Читать книгу Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman - Laura Martens - Страница 6

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Frauke Ebert schenkte ihrem Mann Kaffee nach. »Danke!« sagte dieser und schob die Tasse zurück, ohne auch nur daran genippt zu haben. »Ich muß! Leider habe ich keine Zeit mehr.« Bei den letzten Worten erhob er sich.

»Ich erwarte dich dann zum Mittagessen.«

»Ausgeschlossen!« Gero Ebert senkte den Blick.

»Gestern bist du auch erst abends zurückgekommen.« Fraukes Gesicht verzog sich ärgerlich. »Du wolltest am Nachmittag zurück sein, du hattest den Kindern eine Bootsfahrt versprochen.«

Nervös fuhr sich der Vater von zwei Kindern mit beiden Händen durch das Haar. »Ich weiß!« knurrte er. »Aber du scheinst zu übersehen, daß ich mit der Galerie eine Menge Arbeit habe.«

»Du hast doch gesagt, daß es mit der Galerie gut läuft, und warst sehr zufrieden.« Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Frauke ihren Mann, dann erhob sie sich abrupt. »Du bist nicht nur die meiste Zeit des Tages in Bad Wiessee, sondern auch noch bis spät in die Nacht hinein, jedenfalls war dies letzte Woche so.«

»Ich habe etliche Kunden, die von mir beraten werden wollen. Was willst du eigentlich«, brauste er dann unvermittelt auf. »Ich hätte nie gedacht, mit der Galerie in so kurzer Zeit Erfolg zu haben.«

»Es war ausgemacht, daß ich auch in der Galerie arbeite.«

»Jetzt doch noch nicht!« Gero schüttelte den Kopf, aber er sah seine Frau dabei nicht an. »Denk an die Kinder!«

Frauke schluckte. »Wegen Meike und Florian möchte ich dich auch bitten, heute zum Mittagessen hier zu sein.«

»Das geht nicht, ich erwarte am späten Abend noch Kunden, daher wollte ich auch in Bad Wiessee übernachten.« Gero wandte sich ab.

»Moment!« Frauke hob ihre Stimme. Sie trat einige Schritte auf ihren Mann zu und hielt ihn am Arm fest. »Ich brauche dich heute nachmittag. Ich will Dr. Baumann aufsuchen.«

»Du willst zum Arzt?« Nun sah Gero seine Frau an. »Bist du krank? Was fehlt dir?« besorgt musterte er sie. Ihre Miene wurde jedoch abweisend.

»Nichts Besonderes! Ich schlafe in letzter Zeit nur nicht besonders gut, vor allem schlafe ich schlecht ein. Daher wollte ich mir Schlaftabletten besorgen.«

»Ach so!« Er war erleichtert. »Da kannst du doch die Kinder einfach mitnehmen. Das dauert bestimmt nicht lange.«

»Es sind Schulferien, Gero.« Fraukes Stimme zitterte. »Die Kinder…« Weiter kam sie nicht, denn eine Tür knallte, und gleich darauf polterte Florian, der fünfjährige Sohn, die Treppe herunter.

»Papa, Papa!« Der Fünfjährige lief auf seinen Vater zu und streckte ihm die Hände entgegen. Gero nahm seinen Sohn auf den Arm.

»Guten Morgen!« Jetzt lächelte Gero und strich zärtlich durch die zerzausten Naturlocken seines Sohnes. Er küßte ihn und hielt ihn dann etwas von sich. »Hast du gut geschlafen?«

Florians Gesichtchen verzog sich. »Ich konnte nicht einschlafen, du warst nicht da.«

Das Lächeln in Geros Gesicht erlosch, er warf seiner Frau einen ärgerlichen Blick zu. Diese drehte sich um und verließ das Zimmer. Geros Lippen preßten sich aufeinander. Als er sah, daß sich Florians Gesicht weinerlich verzog, schwenkte er ihn durch die Luft.

»Ich muß los, mein Kleiner! Trink brav deinen Kakao und ärgere Mami nicht.« Er küßte ihn auf die Stirn und stellte ihn dann auf den Fußboden zurück. Den flehenden Blick des Kleinen übersah er.

»Papi, ich muß dir noch etwas erzählen.« Florian wollte nach seinem Vater greifen, doch dieser ging zur Tür, wo er sich nochmals umdrehte. »Morgen, Florian!«

»Bist du heute abend auch nicht da, wenn ich ins Bett muß?« Florians Unterlippe zitterte.

»Nein, ich muß in Bad Wiessee bleiben. Du weißt doch, dort habe ich jetzt auch einen Raum, wo ich malen kann.«

»Du meinst ein Atelier.« Florian reckte sich. »Aber du verkaufst dort doch auch fremde Bilder?«

»Stimmt! Ich… Wir haben dort eine Galerie aufgemacht. Daher muß ich jetzt auch so oft dort sein.«

»Am Abend kauft aber niemand mehr etwas bei dir. Da sperrst du die Galerie doch zu. Ich bleibe einfach so lange auf, bis du wieder da bist.«

»Das geht nicht!« Gero preßte die Handflächen gegeneinander. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich heute nacht in Bad Wiessee bleibe.«

Der Fünfjährige überlegte kurz, dann verkündete er: »Dann komme ich auch mit nach Bad Wiessee.«

»Nein!« Gero wurde energisch. »Ich muß dort arbeiten. Da habe ich gar keine Zeit für dich.« Er räusperte sich, ging auf seinen Sohn zu und strich ihm über das Haar. »Morgen komme ich bereits mittags nach Hause, dann kannst du mir alles erzählen, und wir können dann auch ein Eis essen gehen.«

»Ich will nicht bis morgen warten!« Trotzig verzog sich Florians Gesicht.

»Das wirst du aber müssen.« Gero zwang sich zu einem Lächeln. »Sei ein braver Junge!«

»Ich will nicht!« Florians Wangen färbten sich. »Ich will, daß du da bist, wenn ich ins Bett gehen muß.«

»Das geht nicht, heute nicht!«

»Dann gehe ich heute nicht ins Bett.« Florian streckte sein Kinn nach vorn und starrte seinen Vater wütend an. »Ich tu es wirklich nicht!«

»Jetzt ist es genug!« sagte Gero streng.

»Ich will nicht, daß du gehst! Ich will nicht, will nicht!« Bei jedem Wort stampfte Florian mit dem Fuß auf.

Gero wußte nicht, was er tun sollte. So einen Zornausbruch hatte er noch nie erlebt. Er mußte sich allerdings eingestehen, daß er sich in der letzten Zeit kaum um die Kinder gekümmert hatte. Er sah auf die Uhr. Er mußte weg.

»Frauke!« rief er. »Würdest du dich bitte um Florian kümmern? Du mußt strenger mit ihm sein.«

»Mami, Mami!« Heulend lief Florian an seinem Vater vorbei und stürzte sich in die Arme der Mutter, die bereits auf dem Flur gewartet hatte.

Gero räusperte sich erneut, doch dann zuckte er nur hilflos die Achseln. »Tut mir leid«, murmelte er, und im Vorbeigehen sagte er etwas lauter: »Ich rufe im Laufe des Nachmittags an.«

Frauke entgegnete nichts, sie hatte ihren Sohn auf den Arm genommen und wiegte ihn sanft hin und her. Als sie den Motor aufheulen hörte, begann es in ihrem Gesicht zu zucken.

*

Mit gerunzelter Stirn sah Frauke Ebert die Sprechstundenhilfe an. »Aber ich möchte doch nur, daß der Herr Doktor mir etwas verschreibt. Ich liege oft stundenlang wach, bis ich endlich einschlafen kann.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl Florian an ihrem rechten Arm hing.

»Ich habe es Dr. Baumann gesagt.« Auch Tina Martens bemühte sich um ein verbindliches Lächeln. »Dr. Baumann bittet Sie, kurz zu warten. Wenn Sie sich bitte ins Wartezimmer setzen würden?«

»Ich möchte nur Schlaftabletten, mir fehlt sonst nichts. Dr. Baumann soll doch bitte so nett sein und mir ein Rezept ausstellen.«

»Er möchte zuerst mit Ihnen sprechen.«

»Wozu?« Frauke wandte den Kopf nach ihrer achtjährigen Tochter, die sich selbständig gemacht hatte. »Sie sehen doch, ich habe meine Kinder dabei. Bitte, sagen Sie dem Doktor, daß ich nicht warten kann.« Da Florian sich nun ebenfalls von ihrer Hand lösen wollte, nahm sie ihn auf den Arm.

Tina öffnete den Mund, aber sie schloß ihn wieder, denn zu ihrer Erleichterung sah sie jetzt Dr. Baumann aus der Ordination kommen.

»Herr Doktor!« Mit Florian auf dem Arm ging Frauke rasch auf ihn zu. »Mein Sohn ist sehr quengelig, und wo meine Tochter im Moment steckt, kann ich nicht sagen. Ich mußte meine Kinder mitbringen. Bitte, stellen Sie mir doch nur rasch ein Rezept aus.« Bittend sah sie den Arzt an.

Dr. Eric Baumann zögerte etwas. Er kannte die Familie Ebert. Gero Ebert war ein inzwischen über die Region hinaus bekannter Maler. Es war eine glückliche Familie, doch die junge Frau schien ihm heute reichlich nervös zu sein. Er sah auf das Mädchen, das gerade herangesprungen kam, dann auf den Jungen, der die Arme um den Hals der Mutter geschlungen hatte.

»Einen Augenblick müßten Sie sich schon gedulden, Frau Ebert. Aber wir haben im Wartezimmer eine Spielecke, da können sich Ihre Kinder so lange beschäftigen.«

»Darum geht es doch nicht, Herr Doktor.« Frauke war ärgerlich, und sie versuchte gar nicht erst, dies zu verbergen. »Ich will Sie auch nicht aufhalten. Ich schlafe schlecht, daher brauche ich nur ein Schlafmittel. Ich komme dann später noch einmal vorbei und hole mir das Rezept ab.«

»Ich hätte mich gerne mit Ihnen unterhalten, Frau Ebert. Für Ihre Schlafstörungen muß es einen Grund geben. Fühlen Sie sich denn auch sonst nicht wohl?« Ehe Frauke antworten konnte, griff Dr. Baumann nach ihrem Ellbogen und geleitete sie über den Gang zum Wartezimmer. »Spätestens in einer halben Stunde habe ich Zeit für Sie.«

Frauke hätte gerne nochmals widersprochen, aber Florian begann, auf ihrem Arm zu zappeln, denn Meike, seine Schwester, hatte bereits die Tür zum Wartezimmer geöffnet. Widerwillig betrat Frauke den Raum. Sie nickte den anderen Wartenden zu und fragte sich, was sie hier eigentlich sollte. Wegen eines Schlafmittels zu warten, fand sie lächerlich. Sie ging mit den Kindern zur Spielecke und war dann doch erleichtert, als die beiden sich mit Legosteinen zu beschäftigen begannen.

Als Tina Martens die nächste Patientin aufrief, überzeugte auch sie sich davon, daß die achtjährige Meike und der fünfjährige Florian friedlich miteinander spielten. Trotzdem blieb ihr Blick immer häufiger nachdenklich an den Geschwistern hängen. Es war dann auch wirklich kaum eine halbe Stunde vergangen, als sie Frau Ebert auffordern konnte, hinüber ins Sprechzimmer zu kommen.

Etwas ratlos sah Frauke auf ihre Kinder. Während Florian jetzt bemüht war, einen Turm zu bauen, hatte Meike zu einem Bilderbuch gegriffen.

»Keine Sorge, Frau Ebert! Gehen Sie nur, ich achte schon auf die Kinder.«

»Danke!« Frauke nickte ihren Kindern zu, die nur kurz hochsahen, und ging ins Sprechzimmer, wo sie bereits von Dr. Baumann erwartet wurde.

»Setzen Sie sich, bitte!« Er deutete auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand. Unsicher nahm Frauke Platz. »Und nun erzählen Sie mir, warum Sie so schlecht schlafen.«

»Warum?« Verwirrt sah Frauke den Arzt an. »Mir fehlt sonst nichts, Herr Doktor«, sagte sei dann heftig. »Ich habe keinerlei Beschwerden, ich liege einfach nur im Bett und kann nicht einschlafen, oder ich wache mitten in der Nacht auf, bin dann hellwach.«

Dr. Baumann musterte die Frau. »Arbeiten Sie etwa zuviel? Wie ich hörte, hat Ihr Mann in Bad Wiessee eine Galerie eröffnet. Sie haben damit Erfolg?«

»Den hat mein Mann ganz allein, ich habe bisher in der Galerie noch nicht geholfen. Dies ist zwar so vorgesehen, aber vorerst geht es noch nicht wegen der Kinder.«

»Natürlich! Da erübrigt sich die Frage wohl, ob Sie sich viel in geschlossenen Räumen aufhalten.«

»Richtig, Herr Doktor! Wir haben einen großen Garten. Jetzt im Sommer essen wir sogar auch meistens im Freien.«

Warum war die Frau dann nur so blaß? Auch die dunklen Ringe unter ihren Augen gefielen Dr. Baumann nicht. Ehe er jedoch eine weitere Frage stellen konnte, setzte Frauke sich aufrecht hin. »Ich kann wirklich nicht klagen, Herr Doktor. Ich habe es einfach nur satt, wach im Bett zu liegen. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, daß mir schon ein leichtes Schlafmittel helfen würde.«

»Das könnte sein. Aber zuerst müssen wir den Grund für Ihre Schlaflosigkeit herausfinden. Dazu müßte ich noch einige Untersuchungen machen.«

Fraukes Miene verschloß sich. »Das ist heute nicht möglich. Ich habe die Kinder dabei. Wenn Sie mir nur rasch ein Rezept ausstellen würden, dann kann ich gleich noch zur Apotheke.«

»Frau Ebert…« Dr. Baumann versuchte, seine Worte sorgfältig zu wählen. »Ich pflege keine Rezepte auszustellen, ohne die Patienten vorher gründlich untersucht zu haben. Schlaflosigkeit kann viele Ursachen haben.«

»Herr Doktor, ich lasse mir für nächste Woche einen Termin geben. Da ist mein Mann auch wieder öfter zu Hause, und ich habe mehr Freizeit.«

»Wenn Sie meinen«, erneut blickte Dr. Baumann seiner Patientin forschend ins Gesicht. »Sie sollten jedoch noch diese Woche morgens nüchtern hier vorbeisehen, dann können wir Ihnen schon einmal Blut abnehmen. Eine Urinprobe würde ich auch benötigen.«

»Gut, aber ein leichtes Schlafmittel können Sie mir bis dahin doch verschreiben?« Sie hielt Dr. Eric Baumanns Blick stand.

Dr. Baumann war im Begriff abzulehnen, als vor der Tür Lärm erklang, der in ein weinerliches Gebrüll überging. »Das ist Florian!« Frauke sprang auf.

»Mami, Mami!« ertönte es von außen. »Wo bist du?«

Frauke eilte zur Tür, doch da wurde diese bereits von Tina Martens geöffnet. Sie hielt Florian auf dem Arm.

»Siehst du, da ist deine Mami«, sagte sie. »Entschuldigung, er bekam plötzlich Angst, doch jetzt ist sicher wieder alles in Ordnung. Ich bringe ihn in die Spielecke zurück.« Sie stellte Florian auf den Boden. »Du bist aber schwer, mein Junge.«

»Ich denke, es ist besser, wenn wir jetzt gehen. Florian ist ein lebhaftes Kind, aber im Augenblick ist er sehr eigensinnig. Ich werde mit den Kindern einen Spaziergang am See machen. Das Rezept hole ich später bei Ihrer Sprechstundenhilfe ab. Vielen Dank!« Kurz sah sie von Dr. Baumann zu Tina, dann rief sie nach ihrer Tochter.

*

An diesem Nachmittag hatte Tina Martens viel zu tun. Trotzdem fiel ihr Frau Ebert wieder ein, und als sie ihrem Chef ein weiteres Krankenblatt auf den Schreibtisch legte, erinnerte sie ihn an die Frau.

»Das Rezept für Frau Ebert, Herr Doktor! Frau Ebert wird jeden Augenblick wieder hier sein.«

Dr. Eric Baumann sah hoch und blickte seiner Sprechstundenhilfe ins Gesicht. »Ich weiß! Danke, Tina!« Kurz zögerte er, dann fuhr er fort: »Ich werde Frau Ebert kein Schlafmittel verschreiben, bevor ich sie nicht gründlich untersucht habe. Machen sie bitte mit ihr einen Termin aus. Zur Blutabnahme kann sie jederzeit am Morgen kommen. Erinnern Sie sie bitte aber daran, daß sie dann nüchtern sein muß.«

»Ich werde es ihr ausrichten. Nur, sie wird nicht gerade erfreut darüber sein. Sie war schon vorhin etwas ungehalten.«

»Stimmt«, bestätigte Dr. Baumann. »Das habe ich auch mitbekommen.«

»Frau Ebert ist sonst immer sehr nett und liebenswürdig gewesen, heute jedoch wirkte sie nervös.« Tina überlegte laut: »Wenn sie wirklich schlecht schläft…«

»Das scheint durchaus der Fall zu sein«, fiel ihr Dr. Baumann ins Wort. »Deswegen ist sie ja zu mir gekommen. Doch diese Schlafstörungen müssen einen Grund haben. Ich möchte dies daher nicht einfach nur mit Tabletten bekämpfen. Also Tina, bitte, sehen Sie zu, daß Frau Ebert gleich Anfang nächster Woche einen Termin bekommt.«

»Gut!« Tina ging zur Tür, hielt aber plötzlich inne. Sie hatte sich vorhin so ihre Gedanken gemacht. Da sie eine gute Beziehung zu ihrem Arbeitgeber hatte, scheute sie sich jetzt auch nicht, diese auszusprechen.

»Da sind aber auch die Kinder. Ich habe sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Es sind nette Kinder, obwohl der kleine Florian gerade in einer Trotzphase zu stecken scheint.«

Dr. Baumann massierte sich die Nasenflügel. »Sie haben recht, Tina!«

Erstaunt sah Tina ihren Chef an. Noch hatte sie sich nicht gänzlich geäußert, doch Dr. Baumann nickte. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Frau Ebert kommt. Ich werde mir dann Zeit für sie nehmen, für sie und die Kinder. Ich möchte mit den Kindern sprechen und sie auch untersuchen.«

Voller Bewunderung sah Tina nun auf ihren Chef. »Es ist Ihnen also auch aufgefallen. Ich frage mich, wie das möglich ist. Die beiden sind Geschwister, sie bekommen doch sicher dasselbe zu essen.« Nun zuckte Tina die Achseln. »Für seine fünf Jahre ist der Kleine sehr schwer, er hat sehr viel Übergewicht. Er hat auch sofort in die Keksdose gegriffen und sich etliche Kekse gleichzeitig in den Mund gestopft.«

»Mit einem Wort, er ist zu dick«, meinte Dr. Baumann. »Seine Schwester hingegen ist ein Strich in der Landschaft. Tja, ich muß mit Frau Ebert sprechen. Also bitte, Tina, lassen Sie Frau Ebert nicht weg, wenn sie kommt. Wenn es sein muß, dann nehme ich mir auch sofort für sie Zeit.« Er griff nach dem Krankenblatt, das Tina vorhin gebracht hatte, und begann es zu studieren, ein Zeichen für Tina, daß sie den nächsten Patienten hereinlassen konnte.

Dr. Baumann sah auf das Krankenblatt, doch er nahm die Aufzeichnungen nicht wahr, er dachte über die Familie Ebert nach. Sie waren ein gutaussehendes Paar, ein glückliches Paar. Gero Ebert hatte dem Erfolg nie hinterherlaufen müssen. Er konnte seine Bilder verkaufen, hatte sich auch als Porträtmaler einen Namen gemacht. Im Gegensatz zu anderen Künstlern hatte er nie von der Hand in den Mund leben müssen. Es ging der Familie gut, sogar sehr gut.

Eine weitere Patientin trat ein, Dr. Baumann erhob sich, um sie zu begrüßen. Er bat sie, Platz zu nehmen, und konzentrierte sich jetzt auch wirklich auf den Krankenbericht. Weitere Patienten nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und so waren fast zwei Stunden vergangen, als ihm Frauke Ebert wieder einfiel. So begleitete er einen Patienten hinaus und ging dann zur Anmeldung. Dort beugte er sich über den Tresen und rief nach Tina.

»Sie ist nicht zurückgekommen, Herr Doktor«, berichtete Tina sofort. »Ich wundere mich schon, denn das Rezept schien ihr doch sehr wichtig zu sein.«

Das hatte Dr. Baumann auch gedacht. Sein Blick glitt zur Uhr. Es war ein arbeitsreicher Tag gewesen, und bestimmt hatte Tina dies genauso empfunden. »Morgen«, meinte er dann. »Wahrscheinlich kommt Frau Ebert morgen früh in die Praxis. Ich sagte ihr ja, daß wir ihr noch Blut abnehmen müssen, das wir für die weiteren Untersuchungen benötigen.«

Tina nickte. Sie ging zur Tagesordnung über. »Zwei Patienten warten noch, Herr Doktor.«

»Dann sehen Sie zu, daß Sie pünktlich Feierabend machen können. In den letzten Tagen mußten Sie stets länger bleiben.«

»Das war nicht weiter schlimm.« Tina schenkte ihrem Chef ein Lächeln, und dieser wußte, daß es von Herzen kam. Tina liebte ihren Beruf, sie war stets ganz bei der Sache. Sie hatte nur eine Schwäche, sie kam morgens nur schwer aus dem Bett, und so erschien sie stets in letzter Minute und meistens völlig außer Atem in der Praxis.

*

Dr. Eric Baumann betrat das Wohnzimmer. Er hatte sich bereits umgezogen, trug eine Hose, die an den Knien ausgebeult war, und ein Freizeithemd. Fragend sah er auf Katharina Wittenberg. Katharina, die bereits seinem Vater den Haushalt geführt hatte und daher schon seit vielen Jahren im Doktorhaus lebte, hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Die schmerzenden Beine hatte sie weit von sich gestreckt. Jetzt richtete sie sich aber sofort auf und erwiderte den Blick ihres Schützlings.

»Kann ich noch etwas für dich tun, Eric?«

Da der vierzigjährige Arzt nicht sofort antwortete, stemmte sie ihren fülligen Leib aus der Couch.

»Ich wollte dich nicht stören.« Eric ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du siehst müde aus.«

»Ach, es sind nur meine Beine.«

»Hast du Schmerzen?« Erics Miene wurde besorgt. Für ihn war Katharina wie eine Mutter. Er war noch ein Kind gewesen, als er seine Mutter verloren hatte, und von da an war Katharina immer für ihn da gewesen.

»Nein, nein«, wehrte die Sechzigjährige ab. »Ich habe auch schon Vorsorge getroffen.«

»Was hast du denn gemacht?« Eric runzelte die Stirn.

»Ich habe meine Beine ganz dick mit der Venensalbe eingeschmiert«, meinte Katharina und streckte energisch das Kinn nach vorn. »Du mußt dich also nicht weiter um mich kümmern.«

»Nun hör mir einmal gut zu, Katharina! Du lebst in einem Doktorhaus, und da wird nicht selbst an sich herumgedoktert. Für Schmerzen und Krankheiten bin immer noch ich zuständig. Setz dich wieder hin, ich sehe mir deine Beine an.«

Stur schüttelte Katharina den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, mein Lieber! Du hast Feierabend! Im übrigen gibt es nicht den geringsten Grund, daß du dir über die Beine einer alten Frau den Kopf zerbrichst.« Sie trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe wohl noch das Recht, müde zu sein, wenn ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen bin.«

Eric unterdrückte ein Lächeln. Das war typisch Katharina! Ständig versuchte sie, alles unter Kontrolle zu haben. Aber er wußte wirklich nicht, was er ohne sie machen sollte. Nicht nur, daß sie das Haus in Ordnung hielt, sie sorgte auch für sein leibliches Wohl, und auf ihre Ratschläge wollte er im Grunde auch nicht verzichten.

»Was siehst du mich denn so an?« begann sie da auch schon zu schimpfen. »Ich bin nicht krank, ich habe nur müde Beine. Das wird mich aber nicht daran hindern, dir noch etwas zu bringen. Was darf es denn sein? Etwas Süßes vielleicht? Ich habe noch einen Pudding im Kühlschrank.«

Eric schüttelte den Kopf.

»Oder einen Kompott?«

»Danke! Das Abendessen war ausgezeichnet, und ich bin rundherum satt. Ich wollte nur einen Abendspaziergang machen, und da wollte ich dich fragen, ob du nicht mitkommen willst.«

Katharinas Augen leuchteten auf. »Ja…« Dann zögerte sie jedoch. Sie freute sich zwar immer, wenn Eric sie zum Mitkommen aufforderte, doch sie wünschte sich auch schon seit langem eine Frau für ihn.

»Natürlich, Katharina, deine Beine! Du ruhst dich für heute aus.« Er nahm sie an den Schultern und führte sie zur Couch zurück. Er wußte, zu einer Untersuchung konnte er sie heute nicht mehr überreden. »Ich werde auf deine Begleitung verzichten und nur mit Franzl losziehen.«

Bedauernd hob Katharina die Schultern an. Ein Abendspaziergang mit Eric und dem Hund gehörte sonst zu ihren liebsten Beschäftigungen. Doch einen Spaziergang wollte sie ihren Beinen heute wirklich nicht mehr zumuten.

»Also, bis später!« Mit sanfter Gewalt drückte Eric sie auf die Couch. »Und morgen, noch bevor meine Sprechstunde beginnt, sehe ich mir deine Beine an. Für heute solltest du sie hochlagern. Du weißt, mit einer Venenentzündung ist nicht zu spaßen. Sie kann zu einer Thrombose führen.«

»Keine Sorge, ich weiß Bescheid!« Katharina streckte ihre Beine wieder von sich, und ein Seufzer der Erleichterung kam von ihren Lippen.

Eric schenkte ihr ein Lächeln. Dann erst wandte er sich ab. Es tat ihm leid, daß Katharina gerade heute nicht mitkommen konnte. Er wollte nämlich bei der Familie Ebert vorbeisehen. Wie zufällig hätte der Spaziergang an deren Haus vorbeiführen sollen. Er pfiff nach dem Hund und machte sich auf den Weg.

*

Das Haus der Familie Ebert befand sich inmitten eines großen Grundstücks. Dr. Baumann hatte seinen Hund an die Leine genommen und schlenderte nun dicht an den Büschen und Sträuchern vorbei, die das Grundstück einschlossen. Das Haus konnte man von hier nicht sehen. Franzl zerrte an der Leine, und Eric ließ sich um die Ecke ziehen.

Er kam zur Garageneinfahrt, unwillkürlich verhielt Eric nun den Schritt. Irgend etwas schien hier nicht zu stimmen. Menschen standen herum und diskutierten. Als Frauke Ebert dann aufgelöst auf der Bildfläche erschien, ging er auf sie zu.

»Herr Doktor!« Fraukes Stimme war ein erregtes Aufschluchzen.

»Was ist denn passiert, Frau Ebert?«

»Ich kann meinen Mann nicht erreichen.« Man sah Frauke an, daß sie sich bemühte, ruhiger zu werden.

»Wenn ich helfen kann?« bot Eric an. Er ließ den Blick schweifen und entdeckte Meike, die auf der Gartenmauer saß und vor sich hinstarrte. War etwas mit dem Mädchen?

»Ich weiß nicht!« Frauke fuhr sich über die Augen. »Florian ist verschwunden. Wir suchen ihn schon die ganze Zeit.«

Eric versuchte zu verstehen, doch nun schaltete sich eine Nachbarin ein. Sie strich Frauke über die Schulter. »Der Kleine ist im Moment in einem schwierigen Alter. Er versteckt sich sicher nur irgendwo, und wie ich den Schlingel kenne, freut er sich darüber, daß wir ihn alle suchen.«

»Er ist also weggelaufen?« fragte Eric.

»Ich weiß es nicht!« bekannte Frauke erneut. »Er ist jedenfalls nicht da.«

»Hat er das öfter gemacht?«

»Was?« Frauke sah Dr. Baumann an, und in ihrem Gesicht stand jetzt Abwehr.

Eric zuckte die Achseln. »Daß er wegläuft und sich versteckt. Ich meine, verschwindet er öfter heimlich?«

»Nein! Warum sollte er auch? Er ist doch erst fünf!« Hilfesuchend wandte sie sich an die Nachbarin.

»Er ist ein aufgewecktes Kind und hat sehr viel Phantasie«, meinte diese. »Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Florian wird sicher gleich wieder auftauchen.« Die Nachbarin legte Frauke den Arm um die Schultern. »Es wird doch bereits nach ihm gesucht.«

Da auch Eric sich nun Sorgen machte, stellte er gleich die nächste Frage: »Wie lange ist Florian denn schon verschwunden?« Er sah Frauke an, und diese senkte den Blick.

»Ich dachte, er wäre bei Meike im Garten. Als ich ihn holen wollte, war er jedoch nicht da. Meike hat mir geholfen, wir haben das ganze Haus abgesucht.«

»Wie lange ist das her?« hakte Eric nach, als sie schwieg.

»Ich weiß es nicht genau, eine halbe Stunde, eine dreiviertel Stunde? Wie gesagt, Bekannte suchen bereits die Umgebung ab. Nur meinen Mann, den konnte ich nicht erreichen.«

»Sie sind doch Dr. Baumann? Haben Sie nicht die Praxis Ihres Vaters übernommen?« fragte die Frau, die Frauke so offensichtlich zur Seite stand.

Eric nickte.

»Florian ist bestimmt nicht verletzt. Er hält sich nur irgendwo versteckt.«

Eric verstand. »Sie meinen, daß hier kein Arzt benötigt wird?«

»Genau!«

»Aber Dorli!« Frauke löste sich von ihrer Nachbarin. »Florian könnte doch wirklich etwas passiert sein. Ich weiß nicht einmal, wie weit er sich vom Haus entfernt hat. Vielleicht ist er auf eine Mauer geklettert und heruntergefallen.« Sie wandte sich an Dr. Baumann: »Ich bin froh, daß Sie hier sind, Herr Doktor. Wenn Florian verletzt ist, dann können Sie ihm doch helfen, oder?«

Automatisch nickte Eric. »Wenn er bisher noch nie weggelaufen ist, dann wird er sicherlich irgendwo in der Nähe sein«, versuchte er die aufgeregte Frau dann jedoch zu beruhigen. »Ich bleibe jedenfalls hier. Wenn es Ihnen recht ist, sehe ich mich nur etwas um.«

Frauke nickte, doch dann fuhr sie herum. Rufe uns Stimmen klangen auf. Es waren vier Kinder, die herangesprungen kamen. Jeder versuchte, den anderen zur Seite zu drängen und somit der Erste zu sein. Gleichzeitig versuchten sie sich gegenseitig zu übertönen. Es dauerte einige Sekunden, bis Eric und die anderen verstanden, daß die Kinder Florian gefunden hatten. Alle wollten sie gleichzeitig berichten.

»Moment!« Eric hob die Hände. Jetzt hätte er sich Katharina an seine Seite gewünscht. Die verstand es, auch mit Kindern umzugehen, und hätte sich ihnen gegenüber durchgesetzt.

Frauke redete nun ihrerseits hastig auf die Kinder ein. Sie brachte keine Geduld auf, und so dauerte es noch einige Minuten, bis die Kinder nacheinander berichteten. Florian war also auf einen Hochsitz geklettert und wollte nicht herunterkommen. Der Hochsitz befand sich nicht allzu weit vom Haus entfernt, oben am Waldrand.

»Seid ihr auch ganz sicher?« fragte Frauke. »Ich war vorhin schon im Wald und habe nach Florian gerufen. Er müßte mich eigentlich gehört haben.« Sie wartete aber eine Antwort nicht mehr ab, sondern drehte sich um und eilte Richtung Wald davon. Die Kinder liefen hinter ihr her, und auch die Nachbarin folgte.

Eric zögerte. Er wußte nicht so recht, was er tun sollte. Franzl, der bisher desinteressiert herumgeschnüffelt hatte, begann nun heftiger an der Leine zu ziehen. Schließlich nahm er vor seinem Herrchen Aufstellung und bellte fordernd.

»Du hast recht«, meinte Eric und beugte sich zu seinem Hund hinunter. »Warum sollen wir nicht auch zum Waldrand gehen, wenn wir schon mal hier sind. Es ist ja nicht weit.«

Franzl bellte freudig. Nach einem treuherzigen Blick lief er los, und Eric folgte ihm. Hinter der Hecke führte ein Feldweg zum Wald. Eric beschleunigte seinen Schritt nicht, gemächlich schlenderte er hinter den Voraneilenden her. Er hörte Florian schon schreien, noch bevor er den Hochsitz erreicht hatte.

»Ich will nicht«, brüllte der Kleine. »Ich komme nicht herunter!«

»Aber Flori, was willst du denn da oben?« Frauke bemühte sich um ihren Sohn, obwohl sein Gebrüll an ihren Nerven zerrte.

»Ich schlafe heute hier«, kam es schluchzend von oben. »Ich komme nicht zurück.«

»Es wird bald dunkel. Die Sonne geht unter, und dann ist es finster.« Frauke setzte den Fuß auf die Holzleiter, die nach oben führte. Sie streckte die Hand in die Höhe. »Komm, ich helfe dir!«

»Geh weg!« schrie Florian. »Ich will nicht…« Seine Stimme war durch sein hysterisches Schluchzen kaum noch zu verstehen. Er kniete auf dem Sitz und schlug heftig mit den Armen um sich. Nun beugte er sich auch noch nach vorn.

»Nicht, Flori!« rief Frauke erschrocken.

»Mami, er wird herunterfallen«, rief Meike, die ebenfalls unter dem Hochsitz stand.

»Lassen Sie mich mit ihm sprechen.« Eric trat nach vorn.

»Mami soll weggehen«, kreischte Florian. »Ich lasse mich nicht anfassen! Weg! Alle sollen weggehen!«

Eric legte der Mutter die Hand auf die Schulter. »Bitte«, sagte er, »Ihr Sohn ist sehr aufgeregt. Lassen Sie es mich versuchen. Florian, erinnerst du dich an mich?«

»Ich will nicht«, schluchzte der Kleine. Er legte die Hände vor das Gesicht, dann streckte er die rechte Hand sofort wieder aus. »Alle sollen weggehen, alle!« Er schnupfte laut auf. »Du, Onkel Doktor, du kannst bleiben.«

»Da siehst du es« brummte die Frau, die Frauke vorhin Dorli genannt hatte. »Er ist in einer Trotzphase! Er will nur seinen Willen durchsetzen. Was denkst du, wie schnell er herunterkommt, wenn es dunkel wird?«

»Ich will nicht nach Hause«, ertönte es von oben. Das Weinen schwoll wieder an. In Erics Ohren klang es sehr verzweifelt. Daher wandte er sich auch erneut an Frauke Ebert.

»Frau Ebert, es ist sicher besser, wenn Sie zurückgehen. Ich werde mit Ihrem Sohn sprechen. Ich bringe ihn dann nach Hause.« Er wartete Fraukes Antwort nicht ab, sondern sah in die Runde.

»Es ist besser, wenn Sie alle gehen.« Als letzte sah er Frau Dorli an.

»Lächerlich, dieser Aufwand!« meinte diese, drehte sich um und ging den Weg zurück.

»Flori«, begann Frauke. Sie sah zu ihrem Sohn hinauf.

»Nicht«, mahnte Eric leise. Er hatte wirklich Angst, daß der Kleine herunterfallen könnte. Für ihn war es sowieso rätselhaft, wie der Fünfjährige überhaupt dort hinaufgekommen war.

Franzl, der Mischlingshund, der sich bis jetzt ruhig verhalten hatte, bellte und sprang am Pfosten hinauf. Prompt erschien Florians Kopf über der Plattform. Er beugte sich nach vorn, und Frauke stieß einen erschrockenen Laut aus.

Florian beachtete seine Mutter nicht. Er schniefte, dann fragte er: »Ist das dein Hund, Onkel Doktor?«

»Ja«, sagte Eric. »Er begleitet mich immer, wenn ich spazierengehe.«

»So einen Hund möchte ich auch«, kam es von oben.

»Gut, Flori, wir können darüber sprechen. Komm jetzt bitte herunter.« Erneut hob seine Mutter die Arme empor.

»Zu dir komme ich nicht! Ich bleibe für immer hier.« Die letzten Worte gingen bereits wieder in einem heftigen Schluchzen unter.

Kurz berührte Eric Fraukes Schulter. »Bitte, gehen Sie und nehmen Sie Ihre Tochter mit.«

Im ersten Augenblick sah es so aus, als ob die einunddreißigjährige Mutter protestieren wollte, doch dann griff sie nach der Hand ihrer Tochter und wandte sich wortlos ab. Jetzt war Eric mit dem Jungen allein. Er fragte sich, was in diesem wohl vorgehen mochte.

Franzl begann wieder zu bellen. Ihm dauerte dies alles zu lange.

»Wirst du wohl ruhig sein«, schimpfte Eric automatisch. Florians Interesse war jedoch geweckt. Er hörte auf zu schluchzen und beugte sich wieder über den Rand.

»Wie heißt er?«

»Franzl!« Eric lächelte. »Ich helfe dir herunter, dann kannst du ihn streicheln.«

Florian sagte nichts. Aber er zog sich nicht zurück, als Eric die Sprossen hinaufstieg und nach ihm griff. Er ließ sich auch herunterheben und hockte sich dann sofort vor den Hund hin. Franzls Knopfaugen blickten in das verweinte Kindergesicht. Der Hund hielt still, als Florians Hände über sein Fell strichen.

»Ein lieber Hund«, sagte Florian und seufzte.

»Na ja, er hat auch seine Mucken«, meinte Eric. Er setzte sich auf eine Sprosse. »Er kann manchmal ein richtiger Gauner sein. Zwingen läßt er sich zu nichts, da ist er genauso wie du.«

Der Kleine hob den Kopf, und da kullerten auch schon wieder dicke Tränen über seine Backen. »Ich will nicht nach Hause zu Mami.«

Eric griff nach dem Fünfjährigen und zog ihn auf seine Knie. »Warum denn, Florian? Deine Mami hat sich große Sorgen um dich gemacht.«

Florian senkte den Kopf. Leise kam es dann über seine Lippen: »Papa kommt auch nicht mehr nach Hause.«

Eric wurde hellhörig. Vorsichtig begann er, den Kleinen auszufragen. Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich erfuhr er doch den Grund, warum das Kind weggelaufen war. Florian hatte ein Telefongespräch belauscht. Seine Mami hatte mit seinem Papa gesprochen. Unter Tränen berichtete Florian, daß seine Mami sehr zornig gewesen war. Sie hatte laut in den Hörer geschrien und gesagt, daß sein Papa überhaupt nicht mehr nach Hause zu kommen brauchte.

*

Katharina Wittenberg war auf der Couch eingenickt, jetzt schreckte sie hoch. Es war bereits dunkel im Wohnzimmer. Nur durch die halbgeöffnete Tür fiel vom Flur etwas Licht herein. Sie hörte Schritte und dann das Bellen des Hundes. Auf der Türschwelle hielt der Hund inne und winselte.

»Was ist denn hier los?« Dr.

Eric Baumann starrte ebenfalls in die Dunkelheit. Seine Hand griff zum Lichtschalter. »Katharina«, rief er erschrocken. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Katharina blinzelte, die plötzliche Helligkeit machte ihr zu schaffen. Franzl sprang nun freudig bellend an ihr hoch.

»Ruhig, ruhig!« Katharina versuchte ihn abzuwehren. Dann sah sie zu Eric und meinte schnippisch: »Ich dachte, du wolltest nur einen Spaziergang machen?«

»Meine Aufgabe war es, ein weinendes Kind zu trösten. Ob mir das allerdings ohne Franzl gelungen wäre, das kann ich nicht sagen.«

Franzl hatte seinen Namen gehört und kehrte zu seinem Herrchen zurück. Treuherzig sah er zu ihm auf.

»Du bist wirklich ein kluger Hund. Ich bin stolz auf dich.« Eric kraulte Franzl an den von ihm besonders bevorzugten Stellen. »Wir werden aber unser Versprechen halten müssen und Florian öfter besuchen.«

»Florian?« Katharina runzelte die Stirn. »Willst du mir nicht endlich sagen, was geschehen ist?«

»Schon!« Ein spitzbübisches Lächeln huschte über Erics Gesicht. »Da mußt du mir aber zuerst verraten, warum du im Dunkeln gesessen hast?«

»Hm!« Katharina brummte ungehalten.

»Das Haus lag völlig im Finstern. Da dachte ich, du wärst schon zu Bett gegangen. Ich will dich auch jetzt nicht länger aufhalten. Es ist ja schon nach zehn Uhr. Wenn du müde bist, dann solltest du zu Bett gehen.«

»Unsinn!« Ihre Hände fuhren in die Höhe. Sie versuchte, ihr zerzaustes Haar zu richten. »Ich… ich…« Sie wußte nicht weiter.

»Du hast geschlafen!« Eric lächelte. »Aber im Bett ist dies sicher bequemer.«

»Ich habe ein kleines Nickerchen gemacht«, gab sie jetzt zu. Dann streckte sie sich jedoch. »Und was ist auch schon dabei?« Sie ging auf ihren Schützling zu. »Nun bin ich jedoch wieder hellwach und möchte wissen, wer dieser Florian ist. Setz dich, ich hole dir etwas zu trinken.« Sie wollte sich an Eric vorbeischieben, aber dieser wich nicht zur Seite.

»Du hast schon lange Feierabend. Du bist es, die sich wieder hinsetzen wird. Ich hole eine Flasche Wein aus dem Keller. Wenn du nicht zu müde bist, kannst du gerne ein Glas mit mir trinken.«

»Natürlich will ich das, aber ich kann doch…«

»Wenn du nicht still bist, dann hole ich mir die Weinflasche und ziehe mich damit in mein Zimmer zurück. Ich muß nämlich über diesen Florian nachdenken.«

Da Katharina ihren Eric kannte, lächelte jetzt auch sie. »Ich versichere dir, daß meine kleinen grauen Zellen wieder voll einsatzbereit sind. Ich kann dir also beim Nachdenken helfen.«

»Das freut mich«, gab Eric offen zu. »Ich nehme das Angebot aber nur an, wenn du dich wieder hinsetzt.«

»Ja, ja«, brummte Katharina. Sie bewegte sich auf das Buffet zu.

»Du holst nicht einmal Gläser«, sagte Eric. Er drohte: »Wenn du es dir nicht wieder auf der Couch gemütlich machst, dann lösche ich das Licht und verschwinde.«

Franzl bellte, er lief von Eric zu Katharina und kehrte dann wieder zu Eric zurück.

»Für dich ist auch Feierabend, mein Lieber«, meinte Eric. Er bückte sich und griff nach Franzls Halsband. »Wir beide gehen jetzt zuerst in die Küche. Dort bekommst du noch etwas von mir, und dann geht’s ab ins Körbchen.«

Franzl winselte und senkte den Kopf. Dann wagte er nochmals einen Blick in das Gesicht seines Herrchens. Er erkannte, daß dieser es ernst meinte. Da zog er den Schwanz ein und verschwand in Richtung Küche. Eric richtete sich wieder auf. Er sah auf seine Haushälterin.

»Schon gut«, brummte diese und bewegte ihren fülligen Leib in Richtung Couch.

»Ich bin gleich zurück, und dann hoffe ich, daß du mir etwas über die Familie Ebert erzählen kannst.«

»Ebert? Richtig, der Kleine von den Eberts heißt Florian.« Nachdenklich ließ Katharina sich auf die Couch fallen. »Hast du etwa den kleinen Flori trösten müssen?«

Sie bekam keine Antwort, denn Eric war bereits seinem Hund in die Küche gefolgt. Er füllte Franzls Trinknapf und gab ihm auch noch ein Leckerle. Danach ging er in den Keller hinab.

Ungeduldig sah ihm Katharina schon entgegen, als er mit der Weinflasche das Wohnzimmer wieder betrat.

»Ungefähr fünf Jahre muß Florian Ebert jetzt sein. Er hat auch eine ältere Schwester. Es sind reizende Kinder.«

Noch ging Eric nicht darauf ein. Er stellte die Weinflasche auf den Tisch, holte zwei Gläser und öffnete die Flasche. Langsam und bedächtig füllte er die Gläser, erst dann fragte er: »Hast du die Kinder in der letzten Zeit einmal gesehen?«

Katharina überlegte.

»Es ist dir also nichts aufgefallen?« hakte Erik nach. Er setzte sich nun Katharina gegenüber.

»Nicht, daß ich wüßte! Nun sag schon, was ist mit dem Jungen los?«

»Ich hoffe, daß Frau Ebert wie versprochen mit ihm und dem Mädchen in meine Praxis kommt. Ich möchte beide Kinder untersuchen, aber auch die Mutter. Frau Ebert war übrigens vorgestern schon einmal bei mir.« Er schwieg kurz, da er aber Katharinas fragenden Blick spürte, fuhr er fort: »Sie wollte, daß ich ihr Schlaftabletten verschreibe.«

»Und das hast du nicht getan?« Katharina, die bereits nach dem Weinglas gegriffen hatte, stellte dieses wieder ab, ohne getrunken zu haben.

Erics Miene verschloß sich. »Ich stelle keine Rezepte aus ohne vorherige Untersuchung.«

Katharina nickte, dann fragte sie: »Und wo lag das Problem?«

»Sie wollte sich nicht die Zeit für eine Untersuchung nehmen. Tina und auch ich hatten eigentlich erwartet, daß sie nochmals vorbeikommt, aber das hat sie nicht getan.«

Katharina wartete. Sie kannte den Arzt, und so wußte sie, daß da noch etwas kommen würde. Eric schien sich Sorgen zu machen. Dieser griff jetzt jedoch zum Glas und meinte: »Laß uns zuerst trinken.«

»Gut! Auf dein Wohl!« Katharina hob das Glas und prostete ihm zu. Sie trank und lehnte sich dann wieder zurück. Sie mußte sich einige Zeit gedulden, da Eric nun nachdenklich in sein Glas starrte. Schließlich fragte sie: »Wer ist denn nun krank? Die Kinder oder Frauke Ebert?«

»Ich weiß es nicht!«

»Moment! Um wen machst du dir denn nun Sorgen?«

Eric sah Katharina an. »Um die ganze Familie. Ich dachte eigentlich, daß es eine glückliche, zufriedene Familie ist.«

»Das ist sie auch! Gero hat Erfolg, er liebt seine Frau und vor allem auch seine Kinder. Frauke und Gero passen ausgezeichnet zusammen. Ich kenne kein perfekteres Paar.«

»Du hast also noch nichts gehört?« Enttäuscht nahm Eric einen weiteren Schluck.

»Gehört?« wiederholte Katharina. Dieses Mal wußte sie wirklich nicht, worauf Eric hinaus wollte.

»Du kennst doch sonst immer alle Neuigkeiten!«

»Du meinst allen Tratsch?« Katharinas Augenbrauen zogen sich in die Höhe.

»Ich habe gesagt, Neuigkeiten.«

»Nun!« Katharina verschränkte die Arme vor der Brust. »Gero ist Künstler, und trotzdem ist er nicht überheblich. Er kann seiner Familie einiges bieten. Kürzlich hat er in Bad Wiessee eine Galerie eröffnet, und wie man so hört, hat er auch damit Erfolg.«

»Ich weiß, das wurde mir auch erzählt.« Ungeduldig schob Eric das Weinglas hin und her.

»Was willst du denn eigentlich wissen?« Katharina war ratlos. »Ich dachte, du spendierst mir einen Wein, und dafür soll ich dir Ratschläge geben.« Sie zuckte die Achseln. »Natürlich mußt du meine Ratschläge nicht annehmen.«

»Du hast schon richtig vermutet.« Eric begann nun, ausführlich von Fraukes Auftauchen in der Praxis zu erzählen und dann von Florian und Meike. Er berichtete auch, wie verschieden die Kinder in ihrem Aussehen waren, und daß dies auch Tina aufgefallen war.

»Du denkst an Magersucht?« Katharina lebte lange genug in einem Doktorhaushalt, um sich auszukennen. »Ausgeschlossen! Da gehen doch immer seelische Probleme voraus. Diesen Kindern geht es aber gut.« Sie schüttelte den Kopf, doch dann dachte sie nach. »Was war denn heute mit Florian? Du bist ihm doch nicht zufällig begegnet?«

»Richtig!« gab Eric zu. »Da Frau Ebert nicht mehr in die Praxis gekommen ist, wollte ich nach ihr sehen. Ich wollte einfach nur so an ihrem Haus vorbeispazieren. Nun, ich habe Frauke Ebert dann auch gesehen. Sie war völlig aufgelöst, was auch kein Wunder war, denn ihr Sohn war verschwunden.« Dann erzählte er der aufmerksam zuhörenden Katharina von Florian.

»Nein, das verstehe ich nicht!« Diesmal nahm Katharina einen kräftigen Schluck Wein zu sich. »Frauke und Gero sind sehr gute Eltern. Sie hatten immer Zeit für ihre Kinder. Das wissen alle.«

»Sie hatten, das hast du jetzt selbst so gesagt. Kann sich das denn nicht vielleicht geändert haben?«

»Nein! Warum auch?« Katharina, die sonst immer alles sofort begriff, konnte Erics Gedankengang dieses Mal nicht folgen. Also mußte er deutlicher werden.

»Es könnte doch sein, daß sich im letzten Jahr einiges geändert hat«, begann er vorsichtig. »Herr Ebert ist nun oft in Bad Wiessee. Seine Frau würde ihm dort sicher gerne helfen, aber wegen der Kinder kann sie das nicht.«

»Gero waren die Kinder immer sehr wichtig. Sie konnten ihn immer stören.«

»Dies kann sich geändert haben«, sagte Eric nochmals.

Plötzlich begriff Katharina, worauf Eric hinaus wollte. »Du meinst, eine andere Frau? Nein, ganz sicher nicht! Da irrst du dich!« Katharinas Brust hob und senkte sich. »Das ist völlig ausgeschlossen! Aber ich werde mich etwas um die Familie kümmern. Die Kinder waren schon immer sehr lebhaft. Wenn Florian sich nun in einer Trotzphase befindet, so kann ich mir schon vorstellen, daß er ständig widerspricht. Vielleicht sollte Frauke auch einmal Urlaub machen. Auf jeden Fall soll sie dich in der Praxis aufsuchen.«

»Wenn du mit Frau Ebert sprichst, dann sage ihr aber, daß ich auch ihre Kinder untersuchen will.«

Katharina spürte jetzt doch wieder ihre Müdigkeit. Lächelnd lehnte sie sich zurück, gähnte hinter der vorgehaltenen Hand und versicherte nochmals: »Du täuschst dich, Eric! Florian ist trotzig, aber bestimmt nicht krank. Jedes Kind kommt einmal in so eine Phase. Auch du warst nicht immer der liebe Junge.«

Eric erinnerte sich, daß Frau Eberts Nachbarin auch so etwas Ähnliches angedeutet hatte. Er beschloß, heute nicht länger darüber nachzudenken. Der kleine Florian war wieder zu Hause, und wahrscheinlich schlief er bereits selig in seinem Bettchen. Seine Mami hatte ihm ja auch sogleich einen Kakao, was er besonders gerne mochte, gemacht. Eric gähnte nun ebenfalls, dann leerte er sein Glas.

*

Katharina Wittenberg hielt den kleinen Florian auf ihrem Schoß. Obwohl sie nie eigene Kinder gehabt hatte, konnte sie gut mit Kindern umgehen. Florian hatte auch sofort Zutrauen zu ihr gefaßt. »Ich finde es toll, daß du bei uns bleibst. Da kann Mami lange bei Papa bleiben«, verkündete er und begann, auf ihrem Schoß hin und her zu hüpfen.

»Das finde ich auch!« Katharina lächelte seiner Mutter zu, die unsicher auf der anderen Seite des Tisches stand. Sie hatte für Frau Katharina Kaffee gemacht und diesen gerade gebracht.

»Ich kann doch nicht einfach nach Bad Wiessee fahren?«

»Warum sollten Sie das denn nicht können?« Katharina war ganz anderer Ansicht. Ein Blick auf die Kinder hatte genügt. Sie fand jetzt auch, daß Erics Vermutung richtig sein könnte. Die Familie hatte Probleme. Aber sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, daß da eine andere Frau im Spiel sein sollte.

»Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mir Ihre Hilfe anbieten. Zur Zeit ist es wirklich etwas schwierig. Gero hat sehr viel zu tun…« Frauke sprach nicht weiter.

»Nichts ist so schwierig, als daß man nicht versuchen könnte, dies zu ändern. Ich finde es gut, daß Sie Ihre Kinder nicht allein lassen wollen. Aber auf mich können sie sich verlassen. Ich bleibe hier, bis Sie zurück sind. Wenn es länger dauert, dann bekommen Florian und Meike von mir auch etwas zu essen. Und ins Bettchen stecken kann ich die beiden auch.«

»Nein… nein, wenn ich nach Bad Wiessee fahre, dann will ich nur rasch in der Galerie vorbeisehen.« Fraukes Wangen überzogen sich mit einer leichten Röte. »Vielleicht kann Gero sich freimachen und kommt mit mir zusammen zurück.«

»Dann sollten Sie sich auf den Weg machen.« Katharina hob Florian hoch und stellte ihn auf den Boden. Das gefiel dem Kleinen nun ganz und gar nicht. Als Katharina dann auch noch aufstand, begann er, an ihrer Hand zu zerren.

»Ich will nicht, daß du Mami wegschickst! Wer bist du überhaupt?«

»Ich bin die Tante Katharina, das habe ich dir doch erklärt. Ich komme vom Onkel Doktor…« Katharina wollte noch etwas sagen, doch Florian fiel ihr ins Wort:

»Warum hast du den Onkel Doktor nicht mitgebracht? Ich will den Hund sehen. Du mußt den Onkel Doktor mit dem Hund rufen.«

»Du bist aber dumm«, meldete sich nun seine Schwester zu Wort. »Der Onkel Doktor kann jetzt nicht kommen. Er muß sich um die kranken Leute in seiner Praxis kümmern. Wir waren doch erst kürzlich dort, da haben wir gesehen, wie viele Leute dort warten.«

»Aber ich will, daß der Onkel Doktor und sein Hund auch da sind. Dann kann Mami wegfahren.«

»Du begreifst wirklich überhaupt nichts.« Meike machte eine abfällige Handbewegung. »Du bist eben noch ein Baby. Mami will zu Papa, das ist wichtig!«

Florian schob seine Unterlippe nach vorn. Das Nachdenken dauerte aber nur wenige Sekunden, danach lief er zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Hier!« rief er triumphierend. »Mami kann Papa anrufen. Sie soll ihm sagen, daß er nach Hause kommen muß.«

Katharina schmunzelte. Ihr gefiel der Kleine, auch wenn er wirklich zu dick war. Sie ging zu ihm und fuhr ihm über das Haar. »Ich mache dir einen Vorschlag. Deine Mami kann dich ja anrufen, wenn sie bei deinem Papa ist. Dann kannst du selbst mit deinem Papa sprechen.«

»Ja! Das muß Mami tun.« Florian nickte.

»Gut, dann begleiten wir deine Mami jetzt zum Auto. Wir werden ihr winken.«

Wieder nickte Florian. Jetzt wandte sich Katharina an Frauke: »Nun, worauf warten Sie noch?«

Frauke sah zum Telefon, Florian hatte den Hörer wieder aufgelegt. »Ich könnte doch wirklich…«

»Wollen Sie sich denn nicht einmal in der Galerie umsehen? Sie waren in der letzten Zeit doch sicher nicht dort.«

»Stimmt!« Erneut färbten sich Fraukes Wangen.

»Dann werden wir Sie jetzt zum Auto begleiten.« Resolut griff Katharina nach Florians kleiner Hand. »Du kommst doch auch mit, Meike?« fragte sie dann das Mädchen, das abwartend dastand.

Meike zuckte die Achseln. »Mami ist doch bald wieder zurück. Ich weiß, daß es bis Bad Wiessee nicht weit ist. Ich war auch schon in der Galerie. Papa hat dort sehr viele schöne Sachen.«

»Die schönsten Sachen macht Papa aber selbst«, mischte sich Florian ein.

»Ich meine nicht die Bilder«, wurde Florian sofort von seiner Schwester belehrt. »Ich meine die Plastiken.«

Frauke war zur Tür gegangen, dort blieb sie jetzt stehen. Katharina nickte ihr zu, da atmete sie tief durch und verließ das Zimmer. Nun kam aber Leben in Florian. Er eilte hinter seiner Mutter her.

»Mami, Mami, du kannst nicht weg! Ich habe Hunger!«

»Moment, dazu brauchen wir deine Mami nicht.« Katharina eilte nun ebenfalls hinterher. Frauke war im Hausflur stehengeblieben. Sie nahm ihren Sohn auf den Arm, der sich nun an sie klammerte.

»Sie sehen ja, es geht nicht«, sagte sie zu Katharina. Sie wußte jedoch noch nicht, daß für Katharina kaum etwas unmöglich war. Ohne zu zögern, griff diese auch sofort nach dem Kleinen.

»Und ob es geht!« Sie hielt Florian etwas von sich. »Nun hör mir mal gut zu, junger Mann! Ich kümmere mich sonst immer um den Onkel Doktor. Ich mache ihm stets etwas zu essen, und er hat sich noch nie beschwert. Wenn deine Mami weg ist, dann gehen wir beide in die Küche und sehen zu, daß du etwas bekommst. Meike kann natürlich auch mitkommen.«

»Ich habe keinen Hunger«, verkündete die Achtjährige sofort.

»Darüber unterhalten wir uns später. Nun kommt!« Mit Florian auf dem Arm ging sie an der verdutzten Frauke vorbei und trat hinaus ins Freie.

»Frauke, wo bleiben Sie denn?« rief sie über die Schulter zurück.

Frauke preßte die Lippen aufeinander. Sie sah zu ihrer Tochter hin, doch im Grunde sah sie durch sie hindurch. Sie dachte an ihren Mann. Sie wußte, daß sie sich endlich mit ihm aussprechen mußte.

*

Direkt vor der Galerie fand Frauke einen Parkplatz. Ihr Herz klopfte schneller, als sie den Motor ausschaltete. Nun war sie hier. Was würde Gero wohl sagen? Sie hatte sich so nach ihm gesehnt, obwohl sie in den letzten Monaten das Gefühl gehabt hatte, mit einem Fremden zusammenzuleben. Sie sah auf die Eingangstür und zögerte auszusteigen.

Bewegungslos saß Frauke hinter dem Steuer, den Blick auf den Eingang der Galerie geheftet. Leute kamen und gingen, einige blieben auch vor dem großen Schaufenster stehen, ihren Mann bekam sie jedoch nicht zu Gesicht. Noch immer waren ihre Hände um das Lenkrad gelegt. Sie mußte herausfinden, was hier los war, denn irgend etwas stimmte mit Gero nicht mehr. Zehn Jahre waren sie bereits verheiratet, und noch nie hatten sie ein Geheimnis voreinander gehabt. Angst stieg in ihr hoch, Angst vor der Wahrheit. Ihr Mann sah gut aus, er war charmant. Sie war es gewöhnt, daß sich die Frauen nach ihm umdrehten. Trotzdem hatte sie bisher keine Eifersucht gekannt. Er hatte ihr auch nie einen Grund dazu gegeben.

Frauke wurde es bewußt, daß sie die Zähne in die Unterlippe bohrte. Seit zwanzig Minuten saß sie nun schon hier. Wahrscheinlich wartete Florian schon auf ihren Anruf. Sie schluckte, doch in ihrem Hals saß noch immer ein Kloß. Trotzdem stieg sie endlich aus, schloß den Wagen ab und ging nun auf den Eingang des Geschäfts zu. Sie wußte, daß Gero auch eine Angestellte hatte, außerdem gab es noch zwei Aushilfskräfte. Diese hatten sie zusammen ausgesucht. Zu dem Zeitpunkt war noch alles in Ordnung gewesen. Daher verstand sie auch nicht, warum er nun ständig hier sein mußte und oft sogar über Nacht in Bad Wiessee blieb.

Ihr fiel ein, daß sie sich nicht einmal geschminkt hatte. Aber darauf kam es nun auch nicht mehr an. Den Kopf hocherhoben, betrat sie die Galerie. Die Angestellte war gerade dabei, einem Kunstliebhaber Drucke zu zeigen.

»Frau Ebert!« Sie war sichtlich überrascht, grüßte dann aber freundlich.

Frauke zwang sich zu einem Lächeln, dann ging sie auf das Büro zu, in dem sie ihren Mann vermutete. Doch er war nicht da. Gut, dann würde sie ihn eben bei der Arbeit stören. So ging sie zu der Verbindungstür zum Atelier. Dieses Atelier war fast so groß und hell wie das in ihrem Haus am Tegernsee. Daher hatte Gero auch angefangen, hier zu arbeiten. Doch das Atelier war leer. Aber von hier aus kam man noch in einen kleineren Raum, den Gero wohnlich eingerichtet hatte. Frauke ging auch noch in diesen Raum. Es war nicht zu übersehen, daß ihr Mann in den letzten Tagen hier gewohnt hatte, die Schlafcouch war ausgezogen worden.

Frauke spürte einen heftigen Stich in der Herzgegend. Fühlte sich ihr Mann hier wirklich wohler als in ihrem Haus in Tegernsee? Nein, sie konnte das nicht verstehen! Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle hoch, und sie verbarg das Gesicht zwischen ihren Händen.

Ein Geräusch ließ sie jetzt herumfahren. Durch die geöffnete Tür sah sie Barbara Gröger, die Angestellte, die unsicher auf sie zukam. »Frau Ebert, kann ich Ihnen behilflich sein?«

Was sollte Frauke sagen? Das Blut schoß ihr ins Gesicht. Wahrscheinlich wußte Barbara mehr von Gero als sie. Ein Verdacht stieg in ihr hoch und ließ sie die fast Gleichaltrige anstarren, die ein Durchschnittsgesicht hatte. Bisher war es ihr jedoch nicht aufgefallen, wie gepflegt sie war. Auch der blonde Bubikopf paßte gut zu ihrer Erscheinung. Blond – hatte Gero nicht schon immer für Blondinen geschwärmt?

»Frau Ebert…« Barbara Gröger wurde noch unsicherer.

Frauke zuckte zusammen, dann streckte sie sich. »Ich suche meinen Mann. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«

»Er wollte etwas besorgen, doch er wußte nicht genau, wann er zurück sein würde. Falls er bis Ladenschluß nicht hier ist, soll ich abschließen, hat er mir gesagt.«

So war das also! Frauke hatte das Gefühl, daß der Boden unter ihren Füßen nachgab. Sie begegnete Barbaras Blick. Nein, vor ihr würde sie sich keine Blöße geben, also lächelte sie.

»Ich wollte mit meinem Mann etwas besprechen. Es war natürlich dumm von mir, daß ich nicht vorher angerufen habe. Ich weiß ja, daß er sehr beschäftigt ist. Was glauben Sie denn, wo er sein könnte?«

»Vermutlich bei einem Kunden.« Barbara senkte den Blick. »Die Galerie hat bereits einen großen Bekanntheitsgrad, sogar aus München kommen inzwischen Kunstliebhaber. Viele wollen sich auch vom Chef persönlich beraten lassen.«

Genau das hatte Gero auch gesagt. Aber wo war er jetzt? Das Lächeln fiel Frauke so schwer. »Es ist nicht mehr lange bis zum Feierabend. Es kann sein, daß er jeden Moment wieder zurück ist«, hörte sie Barbara sagen. »Eigentlich hatte er noch einige Kataloge durchsehen wollen.«

Frauke gab sich einen Ruck. »Dann werde ich eben warten, jedenfalls bis zum Ladenschluß. Ich warte im Büro.« Mit diesen Worten verließ sie den privaten Wohnbereich. Als sie vor Barbara stand, mußte sie sich räuspern, ehe sie sagen konnte: »Sie können in den Ausstellungsraum zurückgehen, ich komme schon zurecht.«

»Gut! Wenn Sie noch irgend etwas brauchen?«

»Nein, danke!« Frauke sah Barbara nicht mehr an, und diese war froh, in den Verkaufsraum zurückkehren zu können.

Sobald sich die Schritte der Angestellten entfernt hatten, wandte Frauke sich um und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Eigentlich hatte sie ja täglich einige Stunden hier sitzen und Gero helfen wollen, doch es hatte sich rasch herausgestellt, daß dies undurchführbar war. Automatisch begann Frauke, die Listen und Kunstblätter zur Seite zu schieben. Hier mußte unbedingt einmal Ordnung geschaffen werden. Es herrschte wirklich ein fürchterliches Durcheinander. Sie fand einige Skizzen, die ganz offensichtlich von Geros Hand stammten, sowie Farbfotos von Bildern bekannter Maler. Diese hatte Frauke noch nie in Geros Besitz gesehen. Und dann hielt sie plötzlich Jetons in ihren Händen, die offenkundig aus dem hiesigen Spielcasino stammten. Seit wann verkehrte ihr Mann denn im Casino?

Frauke hatte völlig vergessen, ihren Sohn anzurufen, und auch jetzt dachte sie nicht mehr daran. Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob sie sich und ging hinüber in die Galerie, wo sie Barbara nur flüchtig zunickte. Sie ließ sich nicht von deren fragendem, erstaunten Blick aufhalten und trat auf die Straße. Zu Fuß ging sie in den Casinopark, der fast bis an die Galerie grenzte. Die Urlauber, die sich hier tummelten, sah sie nicht.

Zielstrebig ging sie auf den Eingang zu und betrat die pompöse Halle. Erst jetzt hielt sie inne und fragte sich, was sie hier eigentlich wollte. Dann spürte sie jedoch die Jetons, die sie in ihrer zur Faust geballten Hand hielt. Wie kam sie nur auf die Idee, daß Gero hier sein sollte, und dies am späten Nachmittag? Nur wegen dieser Spielmarken? Sie konnte sich nicht erinnern, daß Gero je seine Auftraggeber oder Kunden im Casino getroffen hätte.

Unschlüssig ließ sie ihren Blick schweifen, und dann erstarrte sie. An der Bar, die sich in der Nähe der teppichbespannten Treppe, die nach oben in die Säle führte, befand, sah sie ihren Mann. An seiner Seite saß eine sehr schöne Frau. Frauke mußte zusehen, wie diese mit einer spielerischen Geste ihre Hand auf Geros Arm legte. Sie erkannte diese Schönheit, es war Angelina Mare. Sie war mit einem Industriellen verheiratet und lebte in Rom. Frauke wußte auch, daß Signore Mare ein guter Kunde ihres Mannes war, aber sie hatte nicht gewußt, daß Angelina in Bad Wiessee weilte.

*

Katharina Wittenberg saß auf der Bank im Garten. Die Hände im Schoß gefaltet, beobachtete sie die Kinder. Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Es mußte etwas geschehen. Wie dünn dieses Mädchen war! Sie erhob sich, klatschte in die Hände und verkündete: »Wir machen einen Spaziergang!«

»Warum?« Mißtrauisch verzog Meike das Gesicht.

Florian hingegen schüttelte sofort heftig den Kopf. »Ich warte auf das Telefon. Mami will doch anrufen.« Erschrocken öffnete sich sein Mund. »Vielleicht habe ich das Klingeln nicht gehört!« Er stürzte Richtung Haus davon.

»Komm, Meike! Wir müssen nach ihm sehen.« Katharina streckte der Achtjährigen ihre Hand entgegen. Diese griff auch folgsam danach.

»Wenn du willst«, meinte sie, »dann kann ich auf Flori aufpassen. Meistens macht er das, was ich ihm sage.«

»Hm!« Katharina lächelte auf das Mädchen hinab. »Dann kannst du doch versuchen, Florian zu einem Spaziergang zu überreden.«

Meike nickte mit ernstem Gesicht.

»Du willst doch auch spazierengehen, oder?« fragte Katharina.

»Ich weiß nicht!« Das Mädchen zuckte die Achseln. Sie sah sich um. »Ich weiß aber auch nicht, was ich hier tun soll.«

Katharina zog es vor, darauf nichts zu erwidern. Sie ging mit Meike ins Haus, wo Florian bereits am Telefon stand und dieses anstarrte. Meike stellte sich an seine Seite und verkündete: »Ich glaube nicht, daß Mami anruft.«

»Sie hat es versprochen!« Wütend sah Flori seine Schwester an.

»Stimmt! Mami wird es auch noch tun. Aber ich finde es blöd, vor dem Telefon zu warten. Wenn Mami anruft, und wir sind nicht da, dann ruft sie später sicher nochmals an.«

Flori sagte nichts. Er schob jedoch seine Unterlippe nach vorn und dachte über die Worte seiner Schwester nach. Sie hatte recht. Am Telefon zu stehen und zu warten, war langweilig.

»Wenn wir gleich losziehen, dann sind wir auch bald wieder zurück«, schlug Katharina vor.

Diesmal nickten beide Kinder gleichzeitig. Nun zögerte Katharina nicht länger, sie nahm die Hände der Kinder, und los ging es.

Katharina hatte ein Ziel, sie wollte ins Doktorhaus. Willig folgten ihr die Kinder. Da die Sechzigjährige den Kindern erzählte, wie es hier früher ausgesehen hatte, als da noch keine Bungalows gestanden hatten, achteten die Kinder nicht auf den Weg, sondern hörten begierig zu. Das Doktorhaus war schon in Sicht, als Meike erstaunt ausrief: »Gehen wir zum Herrn Doktor?«

»Mal sehen!« Nun war Katharine doch etwas unsicher. »Vielleicht hat der Onkel Doktor gerade etwas Zeit für uns, und wir können ihn besuchen.«

»Ja, den Hund, den Franzl, den will ich besuchen!« Florian war jetzt Feuer und Flamme.

Katharina strich dem Kleinen übers Haar, sagte aber entschlossen: »Das machen wir ein andermal.«

Florian protestierte, aber da schob sie ihn schon durch die Hintertür in den Garten. Auch das Doktorhaus betraten sie durch den rückwärtigen Eingang. Florian löste sich von ihrer Hand.

»Franzl!« rief er. »Ich bin es! Wo bist du?«

»Pst! Nicht so laut! Du weißt doch, daß zum Onkel Doktor kranke Menschen kommen. Sicher warten bereits einige Leute, daß sie vom Onkel Doktor untersucht werden.«

»Tante Katharina, was tun wir dann hier?« Eine dicke Falte stand nun auf Meikes Stirn. »Florian ist nicht krank und ich auch nicht.«

»Wir sagen dem Onkel Doktor nur rasch Guten Tag.« Katharina hatte nun keine andere Wahl mehr, sie schob die Kinder durch die Hintertür in die Praxisräume. Und sie hatte Glück, denn Dr. Baumann kam gerade aus dem Untersuchungsraum.

»Eric, hast du einen Augenblick Zeit?« rief sie leise.

Erstaunt sah der Arzt von Katharina auf die Kinder. »Was gibt es denn nun wieder?«

»Ich dachte, du wolltest…« Katharina trat von einem Fuß auf den andern. Wahrscheinlich war sie nun doch zu weit gegangen. »Da sind die Kinder, wir haben einen Spaziergang gemacht. Du könntest sie doch vielleicht mal schnell in die Praxis nehmen?« Unsicher wandte sie sich an die Kinder. »Nicht wahr, ihr seid lieb und laßt euch vom Onkel Doktor untersuchen?«

Florian und Meike waren so überrascht, daß sie zuerst keinen Ton hervorbrachten.

»Katharina!« Eric schüttelte den Kopf. Wieder einmal wußte er nicht, ob er sich über seine energische Haushälterin ärgern oder ob er sich wundern sollte. Jedenfalls seufzte er, dann öffnete er jedoch die Tür. »Also, kommt herein!«

Viel Zeit hatte Dr. Baumann wirklich nicht. Er wußte, daß noch etliche Patienten im Wartezimmer saßen. Trotzdem setzte er die beiden Kinder auf die Untersuchungsliege, nahm sich einen Hocker und setzte sich davor. Liebevoll begann er mit ihnen zu reden. Katharina sorgte dann dafür, daß sie sich den Oberkörper freimachten und er sie mit dem Stethoskop abhören könnte.

»Katharina«, sagte er dann ernst. »Du bringst die Kinder wieder nach Hause. Bitte, sag ihren Eltern, daß du mit ihnen bei mir warst. Ich muß mit ihnen sprechen.«

»Frau Ebert ist zu ihrem Mann nach Bad Wiessee gefahren«, sagte Katharina. Obwohl ihr nicht zum Lachen war, lächelte sie den Kindern zu.

»Das ist gut«, sagte Eric, auch er wollte die Kinder nicht verängstigen. »Wahrscheinlich begleitet Herr Ebert seine Frau dann nach Hause. Ich bin jedenfalls hier.« Er wandte sich wieder an die Kinder. »Alles klar, ihr beiden? Nun habt ihr einmal gesehen, wie es bei mir zugeht. Im Wartezimmer sitzen noch andere Patienten. Also, ab mit euch!« Er strich Florian über den Kopf, dann tätschelte er Meike die Wange. »Bis bald!«

»Und was ist mit Franzl?« Florian begann zu schmollen. Bevor er aber richtig loslegen konnte, meinte Katharina rasch: »Wir wollen wieder nach Hause. Vielleicht hat deine Mami schon angerufen.«

Das wirkte. Katharina nahm die Kinder wieder an die Hand und zog mit ihnen los.

*

Gero Ebert war es trotz der Klimaanlage, die der Halle eine angenehme Atmosphäre verlieh, heiß. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. So griff er jetzt zum Champagnerglas, das vor ihm stand. Er hob den Kopf, sein Blick glitt über die Bartheke hinweg und begegnete dem seiner Frau.

Das war doch nicht möglich! Was machte Frauke denn hier? Angelina beugte sich noch näher zu ihm, der Druck ihrer Hand verstärkte sich. Gero stellte das Glas zurück. Er versuchte, an Angelina vorbeizusehen, so sah er auch, daß seine Frau sich jetzt umdrehte und davoneilte. Er durfte sie nicht gehen lassen!

»Entschuldige mich, bitte!« Mit diesen Worten glitt er vom Barhocker.

»Was ist denn?« Angelinas schönes Gesicht verzog sich. Normalerweise war sie von ihren jeweiligen Begleitern eine höflichere Art gewohnt.

Gero beachtete sie nicht weiter, er schob sie einfach zur Seite und eilte hinter seiner Frau her. »Frauke!« rief er, denn sie war bereits am Ausgang.

Sie blieb jedoch nicht stehen und eilte hinaus. Er drängte sich an einigen Leuten vorbei, und als er dann endlich im Freien stand, war sie verschwunden. Verdammt! Gero preßte die Lippen aufeinander. Er mußte sie finden und mit ihr sprechen. So hastete er durch den Park, doch er konnte sie nirgends entdecken. Dann sah er ihr Auto. Tief durchatmend stürmte er in die Galerie, doch sie war nicht hier.

Wieder eilte Gero zurück auf die Straße. Er konnte doch nicht zulassen, daß sie wieder in ihr Auto stieg und nach Tegernsee zurückfuhr. Also mußte er hier warten. Ungeduldig begann er auf und ab zu gehen. Dann sah er sie, sie kam gerade aus dem Park. An der Fußgängerampel hielt sie inne, um die Straße zu überqueren. Im letzten Moment bemerkte sie ihn jedoch und drehte sich um.

»Frauke!« rief er erneut, doch sie eilte in den Park zurück.

Gero lief hinter ihr her. Es war ihm egal, daß ein Auto hupte, weil er bei Rot über die Straße lief. Er geriet außer Atem, doch schließlich holte er seine Frau ein. Er griff nach ihrer Schulter und zwang sie so, stehenzubleiben.

»Laß mich los!« Frauke kämpfte mit den Tränen.

»Was soll das? Ich habe nicht die Absicht, weiter hinter dir herzurennen.« Sein Brustkorb hob und senkte sich.

Frauke streckte sich. »Das brauchst du auch nicht! Jetzt weiß ich wenigstens, wie du deine Zeit hier verbringst. Arbeit! Daß ich nicht lache!« Aber sie konnte nicht lachen, die Tränen brannten hinter ihren Lidern.

Gero schluckte. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte ja anrufen wollen, hatte nach Tegernsee fahren wollen, aber es war ihm nicht möglich gewesen. So murmelte er jetzt: »Es ist schön, daß du da bist.«

Frauke starrte ihn an. »Glaubst du eigentlich, ich bin blind? Ich habe dich gesehen. Du trinkst am hellichten Tag Champagner und…« Sie konnte nicht weitersprechen.

»Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Du kennst Frau Mare doch, ihr Mann hat mir schon öfter Bilder abgekauft.«

»Deshalb trinkst du mit seiner Frau Champagner?« Frauke entzog Gero ihren Arm. »Sie ist sehr schön, sehr verführerisch.« Nun blitzten ihre Augen. Es war nun Gero, der seinen Blick senkte.

»Bitte, Frauke, wir müssen miteinander reden.« Er wollte wieder nach ihrem Arm greifen, doch da sie zurückwich, ließ er es sein. »Ich bin wirklich froh, daß du hier bist. Ich wußte nicht, was ich tun sollte.« In seinem Gesicht begann es zu zucken.

»Ich verstehe! Du gehörst jetzt auch zu diesen armen Männern, die einer Frau einfach nicht widerstehen konnten.«

Gero sagte nichts, sein Kopf sank nur noch tiefer. Eine eiskalte Faust griff nach ihrem Herzen. Es stimmte also! Eine andere war an ihre Stelle getreten. Niemals hätte sie gedacht, daß dies je geschehen könnte. Sie waren so glücklich gewesen, sie hatten sich geliebt.

Vorbei! Sie sah ihren Mann an. »Gut, du mußt nicht mehr lügen. Ich werde dir nicht im Wege stehen. Ich hätte auch nicht kommen dürfen, ohne vorher anzurufen.«

»Nein, das stimmt nicht! Laß dir doch erklären…« Er war unsicher und hilflos.

»Es gibt nichts zu erklären.« Sie warf ihren Kopf in den Nacken. »Geh zu ihr zurück, du solltest sie nicht länger warten lassen.«

»Bitte, Frauke, du mußt mich anhören.« Jetzt griff er doch nach ihrem Arm. »Wir wollen uns auf eine Bank setzen.«

»Wozu denn? Du bist nicht der erste Mann, der sich in eine andere Frau verliebt.«

»Das stimmt nicht! Ich liebe dich noch immer! Bitte!«

Frauke ließ sich mitziehen. Schließlich saß sie an der Seite ihres Mannes auf einer Bank unter einem der großen Parkbäume. Sie hätte ihm so gerne geglaubt, doch sein Verhalten in den letzten Wochen ihr gegenüber zeigte ihr deutlich, daß dies nicht stimmte. Sie schloß die Augen und sah wieder die bildschöne Frau vor sich, wie sie sich zu Gero neigte. Dann öffnete sie wieder ihre Augen und fragte scharf: »Seit wann geht dies schon? Seit wann ist Angelina Mare hier?«

»Sie ist nicht ständig hier. Sie kommt nur hin und wieder. Ihr Mann hat bei mir Porträts bestellt.« Gero sah seine Frau bei diesen Worten nicht an, und so wußte sie, daß er log.

»Wann… wann hättest du es mir gesagt?« Verzweifelt bemühte Frauke sich darum, Fassung zu bewahren. Es tat so weh!

»Was? Ich habe dich nicht betrogen, ich habe kein Verhältnis mit Frau Mare.« Er war aufgewühlt und verzweifelt. Es war wichtig, daß sie ihm glaubte, aber er konnte verstehen, wenn sie es nicht tat. Schon seit Tagen fragte er sich, wie es weitergehen sollte.

Sie wich etwas zur Seite. Verachtung lag nun auf ihrem Gesicht. »Ich hätte nicht gedacht, daß da einmal eine andere sein würde. Aber noch weniger hätte ich gedacht, daß du dann zu feige sein würdest, um mir die Wahrheit zu sagen. Wir waren doch immer offen und ehrlich zueinander, und jetzt belügst du mich. Nein, daß du so ein Feigling bist, das hätte ich nicht erwartet.«

»Ja, ich hätte schon früher mit dir reden sollen. Ich wußte nur nicht, wie ich es dir sagen sollte. Wir waren so glücklich, du und ich, und ich habe all das aufs Spiel gesetzt.« Seine Schultern zuckten, er schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich habe deine Liebe nicht verdient.«

Er war verzweifelt. Bereute er? Fraukes Zorn schmolz dahin. Sie liebte ihn. Ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht vorstellen. Sie hob die Hand und wollte ihn berühren, doch nun erklang eine Stimme.

»Da bist du ja, Gero! Ich suche dich schon einige Zeit.« Von hinten trat Angelina Mare an die Bank heran. Sie legte ihre linke Hand auf Geros Schulter. Für Frauke war dies eine besitzergreifende Geste, die ihr deutlich machte, daß sie Gero verloren hatte. Nun erhob sie sich.

»Ah, Frau Ebert!« Angelina schenkte Frauke ein Lächeln. Mit der rechten Hand strich sie sich eine blonde Locke zurück, dabei ließ sie jedoch ihre linke auf Geros Schulter liegen. »Ihr Mann und ich haben noch zu arbeiten. Ich muß ihn daher bitten, mit mir wieder mitzukommen.«

Frauke war eigentlich eine hübsche, selbstbewußte Frau, doch jetzt brachte sie keinen Ton hervor. Angelina lächelte noch immer.

»Falls Ihnen Gero noch nichts erzählt hat, wird er dies sicherlich in den nächsten Tagen tun. Gero, du kommst doch?« Nun kam sie um die Bank herum und streckte Gero beide Hände hin.

Frauke wollte es nicht glauben, aber ihr Mann erhob sich. Zwar tat er dies, ohne Angelinas Hände zu ergreifen, doch er ließ es dann zu, daß die attraktive Frau des italienischen Industriellen ihre Hand unter seinen Arm schob. Frauke konnte nicht mehr länger zusehen. Sie wandte sich ab und ging weg. Diesmal ging sie langsam, aber Gero kam ihr nicht nach.

*

Dr. Baumann wartete auf seine Haushälterin. Die letzten Patienten und auch Tina Martens sowie Franziska Löbl waren schon längst gegangen. Ungeduldig begann er, im Flur auf und ab zu gehen. Katharina hatte mit Frau Ebert sprechen wollen. Sie hatte sie und die Kinder nochmals zu ihm bringen wollen.

Franzl kam herangeschossen. »Für einen Spaziergang ist es schon zu spät«, meinte Eric. »Oder sollen wir einfach mal nachsehen, wie es Katharina bei den Eberts geht?«

Franzl bellte freudig, doch Eric schüttelte den Kopf. »Besser nicht! Katharina kommt mit den Kindern immer gut zurecht. Und bei einem Gespräch von Frau zu Frau würden wir auch nur stören.« Trotz dieser Erkenntnis sah Eric erneut auf die Uhr. Die Dämmerung senkte sich bereits über den Tegernsee. Wollte Katharina etwa über Nacht bei der Familie Ebert bleiben? Sie hatte vorgehabt, sich um die Kinder zu kümmern. Vor allem wollte sie mit Frau Ebert über Meikes Magersucht reden. Eine Therapie war unumgänglich. Er überlegte hin und her, kam dann aber zu der Einsicht, daß Katharina ihn angerufen hätte, wenn etwas nicht in Ordnung wäre.

Erwartungsvoll schlich Franzl um ihn herum. »Gut«, sagte der Arzt zu seinem Hund. »Wir gehen auf die Terrasse. Du kannst dich dann ein bißchen im Garten herumtreiben. Ich bleibe aber auf der Terrasse. Ich möchte mich nicht zu weit vom Telefon entfernen.«

Franzl schien’s zufrieden. Er bellte kurz, blickte noch einmal fragend sein Herrchen an, dann eilte er durchs Wohnzimmer und blieb an der Terrassentür stehen.

»In Ordnung, ich lasse dich hinaus.« Eric öffnete gerade die Tür, die hinaus auf die Terrasse führte, als das Telefon klingelte. Er hastete hin und griff nach dem Hörer.

»Natürlich, gut! Bis gleich«, sagte er, nachdem er Katharinas Stimme gelauscht hatte. Er legte den Hörer auf die Gabel zurück, pfiff dann seinen Hund, der auch sofort gehorsam angetrottet kam.

»Auf geht’s! Jetzt werden wir gleich erfahren, was Katharina erreicht hat.« Freudig lief Franzl zur Haustür, doch sein Herrchen ging in die Garage und öffnete das Auto. Kurz stutzte der Hund, dann sprang er auf den Rücksitz.

Hatte Dr. Baumann erwartet, mit Frau Ebert sprechen zu können, so sah er sich getäuscht. Katharina stand bereits vor der Haustür, als er vorfuhr.

»Danke! Ich bin froh, daß du mich abholst. Die Kinder waren doch etwas anstrengend.« Ächzend ließ sie sich auf den Beifahrersitz fallen. »Ich bin eben nicht mehr die Jüngste. Schon gut, Franzl!« Sie wehrte den Hund ab. »Nimm dich nicht so wichtig. Es gibt auch noch etwas anderes.«

»Katharina, was ist denn geschehen?« Eric sah zum Haus hin.

»Ich weiß nicht! Sie wollte nicht darüber sprechen.«

»Und die Kinder?«

Katharina seufzte. »Ich habe ihnen etwas zu essen gemacht. Florian hat alles in sich hineingestopft, Meike hingegen hat außer einigen Löffeln von dem Kompott nichts zu sich genommen.«

»Soll ich nicht doch noch mit Frau Ebert sprechen?« Eric sah auf die Haustür, die bereits geschlossen war.

»Besser nicht«, meinte Katharina. »Ich glaube nicht, daß Frauke dir zuhört, wenn du über Magersucht sprichst. Sie ist sehr verstört. Ihr Besuch in der Galerie schien nicht gut gelaufen zu sein.«

»Was jetzt?« fragte Eric.

»Laß uns fahren! Morgen ist auch noch ein Tag.«

Eric sah nochmals zum Haus hin. Alles schien ruhig zu sein. Er drehte den Zündschlüssel um und meinte noch: »Herr Ebert ist also nicht da?«

»Leider nicht! Es scheint so, als ob du recht hättest. Aber ich will es noch nicht glauben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es für Gero eine andere Frau gibt, daß er seine Familie im Stich läßt.

Eric sagte nichts, er lenkte sein Auto zum Doktorhaus zurück. Dort hielt er an, um Katharina vor dem Haus aussteigen zu lassen. Sie wandte sich ihm nochmals zu.

»Du hast wahrscheinlich auch mit den Kindern recht. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, daß Florian alles, dessen er habhaft wird, in sich hineinstopft. Sobald man ihm etwas anbietet, hat er Heißhunger darauf. Meike hingegen scheint sich regelrecht vor dem Essen zu ekeln. Eric, um die Kinder müssen wir uns kümmern.«

»Es ist immer das gleiche!« Eric zuckte die Achseln. »Es werden neue Partner gesucht, und die Kinder bleiben auf der Strecke.«

»Nein, so ist es hier wirklich nicht!« Energisch richtete Katharina sich auf. »Ich glaube nicht, daß Gero seine Frau betrügt. Wenn Frauke dies denkt, so irrt sie sich.«

»Wollen wir hoffen, daß du damit recht hast. In das Eheleben der Eberts sollten wir uns aber keinesfalls einmischen. Doch da sind die Kinder. Magersucht ist eine ernstzunehmende Krankheit, die nur durch eine Therapie behoben werden kann.«

»Ich weiß!«

Franzl steckte seinen Kopf zwischen den Vordersitzen durch und bellte.

»Schon gut, wir steigen aus, dann kann Herrchen das Auto in die Garage fahren.« Katharina begann, an der Tür zu hantieren. Rasch beugte Eric sich über sie und öffnete die Beifahrertür. Franzl war jedoch der erste, der hinaussprang. Er zwängte sich zwischen den Sitzen nach vorn und sprang dann über Katharinas Schoß hinweg.

»Alter Gauner!« schimpfte diese.

»Sei nicht ungerecht zu ihm«, meinte Eric. »Sein Abendspaziergang ist ausgefallen. Ich werde mit ihm noch ein paar Schritte am See entlanggehen.«

»Ich komme mit«, meinte Katharina.

Eric schmunzelte. Sie hatte also noch etwas auf dem Herzen. Er ließ sie aussteigen, dann fuhr er das Auto in die Garage. Als er zurückkam, erwarteten Katharina und Fanzl bereits am unteren Ende des Gartenzauns auf ihn. Dann schlenderten sie am Ufer entlang. Der Mond spiegelte sich im Wasser, die Nacht war angebrochen. Katharina kam jedoch nicht mehr dazu, nochmals auf Frauke Ebert zu sprechen zu kommen, denn dieses Mal war Franzl die Hauptperson. Er liebte das Wasser, und so mußten Eric und sie ihm immer abwechselnd Stöckchen in den See werfen, die er begeistert wieder herausholte.

*

Frauke hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. Sie sah auf ihre Kinder, die noch am Frühstückstisch saßen. Es war wie immer, Florian hatte seinen Teller, den sie vorhin mit Müsli gefüllt hatte, bereits geleert, Meike hingegen schien überhaupt noch nichts gegessen zu haben. Sie beschloß, dies für den Augenblick zu übersehen. Bewußt munter sagte sie jetzt: »Was haltet ihr davon, wenn wir verreisen?«

»Fahren wir zu Papa?« Erwartungsvoll sah Florian seine Mutter an.

Frauke drehte sich um. Es tat so weh, und nun mußte sie Flori auch noch enttäuschen. Den Rücken ihren Kindern zugewandt, sagte sie: »Papa hat keine Zeit.«

»Fahren wir zu Oma und Opa?« fragte Meike.

»Nein!« kam es gepreßt von Frauke. Sie brauchte auch einige Zeit, bis sie sich ihren Kindern wieder zuwenden konnte. »Wir fahren ans Meer.«

»Letztes Jahr sind wir mit dem Papa ans Meer geflogen«, kam es prompt von Meike.

»Das ist eine gute Idee! Warum sollen wir nicht dieses Jahr auch fliegen? Wißt ihr, was wir machen? Wenn Meike aufgegessen hat, dann gehen wir in den Ort ins Reisebüro und suchen uns eine schöne Flugreise heraus.«

»Da mußt du doch erst buchen«, meinte Meike altklug. »Ein halbes Jahr vorher hat Papa voriges Jahr unsere Reise gebucht.«

Papa, immer wieder Papa! Es war zum Verzweifeln! Frauke versuchte, ruhig zu bleiben. Sie setzte sich zu ihren Kindern an den Tisch und erklärte: »Es gibt auch Last-Minute-Flüge, die sind sogar sehr günstig.«

»Was ist das?« fragte Florian.

»Ich habe eine andere Idee. Wir fahren einfach gleich zum Flughafen. Irgendein Flugzeug wird uns schon mitnehmen.« Frauke lächelte, diese Idee gefiel ihr. Sie wollte weg von hier, so rasch wie möglich und so weit wie möglich.

Beide Kinder sahen die Mutter verwirrt an.

»Ich will zum Flughafen«, sagte Florian dann. »Dort sehen wir viele Flugzeuge.«

»Hast du nicht verstanden?« empörte sich seine Schwester. »Mami will wegfliegen, sie will ohne Papa wegfliegen.«

»Ich will aber zum Flughafen und Flieger ansehen.« Florian begann, mit den Händen auf den Tisch zu schlagen.

Frauke, die sich schon die ganze Nacht ruhelos in ihrem Bett herumgewälzt hatte, hätte am liebsten losgeheult. Sie bohrte ihre Fingernägel in die Handflächen, nur so gelang es ihr, nicht aufzubrausen und ihren kleinen Sohn anzuschreien. Müde wandte sie sich an ihre Tochter.

»Bitte, Meike, iß! Flori ist schon lange fertig.«

»Ich kann nicht!« Meike glitt vom Stuhl und lief vom Tisch weg.

»Ich will noch ein Honigbrötchen«, bettelte Florian.

»Aber du warst doch schon sehr brav und hast alles aufgegessen«, sagte Frauke unsicher. »Ich verstehe das einfach nicht! Dir schmeckt es immer, Meike hingegen läßt alles stehen.« Frauke erhob sich und ging zu ihrer Tochter. »Liebling, was kann ich dir denn machen? Du mußt doch auch etwas essen. Ich toaste dir auch ein Brot und bestreiche es dick mit Erdbeermarmelade. Das ist doch deine Lieblingsmarmelade.«

»Ich habe aber keinen Hunger.«

»Der wird dann schon mit dem Essen kommen. Du mußt dir wirklich an Florian ein Beispiel nehmen.«

»Ich habe nichts dagegen, wenn er mein Müsli auch ißt!« kam es patzig von Meike.

»Mami, darf ich?« fragte der Kleine auch sofort. Er wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern zog den Teller zu sich heran und begann zu essen.

Frauke seufzte, dann griff sie nach ihrer Tochter. »Komm, Meike, wir machen uns jetzt ein paar Toastbrote.«

Die Achtjährige widersprach nicht. Sie war der Mutter sogar behilflich. Doch als sie dann in den Toast biß, verzog sich ihr Gesicht.

»Nimm mehr Marmelade«, forderte Frauke ihre Tochter auf.

Meike tat es, doch nach ein paar Bissen versetzte sie dem Teller einen Stoß. Als ihre Mutter sie strafend ansah, fuhr Meikes Hand zum Hals, sie würgte. »Ich kann nicht, Mami«, jammerte sie. »Mir ist schlecht!«

Frauke wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte auf ihr eigenes Toastbrot. Auch ihr Magen rebellierte, und sie hatte das Gefühl, keinen Bissen hinunterzubekommen.

Florian hatte inzwischen auch Meikes Teller leergegessen. »Jetzt gehen wir Flieger ansehen«, verkündete er.

»Mami will keine Flieger ansehen, sie will wegfliegen«, stellte Meike richtig.

»Dann sehen wir doch Flugzeuge. Ich fliege mit Mami mit.« Florian rutschte vom Stuhl und lief zu seiner Mutter. »Mami, wann fliegen wir?«

»Ja, wir fliegen in den Urlaub.« Frauke sah von Florian zu ihrer Tochter. »Du wirst sehen, es wird Spaß machen. Wir werden erst am Flughafen erfahren, wohin wir fliegen.«

»Ich will zum Flughafen fahren.« Florian war begeistert.

»Mami, willst du wirklich noch heute wegfliegen?« Meike war drei Jahre älter als ihr Bruder und ließ sich nicht so leicht etwas vormachen.

»Am liebsten würde ich wirklich heute noch fliegen«, sagte Frauke. Sie sah in Meikes entsetztes Gesicht und begriff, daß sie diese nicht weiter erschrecken durfte. »Na ja, wir werden sehen.« Sie zwang sich wieder zu einem unbeschwerten Lächeln. »Auf alle Fälle müssen wir, bevor wir verreisen, noch einige Vorbereitungen treffen. Wir müssen packen und noch einige Sachen besorgen.«

»Wenn wir verreisen wollen, dann brauchen wir auch Geld, Mami«, meinte Meike.

»Richtig, und daher gehen wir jetzt in den Ort.«

»Gehen wir auch zum Onkel Doktor?« fragte Florian. »Ich will den Franzl sehen.«

»Vielleicht!« Frauke wollte nicht, daß Florian wieder mit allen Mitteln versuchte, seinen Willen durchzusetzen. »Der Tag ist noch lang. Zuerst gehen wir auf die Bank, dann überlegen wir uns, ob wir uns für einen Urlaub am Meer noch etwas kaufen.«

Mit diesem Vorschlag lenkte sie ihren Sohn wirklich ab. »Ein Gummiboot! Ich will ein Gummiboot«, sagte Flori sofort. »Papa hat versprochen, mit ein Gummiboot zu kaufen.«

»Gut!« stimmte Frauke nun sofort zu. »Wir kaufen ein Gummiboot.« Damit war auch Meike einverstanden.

Eigentlich wollten die Kinder sofort ins Kaufhaus, aber Frauke konnte ihnen klarmachen, daß sie zuerst zur Bank mußten. Zusammen mit ihren Kindern stand sie dann am Bankschalter, um Geld abzuheben. Ahnungslos schrieb Frauke eine größere Summe auf den Auszahlungsschein. Geldprobleme kannte sie nicht. Daher konnte sie den Filialleiter auch nur fassungslos anstarren, als dieser ihr mitteilte, daß das Girokonto, das sie gemeinsam mit ihrem Mann hatte, weit überzogen war, und daß ihr Mann auch noch einen hohen Kredit auf das Haus aufgenommen hatte. Sie konnte es nicht glauben, und trotzdem war ihr sofort klar, daß der Filialleiter, der sie für diese Mitteilung extra in sein Büro gebeten hatte, die Wahrheit sagte.

*

Kaum hatte Dr. Baumann die Patientin zur Tür begleitet, erschien auch schon seine Sprechstundenhilfe und legte ein weiteres Krankenblatt auf den Schreibtisch. Der Arzt winkte ab. »Fünf Minuten Pause, Tina?«

»Wie?« Tina glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Vorhin erst hatten sie festgestellt, daß noch vier Patienten warteten.

»Ich muß telefonieren«, stellte Dr. Baumann fest und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

»Kann ich das nicht für Sie machen?« bot Tina an und setzte dann hinzu: »Herr Brandt wartet bereits über eine Stunde, er ist schon etwas ungehalten.«

»Was sein muß, muß sein!« Eric griff nach dem Hörer. Da Tina noch immer verwirrt in der Tür stand – immerhin war sie es gewohnt, von ihrem Chef informiert zu werden –, huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht, dann meinte er: »Ich muß bei den Eberts anrufen und mit ihnen wegen Meike sprechen. Wenn Frau Ebert nicht zu mir in die Praxis kommen will, dann suche ich sie auf.«

Tina nickte verstehend und zog sich zurück.

Dr. Baumann wählte, dann räusperte er sich. Er lauschte dem Ruf und wartete. Ihm war klar, daß die Frau des Künstlers verzweifelt war. Wenn er mit ihr nicht sprechen konnte, dann mußte er mit Gero Ebert reden. Es ging um die achtjährige Meike. Ihr mußte dringend geholfen werden.

Der Ruf ging noch immer hin, und schließlich begriff Eric, daß niemand am anderen Ende den Hörer abnehmen würde. Er legte auf und wählte gleich darauf nochmals. Vielleicht hatte er sich ja bei einer Zahl geirrt. Einige Sekunden lauschte er dem Ton, dann gab er auf. Er nahm das Krankenblatt und konzentrierte sich nun auf die Patientin, die ihm gleich gegenübersitzen würde.

*

Frauke litt, und mit ihr litten die Kinder. Sie ließ diese nicht einmal in den Garten zum Spielen, denn sie schämte sich. Nun war sie völlig sicher, daß ihr Mann der schönen Angelina verfallen war. Für sie hatte er das Geld gebraucht. Bestimmt hatte er sie mit Geschenken überhäuft. Frauke dachte an Scheidung. Sie steigerte sich immer weiter in ihre Verzweiflung hinein, sie fühlte sich gedemütigt und wollte mit keinem Menschen sprechen. Dabei wartete sie jedoch darauf, daß Gero anrief. Aber das Telefon schwieg. An das Versprechen, das sie Frau Katharina gegeben hatte, dachte sie nicht mehr.

Was sollte sie aber sonst tun? Sie war verzweifelt, und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Das Gejammer und Streiten der Kinder zerrte an ihren Nerven, doch sie war nicht fähig zu reagieren. So herrschte im sonst so sauberen und freundlichen Haus der Familie Ebert das Chaos. Frauke erledigte nur die allernötigste Hausarbeit. Es war fast ein Wunder, daß ihr überhaupt auffiel, daß ihre Tochter bei jedem Bissen, den sie zu sich nahm, würgte. Genervt schrie sie diese an:

»Hör mit diesem Theater auf! Ich falle nicht länger darauf herein. Diesmal bleibst du sitzen, bis du alles aufgegessen hast.«

»Ich kann nicht!« Meike schossen die Tränen in die Augen.

»Iß!« Frauke schob den noch immer vollen Teller weiter unter die Nase ihrer Tochter.

Meike versuchte, nicht auf den Teller zu sehen. Doch dieses Mal war die Mutter unerbittlich.

»Los! Wenn du jetzt nicht ißt, dann stopfe ich dir jeden Bissen selbst in den Mund.«

Meike wollte die Mutter nicht ärgern. Sie griff zur Gabel, aber als sie ein Stücken der Pommes frites aufspießte, kam ihr bereits alles wieder hoch. Schnell preßte sie die Lippen aufeinander.

»Was soll das? Mach endlich deinen Mund auf!« Frauke nahm die Hand ihrer Tochter und führte diese mit dem Kartoffelstückchen zum Mund. Da konnte Meike nicht mehr anders, sie übergab sich.

Entsetzt sprang Frauke auf, ihr Zorn legte sich schlagartig. Ihre Tochter würgte und würgte, aus ihrem Mund kam nur eine grünliche, schleimige Flüssigkeit. Ihr wurde bewußt, daß Meike in den letzten Tagen kaum etwas gegessen hatte. Sie hatte versagt, auch als Mutter hatte sie versagt. Sie nahm Meike in die Arme, die jetzt von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Auch sie zitterte, trotzdem versuchte sie jetzt, ihre Tochter zu beruhigen.

»Ich kann nicht, Mami! Ich kann wirklich nichts essen.« Erneut begann Meike zu würgen. Aber da ihr Magen leer war, kam nichts mehr heraus.

Frauke, die sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte, führte ihre Tochter ins Badezimmer und begann dort, ihr das Gesicht zu waschen. Auch das beschmutzte T-Shirt zog sie ihr aus. Wie blaß und durchscheinend Meikes Gesichtchen war! Eigentlich waren da nur die großen

dunklen Augen, die jetzt überliefen. Zum ersten Mal bemerkte Frauke auch die hervorstehenden Rippen. Ihre Tochter war wirklich nur noch Haut und Knochen. Was hatte Frau Katharina gesagt? Dr. Baumann wollte ihre Kinder untersuchen? Natürlich! Ihm war aufgefallen, wie schlecht Meike aussah. Wie hatte es nur soweit kommen können! Ihre Kinder waren doch immer ihr ein und alles gewesen. Sie zog Meike noch enger an sich, und nun weinte auch sie.

»Mami, Mami!« Florian begann zu schreien. Zuerst hörte Frauke ihn gar nicht, doch dann ertönte ein lautes Klirren, und als sie mit ihrer Tochter ins Eßzimmer kam, sah sie, daß Florian einen Teller und eine Tasse zu Boden geworfen hatte.

»Aber Florian, was soll denn das?« Verzweifelt rang Frauke die Hände. Was war nur aus diesem lieben Kind geworden?

»Ich will auf den Flugplatz!« Florian stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will zu Papa!« Erneut stampfte er auf. »Ich will zum Onkel Doktor, ich will Franzl besuchen!«

Dr. Baumann! Ja, sie mußte die Kinder in seine Praxis bringen. Fraukes Hände fuhren an die Schläfen. Sie preßte die Fingerspitzen dagegen, denn hinter ihrer Stirn pochte und dröhnte es.

»Wir gehen zu Dr. Baumann«, sagte sie, ihre Hände sanken wieder herab. »Meike, würdest du dir bitte ein frisches T-Shirt anziehen?«

Meike fuhr sich über die Augen, doch dann gehorchte sie und ging hinüber ins Kinderzimmer. Frauke sah auf die Scherben, und erneut stieg Panik in ihr hoch. Dann fiel ihr Blick aber auf Florian, der jetzt mit gesenktem Kopf dastand. Sie ging zu ihm und nahm ihn auf den Arm. »Das war nicht lieb von dir«, sagte sie, doch zu mehr fehlte ihr die Kraft.

Irgendwie gelang es ihr dann doch, die Kinder ins Auto zu setzen und zum Doktorhaus zu fahren. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange, denn Florian begann schon wieder zu quengeln. Sie fand auch eine Parklücke, und es gelang ihr einzuparken, doch dann konnte sie nicht mehr. Ihre Stirn sank gegen das Lenkrad.

»Mami!« Meike begann zu weinen. »Mami, ist dir auch schlecht? Bist du krank?«

»Nein, nein! Ich bin nur so müde.« Langsam hob Frauke wieder den Kopf und drehte sich nach ihren Kindern um. »Wir werden jetzt in die Praxis gehen. Bitte, seid lieb!«

»Ich gehe zu Franzl!« verkündete Florian und zerrte an seinem Gurt.

Auch Meike versuchte, den Gurt zu öffnen, ihr gelang es selbst. Sie öffnete auch die Autotür und schlüpfte hinaus.

»Ich will auch, ich will auch!« kreischte Florian.

Frauke öffnete den Mund, sie wollte schreien, doch noch einmal riß sie sich zusammen. Sie stieg aus und hob ihren Sohn aus seinem Kindersitz. Er strampelte und drehte sich heftig in ihren Armen, und schließlich riß er sich los und eilte zum Gartenzaun.

»Franzl, Franzl, wo bist du? Ich darf dich anfassen, der Onkel Doktor hat es erlaubt.« Er versuchte, auf den Zaun zu klettern. Hilflos, mit hängenden Armen, stand Frauke neben ihrem Auto.

Katharina hängte gerade hinter dem Haus Wäsche auf. Sie stutzte, denn da kam Franzl angesprungen und raste an ihr vorbei.

»Franzl!« rief Katharina. Sie wischte sich die nassen Hände an der Schürze ab und folgte dem Hund. Sie mußte doch nachsehen, was hier los war. Dann öffnete sie auch sofort die Gartentür und trat auf die Straße hinaus, als sie Frau Ebert und ihre Kinder erkannte.

»Das ist eine Überraschung!« Sie lächelte, obwohl sie sofort bemerkte, daß hier einiges nicht stimmte. Am liebsten hätte sie alle drei gleichzeitig in die Arme genommen und gedrückt. Sie griff jedoch als erstes nach Florian. »Wenn du nicht so laut schreist, darfst du hereinkommen. Siehst du, Franzl wartet schon auf dich. Sitz!« befahl sie dann dem Hund, der sich aus dem Garten hinaus auf die Straße drängen wollte.

Sie schob Florian in den Garten. »Du kannst hier mit ihm spielen.«

»Toll!« Jetzt leuchteten die Augen des Kleinen. Sofort hockte er sich vor den Hund hin. »Ich weiß schon, daß du ein ganz lieber Hund bist.«

Katharina schmunzelte, dann wandte sie sich an Frauke, die sich noch immer nicht gerührt hatte. »Ich nehme an, daß Sie den Doktor aufsuchen wollen. Gehen Sie nur hinein in die Praxis. Ich werde mich solange um Meike und Florian kümmern. Sagen Sie aber bitte bei der Anmeldung, daß Sie die Kinder mitgebracht haben.«

Frauke ging auf Katharina zu, und diese merkte nun, daß sich die junge Frau wie eine Marionette bewegte. »Ich komme wegen Meike her. Es geht ihr schlecht. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Auch ihre Worte kamen stockend von ihren Lippen.

»Was ist mit Meike?« Katharina sah auf das Kind, das sich an den Zaun gelehnt hatte. Die Tränenspuren auf den Wangen waren nicht zu übersehen.

»Ich weiß nicht! Ich kann auch nicht…« Im Zeitlupentempo fuhr sie sich durch das Haar, dann ging ihr Blick ins Leere, sie schwankte.

Katharina griff zu und legte der Frau ihren Arm um die Schultern. Sie spürte, wie diese zitterte. Die Frau war völlig fertig, und es sah ganz nach einem Nervenzusammenbruch aus.

»Es ist richtig, daß Sie gekommen sind. Jetzt wird alles wieder gut.« Liebevoll sprach Katharina auf die Verzweifelte ein. Frauke lehnte den Kopf an ihre Schulter, doch gleich darauf schreckte sie wieder hoch.

»Wo sind meine Kinder? Ich habe nur noch meine Kinder!«

Katharina gelang es mit ihrer ruhigen, freundlichen, aber resoluten Art, den Kindern die Angst zu nehmen. Sie durften mit dem Hund im Garten bleiben, während sie Frauke gleich zu Eric brachte. Sie bekam noch mit, wie Frauke, als diese dem Arzt gegenüberstand, in einen Weinkrampf ausbrach.

»Ich behalte Frauke und die Kinder im Doktorhaus«, sagte sie entschlossen zu Dr. Baumann. »Wenn du ihr ein Beruhigungsmittel gibt, dann kann sie sich hinlegen. Die Kinder bringe ich später zu dir.«

Eric zog die Augenbrauen in die Höhe. »Es ist gut, Katharina! Natürlich bin ich einverstanden, daß wir uns um die Familie kümmern. Du machst das schon richtig. Nur, wie ich meine Patienten behandeln soll, das mußt du schon mir überlassen.«

»Entschuldige!« Katharina schnaubte durch die Nase, dann eilte sie in den Garten zurück. Sie wollte nicht, daß es auch dort zu Tränen kam.

*

Reiner Ebert starrte auf den Hörer in seiner Hand. Sein Gesprächspartner hatte bereits aufgelegt, es klang nur noch ein Piepston an sein Ohr. Noch immer konnte er nicht glauben, was dieser Doktor ihm da gerade erzählt hatte.

Hastig legte er den Hörer auf die Gabel zurück. Wo war nur seine Frau? Richtig, sie war nach oben gegangen, um sich umzuziehen. Sie wollten wieder einmal einen Spaziergang durch den Park der Residenz Marienburg machen. Die Blumenbeete mußten zu dieser Jahreszeit in voller Blüte stehen. Er fuhr sich über die Augen. Daran war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Er ging zur Treppe, die hinauf in den ersten Stock führte. Bereits auf der untersten Stufe rief er nach seiner Frau.

Elisa Ebert stand vor dem Spiegel im Schlafzimmer und bürstete ihr Haar. Es war noch dicht und wies nur ganz vereinzelt ein paar graue Haare auf. Sie ließ die Bürste sinken, als sie den Ruf hörte. Was war denn los? Es war ihr nicht entgangen, daß vorhin das Telefon geklingelt hatte. Nun trat sie hinaus auf den Flur, und da erschien auch schon ihr Mann auf der Treppe.

»Elisa, wir müssen sofort nach Tegernsee fahren«, stieß er erregt hervor.

»Hat Gero angerufen? Ist etwas mit Frauke oder den Kindern?«

Herr Ebert schüttelte noch immer fassungslos den Kopf. »Nein, nein, es war ein Arzt am Telefon.«

»Was sagst du da?« Die Erregung ging auf seine Frau über.

Reiner Ebert faßte nach dem Geländer, er mußte sich jetzt irgendwo festhalten. Langsam ging in sein Bewußtsein über, was er da soeben gehört hatte. Seine Frau eilte einige Stufen hinab und griff nach seinem Arm. »Was ist denn passiert?«

»Ich weiß es nicht so genau. Ein Arzt war am Apparat, ein Dr. Baumann.«

»Dr. Baumann«, wiederholte seine Frau, dann nickte sie. »Dr. Baumann ist doch der Hausarzt unserer Kinder.«

»Ja, das kann stimmen.«

Elisa Ebert führte ihren Mann zum nächsten Stuhl. »Bitte, Reiner, was hat der Doktor gesagt?«

»Er hat gefragt, ob wir nach Tegernsee kommen können.«

»Natürlich können wir das«, rief Elisa, da ihr Mann schwieg.

»Das habe ich ihm auch gesagt. Und dann hat der Arzt gemeint, wir sollten uns keine Sorgen machen. Noch ist wohl nichts geschehen.«

»Was heißt denn das?« Elisas Beine gaben nach, sie ließ sich ihrem Mann gegenüber auf einen Stuhl fallen.

»Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen.« Nervös rieb Reiner Ebert die Handflächen gegeneinander. Er versuchte, sich an jedes Wort zu erinnern, das der Arzt gesagt hatte.

»Gero! Hat er etwas über Gero gesagt? Ist Gero verletzt? Gab es einen Unfall?« Die Fragen sprudelten jetzt nur so aus Elisa Eberts Mund hervor.

»Nein, ich denke nicht!« Reiner zwang sich zu einem Lächeln. »Die Kinder und Frauke sind im Doktorhaus. Wenn wir nach Tegernsee kommen, dann sollen wir zuerst dort vorbeifahren.«

»Ich verstehe nicht!« Erregt fuhr Elisa auf.

»Ich auch nicht!« gab ihr Mann zu. Er beugte sich nach vorn und legte seine Hand über die seiner Frau. »Wir fahren nach Tegernsee, dann werden wir bald mehr wissen.«

Elisa ließ sich jedoch nicht beruhigen. »Was ist mit Gero? Wo ist er?«

»Mit ihm scheint alles in Ordnung zu sein, jedenfalls laut Dr. Baumann.«

»Was soll das alles?« Elisa sprang auf. »Ich werde diesen Arzt sofort anrufen.«

»Besser nicht«, sagte Reiner und versuchte, seine Frau aufzuhalten. »Er praktiziert gerade, ich meine, er hat auch noch andere Patienten. Aber er hat gesagt, daß Frauke mit den Kindern den ganzen Tag über im Doktorhaus bleiben wird. Wir sollen dorthin kommen und wir sollen uns keine Sorgen machen.«

»Das ist leichter gesagt als getan. Irgend etwas kann da doch nicht stimmen.« Erregt begann die Großmutter von Meike und Florian wieder auf und ab zu gehen.

Ihr Mann hatte sich inzwischen aber wieder gefangen. Die Stimme des Arztes war sympathisch gewesen. Jetzt, da er sich alles durch den Kopf gehen ließ, fand er, daß er zu diesem Arzt Vertrauen haben konnte. Sicherlich war irgend etwas vorgefallen, aber es würde sich alles wieder beheben lassen. Er legte Elisa die Hände auf die Schultern.

»Wir wollen nicht länger herumrätseln. Wir fahren nach Tegernsee. Komm, wir wollen rasch das Nötigste einpacken. Ich nehme an, daß wir in Tegernsee über Nacht bleiben werden.«

»Aber warum?«

»Wir werden es erfahren.« Liebevoll berührte Reiner die Wange seiner Frau. »Wir müssen uns keine Sorgen machen, hat der Arzt gesagt. Er muß doch unsere Enkelkinder gut kennen, wenn er der Hausarzt ist. Also, laß uns einfach abwarten.«

Elisa seufzte, dann stimmte sie zu: »Wir haben Meike und Florian auch schon lange nicht mehr gesehen. Sie wollten uns doch schon vor vierzehn Tagen besuchen kommen, doch dann haben sie wieder abgesagt.«

»Du weißt doch, Gero hat sich mit der Galerie viel Arbeit aufgehalst.«

»Ja, ich weiß, aber schon die Eröffnung war ein großer Erfolg.« Unwillkürlich streckte sich Elisa. Sie war sehr stolz auf ihren Sohn.

»Diese Einweihungsfeier liegt auch schon wieder ein halbes Jahr zurück«, sagte Reiner nachdenklich, »seither haben wir unsere Kinder nicht mehr gesehen.«

Elisa zuckte die Achseln. »Die Zeit vergeht so schnell. Aber es ist gut, wir fahren an den Tegernsee. Ich werde einen Koffer packen, denn ich möchte dann auch einige Tage bleiben. Platz haben wir ja in Geros Haus.«

»Natürlich! Wir hätten schon längst einmal bei den Kindern anrufen müssen.« Unsicher lächelte Reiner. Als Pensionär hatte er eigentlich fast weniger Zeit als vorher.

Elisa eilte bereits wieder die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Als Reiner ihr folgte, hatte sie bereits den Koffer vom Schrank genommen.

*

Katharina Wittenberg öffnete dem Ehepaar Ebert die Haustür. Fragend sah sie auf das ältere Paar.

»Ebert«, stieß Reiner Ebert hervor. »Wir kommen wegen unserer Enkelkinder und wegen unserer Schwiegertochter. Wir wurden von Dr. Baumann angerufen.«

»Richtig!« Katharina lächelte. »Bitte, regen Sie sich nicht auf. Meike und Florian spielen im Garten, und Frauke hat sich hingelegt.«

»Aber wir verstehen das nicht! Wo ist unser Sohn?« mischte sich Elisa Ebert ein.

»Wahrscheinlich ist er in Bad Wiessee. Aber treten Sie doch näher. Ich bin Katharina Wittenberg, die Haushälterin von Dr. Baumann.« Mit großer Selbstverständlichkeit reichte sie dem Ehepaar die Hand. »Kommen Sie bitte mit auf die Terrasse, dort können Sie Ihre Enkelkinder begrüßen, und Dr. Baumann wird Ihnen dann alles weitere erklären.«

»Aber was ist mit Frauke? Ist sie krank?«

»Nein, nein, sie ruht sich nur etwas aus. Wenn Sie mit Dr. Baumann gesprochen haben, dann können Sie mit Frauke und den Kindern nach Hause fahren.«

Elisa und Reiner Ebert sahen sich an. Sie verstanden immer weniger. Katharina ließ ihnen jedoch keine Zeit zu weiteren Fragen oder Überlegungen, sie ging einfach voraus und führte das Ehepaar durch das Haus hinaus auf die Terrasse.

Franzl, mit dem die Kinder gespielt hatten, kam herangeschossen. Bellend stürmte er die Terrassenstufen hinauf. Meike und Florian erkannten ihre Großeltern und eilten hinterher. Großvater und Großmutter öffneten ihre Arme, und die Kinder stürzten sich begeistert hinein. Nur zu gerne ließen sie sich herzen und küssen. Zufrieden sah Katharina zu. Großeltern und Enkel schienen sich zu mögen und zu lieben. Also doch eine heile Welt, dachte sie.

»Sie haben doch sicher nichts gegen eine Tasse Kaffee? Bitte, setzen Sie sich doch.«

»Nein, nein, wir wollen nicht länger stören«, meinte Herr Ebert und wechselte mit seiner Frau einen Blick.

»Ich habe den Kaffee schon gemacht. Die Kinder haben vorhin bereits Kakao bekommen. Bitte, setzen Sie sich, ich hole den Doktor.«

Wieder ließ Katharina keine Fragen aufkommen und verschwand. Es blieb aber auch keine Sekunde still, denn Florian begann sofort begeistert von Franzl, dem liebsten Hund der Welt, zu erzählen.

Katharina verständigte Dr. Baumann, und dieser kam sofort. Man begrüßte sich, wechselte zuerst nur belanglose Worte. Die Kinder und der Hund sorgten für Unruhe. Doch gleich darauf erschien auch Katharina mit dem Kaffee. Sie stellte die Tassen, Milch und Zucker auf den Tisch, dann schnappte sie sich die Kinder und den Hund, und schon ging es die Terrassenstufen wieder hinunter und in den Garten hinein.

Dr. Baumann war es, der zur Kaffeekanne griff und die Tassen füllte. Wie beiläufig sagte er: »Ihre Schwiegertochter hat sich im Gästezimmer hingelegt. Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Sie war sehr erregt.«

»Aber was ist mit unserem Sohn?« platzte Elisa Ebert heraus.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich konnte ihn nicht erreichen. Irgend etwas muß vorgefallen sein, aber Ihre Schwiegertochter wird Ihnen Ihre Fragen bestimmt beantworten können. Ich habe sie angerufen, weil Ihre Schwiegertochter eine Art Nervenzusammenbruch hatte. Sie braucht jetzt Ruhe, und die beiden Kinder zu beaufsichtigen in ihrem momentanen Zustand, ist nicht ganz einfach.«

Reiner Ebert kam seiner Frau mit der Antwort zuvor: »Wir kümmern uns natürlich um unsere Enkelkinder. Wir können sie auch mit nach Würzburg nehmen. Meike und Flori waren schon oft bei uns. Nicht wahr, Elisa?«

Elisa nickte. Automatisch hatte sie nach der Tasse gegriffen und hielt sich daran fest. Sie versuchte zu verstehen, aber es gelang ihr noch immer nicht.

»So einfach ist das nicht«, meinte der Arzt. Er sah von Elisa zu Reiner Ebert. »Bitte, bedienen Sie sich.«

Er wartete, nahm dann selbst einen Schluck Kaffee, ehe er fortfuhr: »Ich werde offen mit Ihnen sprechen, weil ich Sie bitten möchte, dies dann auch mit Ihrem Sohn und Ihrer Schwiegertochter zu tun. Es geht um Meike. Meike leidet an Magersucht.«

»Darum werde ich mich kümmern.« Elisa Ebert streckte sich. »Mir ist auch schon aufgefallen, wie dünn Meike ist. Ich werde sie schon aufpäppeln.«

»Damit ist es leider nicht getan. Magersucht ist eine ernstzunehmende Krankheit. Auch wenn das Kind es eigentlich will, so bringt es doch keinen Bissen herunter. Auch ich kann Meike nicht helfen. Sie brauchte dringend eine Therapie. Sie muß wieder essen lernen.«

»Das ist doch nicht möglich! Das glaube ich nicht!« Elisa Ebert rang die Hände.

»Leider ist es so!« Dr. Baumann lehnte sich zurück. Nun begann er, über diese Krankheit zu sprechen, eine Krankheit, die meistens eine seelische Ursache hatte. Er sprach auch von Kliniken, die sich darauf spezialisiert hatten.

Die Großeltern sagten nichts mehr. Sie mußten das, was sie da aus berufenem Munde zu hören bekamen, erst verkraften.

Nun erschien Frauke Ebert auf der Terrasse. Sie hatte etwas geruht, denn das ihr verabreichte Mittel hatte seine Wirkung getan. Im ersten Moment starrte sie verwundert ihre Schwiegereltern an, dann begriff sie, daß Dr. Baumann diese benachrichtigt haben mußte.

Elisa Ebert war bereits aufgesprungen, eilte auf ihre Schwiegertochter zu und schloß sie in die Arme.

»Wir gehen nach Hause, Frauke, dort erzählst du uns dann alles. Ich bin so froh, daß wir jetzt hier sind. Du mußt dir keine Sorgen mehr machen. Papa und ich, wir werden uns um alles kümmern.«

Frauke war dankbar für die starken Arme der Schwiegermutter. Sie hatte jetzt das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. »Die Kinder«, stammelte sie, »wo sind die Kinder?«

»Im Garten! Wir nehmen sie mit.« Elisa Ebert streichelte ihre Schwiegertochter. »Zu Hause werden wir in Ruhe über alles reden. Ich bin hier, und du kannst dich ganz auf mich verlassen.«

Frauke schluchzte auf, dann nickte sie jedoch dankbar. Sie ließ sich auch von ihrer Schwiegermutter eine Tasse Kaffee reichen. Sie trank und bedankte sich dann auch bei Dr. Baumann sowie bei Katharina.

Dann ließ sie sich zusammen mit den Kindern von den Schwiegereltern nach Hause fahren.

*

Elisa und Reiner Ebert waren nun im Hause ihres Sohnes. Sie saßen ihrer Schwiegertochter gegenüber und waren ratlos. Was Frauke ihnen da gerade erzählt hatte, das konnten sie nicht glauben. Vorsichtig begann nun Elisa Ebert: »Ihr habt in der letzten Zeit sicher recht viel um die Ohren gehabt, du bist nervlich sehr angespannt. Es ist auch wirklich unverantwortlich von Gero, daß er dich so oft alleine läßt.«

Reiner Ebert nickte dazu.

In Fraukes Gesicht begann es zu zucken. Nichts, aber auch gar nichts schienen ihre Schwiegereltern verstanden zu haben. Sofort erhob sich Elisa und legte Frauke den Arm um die Schultern. Sie hatte die Frau ihres Sohnes vom ersten Tag an gemocht.

»Nicht doch, Frauke! Du solltest dich hinlegen. Jetzt sind wir doch da. Wir kümmern uns schon um die Kinder. Du wirst sehen, alles wird wieder gut. Wir werden auch mit Gero sprechen. Ich verstehe zwar nicht, wie es zu dieser Magersucht gekommen ist, aber Dr. Baumann ist sehr nett. Er wird uns helfen.«

Frauke biß sich in die Unterlippe. Sie wollte nicht weinen, jedenfalls nicht in Gegenwart ihrer Schwiegereltern.

»Wir werden mit Gero sprechen, wenn er heute nach Hause kommt«, fuhr Elisa Ebert fort.

»Gero ist schon seit Tagen nicht mehr hier gewesen.« Frauke schluckte, aber sie versuchte, ihre Schwiegermutter anzusehen.

»Mach dir bitte keine Sorgen.« Elisa merkte selbst, wie schal diese Worte klangen, aber was sollte sie sonst sagen? »Du brauchst Ruhe, hat Dr. Baumann gesagt. Ich werde dir jetzt einen Tee machen, und dann legst du dich hin.«

»Das geht nicht, Mutter, die Kinder«, widersprach Frauke.

»Keine Sorge, wegen der Kinder sind wir doch hier. Und wenn Gero heute nicht kommt, dann fahre ich morgen nach Bad Wiessee.«

Entsetzt fuhr Frauke zurück. »Nein, Mutter, das darfst du nicht tun. Ich will nicht, daß Gero sich zu etwas gezwungen fühlt. Ich wollte nur mit den Kindern verreisen. Mutter, wir haben kein Geld mehr.«

Reiner und Elisa tauschten einen Blick. Auch das konnten sie nicht glauben. Elisa sagte: »Das ist doch Unsinn! Meike ist krank. Magersucht ist eine Krankheit. Du kannst jetzt nicht verreisen.« Sie schüttelte den Kopf. »Gero muß mit Dr. Baumann sprechen.«

Mit leicht geöffneten Lippen starrte Frauke ihre Schwiegermutter an. Offensichtlich begriff diese nicht. Gero hatte kein Interesse mehr an den Kindern.

»Ich habe Dr. Baumann nicht so recht verstanden. Er sprach von einer Therapie und meinte, daß Meike und Florian jetzt dich und Gero brauchen.«

Nun schossen Frauke doch die Tränen in die Augen. Die Verzweiflung stieg wieder in ihr hoch, und sie weinte bitterlich.

»Nicht doch!« Elisa Ebert wurde immer unsicherer. So kannte sie ihre Schwiegertochter gar nicht. »Es ist wirklich besser, wenn du dich jetzt hinlegst. Versuch zu schlafen!«

»Aber ich kann nicht schlafen. Ich wälze mich dann stundenlang im Bett herum. Das hat doch keinen Sinn.« Frauke drehte ihr Gesicht zur Seite, den Arm der Schwiegermutter schüttelte sie ab.

Da griff Reiner Ebert ein. »Frauke, laß dir von Elisa helfen. Dr. Baumann hat dir doch ein leichtes Schlafmittel mitgegeben. Nimm eine Tablette und leg dich hin.«

Schlafen, einmal wieder richtig schlafen, das wäre schön! Frauke schloß die Augen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die tränenfeuchten Wangen.

»Komm, Frauke, Papa hat recht. Ich bringe dir die Tabletten, und du legst dich hin. Am besten wird es sein, du ziehst dich aus und legst dich richtig unter die Bettdecke.«

»Ich weiß nicht…«

»Du solltest zumindest versuchen zu schlafen. Ich komme mit den Kindern schon zurecht, und wenn diese im Bett sind, dann sehe ich nach dir.« Elisa Ebert hatte wieder nach ihrer Schwiegertochter gegriffen und führte sie nun aus dem Wohnzimmer. Frauke ließ es einfach geschehen. Es war schön, daß jemand da war, der sich um sie kümmerte. Sie wollte nicht mehr nachdenken, und so saß sie wenig später im Nachthemd auf ihrem Bett, und die Schwiegermutter reichte ihr eine Tasse Tee. Während sie noch langsam den Tee schlürfte, kam die Schwiegermutter mit der Tablettenschachtel. Dr. Baumann hatte Elisa Ebert die Schachtel in die Hand gedrückt und gemeint: »Für den Fall, daß Ihre Schwiegertochter keinen Schlaf findet.« Er hatte die Schachtel aus seinem eigenen Bestand genommen. Als Arzt bekam er oft Probepackungen.

»Danke!« Frauke schluckte die Tablette, dann ließ sie sich zurücksinken.

»Ich sehe später noch einmal nach dir. Mach dir bitte wegen der Kinder keine Sorgen.«

»Danke!« sagte Frauke erneut, dann schloß sie die Augen. Sie hörte, wie ihre Schwiegermutter das Schlafzimmer verließ. Sie wollte sich entspannen, aber ihre Gedanken begannen wieder zu arbeiten. Schließlich fuhr sie im Bett auf und stöhnte. Ihr Blick fiel dabei auf die Tablettenschachtel, die ihre Schwiegermutter auf dem Nachttisch liegengelassen hatte.

Schlafen! Sie wollte nur noch schlafen! Ohne zu zögern, löste sie einige Tabletten aus der Packung und spülte sie mit dem Rest Tee, der noch in der Tasse war, hinunter.

Schlafen! Sie ließ sich wieder zurückfallen. Da war sie endlich, die bleierne Müdigkeit. Sie griff nach der leichten Decke und zog sie über sich. Jetzt liefen ihre Gedanken durcheinander, und schließlich versank doch alles um sie herum.

Elisa Ebert saß ihrem Mann gegenüber, sie mußte einfach nochmals mit ihm sprechen. Ehe sie jedoch etwas sagen konnte, hob ihr Mann die Hände. »Ich habe keine Erklärung für das Verhalten unseres Sohnes.«

»Es gibt eine, es gibt sie ganz sicher. Ich werde auch nicht mehr länger warten, sondern in Bad Wiessee anrufen. Wenn Gero nicht in der Galerie ist, dann wird man uns zumindest sagen können, wo er sich aufhält.«

»Du hast Frauke versprochen, es nicht zu tun«, erinnerte Reiner Ebert. Er war genauso ratlos wie seine Frau. »Wir sollten uns um die Kinder kümmern.«

»Denen geht es gut. Ich war vorhin kurz im Garten, sie spielen dort zusammen. Meike achtet sehr lieb auf ihren kleinen Bruder. Ich finde es schön, daß sie sich so gut verstehen, und da wollte ich nicht stören.

»Hast du nicht bemerkt, wie dünn Meike ist? Dr. Baumann macht sich Sorgen um die Kinder.« Reiner Ebert senkte den Blick und betrachtete zerstreut seine Handflächen.

»Deswegen sind wir doch hier. Frauke war überfordert. Sie hat sich da in etwas hineingesteigert. Wir sind mit den Kindern immer gut zurecht gekommen.«

»So einfach ist das nicht, meine Liebe!« Reiner seufzte. »Ich bin jederzeit bereit, mich um die Enkelkinder zu kümmern. Ich würde es sogar schön finden, sie mit nach Würzburg zu nehmen. Nur, wäre das richtig? Frauke ist stets eine gute Mutter gewesen. Die Kinder waren ihr immer das Wichtigste.«

»Du siehst doch selbst, daß sie im Moment nicht die Kraft hat, sich um die Kinder zu kümmern. Auch Dr. Baumann hat das erkannt. Ich verstehe zwar nicht ganz, was er mit Magersucht meint, aber ich werde mich schon darum kümmern, daß Meike wieder richtig ißt.« Während Elisa mit ihrem Mann besprach, was sie morgen alles in die Wege leiten wollten, bekamen die Geschwister Streit.

»Ich will nicht mehr spielen«, maulte Florian, und ehe es Meike verhindern konnte, hatte er die schöne Sandburg, die sie für ihn gebaut hatte, zerstört. »Ich gehe jetzt zu Papa!« Er streckte sich.

Meike hielt ihn fest. »Mami ist krank, sie kann mit uns jetzt nicht zu Papa fahren. Der Onkel Doktor hat gesagt, daß sie sich ausruhen muß und daß wir ganz lieb zu ihr sein sollen.«

»Ich will nicht nur zu Mami lieb sein, ich will auch zu Papa lieb sein.«

»Papa ist doch nicht krank.« Meike schnitt eine Grimasse. »Du kannst das noch nicht verstehen, du bist eben noch zu klein. Du mußt aber das machen, was Omi dir sagt.«

Florian haßte es, wenn Meike ihm sagte, daß er zu klein war. Er war schon öfter eifersüchtig auf die ältere Schwester gewesen und mochte es überhaupt nicht, wenn er von ihr beaufsichtigt wurde. »Ich bin schon groß«, behauptete er daher auch sofort empört. »Ich werde es dir zeigen! Ich kann ganz alleine zu Papa gehen. Ich weiß, wo die Galerie ist. Sie ist neben dem großen Park.«

»Du bist noch dümmer, als ich gedacht habe.« Meike lachte laut auf. »Du kannst doch nicht bis Bad Wiessee laufen. Bad Wiessee liegt auf der anderen Seite des Sees.«

»Selber dumm! Ich fahre mit dem Schiff. Ich weiß, wie das geht.«

»Dazu brauchst du doch Geld!« Meike lachte. Sie machte sich wieder einmal über ihren kleinen Bruder lustig.

Florian schossen die Zornestränen in die Augen, er ballte die Fäuste. »Ich werde Papa sagen, wie gemein du bist.«

»Du kommst gar nicht zu Papa, So ein kleiner Junge kann nicht allein mit dem Schiff fahren.« Sie lachte nochmals, doch dann wurde ihr Gesicht schlagartig traurig. »Du begreifst doch überhaupt noch nicht, was los ist. Wenn wir zu Papa kommen würden, so würde er uns wieder wegschicken.«

Florians geballte Hände sanken nach unten. Mit offenem Mund starrte er seine Schwester an, dann schüttelte er jedoch heftig den Kopf. »Mich schickt Papa nicht weg!«

»Doch!« beharrte seine Schwester. »Ich weiß auch, warum. Papa mag uns nämlich nicht mehr. Deswegen ist Mami auch krank geworden. Ich… ich will auch krank werden.« Meikes Lippen begannen zu zittern. Sie sah ihren Bruder nicht mehr an, als sie fortfuhr: »Weil Mami krank ist, sind jetzt Opa und Omi gekommen.«

»Ich will aber nicht Omi und Opa, ich will Papa haben!« Zornig stampfte Florian mit dem Fuß auf.

Die Achtjährige antwortete dem Bruder nicht, auch sie sehnte sich nach ihrem Vater. Sie kehrte Florian einfach den Rücken und ging hinüber zur Schaukel, wo sie lustlos auf und ab zu wippen begann.

»Ich will zu Papa«, rief Florian laut, doch seine Schwester beachtete ihn nicht weiter. Da fing er zu weinen an. »Papa, ich weiß, daß da alles nicht stimmt! Alle sind dumm!« Er schnupfte laut. Laut rief er dann in Richtung seiner Schwester: »Und ich fahre doch zu Papa! Ich werde ihm alles erzählen.«

Meike machte nur eine abfällige Handbewegung, dann begann sie heftiger zu schaukeln.

»Warte nur«, brüllte Florian, dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief zum Haus. Wütend riß er die Hintertür auf, besann sich dann aber. Ihm war klar, daß seine Omi ihn nicht zu seinem Papa fahren lassen würde. Und Mami, die wollte nicht zu Papa fahren. Sie hatte ja mit dem Flugzeug noch weiter weg gewollt von Papa. Er setzte sich auf die Treppe und überlegte. Wo das Schiff abfuhr, das wußte er. Er mußte also nur Geld holen, damit er eine Fahrkarte kaufen konnte. Seine Miene erhellte sich. In seinem Zimmer stand doch sein Sparschwein.

Auf Zehenspitzen schlich Florian ins Haus. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, und so hörte er die Stimme der Großmutter. Unwillkürlich blieb er stehen.

»Wahrscheinlich ist es das beste, wir nehmen die Kinder mit nach Würzburg. Sie waren doch immer gerne bei uns. In einer anderen Umgebung wird es mit ihnen einfacher sein.«

»Vergiß nicht«, warf Reiner Ebert ein, »Dr. Baumann sprach von einer Therapie.«

Florian spitzte die Ohren. Was sagte sein Opa da?

Elisa achtete nicht auf die Worte ihres Mannes. »Ich hoffe, daß Frauke morgen einigermaßen ansprechbar ist, dann werde ich ihr das vorschlagen. Natürlich werde ich auch mit Gero sprechen. Wenn es wirklich stimmt, daß er kaum noch hier ist, dann wird er sicher nichts dagegen haben, wenn wir die Kinder während der Ferien zu uns nehmen.«

Nein, ich will nicht! wollte Flori brüllen, aber noch rechtzeitig preßte er die Lippen fest aufeinander.

»Ich weiß nicht, wir sind keine Therapeuten«, entgegnete Reiner Ebert nach einigem Überlegen. »Was auch immer zwischen Frauke und Gero vorgefallen ist, die Kinder müssen zur Ruhe kommen. Du solltest wieder einmal nach ihnen sehen.«

Florian konnte sich nicht rühren. Hatte Meike doch recht? Wollte der Papa sie nicht mehr haben! Er würde jedenfalls weglaufen, er würde sich nicht von seiner Omi mitnehmen lassen. Er starrte auf die halbgeöffnete Tür und war bereit zu fliehen, wenn seine Omi herauskommen würde. Elisa Ebert trat jedoch nur ans Fenster und sah hinaus.

»Meike schaukelt«, verkündete sie. »Ich kann sie von hier aus sehen, da ist Florian bestimmt auch nicht weit. Wenn sie zusammen spielen, dann wollen wir sie noch etwas lassen. Ich sehe jetzt nochmal nach Frauke. Ich hoffe ja sehr, daß die Tablette die gewünschte Wirkung gehabt hat. Sie war völlig verstört und brach gleich in Tränen aus.« Erneut wunderte sich Elisa darüber. »So kannte ich Frauke bisher gar nicht. Ich bin auch der Ansicht, daß sie dringend ärztliche Hilfe braucht. Vielleicht sollte ich Gero doch anrufen.«

Reiner Ebert trat zu seiner Frau und sah nun ebenfalls zu Meike hinaus, die schaukelte. »Nun mach dich nicht verrückt. Ich bin sicher, daß Gero sich meldet, und mit Dr. Baumann müssen wir sowieso nochmals sprechen. Meike muß aufgepäppelt werden.«

Sollten Omi und Opa doch Meike mit nach Würzburg nehmen, er wollte jedenfalls nicht mit. Ihn hatte ja sowieso niemand mehr lieb. Florian wandte sich ab, und da er nicht wußte, wohin er sollte, ging er Richtung Wald. Vielleicht würden sie ihn ja wieder suchen, wenn er nicht da war. Beim letzten Mal hatte Mami sich große Sorgen um ihn gemacht, das hatte zumindest der Onkel Doktor gesagt. Er hatte zwar versprochen, nicht mehr wegzulaufen, aber er lief ja auch nicht weg, er würde doch nur bis zum Wald gehen.

Florian ging wirklich langsam, doch niemand hatte sein Weggehen bemerkt. Elisa Ebert war nochmals zu ihrer Schwiegertochter gegangen und hatte sich davon überzeugt, daß diese fest schlief. Reiner Ebert hatte sich nun doch dazu entschlossen, in der Galerie anzurufen. Sein Ruf ging zwar dorthin, aber am anderen Ende meldete sich niemand.

*

»Eric, Eric!« Katharina Wittenberg war so aufgeregt, daß sie auf den Terrassenstufen stolperte und hinfiel und sich dabei sogar das Knie aufschlug.

»Katharina!« Erschrocken kam Dr. Baumann angelaufen. »Laß mal sehen! Hast du dir wehgetan?« Er wollte nach Katharina greifen, aber diese kam schon von selbst wieder auf die Beine.

»Alles in Ordnung! Wir müssen uns beeilen!« Sie nahm Erics Hand und wollte ihn die Stufen hinaufziehen. Als sie jedoch den Fuß aufsetzte, zuckte sie zusammen und wäre beinahe wieder eingeknickt. Trotzdem wollte sie Eric wegstoßen, doch dieser war bereits vor ihr in die Knie gegangen und schob nun ihren Rock etwas höher.

»Du blutest! Ich muß dich zuerst verarzten.«

»Dazu ist jetzt keine Zeit! Da kam gerade ein Anruf.«

»Gut, du weißt, daß ich jederzeit einen Hausbesuch mache, aber zuerst will ich nach deinem Knie sehen.« Streng sah Eric seine Haushälterin an.

»Unsinn! Ich bin jetzt nicht wichtig! Los, hol dein Auto aus der Garage, wir müssen sofort zu den Eberts fahren.«

»Was ist denn nun schon wieder geschehen?« Der Arzt in Eric erwachte. »Ich habe Frauke doch bereits hier eine Beruhigungsspritze gegeben.«

»Endlich!« Katharina schlug die Augen zum Himmel auf. »Florian ist wieder verschwunden. Dagegen ist mein aufgeschlagenes Knie doch wirklich eine Kleinigkeit. Ich habe seiner Großmutter versprochen, daß wir sofort kommen.«

»Gut, aber…«

»Eric, du hast ihn das letzte Mal auch gefunden.«

»Stimmt nicht, ich habe dann nur mit ihm gesprochen.«

»Eben!« trumpfte Katharina auf. »Der Kleine hat Vertrauen zu dir.«

Damit war die Entscheidung gefallen. Wenig später versuchte Eric dann, aus der weinenden Meike etwas herauszubekommen, aber mehr, als diese ihren Großeltern schon gesagt hatte, konnte sie auch ihm nicht sagen.

»Mein Mann hat sich sofort ins Auto gesetzt und ist bis an den See gefahren. Er hat Florian aber nirgends gesehen. Er fährt noch immer mit dem Auto herum und sucht den Kleinen. Irgendwo muß er doch sein!« Frau Ebert war verzweifelt. »Ich hätte nie gedacht, daß Florian wegläuft. Das hat er noch nie getan.«

»Doch! Hat Ihnen Ihre Schwiegertochter das nicht erzählt?« Eric sah sich um. »Wo ist denn Ihre Schwiegertochter?«

»Zum Glück schläft sie. Sie hat noch gar nicht mitbekommen, daß wir Florian vermissen. Ich dachte wirklich, die Kinder spielen im Garten. Meike konnte ich vom Fenster aus auch sehen.«

»Keine Sorge, Frau Ebert! Eric wird Florian schon finden. Offensichtlich ist er ja nicht zum See gegangen.« Katharina überlegte kurz. »Wo hat man Florian denn das letzte Mal gefunden?«

»Wir haben ihn auf dem Hochsitz gefunden«, gab Meike schluchzend Auskunft. »Aber jetzt wollte er zu Papa. Omi, ich bin schuld!« Sie schmiegte sich an ihre Großmutter. »Ich habe gesagt, daß er dumm ist. Er ist auch dumm, denn er kann doch nicht alleine über den See fahren.«

»Schon gut!« Elisa Ebert strich ihrer Enkelin über das Haar. »Zum See ist Florian auch nicht gegangen. Denk bitte nach! Wo kann Florian sich sonst noch versteckt haben?«

»Wir spielen selten Verstecken. Bitte, bitte, sei nicht böse auf mich, Omi! Und bitte, sag Mami nichts! Sie mag es nicht, wenn wir streiten.«

Elisa Ebert wußte nicht, was sie sagen sollte. Das alles war etwas viel für sie. Noch immer wußte sie nicht, was hier eigentlich vor sich ging. Warum war ihr Sohn nicht hier? Sie war davon überzeugt gewesen, daß Gero ein guter Familienvater war und daß er seine Frau und seine Kinder liebte. Katharina, die Fraukes Schwiegermutter beobachtet hatte, mischte sich jetzt ein.

»Niemand ist böse auf dich, Meike. Ich glaube übrigens auch nicht, daß Florian sich hier irgendwo im Haus oder im Garten versteckt hat. So wie es aussieht, ist er auch nicht Richtung Ort gegangen.«

»Zum Wald! Er muß wieder zum Wald gegangen sein, deswegen haben wir ihn nirgends gesehen«, meinte Eric. »Ich fahre rasch zum Waldrand, das geht schneller.«

»Vergiß diesen Hochsitz nicht!«

»Schon gut, Katharina! Ich weiß, Florian wollte schon einmal eine Nacht auf dem Hochsitz verbringen. Er muß sich da sehr angestrengt haben, um hinaufzukommen.«

»Er ist auf einen Hochsitz geklettert? Davon wußte ich gar nichts. Dazu ist er doch auch noch viel zu klein. Was ist, wenn er heruntergefallen wäre?« Elisa Eberts Sorge wuchs.

»Es hat ihm niemand erlaubt, hinaufzusteigen«, sagte Meike. Aber gleich darauf senkte sie den Kopf und meinte: »Sonst ist Florian aber meistens lieb.«

Elisa Ebert strich Meike erneut über das Haar. Was war nur mit dem Mädchen los? Meike hatte ihren kleinen Bruder immer verteidigt, nie hatte sie ihn verpetzt.

»Dann werde ich jetzt einmal nach Florian sehen.« Eric drehte sich um und ging zu seinem Auto.

Elisa Ebert zögerte noch, denn Meike klammerte sich wieder an sie, trotzdem fragte sie: »Soll ich mitkommen, Herr Doktor? Meike könnten wir doch auch mitnehmen.« Unsicher sah sie dann zu Katharina Wittenberg, mit der sie heute schon einmal kurz gesprochen hatte. »Oder soll ich hierbleiben, falls Florian doch hier irgendwo ist oder falls mein Mann ihn bringt?«

»Wir bleiben hier«, entschied Katharina.

Eric drehte sich nochmals um und nickte Katharina zu. »Vielleicht seht ihr einmal nach Frauke. Sie sollte sich nicht erneut aufregen.«

»Das muß sie auch nicht. Ich bin sicher, daß du Florian findest.« Katharina lächelte. Es freute sie immer, wenn sie Eric einmal behilflich sein konnte. »Komm, Meike, während der Onkel Doktor nach Florian sucht, sehen wir nach deiner Mami.«

»Sie meinen, wenn der Herr Dr. Baumann nach meinem Bruder sucht«, sagte Meike und streckte sich. »Ich bin schon groß und weiß, daß der Doktor nicht mein Onkel ist. Nur kleine Kinder nennen einen Arzt Onkel Doktor.«

Während Elisa Ebert den Kopf über ihre vorlaute Enkelin schüttelte, schmunzelte Katharina. »Natürlich, du bist drei Jahre älter als dein Bruder. Daher darfst du mich jetzt auch zu deiner Mami führen. Wir wollen aber ganz leise sein, denn wenn sie noch schläft, dann wollen wir sie nicht wecken.«

»Ich werde leise sein«, versprach Meike. »Es ist gut, daß Mami endlich schläft. So wird sie wieder ganz gesund werden.«

»Das wollen wir hoffen.« Katharina sah nun zu Frau Ebert.

»Ich bin froh, daß Sie mit dem Herrn Doktor mitgekommen sind«, meinte Elisa. »Als wir uns vorhin im Doktorhaus von Ihnen verabschiedet haben, hätte ich nicht gedacht, daß es solche Probleme geben wird.«

»Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden«, meinte Katharina beruhigend. »Und nun wollen wir wirklich nach Ihrer Schwiegermutter sehen.«

Frauke Ebert schlief. Katharina wollte sich bereits wieder abwenden, als ihr Blick auf die geöffnete Tablettenpackung fiel. Sie griff nach der Schachtel. »Schlaftabletten«, las sie laut.

»Die hat Dr. Baumann meiner Schwiegermutter mitgegeben. Ich selbst habe Frauke vorhin eine Tablette gegeben.«

»Eine?« Katharina runzelte die Stirn. »In dieser Packung fehlen mehrere Tabletten.«

»Mein Gott!« Elisa Ebert erschrak. »Dann muß Frauke nochmals aufgestanden sein und zwei weitere Tabletten genommen haben. Ich hätte die Packung wieder mitnehmen müssen, aber woher sollte ich wissen…« Die Frau ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken. Das alles war zuviel für sie.

»Mami, was ist denn mit Mami?« Entsetzt starrte Meike nun auf ihre Mutter.

Katharina behielt jedoch einen kühlen Kopf. Rasch überflog sie nochmals die Inhaltsbeschreibung. »Es ist zum Glück nur ein leichtes Schlafmittel, so werden auch die Tabletten nicht schaden.« Sie wandte sich an Meike: »Deine Mami wird nur ganz fest schlafen, und dies die ganze Nacht. Du kannst ihr ruhig einen Kuß geben. Sie wird dadurch nicht aufwachen.« Katharina führte Meike näher ans Bett heran, und so konnte Meike die Mutter auf die Wange küssen. »Morgen wird dir deine Mami dann den Kuß zurückgeben.«

Katharina gelang es, das Kind zu beruhigen, und auch Elisa Ebert überzeugte sich davon, daß der Atem ihrer Schwiegertochter regelmäßig ging. Trotzdem war sie froh, als sie hörte, daß ihr Mann zurückkam. Er hatte Florian überall gesucht, ihn aber nirgendwo finden können. Und so glaubten sie nun alle, daß Florian wieder zum Wald gelaufen war.

*

Dr. Eric Baumann stand vor dem Hochsitz und sah nach oben. »Florian?«

Er hatte das Gefühl, ein Geräusch zu hören, zu sehen war der Junge jedoch nicht. Ärgerlich verzog der Arzt das Gesicht. Diesen Nachmittag hatte er eigentlich dazu nützen wollen, einmal wieder mit dem Boot hinauszufahren. Nur wenig später, und der Anruf von Florians Großmutter hätte ihn nicht mehr erreicht. Jetzt jedoch mußte er sich wieder mit einem verzogenen Jungen herumärgern.

»Florian!« Seine Stimme klang nun schärfer. Er horchte und runzelte die Stirn. Da war wieder ein Geräusch, aber es kam nicht von oben. Er senkte den Blick, und jetzt hörte er es deutlicher, es war ein leises Stöhnen.

Es kam aus den Sträuchern neben dem Hochsitz, daraus erklang ein leises Weinen, das in ein Gewimmer überging. So fand Dr. Baumann den Fünfjährigen. Beim Hinaufklettern war er ausgerutscht und ins Gebüsch gefallen. Nun war Eric sehr froh, daß er hier war. Er begann, das jammernde Kind vorsichtig zu untersuchen, dabei bewegte er es zuerst so wenig wie möglich. Er stellte fest, daß Florian sich den Kopf angeschlagen haben mußte, was sicher eine leichte Gehirnerschütterung zur Folge hatte. Ob der Kleine sich auch etwas gebrochen hatte, konnte er im Moment nicht sagen. Er hoffte nur, daß das Kind keine inneren Verletzungen hatte. Zuerst einmal mußte Florian ins Krankenhaus gebracht werden.

»Wo tut es dir denn weh?« fragte er, bevor er den Kleinen untersuchte.

Es dauerte einige Sekunden, bis Florian antworten konnte. »Mein Kopf tut weh und mein Arm.« Als Eric vorsichtig den Arm abtastete, stöhnte der Kleine wieder.

Eric entschloß sich dazu, einen Rettungswagen zu rufen. Er trug Florian zu seinem Auto, das nur wenige Meter entfernt am Waldrand stand. Da er stets seinen Arztkoffer dabei hatte, versorgte er erst einmal provisorisch die Kopfwunde und legte dem Kleinen dann eine Armschlinge an. »Du mußt jetzt ein ganz großer und tapferer Junge sein.« Er erklärte dem Fünfjährigen, daß er ihn ins Krankenhaus bringen mußte, damit er dort gründlich untersucht und vor allem geröntgt werden konnte.

Florian hatte aufgehört zu weinen und hörte interessiert zu. »Ich war noch nie im Krankenhaus, und Meike auch nicht. Aber dann machen sich Papa und Mami sicher Sorgen, und natürlich auch Omi und Opa. Du, Onkel Doktor«, treuherzig sah Florian Eric an, »dann kann doch niemand böse auf mich sein, oder? Ich werde auch sehr tapfer sein und nicht mehr weinen. Da ist noch etwas, was du wissen sollst. Ich bin nicht weggelaufen, ich bin nur weggegangen, ganz langsam bin ich gegangen.«

»Ich werde es deiner Mami und deinem Papa sagen.«

»Auch Papa? Wird Papa nun doch kommen?«

Eric konnte dazu nichts sagen, aber er nickte. Erleichtert ließ Florian sich nun auf den Rücksitz des Autos betten. Bevor Eric ins Krankenhaus fuhr, hielt er kurz beim Haus der Familie Ebert an und beruhige die Großeltern.

*

Angelina Mare stand vor Gero Ebert, der auf einem Stuhl in sich zusammengesunken war. Sie lächelte auf ihn hinab.

»Bitte, Gero, laß mich die Bilder sehen. Ein oder zwei möchte ich gleich mitnehmen. Du weißt doch, mein Mann wartet darauf.« Ihre Stimme vibrierte. Es war eine Stimme, die einem unter die Haut gehen konnte. Gero reagierte jedoch nicht darauf.

Angelina lachte, sie strich sich das Haar zurück, um ihre Hand dann auf seine Schulter zu legen. »Ich weiß doch, daß du in den letzten Nächten gearbeitet hast. Ich bin mir auch sicher, daß mein Mann mit deiner Arbeit sehr zufrieden sein wird. Du wirst mich doch hoffentlich nach Rom begleiten?«

»Nein!« Geros Kopf schoß in die Höhe. »Es muß endlich Schluß sein!«

»Aber, aber«, schmollend warf Angelina die Lippen auf. Sie war wirklich eine ausgesprochen schöne Frau, und sie wußte es. »Es könnte sehr schön sein!«

»Bitte, Angelina!« Gero sprang auf. »Ich kann nicht mehr! Meine Frau, meine Kinder, ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen.«

»Erwartest du etwa, daß ich Mitleid mit dir habe?« Sie lächelte. »Aber keine Sorge!« Obwohl sie die Abwehr auf seinem Gesicht sah, trat sie näher und legte ihm die Arme um den Hals. »Es kommt alles wieder in Ordnung. Du bist ein begnadeter Künstler. Du weißt doch, daß mein Mann sehr viel von dir hält.«

Gero schob ihre Arme zur Seite und drehte ihr den Rücken zu.

»Du hast die Bilder doch gemalt?« Ihre Stimme hatte nun etwas von ihrem Schmelz verloren.

Gero antwortete nicht.

»Ich will sie sehen, Gero! Jetzt!«

»Nein! Ich werde diese Bilder niemandem zeigen. Ich werde sie vernichten.«

»Das kannst du nicht tun!« Ihr Lächeln wich der Empörung. »Du scherzt!« Das Lächeln, das sich nun wieder um ihre Mundwinkel legte, war spöttisch, doch Gero sah es nicht. Er hatte ihr noch immer den Rücken zugewandt. »Du weißt genau, daß du das nicht tun kannst.«

»Ich werde diese Bilder vernichten. Noch kann ich es!« Gero streckte sich.

Angelina seufzte. »Warum machst du alles so kompliziert? Ich weiß, mein Schatz, du hast Hemmungen, doch das ist nicht nötig. Wer hat heutzutage noch ein schlechtes Gewissen? Man sollte das Leben einfach genießen.«

Gero dachte an Frauke, und er verbarg sein Gesicht zwischen den Händen.

»Ich weiß wirklich nicht, was du willst. Niemand wird je etwas davon erfahren. Du wirst keine Schwierigkeiten bekommen.«

»Ich hätte es niemals tun sollen! Alles habe ich aufs Spiel gesetzt! Bitte, Angelina, fahr nach Rom zurück!«

»Wie dumm du doch bist!« Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange. »Jetzt geht das nicht mehr, das weißt du doch! Ich muß meinem Mann die Bilder bringen. Also, gib sie mir!«

»Das werde ich nicht tun! Ich vernichte die Bilder!« Gero hielt ihrem Blick stand, obwohl er innerlich völlig aufgewühlt war. Er wußte nicht, wie er seiner Frau je wieder gegenübertreten sollte.

»Ich habe diese Auseinandersetzung langsam satt. Ich sehe mir jetzt die Bilder an.« Angelina drehte sich um und ging zu der Tür, hinter der das Atelier lag, wo Gero immer malte. Sie kannte das Atelier, hatte es aber in den letzten Tagen nicht mehr betreten. Jetzt verzog sich ihr Gesicht wütend, als sie feststellte, daß die Tür abgeschlossen war. Sie wirbelte herum.

»Was soll das?« fauchte sie. Die Freundlichkeit war nun gänzlich aus ihrem Gesicht gewichen. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ich lasse mich von dir doch nicht an der Nase herumführen.«

»Ich habe einen Fehler gemacht, aber noch ist es nicht zu spät.« Der Künstler ging auf die schöne Millionärsgattin zu, doch in diesem Moment begann das Telefon zu klingeln. Abrupt hielt er inne und starrte einen Augenblick lang das Telefon an. Er zögerte, doch dann eilte er hin und nahm den Hörer ab.

Gelassen beobachtete ihn Angelina, dann verengten sich jedoch ihre Augen. Irgend etwas mußte vorgefallen sein.

»Danke! Natürlich komme ich! Ich komme gleich ins Krankenhaus.« Er legte auf.

»Du kannst jetzt nicht weg!«

»Ich muß weg! Es handelt sich um meinen Sohn. Mit unserer Abmachung hat das nichts zu tun. Ich sage aber schon jetzt, daß ich nicht mitmache. Du wirst die Bilder nicht bekommen.«

»So einfach kommst du aus dieser Angelegenheit nicht heraus, das solltest du eigentlich wissen.« Mit schwingenden Hüften ging sie auf ihn zu. »Also, schließ das Atelier auf. Ich werde dich dann nicht daran hindern, zu deinem Sohn zu fahren.«

»Die Bilder sind nicht hier. Ich habe sie bereits weggeschafft. Was immer du jetzt vorhast, ich werde nicht mitmachen, ich kann es nicht! Ich würde alle Achtung vor mir verlieren. Dann könnte ich meiner Frau wirklich nicht mehr unter die Augen treten.«

»Mich interessiert deine Frau nicht! Deine Familie ist einzig und allein dein Problem.«

Gero starrte sie einen Moment lang an, dann drehte er sich

um.

»Gero, das kannst du doch nicht machen! Du kannst mich nicht einfach hier stehenlassen«, kreischte sie.

»Bitte, Angelina, ich kann nicht anders! Ich fahre jetzt nach Tegernsee, und ich möchte dich bitten, meine Galerie zu verlassen. Sonst müßte ich dich einschließen.« Er sah nicht hoch und steckte bereits von außen den Schlüssel ins Schloß.

»Ich werde mir die Bilder holen«, zischte sie.

»Du weißt, daß ich eine Warnanlage habe. Es kann hier niemand unbefugt eindringen. Das Warnsystem ist sicher. Die Polizei würde sofort erscheinen.« Er sagte es ruhig. Ihm war jetzt alles egal.

Ihr jedoch nicht, und wütend versuchte sie, ihn nochmals zur Rede zu stellen. Er jedoch reagierte nicht. Er ging zu seinem Auto, stieg ein und fuhr ab, ohne sie nochmals eines Blickes zu würdigen.

*

Gero Ebert stand in der Halle des Krankenhauses seiner Mutter gegenüber. Elisa Ebert versuchte, im Gesicht ihres Sohnes zu lesen. Schließlich sagte sie: »Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Ich hatte viel zu tun.« Gero senkte den Blick.

»Ich weiß! Papa ist jetzt Pensionär. Wir hätten uns auch einmal melden können.« Elisa Ebert schwieg kurz. »Warum hast du uns nicht angerufen und uns gesagt, daß du Probleme hast? Wir hätten dir doch geholfen«, brach es aus ihr heraus.

»Mama, ich weiß jetzt, daß ich einen großen Fehler gemacht habe. Ich muß aber selbst damit fertig werden. Ich will meine Familie da nicht hineinziehen.«

»Es geht aber um deine Familie, um deine Kinder. Meike leide an Magersucht. Sie muß behandelt werden. Wir wurden von Herrn Dr. Baumann angerufen. Wo warst du?«

»In Bad Wiessee, das wußte Frauke.«

»Papa hat auch versucht, dich zu erreichen. Wir wußten nicht, was wir tun sollten.«

»Da war ich wahrscheinlich gerade nicht in der Galerie. Dr. Baumann hat mich dann ja erreicht. Ich bin froh darüber.« Gero sah seine Mutter noch immer nicht an.

»Es ist wichtig, daß du da bist, vor allem für Florian. Er hat geglaubt, daß du ihn nicht mehr lieb hast.«

»Das ist doch Unsinn!« In Geros Gesicht begann es zu zucken. »Hat Frauke das gesagt?«

»Wir haben mit Frauke kaum gesprochen. Sie war völlig fertig. Jetzt schläft sie. Sie hat Schlaftabletten genommen.«

»O mein Gott!«

»Warum, Gero? Was ist zwischen euch?« Elisa hätte ihren Sohn so gerne in die Arme genommen, aber sie wagte es nicht. So wie er dastand, mit abweisender Miene, war er ihr fremd.

»Bitte, Mama, frag nicht. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen.« Gero wandte sich halb ab.

»Weißt du eigentlich, daß Florian nicht zum ersten Mal weggelaufen ist? Er hat sich schon einmal auf diesem Hochsitz versteckt. Daher konnte Dr. Baumann ihn auch finden. Es hätte so viel passieren können! Es ist wirklich ein Glück, daß er sich nur den Arm gebrochen hat. Morgen kann er wieder nach Hause.«

»Ich weiß, Mama, es ist alles meine Schuld.« Gero wandte seiner Mutter nun den Rücken zu.

Jetzt griff Elisa nach seinem Arm. »Dann ändere etwas daran!«

»Ich kann nicht, noch kann ich nicht!« Gero legte den Kopf in den Nacken. Ein verzweifeltes Stöhnen steckte in seiner Kehle.

»Es stimmt also!« Elisa ließ ihren Sohn los. »Es geht um eine andere Frau.«

»Ja, Mama… nein, Mama, jedenfalls nicht so, wie du denkst!« Jetzt sah Gero seine Mutter an. Seine Hände fuhren dabei aber in die Hosentaschen, wo sie sich zu Fäusten ballten. »Ich versuche, aus dieser Geschichte herauszukommen. Bitte, Mama, du mußt mir glauben!«

»Das mußt du deiner Frau sagen.« Elisa war ratlos. »Und dann sind da ja auch noch deine Kinder.«

»Ich weiß! Glaubst du etwa, ich mache mir keine Vorwürfe?«

»Damit dürfte es nicht getan sein. Fällt dir dazu wirklich nichts anderes ein?« Elisas Empörung wuchs. »Auch ich mache mir Vorwürfe. Warum habe ich nicht früher bei euch angerufen? Warum mußte ich erst durch Dr. Baumann erfahren, daß in deiner Familie etwas nicht stimmt?«

»Ich habe es auch nicht gewußt. Ich sagte doch, daß ich in Bad Wiessee sehr viel zu tun hatte.«

»Ich weiß, daß du Erfolg hast. Bisher war ich sehr stolz auf dich. Aber bisher hat dir deine Arbeit nie mehr bedeutet als deine Familie. Das scheint sich geändert zu haben.« Elisa hatte ihren Blick wieder forschend in das Gesicht ihres Sohnes geheftet. »Deine Tochter braucht Hilfe. Hast du dich mit der Galerie übernommen?«

»Nein! Mit der Galerie hat es im Grunde nichts zu tun.«

»Dann erkläre mir endlich, womit sonst!«

»Mama, ich verspreche dir, ich bringe alles wieder in Ordnung.« Gero konnte seine Mutter bei diesem Versprechen nicht mehr länger ansehen. Mit der rechten Hand bedeckte er sich jetzt die Augen. Er wußte, wie leichtsinnig er gewesen war. Er hatte sich geschämt und nicht gewagt, mit Frauke darüber zu sprechen, und so hatte er sich immer tiefer hineingeritten. Noch immer wußte er nicht, wie er da je wieder herauskommen sollte.

»Gero, setzen wir uns dort drüben hin. Du weißt doch, wenn du Hilfe brauchst, Papa und ich sind immer für dich da.«

»Ihr könnt mir nicht helfen.« Geros Miene verschloß sich wieder.

»Stimmt es, daß du Schulden hast?« fragte seine Mutter trotzdem weiter.

»Unsinn! Ich hatte einige Ausgaben«, brauste Gero auf. »Woher willst du das überhaupt wissen?«

»Frauke hat es erwähnt. Sie wollte mit den Kindern verreisen.«

»Das wußte ich nicht.« Gero biß sich auf die Unterlippe.

»Will Frauke sich von dir scheiden lassen?«

Diese Frage brachte Gero völlig aus der Fassung. »Nein, das kann sie nicht tun! Ich brauche sie doch!«

»Nein, mein Junge!« Traurig schüttelte Elisa Ebert den Kopf. »Das kann nicht ganz stimmen. Du hast dich in den letzten Wochen überhaupt nicht um deine Familie gekümmert.«

»Das stimmt doch nicht! Ich konnte nur nicht! Wie sollte Frauke dies auch verstehen. Wir hatten immer Streit.«

»Ich verstehe es auch nicht. Was hat dich so verändert, mein Junge?« Sie wollte ihn wieder berühren, aber er wich zurück.

»Mama, du hast keine Ahnung. Es ist auch besser, du mischt dich nicht ein.« Sein Blick ging durch sie hindurch, und sie hatte das Gefühl, eine Ohrfeige erhalten zu haben.

»Und deine Kinder? Sie sind völlig verstört, sie müssen von Dr. Baumann behandelt werden.«

»Ich kann nicht! Laßt mich doch in Ruhe!« Gero konnte nicht weiter Rede und Antwort stehen, also eilte er einfach an seiner Mutter vorbei, hinaus auf die Straße. Den vorwurfsvollen Blick seiner Mutter konnte er nicht mehr länger ertragen. Er wußte genau, was er falsch gemacht hatte.

*

»Herr Doktor!« Elisa Ebert wäre Dr. Baumann beinahe um den Hals gefallen. Sie war so froh, ihn zu sehen.

Dr. Eric Baumann hatte noch mit dem Chefarzt gesprochen und auch noch einen kurzen Blick in das Krankenzimmer geworfen, in dem der kleine Florian friedlich schlief. Jetzt wunderte er sich: »Sie sind noch da? Dazu gibt es aber keinen Grund. Nach dem Besuch seines Vaters war Florian ganz zufrieden.«

»Wo ist mein Sohn jetzt aber?«

»Das fragen Sie mich?« wunderte sich Eric. Verstohlen sah er auf die Uhr. Für heute hatte er genug von Problemen, er wollte nach Hause.

»Er ist einfach davongerannt.« Elisa Ebert hatte plötzlich Tränen in den Augen. »Er muß große Probleme haben. Er scheint nicht mehr ein noch aus zu wissen.«

Was sollte Eric dazu sagen? Eheprobleme gingen ihn wirklich nichts an. »Wo ist eigentlich Katharina, Katharina Wittenberg, meine Haushälterin?« fragte er schließlich.

»Sie ist sehr nett. Sie ist noch bei uns zu Hause. Dort wollte sie auch bleiben, bis ich komme. Es ist wegen Meike. Frau Wittenberg wollte ihr etwas zu essen machen.«

»Typisch Katharina!« Jetzt lächelte Eric.

»Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei Ihnen und Frau Wittenberg bedanken soll. Alleine wäre mir das zuviel gewesen. Mein Mann und ich hatten doch keine Ahnung. Ihr Anruf kam für uns völlig überraschend.« Sie schwieg kurz, um hinzuzusetzen: »Ich hoffe sehr, daß mein Sohn auch erkennt, was Sie für seine Familie getan haben. Er wird sich sicher noch bei Ihnen bedanken.«

»Ich muß mit Ihrem Sohn sprechen, es geht um Meike. Ohne Therapie ist ihr nicht zu helfen.« Unwillkürlich sah er auf die Uhr, er hätte jetzt auch gerne etwas gegessen und getrunken.

»Entschuldigen Sie, ich weiß nur nicht, was ich tun soll.« In Elisas Augen zuckte es.

»Hierzubleiben hat keinen Sinn. Florian schläft jetzt, und die Besuchszeit ist auch vorüber.«

»Ja, schon!« Verlegen trat Florians Großmutter von einem Fuß auf den anderen. »Aber was ist mit meinem Sohn? Er wird doch nicht noch eine weitere Dummheit machen?«

Eric unterdrückte einen Seufzer. Für Florian, aber besonders für Meike war es wichtig, daß der Vater zumindest morgen noch in Tegernsee war. Er alleine konnte Meike nicht helfen. Magersucht war eine Krankheit, die nicht von heute auf morgen geheilt werden konnte. Hatte Gero Ebert tatsächlich das Interesse an seiner Familie verloren? Offensichtlich hatte Elisa Ebert vergebens versucht, mit ihrem Sohn zu sprechen.

»Ich bringe Sie nach Hause«, sagte er daher. »Vielleicht ist Ihr Sohn auch schon heimgefahren.«

Elisa schüttelte den Kopf. »Er ist einfach weggelaufen. Sein Auto steht noch auf dem Parkplatz.«

»Dann kann er ja nicht weit sein.« Eric spürte Erleichterung.

»Deswegen warte ich auch noch hier. Er wird zur Vernunft kommen, er muß einfach zur Vernunft kommen. Es ist nur… man wird auch zu Hause auf mich warten. Frau Wittenberg wollte doch bleiben, bis ich wieder da bin.«

»Tja, dann, dann werde ich wohl Gero suchen müssen. Sie gehen aber bitte nach Hause und schicken meine Haushälterin zurück ins Doktorhaus.«

»Natürlich, aber ich nehme an, daß Frau Wittenberg schon längst gegangen ist.«

»Da kennen Sie Katharina aber schlecht. Wenn sie sagt, daß sie wartet, dann wartet sie auch.« Jetzt lächelte Eric. So wie er Katharina kannte, würde sie nicht eher aufgeben, bis diese Familie wieder glücklich vereint war. Sie glaubte, daß dies alles nur ein schrecklicher Irrtum war. Auch auf ihn hatte Gero Ebert bisher immer einen guten Eindruck gemacht. Und auch vorhin hatte er liebevoll und zärtlich seinen Sohn in die Arme genommen.

»Sie haben schon so viel für meine Familie getan.« Elisas Wangen brannten. Das alles war ihr schrecklich peinlich.

»Dann wollen wir es auch zu einem guten Ende bringen.« Eric legte Geros Mutter die Hand auf den Arm. Nun war er bereit, auch seine Abend- und wenn es denn sein mußte, seine Nachtstunden zu opfern. »Sie haben doch Vertrauen zu Ihrem Sohn?«

Heftig nickte Elisa. »Nur, so habe ich ihn noch nie gesehen. Warum redet er denn nicht mit mir?«

Eric schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Vielleicht habe ich ja mehr Erfolg bei einem Gespräch von Mann zu Mann.«

Elisa senkte den Blick und schwieg. Im Augenblick konnte sie nur hoffen, daß nicht doch eine andere Frau im Spiel war.

Zusammen verließen sie das Krankenhaus. Da Geros Auto noch immer auf dem Parkplatz des Krankenhauses stand, ließ auch Dr. Baumann seinen Wagen stehen und machte sich zu Fuß auf die Suche nach dem Künstler, den er bisher sehr geschätzt hatte.

Während Dr. Baumann der Innenstadt zustrebte, versuchte er, sich in Geros Lage hineinzuversetzen. Gero schien sich in eine schwierige Situation hineinmanövriert zu haben, hatte jedoch bisher noch nicht den Mut gehabt, mit jemandem darüber zu sprechen. Plötzlich wußte er auch, wo er Gero suchen mußte. Entweder trank sich Gero Mut an, oder aber er ertränkte seinen Kummer in Alkohol.

Nachdem Eric die dritte Gaststube betreten hatte, war er am Ziel. In der hintersten Ecke saß Gero Ebert und starrte trübsinnig in sein Bier. Gerade stellte der Wirt auch ein weiteres gefülltes Schnapsglas vor ihn hin.

»Hallo!« Eric setzte sich einfach zu Gero. »Sie müssen nichts sagen. Ich weiß, daß ich störe. Sie wollen allein sein.«

»Ich? Wie kommen Sie darauf?« Gero fühlte sich ertappt. Er schob das Schnapsglas zur Seite.

»Das war nicht schwer zu erraten, nachdem Sie Ihrer Mutter davongelaufen sind. Jetzt möchte ich aber etwas essen. Wegen Ihrer Familie bekam ich bisher kein Abendessen. Also, was ist? Essen wir zusammen?«

Gero hatte es die Sprache verschlagen, aber auch das störte Eric nicht. Da der Wirt noch immer in der Nähe stand, sagte er: »Bitte, bringen Sie uns doch die Speisekarte!«

»Sie haben mich also gesucht«, stellte Gero fest, noch ehe ihnen die Karte gebracht worden war. »Warum? Sie haben doch wirklich schon sehr viel für meine Familie getan.«

»Stimmt!« entgegnete Eric trocken. »Aber es geht nicht nur um Sie, es geht auch um Ihre Tochter. Es ist an der Zeit, daß wir miteinander reden. Fangen Sie an, ich kann zuhören.« Er legte seine Handflächen auf den Tisch.

»Ich hatte Frauke und meine Kinder, und trotzdem verfiel ich einer teuflischen Leidenschaft. Plötzlich zählte nur noch das. Ich vernachlässigte nicht nur meine Familie, sondern auch meine Arbeit.«

Das hörte sich nicht gut an. Im Moment kam es jedoch auch zu keinem weiteren Gespräch, denn der Wirt brachte die Speisekarte.

»Es ist sicher besser, wenn auch ich etwas esse«, meinte Gero. »Bisher habe ich nur getrunken.«

Eric nickte. Das war doch immerhin ein Anfang. Sie bestellten, und nachdem sich der Wirt wieder entfernt hatte, wartete Eric zunächst einmal vergeblich, denn Gero kam nicht mehr auf seine Probleme zu sprechen.

»Tja«, meinte Eric schließlich, als der Wirt die leeren Teller wieder abgeräumt hatte. »Sie sprachen vorhin von Leidenschaft. Für Eheprobleme bin ich eigentlich nicht zuständig. Wie Sie sicher wissen, bin ich Junggeselle, zu Katharinas großem Bedauern ein eingefleischter Junggeselle.«

»Als Frauke und ich uns ineinander verliebten, waren wir uns gleich einig, daß dies für immer sein würde.« Gero lächelte, aber er sprach nicht weiter, sondern gab sich seinen Erinnerungen hin.

Gero beobachtete den Künstler. Er wartete, dann dauerte es ihm aber doch zu lange. Er räusperte sich und stellte sachlich fest: »Und da begegneten Sie der anderen Frau?«

Gero fuhr auf. »Ja… nein! Was denken Sie eigentlich, Herr Doktor? Ich habe mich in keine andere Frau verliebt. Dazu liebe ich Frauke viel zu sehr!« Doch sein Lächeln schwand aus seinem Gesicht, und seine Schultern sanken nach vorn. »Es ist alles viel schlimmer. Ich bin hoch verschuldet, und daher habe ich etwas getan, wofür ich mich schäme. Ach, diese verdammte Leidenschaft! Ich war völlig blind! Jetzt bin ich mir jedoch sicher, daß ich nie wieder das Spielcasino betreten werde.«

»Sie sind ein Spieler?« Eric war so verblüfft, daß er laut dachte.

»Ich war ein Spieler«, antwortete Gero müde. »Ich habe mir damit meine Zukunft kaputtgemacht. Vor allem habe ich aber kein Recht, meine Familie da mit hineinzuziehen. Wenn sie erst erfährt, was ich noch getan habe…« Gero schluckte und drehte den Kopf zur Seite.

»Also doch die andere Frau!« Eric griff über den Tisch und berührte Geros Arm. Er wollte nicht, daß dieser sich wieder vor ihm zurückzog.

»Nein!« Gero sah Dr. Baumann wieder an. »Jetzt verstehe ich erst! Mutter glaubt dies wohl und Frauke natürlich auch! Sie hat mich mit Angelina gesehen. Ich konnte ihr nicht erklären…«

Eric sagte nichts. Er wartete, und diesmal sprach Gero weiter. Zu niemandem hatte er noch darüber gesprochen, daher brach jetzt alles aus ihm heraus. Der Wirt trat an den Tisch, entfernte sich aber gleich wieder, ohne nach weiteren Wünschen gefragt zu haben. So störte sie niemand.

»Meine Frau kennt Angelina Mare. Sie ist wirklich eine wunderschöne Frau und spielt mit den Männern. Kaum ein Mann kann ihr widerstehen. Ich kenne auch ihren Mann. Er ist ein Kunstmäzen und hat mir schon viele Bilder abgekauft. Daher hätte ich auch nie… Nein, ich empfand nie mehr für Angelina! Sie blieb aber in Bad Wiessee, während ihr Mann in Rom lebt. Er selbst hat mir gesagt, daß ich mich etwas um Angelina kümmern solle. So gingen wir hin und wieder ins Casino.

Langsam begriff Eric, daß diese Frau Gero zum Spielen verführt hatte. Er war dem Spiel verfallen und hatte so Schulden gemacht und immer neue Kredite aufgenommen. Und dann bekam Eric noch etwas zu hören, und diesmal stockte ihm fast der Atem. Der Mann, der sich als Maler bereits einen Namen gemacht hatte und dessen Werke auch schon in Museen hingen, hatte Bilder gefälscht, alte Meister. Dies hatte er im Auftrag von Angelina Mare und deren Mann getan. Offensichtlich hatte der reiche Industrielle mit Fälschungen ein Vermögen gemacht. Gero hatte dies nur nicht gewußt.

»Wie konnte ich mich nur darauf einlassen?« klagte Gero jetzt an. »Ich war so verzweifelt, hatte ich doch das Gefühl, alles zu verlieren. Ich konnte mit Frauke nicht darüber sprechen, ich schämte mich. Gestern jedoch habe ich einen Entschluß gefaßt. Ich werde die Bilder, die ich bisher schon gefälscht habe, zerstören. Das bedeutet aber, daß ich so gut wie pleite bin. Wie kann ich aber mit dieser Nachricht meiner Frau unter die Augen treten?«

»Wie Ihre Frau auf diese Nachricht reagieren wird, weiß ich nicht. Das müssen Sie selbst herausfinden. Finden Sie heraus, ob Ihre Frau Sie noch liebt. Wenn sie Sie liebt, dann wird Sie Ihnen auch verzeihen. Und Sie haben schließlich auch Ihre Arbeit. Sie müssen nur erneut beweisen, was für ein großes Talent Sie haben.«

»Ja, ich habe Talent, der Herrgott hat es mir mit in die Wiege gelegt. Und ich habe auch Ideen.« Geros Hände ballten sich. »Ich werde es beweisen.« Sein Blick ging an Dr. Baumann vorbei. Dieser holte den Künstler in die Gegenwart zurück, indem er ihm die Hand auf den Arm legte.

»Da ist noch etwas. Es geht um Ihre Tochter. Ich sprach bereits mit Ihrer Mutter darüber. Meike leidet an Magersucht. Sie muß eine Therapie machen, und dies ist nur in einer Klinik möglich.«

Entsetzt starrte Gero den Arzt an.

»Wenn Sie und Ihre Familie zusammenhalten, dann wird auch das wieder in Ordnung kommen. Ich werde mich einmal umhören, welche Klinik die geeignetste ist, und dann unterhalten wir uns nochmals darüber. Oder noch besser, Sie kommen am Sonntag nachmittag mit Ihrer Frau, Ihren Kindern und Ihren Eltern zu uns ins Doktorhaus. Katharina freut sich immer über Gäste. Sie kennt Ihre Eltern bereits und findet diese sehr nett.«

Eine Stunde später reichten sich die beiden Männer auf dem Parkplatz des Krankenhauses die Hand. »Danke!« Mehr sagte Gero nicht mehr, denn alles andere war bereits gesagt worden.

*

Frauke Ebert schlug die Augen auf. Sie brauchte einige Sekunden, bis die Erinnerung kam. Ruckartig setzte sie sich im Bett auf. Wo waren die Kinder? Sie hatte geschlafen, seit langer Zeit wieder einmal tief und lange geschlafen. Hatte sie etwa die ganze Nacht durchgeschlafen?

Sie sah, daß die Schlafzimmertür halb geöffnet war, und nun drang auch die Stimme ihrer Tochter herein. Und dann hörte sie auch noch eine andere Stimme. Ihr Herz drohte fast auszusetzen. Diese Stimme gehörte nicht ihrem Schwiegervater, sondern Gero. Gero war hier! Er war endlich gekommen!

Frauke stand auf. Ihre erste Regung war, hinunterzueilen und in Geros Arme zu fliegen. Sie hatte ihn so sehr vermißt. Dann hielt sie jedoch inne. Da war doch diese andere Frau, und die war wunderschön! Jetzt klangen Schritte, Frauke konnte sich nicht mehr bewegen. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Tür. Diese wurde jetzt weiter aufgestoßen, und sie stand ihrem Mann gegenüber.

Beide konnten nichts sagen, sie sahen sich nur an. Langsam gingen sie aufeinander zu, und nun lag Frauke doch in seinen Armen. Über das ganze Gesicht strahlend standen die achtjährige Meike und der fünfjährige Florian an der Tür und sahen zu, wie die Eltern sich küßten.

*

Es war ein sehr schöner Tag. Katharina hatte wieder einmal bewiesen, daß sie eine hervorragende Gastgeberin war. Sie hatte den Tisch nicht auf der Terrasse, sondern im Garten gedeckt. Der Blick von hier auf den See war herrlich, und die Kinder konnten ungehindert herumspringen. Bis auf Meike hatten die Anwesenden auch alle tüchtig zugegriffen. Gero und Frauke hatten sich an den Händen gefaßt und sahen auf den Arzt. Sie wollten jetzt nur noch eines, sie wollten ihrer Tochter helfen.

»Nun gut!« Katharina erhob sich. »Ich werde einmal nach den Kindern sehen. Falls noch jemand Kaffee möchte, so kann sich jeder selbst bedienen.« Ihr Blick glitt über das junge Ehepaar und schloß dann auch die Großeltern mit ein. Erleichtert seufzte sie. »Zwischen den Erwachsenen scheint ja alles geklärt zu sein.«

»Ja, wir haben uns ausgesprochen«, sagte Gero. »Meine Frau…«

Frauke fiel ihm ins Wort. »Wir lieben uns! Ich glaube, inzwischen haben wir auch unsere Kinder davon überzeugen können, daß wir uns und auch sie sehr, sehr lieben.« Liebevoll sah sie ihren Mann an, um sich dann wieder an Dr. Baumann zu wenden. »Meike hat wieder kaum etwas gegessen. Ich kann sie aber doch nicht dazu zwingen?«

»Nein, das können Sie nicht«, bestätigte Dr. Eric Baumann. »Auch ich kann das nicht. Das bedeutet eben auch, daß ich Ihrer Tochter nicht helfen kann. Aber ich sprach schon mit Ihren Schwiegereltern darüber und mit Ihrem Mann.«

»Aber Meike ist doch erst acht Jahre alt.« Frauke schluckte. »Sie braucht uns, sie ist so glücklich, daß wir wieder alle jeden Tag zusammen sind. Da können wir sie doch nicht in eine Klinik geben.« Sie sah von dem Arzt zu Katharina Wittenberg, zu der sie auch großes Vertrauen hatte.

Katharina nickte Frauke aufmunternd zu. »So wie ich unseren Doktor kenne, hat er bereits eine Lösung.« Sie drehte sich um und ging in die Richtung, aus der die Kinderstimmen kamen.

»So unrecht hat Katharina wirklich nicht«, meinte Eric und lächelte. »Ich habe mir die Anschriften verschiedener Klinken, die so eine Therapie durchführen, geben lassen. Da gibt es eine im Bayerischen Wald, die mir besonders geeignet zu sein scheint.«

»Herr Doktor, da müßten wir uns doch von Meike trennen«, meinte Gero. »Ich glaube nicht, daß dies gut wäre. Sicher hätte sie wieder Angst, daß wir nicht für sie da sind, oder zumindest ich nicht, auch wenn wir sie jedes Wochenende besuchen würden.«

»Daran dachte ich auch«, gab Eric zu. »In dieser Klinik ist es üblich, daß die Eltern oder zumindest ein Elternteil das Kind sehen können, so oft sie wollen, also auch täglich.«

»Ja und? Wir sind aber hier! Wir können doch nicht täglich in den Bayerischen Wald fahren. Und da ist ja auch noch Flori.« Verzweifelt sah Frauke dem Arzt ins Gesicht.

»Natürlich können Sie das nicht. Aber ich finde, daß Sie sich nach all den Unannehmlichkeiten einen Urlaub verdient haben. Vor allem Sie, Gero, Sie hätten dann auch die Möglichkeit, wieder zu malen. So wäre es doch sicher das beste, wenn Sie sich in der Nähe der Klinik eine Ferienwohnung mieten würden.«

Im ersten Moment sahen Frauke und Gero sich glücklich an, doch dann schüttelten beide die Köpfe. »Da ist doch die Galerie«, meinte Gero. Frauke fuhr fort: »Und außerdem sind wir sehr verschuldet. Wir haben das Geld nicht.«

»Das laßt mal unsere Sorge sein.« Reiner Ebert sagte es spontan. Er sah seine Frau an, und diese nickte begeistert.

»Die Ferienwohnung bezahlen wir«, entschied sie. »Dafür leben wir solange in eurem Haus und wir kümmern uns auch um die Galerie. Natürlich können wir nicht so gut beraten wie du, Gero, aber du hast ja auch noch eine Angestellte. Die wird mir dann schon mit Rat und Tat zur Seite stehen. Und zur Not gibt es dann auch noch das Telefon.« Sie war aufgesprungen.

Auch Gero und Frauke erhoben sich, und zuletzt kam Reiner Ebert auf die Beine. Nur Dr. Baumann blieb sitzen. Schmunzelnd sah er zu, wie die Erwachsenen sich umarmten. Und dann kamen auch noch die Kinder herangelaufen und wurden nun auch geherzt und geküßt.

Zufrieden lehnte Dr. Baumann sich zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die Beine von sich. Sie waren wieder eine glückliche Familie, und unter diesen Umständen würde es nicht schwer sein, Meike zu helfen.

Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman

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