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Kapitel 4: Verwirrt
ОглавлениеAls ich am nächsten Tag erwache, brauche ich erneut einen Moment, um zu verstehen, wo ich bin. Erinnerungen – die, die ich habe – schießen mir durch den Kopf und ich drehe mich seufzend auf den Rücken. Ich habe keine Fortschritte gemacht, ich weiß immer noch nicht, wer ich bin.
Nach ein paar Minuten und einem Blick auf den Wecker, der mir verrät, dass es schon wieder nach zwölf Uhr ist, beschließe ich, dass ich besser aufstehen sollte. Ich ziehe den Rollladen hoch und stelle fest, dass draußen schon wieder schönes Wetter ist: Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, an dem sich ein paar Schäfchenwolken tummeln, und es ist so warm wie gestern. Ich will nicht, dass Jakob mich schon wieder im Schlafanzug sieht, deshalb ziehe ich die kurze Hose von gestern an, sowie meinen eigenen BH und mein eigenes T-Shirt, das sich auf den zweiten Blick als nicht gerade schön entpuppt: Es ist wohl schon älter, der Aufdruck ist verwaschen und der Saum ein wenig ausgefranst. Ich schaue vorher aufs Etikett, in der Hoffnung auf einen Hinweis. Doch es ist schon so verwaschen, dass die Schrift verblasst ist und ich sie nicht länger entziffern kann.
Nachdem ich im Bad war, gehe ich nach unten. Die Küche ist leer, doch Nutella, Orangensaft und die Packung Toast liegen schon für mich auf dem Tisch, ebenso wie ein Teller, ein Glas und ein Messer. Es rührt mich, wie fürsorglich Jakob ist, auch wenn ich hier so ziemlich der einzige Mensch zu sein scheine, der das wertschätzt – im Gegensatz zu seinen Geschwistern. Ich denke daran, wie Lukas reagiert hat, als sein Bruder ihn gestern nach der Klausur gefragt hat, oder an Johannas ständige Zickereien. Klar, die beiden sind Teenager, aber sie könnten ruhig etwas dankbarer dafür sein, dass Jakob sie dauernd irgendwo hinfährt und wieder abholt. Doch er scheint schon so daran gewöhnt zu sein, dass es ihm gar nicht mehr auffällt…
Ich stecke zwei Scheiben Toast in den Toaster, dann mache ich mich wieder auf die Suche nach Jakob, was nicht gerade lange dauert. Im Wohnzimmer steht die Tür zur Terrasse offen, und draußen finde ich ihn, wie er in der Sonne sitzt und liest.
„Hey“, begrüße ich ihn.
„Hey“, erwidert er mit einem Lächeln und klappt das Buch zu, „Hast du gut geschlafen?“
„Sehr gut“, entgegne ich, „Wie ein Stein.“
Er lacht.
„Was liest du?“, frage ich und setze mich neben ihn auf das kleine Sofa.
„Macbeth“, erwidert er und reicht mir das Buch.
„Magst du Shakespeare?“, frage ich.
„Ja, sehr“, sagt er, „Wir haben in der Schule Hamlet durchgenommen, und seitdem habe ich einige seiner Stücke gelesen.“
„Vielleicht kannst du’s mir ja mal ausleihen, wenn du fertig bist“, sage ich nach einem Blick auf den Buchrücken.
„Klar, gern“, erwidert er. Er blickt zur offenen Terrassentür und sagt: „Wenn du willst, kann ich dir drinnen Gesellschaft leisten.“
„Oder ich dir hier draußen“, sage ich lächelnd.
„Wenn dir das lieber ist“, entgegnet er ebenfalls lächelnd.
Ich nicke. „Gib mir nur eine Sekunde.“ Mit diesen Worten erhebe ich mich und gehe zurück in die Küche, wo mein Toast inzwischen fertig ist. Ich bestreiche die beiden Scheiben mit Nutella, schenke mir ein Glas Orangensaft aus und gehe zurück nach draußen. Ich stelle beides auf dem Glastisch neben der Couch ab und setze mich wieder neben Jakob.
„Ist das dein T-Shirt?“, fragt Jakob.
Ich schaue noch einmal an mir herunter und nicke. „Deine Mum hat meine Sachen für mich gewaschen. Das wird Johanna sicher freuen…“
„Sie ist im Moment echt schwierig“, sagt Jakob, „Aber sie meint das nicht so, ehrlich.“
Er zögert, bevor er fortfährt: „Ich habe das Gefühl, dass sie gerade versucht, sich selbst zu finden. Deshalb auch die dunklen Klamotten und das rebellische Verhalten.“
Ich lache schnaubend. „Hoffentlich hat sie sich bald gefunden.“
Doch er beachtet mich gar nicht. „Ich kann sie gut verstehen, bei mir hat es auch lange gedauert, bis ich wusste, was ich will. Und nicht mal jetzt weiß ich, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin…“
Ich blicke ihn an. „Wie meinst du das?“
„Na ja, ich werde bald für mindestens ein Semester ins Ausland gehen müssen, und ehrlich gesagt will ich das gar nicht.“ Er sieht mich an. „Ich habe das noch niemandem gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht weggehen sollte. Die Jungs vom Fußball haben das Training extra auf Montag und Freitag gelegt, weil ich an den Tagen keine Uni habe, und wenn ich gehe, müssen meine Geschwister noch öfter zu unserem Opa und meine Eltern müssen sie überall rumkutschieren, dabei haben sie ja schon so viel Stress wegen dem Haus…“ Die Worte scheinen nun geradezu aus ihm herauszusprudeln. Ich bin überrascht über seine plötzliche Offenheit. „Und das will ich nicht. Ich will einfach, dass es allen wieder gut geht und ich… ich will nicht egoistisch sein.“
Wir schweigen für einen Moment und er senkt beschämt den Blick. Das war so nicht geplant, da bin ich mir sicher.
„Du fühlst dich deiner Familie verpflichtet“, sage ich einen Moment später.
„Nein“, erwidert er schnell, „Nein, so war das gar nicht gemeint. Ist ja nicht so, als ob mir jemand sagen würde, dass ich irgendwas machen muss… Es ist nur, dass…“ Er seufzt. „Ach, ich weiß auch nicht.“
„Ist schon gut, Jakob“, sage ich, „Du musst mir nichts erklären, ich verstehe dich.“
Er blickt mich überrascht an.
„Du solltest nicht so streng mit dir selbst sein“, sage ich, und er lächelt. Mein Herz macht einen Satz.
Schnell sehe ich weg und widme mich lieber meinem späten Frühstück. Was mache ich da nur?
„Liest du das Buch eigentlich für die Uni?“, frage ich, ohne ihn anzusehen, um das Thema zu wechseln.
„Nein, das lese ich nur so“, erwidert er, „Ich muss jetzt in den Ferien zwei Hausarbeiten schreiben, aber für die habe ich zum Glück kein festes Abgabedatum.“
„Worüber musst du die schreiben?“ Ich wage immer noch nicht, ihn anzusehen. Was ist denn plötzlich nur los mit mir?
„Eine über den sozialen Aufstieg in einem Buch, das wir gelesen haben, und die andere über meinen Dialekt.“
Ich blicke ihn überrascht an.
„Ich habe eine Umfrage gemacht und will dadurch herausfinden, wie der Dialekt im Vergleich zur Standardsprache beurteilt wird.“
„Und, was hast du bisher herausgefunden?“, frage ich interessiert.
„Dass Pfälzisch nicht gerade den besten Ruf hat…“, meint er.
„Inwiefern?“
„Na ja, die meisten Leute finden, dass es sich anhört wie hinterwäldlerische Bauernsprache.“
Ich muss lachen. „Wie gemein!“
„Einer hat sogar geschrieben ‚Es klingt wie eine Vergewaltigung der deutschen Sprache.‘“
Ich pruste los und auch Jakob stimmt in mein Lachen mit ein. Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder beruhigt habe, und mir schnaufend die Lachtränen aus den Augen wische.
„Freut mich ja sehr, dass das schlechte Gerede über meine Muttersprache dich so erheitert“, sagt Jakob mit affektiertem Blick, was mich nur noch mehr zum Lachen bringt, ebenso wie ihn.
„Ich finde euren Dialekt süß“, sage ich, und füge noch ein „Ehrlich!“ hinzu, als ich seinen skeptischen Blick sehe.
„Da bist du mit die Einzige“, meint er, „Wenn ich in Heidelberg Bus fahre und meine Mum mich anruft, und ich Pfälzisch mit ihr rede, werde ich immer angeschaut, als ob die Leute nicht glauben könnten, dass ich wirklich hier studiere.“ Er muss lachen. „Wie hat es dieser Bauerntrampel nur an die Uni geschafft?“
„Das ist so dumm!“, sage ich kopfschüttelnd, „Als ob das irgendwas über dich aussagen würde!“
„Ich weiß“, erwidert er, „Aber die Vorurteile sind leider da, und werden sich auch nicht ändern. Alle Dialekte sterben früher oder später aus: In der Stadt reden mittlerweile so gut wie alle Hochdeutsch, und auch hier ist es so, dass mein Opa Wörter benutzt, die meine Eltern nicht benutzen, und meine Eltern benutzen Wörter, die ich nicht benutze. Und so geht nach und nach alles verloren…“
„Das ist echt schade“, sage ich leise.
Für eine Weile esse ich und keiner von uns sagt ein Wort. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er auf seinem Handy herumtippt. Ich würde ihn gerne so viele Dinge fragen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und die Tatsache, dass ich ihm nichts über mich erzählen kann, macht das Ganze noch unangenehmer. Ich will nicht so neugierig wirken, auch wenn ich es in Wahrheit bin.
„Hast du irgendwelche Lieblingsfilme?“, höre ich mich plötzlich fragen.
Er blickt überrascht auf.
„Ich frage nur, weil ich… ja im Moment nicht viel zu tun habe“, sage ich schulterzuckend und komme mir dabei ziemlich dämlich vor.
„Also, ich glaube, mein Lieblingsfilm ist Inception. Hast du den mal gesehen?“, fragt er.
„Ich bin mir nicht sicher“, erwidere ich, „Worum geht es da?“
„Es geht um Leute, die die Träume von anderen manipulieren können.“
„Klingt unheimlich“, erwidere ich.
„Ja, der Gedanke ist ziemlich gruselig“, sagt er, „Aber der Film ist mega cool: Da ist diese Gruppe von Leuten, die versucht, einen Gedanken in die Psyche eines millionenschweren Erben einzupflanzen, sodass er die Firma seines Vaters verkauft. Also reisen sie in seine Träume und kommen dabei immer eine Ebene tiefer in sein Unterbewusstsein. Das ist total gut gemacht: Die erste Ebene ist eine Stadt, die zweite ein Hotel und die dritte eine Alpinlandschaft, und dabei werden sie die ganze Zeit von solchen Agenten verfolgt, die sein Unterbewusstsein repräsentieren. Es ist cooler, wenn man es im Film sieht.“ Seine dunklen Augen leuchten, als er mir davon erzählt. „Ich kann ihn dir ja mal zeigen, wenn du magst.“
„Ja, gern“, erwidere ich.
Während ich meinen Toast aufesse, erzählt Jakob mir noch von The Departed (habe ich ebenfalls nicht gesehen), Ocean’s Eleven (da klingelt was) und den Avengers-Filmen (von denen ich vielleicht einen oder zwei gesehen habe, aber mehr nicht).
„Mir ist gerade etwas eingefallen, wie wir deinem Allgemeinwissen etwas auf die Sprünge helfen können“, meint er plötzlich, nachdem ich mein Geschirr zurück in die Küche gebracht, und mich danach wieder zu ihm gesetzt habe.
Er steht auf, geht ins Haus und kehrt einen Moment später mit einem Handy zurück.
„Das ist mein altes Handy, du kannst es haben“, sagt er, doch ich verstehe nicht ganz, wie mir ein Handy bei meinem Gedächtnis weiterhelfen soll.
„Der Akku hält nicht mehr lange, vielleicht noch zwei oder drei Stunden, deshalb habe ich mir auch ein neues gekauft“, meint er, „Die PIN ist 1307 – mein Geburtstag.“ Er tippt auf dem Bildschirm herum, dann reicht er mir das Handy. ‚Das Quiz‘ steht auf dem Monitor.
„Das ist eine App, auf der du gegen andere Leute spielen kannst. Warte kurz.“ Er nimmt sein neues Handy und tippt ein paarmal auf den Bildschirm. Plötzlich erscheint ein Pop-up auf meinem Bildschirm: ‚Jakob137 fordert dich zu einem Spiel auf‘.
„Du musst auf ‚Annehmen‘ klicken“, sagt er, was ich auch tue.
Nun kann ich zwischen verschiedenen Kategorien wählen und entscheide mich für ‚Kunst‘. ‚Welcher Künstler zählt zum Impressionismus?‘ lautet die Frage. Ich weiß, dass ‚Claude Monet‘ die richtige Antwort ist. Die Antworten zu den nächsten Fragen kenne ich zwar nicht, aber ich rate zumindest einmal richtig.
„So, und jetzt bin ich dran“, meint Jakob, nachdem ich zu Ende gespielt habe. Er bekommt nun die gleichen Fragen wie ich gestellt und darf in der nächsten Runde die Kategorie der Fragen wählen. Die Idee ist wirklich nicht schlecht, und dazu macht es noch Spaß, sich ein bisschen mit ihm zu duellieren.
Wir spielen einige Runden und necken uns gegenseitig, wenn mal einer eine Frage falsch beantwortet, die der andere richtig hat. Wir sind solange beschäftigt, bis plötzlich Luchsi angetrabt kommt und zu uns auf die Couch springt. Ich zucke zusammen und weiche reflexartig zurück.
„Luchsi, das sollst du doch nicht!“, lacht Jakob und streichelt der Hündin über den Kopf. Mit Blick zu mir meint er dann: „Ich glaube, sie will, dass ich mit ihr Gassi gehe. Magst du mitkommen?“
„Klar“, erwidere ich und stehe auf, auch um ein paar mehr Zentimeter zwischen mich und den Hund zu bringen. So ganz geheuer ist der mir nämlich immer noch nicht…
Bevor wir gehen, schlüpfe ich in meine eigenen, mittlerweile ebenfalls gewaschenen Schuhe und wir treten nach draußen. Es ist wieder angenehm warm, genauso wie gestern, die Sonne scheint, und eine leichte Brise weht über uns hinweg.
Wir laufen dieses Mal nicht in Richtung des Waldes, aus dem ich gekommen bin, sondern einen anderen Hügel hinauf, der von Feldern gesäumt wird und später ebenfalls in den Wald führt. Der Wald scheint hier allgegenwärtig zu sein, es dauert immer nur ein paar Minuten, bis man dort ist, und er scheint teilweise so dicht zu sein, dass man sich leicht darin verlieren könnte. Noch immer frage ich mich, wie ich vor zwei Tagen ganz alleine den Weg hinaus gefunden habe…
Luchsi scheint heute ganz besonders aufgedreht zu sein, sie zieht ungeduldig an der Leine, sodass Jakob letztendlich doch nachgibt: Erneut entfernen wir uns vom Weg, dieses Mal allerdings nur, um in einem der Felder weiterzulaufen. Das Korn ist bereits geschnitten worden, sodass es einfach ist, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Jakob hat Luchsi von der Leine losgemacht, und sie sprintet sofort los, nur um kurz darauf mit einem Stock im Maul zu ihm zurückzukehren.
Die Prozedur wiederholt er ein paar Mal, bevor wir weiterlaufen. Nach einer Weile sind wir wieder im Wald und kommen an einem eingezäunten Gelände vorbei.
„Das da drüben ist der Reiterhof“, sagt Jakob, während wir uns nach links wenden. Der Waldrand befindet sich rechts von uns, wenige Meter davor steht eine kleine Kapelle. Doch wir laufen weiter auf der linken Seite, die von Feldern und Wiesen gesäumt wird. Plötzlich sehe ich wie aus dem Nichts zwei weitere Häuser vor uns auftauchen.
Ich bin ein wenig überrascht, dachte ich doch, hier oben würde niemand mehr wohnen. Ebenso überraschend ist die Tatsache, dass die Häuser vielleicht hundert Meter auseinander stehen, aber dennoch kaum unterschiedlicher sein könnten: Das erste Haus ist klein und so heruntergekommen, dass es schon lange verlassen zu sein scheint. Das andere Haus hingegen ist groß und neu, das sieht man auf den ersten Blick. Es ist fast ebenso groß wie das Haus der Sommers, aber moderner, mit einem Wintergarten, riesigen Fenstern und… kann ich da oben, auf dem Dach, etwa einen Pool erkennen?
„Das ist Annas Haus“, sagt Jakob und deutet auf die Villa.
„Das?“ Ich bin stehen geblieben und starre ihn entgeistert an.
„Ja. Ist noch gar nicht sooo lange her, dass sie hier eingezogen ist. Drei Jahre vielleicht? Auf jeden Fall, bevor sie Bürgermeisterin wurde…“
„Oh mein Gott, deine Tante muss extrem reich sein!“, stoße ich hervor.
„Sie… verdient ziemlich gut mit ihrer Baufirma“, meint Jakob.
„Das kann ich mir vorstellen“, erwidere ich, „Sie muss so hart für all das gearbeitet haben…“
„Oh ja, das hat sie wirklich. Umso cooler ist es, dass sie so auf dem Boden geblieben ist“, sagt er.
„Das stimmt, sie wirkt wirklich sehr nett“, entgegne ich und betrachte noch einmal das Haus, als plötzlich ein Geräusch aus dem anderen Haus ertönt. Ich zucke erschrocken zusammen, dachte ich doch, es wäre unbewohnt. Auf einmal öffnet sich die hölzerne Eingangstür, die gerade noch so in den Angeln zu hängen scheint. Luchsi stößt ein Knurren aus und ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit.
Aus der entstandenen Öffnung tritt ein Mann, der uns wütend anschaut und auch gleich darauf zu schreien beginnt. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als ich seine Stimme höre. Sie ist heiser und laut und seine Worte klingen schon beinahe wie eine Art Beschwörung, was sicher auch an dem manischen Blick seiner hellen Augen liegt. Ich verstehe kein Wort, vermutlich weil seine Sprache von einer Kombination aus Lallen und dem stärksten pfälzischen Akzent, den ich bisher gehört habe, geprägt ist. Luchsi fängt an zu bellen, während der Mann immer weiter schreit. Er kommt immer näher auf uns zu und ich sehe, wie fertig er aussieht: Seine Kleidung ist schmutzig und zerschlissen, seine Haltung gebückt und seine braunen Haare und der Bart ein einziges Durcheinander. Zunächst bin ich vor Schreck wie gelähmt, doch als er uns immer näher kommt, weiche ich erschrocken zurück und sehe gleichzeitig geschockt, wie Jakob sich schützend vor mich stellt.
„Das reicht jetzt!“, schreit er plötzlich, und ich zucke erneut zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dass er seine Stimme erheben würde. Auch Luchsi ist verstummt.
„Lass uns in Ruhe, Eddie! Verschwinde!“
Das Gesicht des Manns verzerrt sich erneut zu einer wütenden Fratze, und ich habe schreckliche Angst davor, was als nächstes passieren wird. Er setzt zu einer Antwort an, und ich sehe, wie Jakobs Körper sich noch mehr anspannt, doch dann fällt der Blick des Mannes plötzlich auf mich. Er erstarrt in seiner Bewegung und die vor Wut zusammengekniffenen Augen weiten sich auf einmal. Sein Mund steht weit offen und er fixiert mich mit einem derart intensiven Blick, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Im nächsten Moment dringt erneut ein Schrei aus seiner Kehle, doch dieser Schrei ist anders: Er formt keine Worte, sondern brüllt einfach nur, ein einziges angsteinflößendes Geräusch. Und dann rennt er los, zurück in sein Haus.
„Los, lass uns verschwinden!“, sagt Jakob in dem Moment. Ich sehe in seinem Gesicht, dass er ebenfalls Angst hat.
Wir nehmen die Beine in die Hand und rennen zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Ich halte nicht an, bis wir zurück auf dem Weg sind, der auf beiden Seiten von Feldern gesäumt wird, und auch dann bleibe ich nur stehen, weil Jakob es tut. Luchsi hat die ganze Zeit gebellt, bis gerade eben.
„Was war das?“, stoße ich mit brennender Lunge hervor.
„Keine Ahnung“, erwidert Jakob kopfschüttelnd, während auch er nach Atem ringt. „Der Typ ist schon immer total gestört, aber so… so habe ich ihn noch nie erlebt.“
Ich kann immer noch kaum fassen, was gerade passiert ist. „Wer war das?“, frage ich atemlos.
„Der verrückte Eddie“, entgegnet er, und nach einer kurzen Atempause fährt er fort: „In jedem Dorf gibt es einen Verrückten. Und das ist der von Völkersweiler.“
„Mein Gott, Jakob“, stoße ich hervor, „Ich… ich hatte solche Angst um dich!“ Erst jetzt spüre ich, dass ich am ganzen Körper zittere. Jakob sieht mich an. Der Blick seiner dunklen Augen ist unergründlich.
„Hey, komm her“, murmelt er dann und zieht mich an sich.
Erst jetzt, in seiner Umarmung, verliere ich die Anspannung von eben und erlaube mir, durchzuatmen. Ich ziehe ihn ebenfalls an mich und atme tief durch.
„Es tut mir so leid, dass das passiert ist“, sagt er dicht neben meinem Ohr. Ich löse mich wieder soweit von ihm, dass ich in sein Gesicht blicken kann.
„Ich habe den Kerl auch noch nie so erlebt, das musst du mir glauben. Sonst wären wir nie dort lang gelaufen.“
Ich nicke. „Und wie ist er dann normalerweise“, frage ich mit gesenktem Blick.
„Er motzt einen schon mal an, wenn man sich zu laut unterhält und dabei vor seinem Haus steht. Aber ansonsten ist er harmlos, ehrlich.“ Jakob seufzt. „Sollen wir zurück nach Hause gehen?“
Ich nicke und muss schlucken. Der erste Schreck hat sich gelegt, aber meine Knie zittern immer noch.
„Okay, dann los“, meint er, und erst jetzt merke ich, dass ich mich immer noch an ihm festhalte. Schnell lasse ich ihn los und hoffe, dass er nicht bemerkt, wie mir das Blut in die Wangen schießt.
Wir schweigen auf dem gesamten Weg, und nicht mal Luchsi gibt einen Ton von sich. Sie scheint zu spüren, wie angespannt unsere Stimmung ist.
„Kann ich dich was fragen?“, breche ich das Schweigen, nachdem Jakob die Haustür aufgeschlossen hat.
„Schieß los“, sagt er, während wir unsere Schuhe ausziehen.
„Warum wohnt Anna neben diesem Freak?“ Es erscheint mir völlig unlogisch, warum jemand ein Haus gerade neben so jemandem bauen sollte.
Jakob seufzt. „Das frage ich mich auch manchmal.“ Er hält einen Moment lang inne. „Wollen wir uns auf die Terrasse setzen?“, fragt er dann mit einem Blick zu mir.
Ich nicke, Luchsi tapst in ihr Körbchen im Wohnzimmer, und wir beide machen es uns wieder auf dem Sofa draußen bequem.
„Du denkst wahrscheinlich gleich, dass Anna total gestört ist, aber sie war mal mit Eddie zusammen.“
„Was?“ Ich schreie das Wort beinahe heraus, so geschockt bin ich von dieser Enthüllung. Wie kann eine so elegante, hübsche, erfolgreiche Frau mal was mit diesem Freak gehabt haben?
„So habe ich auch reagiert, als ich es erfahren habe“, sagt Jakob und kann sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen, „Aber du musst wissen, dass das alles seeeehr lange her ist. Die beiden waren Teenager – und Eddie muss damals noch normal gewesen sein. Das war, bevor er mit den Drogen angefangen hat…“
Ich muss schlucken. „Warum hat er das getan?“, frage ich.
Jakob zuckt mit den Schultern. „Er hatte es nicht leicht, hat Anna gemeint. Sein Vater ist jung gestorben, und seine Mutter muss ziemlich kalt zu ihm gewesen sein. Irgendwann hat er Depressionen bekommen, und deshalb eine Therapie begonnen, sie aber wieder abgebrochen und stattdessen angefangen, Drogen zu nehmen. Keiner konnte ihm helfen – nicht mal Anna, obwohl sie es versucht hat.“
„Obwohl sie nicht mehr zusammen waren?“, frage ich.
„Ja, sie hat, glaube ich, nie damit aufgehört, sich um ihn zu sorgen. Auch wenn man heute über Eddie spricht, und sie dabei ist, bekommt sie diesen schrecklich traurigen Ausdruck in ihren Augen.“
Ich muss schlucken. Diese Geschichte ist wirklich schrecklich, und die Tatsache, dass alle Eddie als den Verrückten im Dorf betrachten, macht die Sache nur noch schlimmer. Er ist ein armer, gequälter Mensch, dem niemand helfen konnte. Und dennoch habe ich Angst vor ihm. Wenn ich nur zurückdenke an den Ausdruck in seinen Augen, als er mich angesehen hat, bekomme ich eine Gänsehaut…
„Anna war ja ein paar Jahre in den USA, und als sie zurückkam, hat sie zunächst in Landau gewohnt, aber sie wollte unbedingt wieder zurück nach Völkersweiler, um näher bei uns zu sein. Unsere Familie hat das Grundstück da oben schon seit einer Ewigkeit besessen, und als sie mit ihrer Baufirma erfolgreich wurde, hat sie meinem Vater seinen Anteil ausbezahlt und dort ihr Haus gebaut.“
Ich zögere. „Und hat sie keine… Angst vor diesem Eddie?“, frage ich vorsichtig.
Doch Jakob schüttelt den Kopf. „Er würde ihr nie etwas tun. Ich glaube, dass er trotz allem nie vergessen kann, dass sie sozusagen seine erste Liebe war. Und wohl auch seine einzige…“
Ich senke den Blick. Wenn die Geschichte nicht so grausam wäre, würde ich diesen Teil fast romantisch finden.
„Manchmal schaut sie immer noch bei ihm vorbei und guckt, ob er seine Stromrechnungen bezahlt hat“, sagt Jakob.
„Oh wow“, murmele ich. Ich bewundere Anna dafür, was sie tut. Mich würden keine zehn Pferde in das halb zerfallene Haus bringen…
„Ja, ich schätze, als Bürgermeisterin muss sie so sozial sein… Aber für mich wäre es auch nichts.“ Er zwinkert mir zu, worauf ich mit einem Lächeln antworte. Der Schreck von vorhin ist fast wieder vergessen. Aber nur fast. Ich bekomme das Bild dieser Augen einfach nicht aus dem Kopf und befürchte, dass ich heute Nacht davon träumen werde…
Ich lasse meinen Blick über den Garten schweifen: Bunte Blumenbeete, kleine Bäume und sogar einen kleinen Teich gibt es neben dem Pavillon, der mir schon am ersten Abend aufgefallen ist.
„Euer Garten ist wirklich wunderschön“, sage ich.
„Aber auch nur, weil sich der beste Rasenmäher der Welt darum kümmert.“
Ich blicke ihn an und sehe das Grinsen in seinem Gesicht.
„Du?“, frage ich und muss lachen, als er stolz nickt.
„Hast du die Fische schon gesehen?“, fragt er einen Moment später.
Ich schüttele den Kopf.
„Na dann, komm mal mit“, meint Jakob und erhebt sich. Ich stehe ebenfalls auf und folge ihm zu dem kleinen Teich, an dessen Oberfläche sogar ein paar Seerosen schwimmen. Im Wasser kann ich einige Fische erkennen: Einer ist ganz orange, zwei andere weiß und orange gefleckt, ein vierter schwarz und orange. Ein weiterer Fisch, ganz weiß, taucht unter den Seerosen auf.
„Sind das Koi-Karpfen?“, frage ich, woraufhin Jakob nickt. Wir gehen beide in die Hocke, um die Fische besser betrachten zu können.
„Die sind wirklich schön“, sage ich, während ich die Fische beobachte, wie sie sich schnell und wendig durchs Wasser bewegen.
„Der weiße heißt übrigens Daenerys.“
Ich muss lachen.
„War Johannas Idee“, erklärt er, „Der orangefarbene heißt Goldie – auch Johannas Idee.“
„Sehr kreativ“, erwidere ich, während ich mein Lachen unterdrücke.
„Nicht wahr?“, entgegnet er, „Genauso wie die Namen der Zwillinge“, er deutet auf die beiden weiß-orange gemusterten Fische, „Mario und Luigi.“
Nun pruste ich vor Lachen. „Sind das überhaupt Männchen?“
„Wer weiß, wer weiß…“, entgegnet Jakob, „Frag Lukas, der hat die Namen ausgesucht…“
„Und durftest du auch einen Namen aussuchen?“, frage ich.
„Oh ja, für mich blieb der orange-schwarze übrig“, erwidert er.
„Und wie hast du ihn genannt?“
„Nemo“, entgegnet er lächelnd.
„Oh, das ist süß!“, erwidere ich und lächele ihn ebenfalls an.
Einen Moment lang sieht keiner von uns weg, dann ertönt plötzlich das Geräusch der Terrassentür, die zufällt. Wir schauen beide zurück und sehen Eva, die von der Arbeit zurück ist.
„Jakob, fährst du dann zu Opa?“, ruft sie.
„Ja, mach ich“, erwidert Jakob und erhebt sich.
„Kann ich mitkommen?“, frage ich.
„Bist… du dir sicher?“, entgegnet er zögernd, „Er ist nicht immer gut drauf, und seine Demenz kann manchmal echt anstrengend sein…“
Ich will aber noch mehr Zeit mit dir verbringen!, denke ich, aber sage stattdessen: „Ich würde gerne mitkommen, wenn ich darf.“
„Okay“, erwidert er lächelnd.
Wir gehen zurück ins Haus, wo Eva bereits eine Kühltasche mit Lebensmitteln vorbereitet hat.
„Wie war euer Tag? Irgendwas Neues?“, fragt sie an mich gewandt, während sie ihre Einkäufe aus einer anderen Kühltasche in den Kühlschrank legt.
„Nein, leider nicht“, erwidere ich und habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich keinerlei Fortschritte mache. Sie nickt abwesend und sagt dann an Jakob gewandt: „Das ist sein Abendessen für heute, und ich habe noch Kuchen für morgen gekauft. Jakob nickt und nimmt die Tasche, bevor wir wieder nach draußen gehen und in sein Auto steigen.
„Funktioniert die Pumpe eigentlich?“, frage ich, als wir kurz darauf erneut an dem Brunnen auf dem Dorfplatz vorbeifahren.
„Was?“
„Die Pumpe am Brunnen, passiert etwas, wenn man sie betätigt?“
„Nein“, lacht er, „Das ist nur Deko. Aber wir haben dort früher, als Kinder, die ein oder andere Wasserschlacht veranstaltet.“
Ich lache.
„Das Wasser ist aber eiskalt, also nicht unbedingt die beste Idee. Aber Spaß hat es trotzdem gemacht…“
Ich lächele und frage mich im selben Moment, wie meine Kindheit wohl gewesen ist. Ob ich auch Eltern und Geschwister habe, die mich vermissen? Aber wenn dem so wäre, hätten sie dann nicht schon längst nach mir gesucht?
Ich spüre, wie ich bei dem Gedanken traurig werde, während Felder und in der Ferne der Wald an mir vorbeiziehen. Ein Ortsschild zeigt einen Moment später, dass wir uns jetzt in Gossersweiler-Stein befinden. Schon wieder.
„Kommt deine Familie aus dem Ort?“, frage ich.
„Die meines Vaters ja, meine Mutter kommt aus einem anderen Ort in der Nähe. Der Ort heißt Lug.“
„L-U-G?“, frage ich. Er nickt.
„Drei Buchstaben?“ Ich bin verwirrt.
„Könnte der kürzeste Ortsname in Deutschland sein“, erwidert Jakob lachend. „Ja, die beiden haben sich schon als Jugendliche kennengelernt und sind mittlerweile seit fünfundzwanzig Jahren zusammen.“
„Krass“, erwidere ich, „Das ist eine echt lange Zeit…“
„Ja, aber wenn man sich liebt, warum nicht?“
„Hast du denn eine… Freundin?“, frage ich nach einem Moment des viel zu kurzen Überlegens, und würde gleich danach am liebsten im Boden versinken.
„Nein“, erwidert er und ich atme innerlich auf. Er wartet ebenfalls einen Moment, bis er weiterspricht: „Ich könnte dich jetzt fragen, ob du einen Freund hast, aber die Antwort darauf kenne ich ja…“
Ich lache und hoffe, dass er mich nicht gleich anschaut und sieht, wie rot ich geworden bin. Der Gedanke kam mir bisher noch gar nicht. Was, wenn ich einen Freund habe, der mich vermisst? Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals. Wie ist das wohl, wenn man plötzlich weiß, dass man mit jemandem zusammen ist, sich aber an keinen einzigen Moment mit der Person erinnern kann? Ist eine Beziehung dann überhaupt noch möglich?
Wir biegen in eine kleine Querstraße ein, die so eng ist, dass ich mich frage, wie Jakob es schafft, nicht beide Seitenspiegel abzufahren. Aber er scheint es gar nicht mehr zu bemerken, so oft ist er die Strecke wahrscheinlich schon gefahren…
Wir halten an einem Haus, dessen hölzerner Balkon mir sofort ins Auge springt. Auf dem Balkon stehen mehrere Gartenstühle, und auf einem davon sitzt ein Mann, der Jakob fröhlich zuwinkt, als dieser aus dem Auto steigt.
„Hallo, Opa!“, ruft Jakob nach oben. „Hallo!“, rufe auch ich. Dann schließt er die Tür zum Haus auf und wir treten beide ein. Ich fröstele. Im Vergleich zu draußen ist es hier ziemlich frisch. Ich folge Jakob eine Marmortreppe hinauf und trete dann durch eine weitere Tür in einen Raum, der das Esszimmer zu sein scheint.
Die Tür zum Balkon steht offen und wir gehen nach draußen zu Jakobs Großvater. Dieser sitzt mit seiner Zeitung auf einem Gartenstuhl, trägt ein T-Shirt und eine Jogginghose, und scheint gerade vollkommen entspannt zu sein.
Jakob wechselt nun wieder in den Pfälzisch-Modus und stellt mich seinem Großvater als eine Freundin vor.
„Schön, Sie kennen zu lernen“, sage ich. Meine Aussprache scheint ihn zu irritieren, denn er erwidert: „Ebenso, ebenso“, woraufhin Jakob leise und mit amüsiertem Grinsen zu mir sagt: „Ich habe ihn noch nie hochdeutsch reden hören!“
„Wie war dein Tag, Opa?“, fragt Jakob, immer noch auf pfälzisch.
„Gut, gut. Ich hab Zeitung gelesen und war im Garten“, entgegnet dieser, nun ebenfalls wieder in seinem Dialekt, „Und du?“
„Wir waren auch draußen, mit Luchsi“, sagt Jakob, „Und jetzt machen wir dir was Gutes zum Abendessen.“
„Was gibt’s denn?“, fragt sein Großvater.
„Selbstgemachte Pizza“, erwidert Jakob.
„Oh, die esse ich gerne“, sagt sein Opa.
„Weiß ich doch“, entgegnet Jakob lächelnd. Ich folge ihm in die Küche die, ehrlich gesagt, mal wieder renoviert werden könnte. Die Fliesen sind in diesem komischen Siebziger Jahre-Grün gehalten, und passen nicht gerade gut zu den braunen Fliesen auf dem Boden… Aber immerhin scheinen noch alle Geräte zu funktionieren.
Jakob holt einige Lebensmittel aus der Kühltasche, die uns Eva mitgegeben hat: Pizzateig, Tomatenmark, eine Paprika, Salamischeiben, frische Champignons und Streukäse.
„Wir haben Glück, heute ist er gut drauf“, murmelt er, während er alles auf der Ablage ausbreitet.
„Man merkt ihm gar nicht an, dass er dement ist“, sage ich leise.
„Jetzt gerade nicht, aber es gibt auch schlechte Tage“, meint Jakob und wäscht sich an der Spüle die Hände. Ich tue es ihm gleich, bevor wir anfangen. Ich schneide die Pilze und die Paprika, während Jakob den Pizzateig ausrollt und mit Tomatenmark bestreicht. Wir sind ein gutes Team, und so haben wir ruck zuck die fertig belegte, und gewürzte Pizza im Ofen.
„Lust auf noch mehr Kinderbilder von mir und den anderen?“, fragt er lächelnd, nachdem er den Ofendeckel hochgeklappt hat.
„Aber immer doch“, erwidere ich, und er führt mich ins Wohnzimmer, in dem auf einer Kommode unzählige gerahmte Bilder stehen. Ich erkenne Eva und Paul auf einem alten Hochzeitsbild. Die beiden sehen so jung und glücklich aus; gerade der griesgrämig wirkende Paul ist mit dem breiten Lächeln im Gesicht kaum wieder zu erkennen. Als nächstes fällt mein Blick auf ein Bild eines Jungen in einem schicken Anzug, in dem er sich nicht unbedingt wohlzufühlen scheint. Schüchtern lächelt er in die Kamera.
„Bist das du?“, frage ich an Jakob gewandt und deute auf das Bild. Eigentlich ist es eine rhetorische Frage: Seine mittlerweile markanter gewordenen Gesichtszüge sind auf dem Foto noch weich und kindlich, aber dennoch habe ich ihn sofort an den dunkeln Augen erkannt.
Er nickt. „Das war an meiner Konfirmation – ist schon eine ganze Weile her…“
Er deutet auf ein anderes Bild, das eine ältere Frau zeigt, die auf einer Wiese sitzt, auf ihrem Schoß ein Baby, und neben ihr zwei kleine Jungs, die fröhlich in die Kamera lachen.
„Das ist mein Lieblingsbild“, sagt er.
„Deine Oma?“, frage ich.
Er nickt. „Sie ist leider vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem kommt jeden Tag einer von uns her, um sich um Opa zu kümmern.“
„Das tut mir leid“, murmele ich und spiele einen Moment lang mit dem Gedanken, seine Hand zu nehmen, lasse es dann aber doch lieber.
„Ist schon gut. Die Erinnerungen an sie werden wir für immer haben.“
Wir bleiben noch ein paar Minuten stehen und Jakob erklärt mir, wo und wann ein paar Bilder aufgenommen wurden. Dann setzen wir uns nach draußen zu seinem Großvater.
„Wie heißt du noch mal?“, fragt dieser mich mit einem so starken Akzent, dass Jakob für mich übersetzen muss.
„Clara“, erwidere ich dann.
„Und du wohnst in Völkersweiler?“ Er spricht das Wort ‚Völkersweiler‘ dabei wie ‚Velgeschweiler‘ aus, sodass mir erst bewusst wird, was er meint, als Jakob antwortet: „Ja, sie wohnt in Völkersweiler.“
„Es gab schon einmal eine Clara in Völkersweiler“, meint Jakobs Großvater plötzlich.
„Wirklich?“, frage ich, doch Jakob winkt nur ab. Sicher redet sein Opa öfters wirres Zeug, wenn die Krankheit schon fortgeschritten ist…
„Ja, aber das ist schon lange her“, meint er und blickt in den Himmel. Plötzlich scheint er ganz abwesend zu sein.
„Ich glaube, wir sollten dann mal die Pizza aus dem Ofen holen“, sagt Jakob und steht auf.
Während er die Pizza holt, decke ich den Tisch für uns drei. Schon verrückt: Ich kenne diesen Jungen erst seit zwei Tagen, und jetzt sitze ich hier und esse mit ihm und seinem Opa zu Abend. Ich kann dennoch nicht sagen, dass es sich schlecht anfühlt, eher im Gegenteil: Es kommt mir so vor, als würden wir uns schon viel länger kennen.
Jakob bringt die Pizza aus der Küche und schneidet sie für seinen Opa in kleine Stücke, sodass dieser es nicht selbst tun muss. Die Geste rührt mich. Es tut mir leid, dass Jakob und seine Geschwister ihren Großvater irgendwann endgültig an das Vergessen verlieren werden, an eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt.
„Schmeckt’s dir, Opa?“, fragt Jakob, nachdem wir angefangen haben zu essen.
„Ist gut“, erwidert dieser, damit beschäftigt, Pizzastücke auf seiner Gabel aufzuspießen.
Nach dem Essen stellt Jakob seinem Großvater das richtige Fernsehprogramm ein – irgendeine Naturdoku – während ich anfange, das Geschirr zu spülen. Einen Moment später kommt er zu mir, nimmt sich ein Geschirrtuch und fängt an, das gespülte Geschirr abzutrocknen und einzuräumen.
„Danke fürs Helfen“, sagt er, „Es geht echt viel schneller zu zweit.“
„Gerne“, erwidere ich, „Ich hätte ansonsten ja eh nichts zu tun gehabt…“
„Es ist bestimmt total langweilig für dich hier“, sagt er plötzlich, „Ich meine, in Völkersweiler passiert eben nicht viel…“
„Nein, Quatsch“, erwidere ich, „Ich bin gerne bei euch, ehrlich.“
Er lächelt mir zu. „Da bin ich aber froh.“
„Jakob, hilf mir mal!“, ruft plötzlich sein Opa aus dem Wohnzimmer.
„Komme!“, antwortet Jakob, legt das Geschirrtuch beiseite und geht zu ihm.
Es dauert kurz, bis er zurück ist, sodass ich das restliche Geschirr fertig gespült, und abgetrocknet habe.
„Müssen wir sonst noch irgendwas machen?“, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. „Meine Mum hat letztes Wochenende erst die Wohnung geputzt und Wäsche gewaschen. Also haben wir jetzt frei.“ Er lächelt mir zu.
Wir verabschieden uns von Jakobs Großvater und machen uns auf den Heimweg. Dort angekommen fragt Eva ihren Sohn, wie es gelaufen ist.
„Er hatte einen guten Tag“, erwidert er, „Und dank Clara hatte ich heute auch nur halb so viel Arbeit“, sagt er an mich gewandt, was mich wieder zum Lächeln bringt.
„Ich dachte, wir sollten keine Freunde mitbringen“, stichelt Johanna, die neben ihrer Mutter auf der Couch sitzt und mit ihr irgendeine Datingshow guckt.
„Ich gehe jetzt hoch, muss an meiner Hausarbeit weiterschreiben“, sagt Jakob nur und ignoriert die Bemerkung.
Er bedankt sich im Flur noch einmal bei mir und verschwindet dann in seinem Zimmer, während ich ins Bad gehe, um zu duschen. Erneut starrt mir das blasse Gesicht aus dem Spiegel entgegen, das ich nicht wiedererkenne. Es ist jedes Mal wieder ein Schock.
„Wer bist du?“, flüstere ich und verzichte schon wieder auf eine Antwort.
Als ich in mein Zimmer zurückkehre, schalte ich den Fernseher ein, den ich bisher ignoriert hatte. Er ist klein und nicht gerade neu, aber ich will auch einfach nur ein bisschen abschalten und mich berieseln lassen – und dafür reicht er allemal. Ich zappe durch die Programme und bleibe schließlich bei derselben Datingshow hängen, die Johanna und ihre Mutter schauen. Ich frage mich, ob es tatsächlich Menschen gibt, die daran glauben, dass man auf diesem Weg die wahre Liebe finden kann. Mir fällt wieder ein, wie ich Jakob vorhin gefragt habe, ob er eine Freundin hat, und erneut ist es mir schrecklich peinlich. Jetzt denkt er bestimmt, ich will was von ihm…
Nach einer Weile schalte ich den Fernseher aus und lese stattdessen in dem Buch weiter, das ich mir aus dem Bücherregal genommen habe. Es bleibt weiterhin spannend: Sowohl der Mann als auch die Frau versuchen, einander kennenzulernen, aber ihnen werden dabei so viele Hindernisse in den Weg gelegt, dass ich bezweifle, dass die beiden am Schluss ein Happy End bekommen… Das Buch fesselt mich so sehr, dass ich irgendwann auf die Uhr schaue und erschrocken feststelle, dass es schon fast zwei Uhr ist. Ich gehe ins Bad, putze mir die Zähne und lege mich nach meinem üblichen Kontrollblick in den Garten hin. Wieder ist niemand dort unten und ich frage mich mittlerweile ernsthaft, ob ich mir die Person in der ersten Nacht nur vorgestellt habe…
In dieser Nacht wache ich schweißgebadet auf. Ich habe von Eddie geträumt, davon, dass er mich und Jakob verfolgt hat. Aber es waren nicht seine Schreie, oder sein schäbiges Aussehen, die mir am meisten Angst gemacht haben. Es waren seine Augen. Diese Augen verfolgen mich auch jetzt noch, als ich schnell atmend in die Dunkelheit starre. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich wieder soweit beruhigt habe, dass ich weiterschlafen kann.
Früher:
Ich habe das Geld genommen und mir davon ein Zugticket gekauft, genauso wie es in dem Brief stand. Und nun bin ich auf dem Weg in eine Stadt, in der ich noch nie gewesen bin.
Ich bin noch nie so weit weg von zu Hause gewesen, schon traurig.
Aber als ich so im Zug sitze, stelle ich mir vor, wie es wäre, das alles hinter mir zu lassen: die schlimme Zeit, die Menschen, die mich beleidigt und mit dem Finger auf mich gezeigt haben, und die Menschen, die mir mal so nah waren, und mir dann einen Dolch in den Rücken gerammt haben.
Was wäre, wenn ich eines Tages gehen würde, einfach so? Würde mich überhaupt jemand vermissen?
Jetzt: