Читать книгу Selma, Küsse, Kuddelmuddel - Laura Melina Berling - Страница 8

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Knubbel und Schokoladenbonbons

Alles fing an dem Tag an, als ich plötzlich zwei Knubbel hatte. Diese waren da, wo irgendwann meine Brüste sein sollten. Es waren aber keine Brüste, die mir da im Badezimmerspiegel entgegenblickten, sondern zwei komische Hubbel. Winzig und unansehnlich. Außerdem taten sie weh. Nicht schlimm, aber doch unangenehm. Und ausgerechnet jetzt war Mama nicht da. Aber zugegeben, eigentlich war Mama nie da. Sie arbeitete seit einigen Jahren für eine Fluggesellschaft und war viel unterwegs. So sah ich sie fast nur noch abends auf unserem Computer. Beim täglichen »Familiencall«. Nicht gerade der beste Zeitpunkt, um von der irritierenden Veränderung des eigenen Körpers zu erzählen.

Ich atmete tief durch und rief: »Papa!« Sofort hörte ich hastige Schritte im Flur und meinen Vater, der besorgt durch die Tür fragte: »Ist was passiert? Soll ich reinkommen?« »Nein!«, brüllte ich. »Ok. Ehm, was gibt’s denn, Selma?« Oh mein Gott, das konnte nicht wahr sein. Wie sollte ich ihm das jetzt sagen? Hitze schoss mir in den Kopf und ich hörte nicht auf, in den Spiegel zu starren. Was waren das für Knubbel? »Selma?«, fragte mein Vater wieder. »Jaja«, antwortete ich und riss mich zusammen. Es half ja nichts. »Papa, also ich habe hier so Knubbel. Am Körper.« »Was?«, rief Papa entsetzt. »Wo?« »An der … Brust«, flüsterte ich und vergrub meinen Kopf in den Händen. »Ach herrje. Ist es was Schlimmes?« Papa klang leicht panisch. »Woher soll ich das denn wissen!«, rief ich genervt. »Ich weiß nicht, was das ist.«

»Fühlt es sich hart an? Wie groß sind die Knubbel denn?«

Papa schlug nun einen ruhigeren Ton an, aber ich kannte ihn gut genug, um seine Sorge zu hören. »Ich ruf mal schnell Mama an, ja? Moment.« Ich hörte erneut hastige Schritte. »Ich fass das nicht an und Mama erreichst du eh nicht«, schrie ich ihm hinterher. Ich ließ mich auf den Klodeckel hinter mir sinken. Da saßen wir. Ich und meine Knubbel. Ich versuchte an mir herunterzublicken, aber ich wollte meinen Körper einfach nicht ansehen. Jedes Mal, wenn ich es doch schaffte, wurde meine Brust eng vor Scham und mein Kopf heiß wie eine Herdplatte. Warum sah alles an mir so komisch aus? Meine Beine waren zu lang und meine Arme wurden von dunklen Haaren geziert. Jeden Abend betete ich, dass ich nicht so viele Haare wie Papa bekam, dessen Unterarme man unter dem dunklen Haarteppich kaum noch sehen konnte. Und jetzt auch noch diese Knubbel da, wo eigentlich Brüste hinsollten. War an mir einfach alles falsch?

»Ich habe Mama nicht erreicht.« Papas Stimme ließ mich hochschrecken. »Ach nee.« Ich verdrehte die Augen. »Also gut.« Papa atmete tief aus. »Ich mache mir etwas Sorgen.« Ich nickte, obwohl Papa es durch die Tür ja gar nicht sehen konnte. »Also mach dir keine Gedanken. Es ist bestimmt nichts«, ergänzte Papa schnell. Papa hatte wahnsinnige Angst vor Krankheiten und hatte mich schon als Kind bei jedem Huster zu Ärzt*innen geschleppt. Mama nannte ihn deshalb Hypochonder. Das ist jemand, der immer an Krankheiten denkt oder so. »Und was jetzt?«, fragte ich. »Also ich würde schon zu Doktor Happe fahren. Dann klären wir das einfach kurz ab. Ich rufe ihn an, ja?« Doktor Happe war mein Kinderarzt. Er hatte mir früher immer einen kleinen Vogel auf den Finger gesetzt, wenn ich eine Spritze bekam. Ich sollte dem Vogel in die Augen blicken, der auf meinem Finger auf und ab balancierte, und schon war die Spritze gesetzt, ohne dass ich etwas gemerkt hatte. Außerdem gab es dort richtig gute Bonbons. Keine billigen vom letzten Karneval, sondern welche mit Schokoladenüberzug. »Na gut«, sagte ich und schlüpfte in meinen bunten Bademantel. »Ich komme gleich.«

Während der Autofahrt erzählte Papa ein paar Witze, über die ich nicht lachte. Peinlich. Er sah mich jedes Mal erwartungsvoll an, aber ich hatte so schlechte Laune, dass ich meine Lippen nicht zu einem Lächeln verziehen konnte. »Mach dir keine Sorgen, Selma«, beruhigte mich Papa wieder und lächelte mich schief an. »Ich mach mir keine Sorgen. Lass mich einfach in Ruhe.« Ich wusste nicht, warum, aber die Worte kamen in einer Mischung aus Brüllen und Kreischen aus mir heraus. Ich war so wütend. Auf die Knubbel und auf Papa. Obwohl der eigentlich gar nichts dafür konnte. Aber warum konnte Mama nicht einmal da sein, wenn ich sie brauchte? Papa atmete laut aus und seufzte: »Jaja, die Pubertät ist anstrengend. Weißt du noch, als du neun warst, habe ich dir gesagt, dass du Mama und mich irgendwann mal total blöd finden wirst? Du wolltest mir nicht glauben, aber tada …« Er stupste sich selbst mit seinem Zeigefinger auf seine große Nase, von der ich leider mehr als die Hälfte geerbt hatte. »Ich habe es gerochen«, sagte er. »Gerochen?«, fragte ich. »Du solltest echt mal ein Buch lesen. Das heißt so viel wie gewusst. Wenn man etwas …«, er holte zu einem Erklärungsversuch aus, ich stopfte mir meine Kopfhörer in die Ohren und machte Musik auf meinem Handy an. Papa versuchte diese zu übertönen. »Also das ist jetzt nicht nett!«, rief er, aber ich drehte nur lauter und schaute aus dem Fenster, bis wir vor der Arztpraxis stehen blieben.

Eine halbe Stunde später saß ich mit knallrotem Kopf vor Doktor Happe. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit zu langen Nasenhaaren. Aber er war sehr nett. Auch Papa war rot geworden. Wie zwei Tomaten erklärten wir stammelnd, was los war. Also eigentlich erklärte Papa alles. »Wissen Sie, Selmas Mama ist viel unterwegs und ich kenne mich nicht so aus, aber eh … Ja … Ich will, dass es Selma gut geht und sie nicht unsicher ist. Oder ich. Ich hab da manchmal zu viele Sorgen, aber … Also die Situation ist nicht ideal, weil ich auch als Vater da natürlich nicht und …«


»Oh, Mann, Papa!«, rief ich dazwischen. »Das ist doch jetzt egal.«

»Aber wir müssen doch erklären, was los ist«, sagte Papa angespannt. »Ja, aber doch nicht so«, zischte ich. »Wie denn dann? Wir müssen das doch sagen, Selma. Also, Herr Doktor, die Selma …«

»Nenn mich nicht DIE Selma. Das klingt wie eine Kuh!«, rief ich wütend. »Also Selma …«, setzte Papa an, doch Doktor Happe hob beschwichtigend die Hände. »Nun mal langsam. Also was ich bisher verstanden habe, klingt absolut nicht beunruhigend. Im Gegenteil. Selma ist jetzt zwölf Jahre alt und damit mitten in der Pubertät. Das ist ganz normal und kein Grund zur Beunruhigung. Bei Mädchen oder jungen Menschen, die mit einer Vulva geboren werden …« Oh mein Gott, ich versank in meinem Stuhl. Mir war noch nie etwas so schrecklich peinlich gewesen. »… bei denen entwickeln sich Brüste für gewöhnlich zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr. Das kann aber auch variieren. Vielleicht waren die Brustknospen, so nennt man die Knubbel, auch schon vorher da und tun jetzt nur ein wenig weh und sind etwas angeschwollen. Dann könnte auch die Periode bald folgen. Manchmal wächst auch eine schneller als die andere, das ist bei jedem Körper ein bisschen anders, aber es ist quasi an der Zeit, dass der Körper sich verändert. Das ist ganz normal. Keine Sorge, Selma. Ich werde keine Untersuchung machen müssen.«

Mein Herz blieb vor Erleichterung stehen. Danke, danke, danke. Niemals hätte ich mich hier ausziehen wollen. So peinlich. »Ich gebe dir mal die Nummer einer Kollegin. Frau Aycicek ist Gynäkologin und super auf ihrem Gebiet. Sie hat viele junge Patient*innen. Wenn der Körper sich verändert, kann es gut sein, da mal mit jemandem zu sprechen. Wenn du deine Periode bekommst, könntest du zum Beispiel einen Termin machen.« Ich wollte nicht zu Frau Aycicek. Ich wollte nicht meine Periode bekommen. Ich wollte keine Brustknubbel. Ich wollte nicht darüber sprechen. Ich wollte nicht, ich wollte nicht. »Ok gut, dann können wir ja jetzt gehen«, sagte ich laut, sprang auf und schnappte meinen Rucksack. »Komm Papa. Los!« Ich zog ihn eilig am Arm. Papa ignorierte mich und bedankte sich in aller Seelenruhe bei Doktor Happe, während ich nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Der Arzt zog die Bonbondose aus seiner Schublade und lächelte mich an. »Ein letztes Schokoladenbonbon, Selma?« Ich blickte in die Dose mit den goldglänzenden Knisterpapieren. Ich schluckte und griff hinein. »Na dann, alles Gute«, grinste er und verließ den Raum mit einem Winken. Ich sah auf die Bilder an den Wänden, auf die mir altbekannten Stühle und auf den kahlen Hinterkopf meines Arztes. Die harte Schokolade klebte an meinen Zähnen und ich fühlte einen Kloß im Hals. Das war also mein letzter Kinderarztbesuch. Mein letztes Schokobonbon. Ab jetzt kamen Brüste und Periode. Ich schluckte wieder und spürte in meiner Magengegend, dass sich gerade etwas Wesentliches verändert hatte.


Selma, Küsse, Kuddelmuddel

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