu einem echten Kampf gekommen.

„Das kann ich mir kaum vorstellen“, meinte er dann auch mit skeptischer Miene. „Du bist doch wirklich das personifizierte Bild einer Kriegerin. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?“

„Soll das heißen, du traust mir keinen Verstand zu?“, fuhr sie ihn zornig an. Im Unterbewusstsein war ihr klar, dass er sie nicht beleidigen wollte. Andererseits hatte sie auch nicht die geringste Lust, ihm ihre Lebensgeschichte auszubreiten. Und sie wusste, Angriff war meistens die beste Verteidigung.

Iain lenkte auch sofort ein.

„Das wollte ich damit natürlich nicht sagen, verzeih meine Taktlosigkeit. Ich bin nur noch voller Bewunderung für deine Kampfkünste, da wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass du die Sagen Paxias studierst.“

Saya akzeptierte mit einem kühlen Nicken die Entschuldigung ihres Gegenübers. Es schien, als wartete Iain auf eine ausführlichere Erklärung ihrerseits, doch für sie war das Thema abgeschlossen, sie wandte sich wieder Colia zu.

Diese hatte in der Zwischenzeit ihre Utensilien auf dem Nachttisch ausgepackt und sich einen Stuhl an das Bett gezogen. Als sie sich darauf niederließ, sah sie fragend zu Iain auf.

„Ich glaube, wir können deine Gegenwart für die nächsten Stunden entbehren. Ich will unseren Gast mit ihrer Hilfe gründlich untersuchen, und da bist du ein wenig fehl am Platz. Würdest du uns dann bitte verlassen?“

Er verbeugte sich leicht, verlegen, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. Vielleicht hatte er aber auch nur gehofft, ihr nochmals Unterstützung sein zu können. Er verließ die faszinierende Gesellschaft dieses Mädchens nur äußerst ungern – am liebsten würde er sie Tag und Nacht mit Fragen überhäufen.

Nicht zuletzt reizte es ihn unverändert, ihren Körper zu betrachten, ihn ein weiteres Mal zu berühren …

Genau deshalb sollte er verschwinden!

Iain atmete tief durch und wandte sich an Saya.

„Ich komme später noch einmal vorbei, um zu sehen, ob du etwas brauchst. Vielleicht können wir beide uns dann auch etwas näher kennenlernen, damit solche Missverständnisse wie eben nicht noch einmal vorkommen. Als Gelehrte interessiert es dich sicher auch, einiges über das Reich des Himmels zu erfahren.“

Sein letzter Satz war ein diplomatischer Appell an ihre Verhandlungsbereitschaft, wie ihr klar war, und sie respektierte seine Fähigkeit, seine Ziele damit zu erreichen. Sie erkannte auch, dass es ihm vollkommen bewusst war, dass sie ihn durchschaute und es ihn nicht im Mindesten störte. Sie bevorzugte aber den direkten Weg. Es war an der Zeit, auch ihm das zu Bewusstsein zu bringen.

„Iain!“, rief sie ihn deswegen noch einmal an, als er die Tür fast erreicht hatte. Er wandte sich ihr fragend zu.

„Ich erkenne deine Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft an. Doch wenn ich noch einmal mit Drogen betäubt werde oder mir in einer sonstigen Weise die Kraft meiner Sinne geraubt wird, dann werde ich dir deinen eigenen Dolch durch das Herz stoßen!“

Es war genau dieser letzte Satz, den Janos hörte, als er in den Raum stürzte, Iain nur mit knapper Mühe ausweichend. Schwer atmend blickte er aus weit aufgerissenen Augen auf das Wesen im Bett.

„Was willst du hier, Janos!“ Iains Stimme klang streng, mit hochgezogener Braue musterte er den Berater.

Dieser jedoch schien seine Worte gar nicht wahrzunehmen. Er baute sich vor dem jungen Mann auf. Eine Schutzwand, lächerlich in ihren Ausmaßen, bedachte man die Tatsache, dass Iain von erheblich beeindruckenderer Statur war, welcher sich der kleine, schmale Kanzler – entgegen jeglicher Reckversuche – kaum je würde nähern können.

Auch die weit von sich gestreckten Arme, um Iain hinter sich zu halten, und das vor Zorn tiefrote Gesicht konnten nichts anderes in Saya auslösen, als gärende Verachtung.

Verachtung für das absolut intolerierbare Eindringen in dieses Gemach, mit einem Verhalten, dem die Begriffe unverschämt und unentschuldbar nicht annähernd gerecht werden konnten und vor allem – an erster Stelle – Verachtung für die blanke Todesangst in den nun fast weißen Augen des älteren Mannes.

Wäre sie nicht an dieses elende Bett gefesselt, einem lästigen Insekt gleich hätte sie ihn hinausgeschleudert.

Nicht mehr als eine infame Kreatur, verdiente dieses unwürdige Subjekt weder einen ehrenvollen Tod noch eine Herausforderung zu einem Zweikampf.

Allerdings schien Ehre in dieser fremden Welt keine Bedeutung zu haben oder zumindest anders verstanden zu werden, als es ihr, die sie ein Teil des stolzen Sternenvolkes war, von frühester Kindheit an gelehrt worden war. Iains Verhalten, angesichts dieser untragbaren Situation, verriet es ihr.

Er schien zwar erstaunt und unwillig über diesen überfallartigen Ansturm des Kanzlers, tat jedoch zu ihrem unendlichen Erstaunen und wachsenden Zorn nichts, um diesem, stellvertretend für sie, seine Grenzen beizubringen – vorzugsweise möglichst schmerzhaft.

Offensichtlich musste sie diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen.

Keine Wut war groß genug, die Schmerzen zu ignorieren, die durch ihr Bein fuhren, als sie sich weiter aufrichtete, in dem Vorhaben, sich des Alten zu entledigen.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, machten es ihr leichter, ihre aggressive Natur zu unterdrücken. Nur ihre geballten Fäuste gaben dieser weiterhin Ausdruck.

Sie hatte einen Auftrag, sie durfte sich nicht erlauben, ihre Genesung durch unbedachte Taten zu verzögern. Es war für ihr Volk essentiell, dass sie diesen schnell – sehr schnell erfüllte. Und diese schändliche Kreatur war es in keinem Falle wert, zu einem Hindernis in ihrem Gesundungsprozess zu werden. Womöglich konnten bleibende Schäden an ihrem Bein zurückbleiben, wenn sie dem Rat der Medizinerin nicht Folge leistete und im Bett blieb, bis es ihrem Körper zuträglich war, ihre Reise fortzusetzen.

Dennoch, ihr Zorn konnte keiner vernünftig denkenden Person mit der Fähigkeit des Sehens entgehen. Und wenn man sie bei ihrem Kampf mit Iain zuvor erlebt hatte, dann konnte man sich auch mehr als lebhaft vorstellen, zu was dieses Mädchen in der Lage war, wenn das Ausmaß ihrer Wut eine Grenze erreichte, die keinen Schmerz mehr kannte.

Inwieweit Saya fähig war, sich zu beherrschen und ihre Gefühle zu unterdrücken, war die große Unbekannte in Colias Gleichung, so dass sie sich veranlasst sah, sich aus ihrem Stuhl zu erheben und mit mahnendem Blick auf die Männer zuzuschreiten.

Janos bemerkte von alldem nichts, er war viel zu fixiert auf die halb sitzende Saya, um Colia oder deren stumme Warnung zu registrieren. Und auch wenn er die Angst im Nacken spürte, so konnte er sich im Gegensatz zu der fremden Gelehrten nicht zurückhalten.

„Wie könnt Ihr es wagen?!“, schrie er erbost und trat wagemutig einen Schritt näher an das Bett, aufgebracht Iains Hand von seiner Schulter schüttelnd, die fest genug nach ihm gegriffen hatte, um als Forderung zu schweigen erkannt zu werden.

Eine Forderung, die er um keinen Preis zu erfüllen gedachte. Stattdessen entfernte er sich einen weiteren Schritt von dem jüngeren Mann.

„Mit welcher Berechtigung erlaubt Ihr Euch eine so vertrauliche Anrede gegenüber dem Bruder des Herrschers dieses Reiches? Ihr seid hier nicht einmal willkommen.

Um Euch hierher zu bringen, hat sich Iain gegen den Willen seines Volkes, sich schnellstens Eurer zu entledigen, aufgelehnt und Euch trotz jeden Widerstandes in sein Gemach gebracht, um Euch von unserer Medizinerin heilen zu lassen.

Er hat sich, um Euer Leben zu retten, selbst in Gefahr begeben, indem er nach diesem Tod bringenden Unwetter Paxia aufgesucht hat. Und nun, da Ihr wieder bei Bewusstsein seid, habt Ihr nichts anderes getan, als ihn sträflichst zu beleidigen, statt ihm auf Knien demütig zu danken, dass er Euer armseliges Dasein nicht hat verlöschen lassen.“

Sayas Geduldsfaden riss, sie explodierte.

„Welcher Dämon hat von dir Besitz ergriffen, dass du es wagst, mit mir, einer Sternwächterin, so zu reden?

Bei allen Mächten Paxias, du widerliche Kreatur bist es nicht wert, dieser Welt anzugehören. Es wäre mir eine reine Freude, sie von dir zu erlösen!

Nichts hat euer Bruderregent getan, um mich zu retten.

Er hat mich in dieses Reich entführt, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte, hat mich mit Drogen betäuben lassen, was in meiner Welt mehr als die Todesstrafe verdient hätte. Und er hat es zugelassen, dass du unwürdiges Nichts in dieses Gemach hast eindringen und deine Stimme gegen mich erheben können, obwohl ich augenblicklich nicht in der körperlichen Lage bin, mit einer entsprechenden Reaktion zu antworten, die in jedem Fall deine Begräbnisfeierlichkeiten zur Folge haben würden. Und ich glaube nicht, dass eine einzige Person von Wert und Ehre dabei anwesend sein würde.

An deiner Stelle würde ich in den nächsten sechs Wochen keinen Schritt tun, ohne vorher nachzusehen, ob ich nicht in der Nähe bin. Irgendwann werde ich wieder geheilt sein, und dann bete zu Paxia, dass ich dir nicht begegne!

Das war keine Drohung!

Dein Bruderregent hat mich kämpfen erlebt, als ich verwundet war. Er wird dir sicher gern jede Einzelheit beschreiben, und ich kann dir versprechen, dass meine Kräfte weit über dieses kurze Erlebnis hinausgehen.

Außerdem muss ich dir zu deinem Bedauern mitteilen, dass du dir keine Mühe mit Hinterhalten wie Giften oder sonstigen Leben verkürzenden Mitteln zu machen brauchst. Ich nehme an, Dreck wie du wird sich nicht auf einen Zweikampf einlassen wollen, sondern eher versuchen das Problem anders zu lösen.

Du wirst feststellen, nichts von alldem wird Wirkung bei mir zeigen, da ich die Macht der Unsterblichkeit besitze …“

An dieser Stelle wurde Sayas Ausbruch durch Colia unterbrochen, die beide Männer mit dem Schließen der Tür hinausbeförderte.

Die Kinder Paxias (Leseprobe XXL)

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