Читать книгу Engelszwillinge - Laura Wille - Страница 8

Оглавление

Kapitel 4

Suchen und Unverhofftes finden

Ciel glaubte, mit nackten Füßen über Glasscherben und glühende Steine zu laufen. Das Brennen in ihrem Körper und der stechende Schmerz wurden immer heftiger, schlugen in ihr empor wie die Flammen des Feuers. War sie in der Hölle? Ihre Seele schrie. Es war kaum auszuhalten.

Doch plötzlich war ihr, als hörte sie in der Ferne eine sanfte Stimme. »Ciel, halte durch. Es wird dir gleich besser gehen.«

Im nächsten Moment spürte sie, wie eine warme Hand ihren Hinterkopf etwas anhob. Zwei Finger teilten ihr Lippen, ehe ein bitteres dickflüssiges Getränk ihre ausgedörrte Kehle hinabfloss. Sie schluckte aus Reflex und hustete.

Träumte sie?

Noch immer brannte ihr Körper wie Feuer, doch urplötzlich wurde die Hitze in ihr schwächer. Der Schmerz verebbte. Ciel spürte, wie sich ihr rasendes Herz beruhigte. Der Nebel in ihrem Kopf löste sich auf, sodass sie wieder klar denken konnte.

»Wer ist da?«, stieß sie heiser hervor. Sie öffnete schwach die Augen und starrte an die Decke ihrer kleinen Wohnung. Vorsichtig tastend erkannte sie, dass sie andere Kleidung trug. Jemand hatte ihr statt der nassen, dreckigen Sachen, saubere, trockene angezogen. Doch wer?

Jemand griff nach ihrer Hand und drückte sie. Ciel drehte den Kopf und zuckte zusammen.

»Du?«, entfuhr es ihr.

Sie wollte sich hastig aufrichten, doch zwei Hände packten sie an den Schultern und drückten sie behutsam zurück auf die Matratze. Lucien blickte sie mit einem Lächeln auf den Lippen an, doch seine Augen waren voller Traurigkeit.

»Ich weiß, du bist nicht erfreut, mich zu sehen«, sagte er leise. »Ich bin nur hier, um dafür zu sorgen, dass Toivo nicht den wichtigsten Menschen in seinem Leben verliert.«

Er vermied es, ihr in die Augen zu schauen, und Ciel spürte, dass er sie anlog.

»Es war alles ganz allein meine Schuld. Manchmal ist es besser, jemandem nicht die Wahrheit zu erzählen. Es gibt«, er hielt inne, als koste es ihn Überwindung, diesen Satz zu beenden, »Menschen, die daran so leicht zerbrechen können.«

Ciel wollte sich erneut aufsetzen, doch Toivo sprang aufs Bett und machte es sich auf ihr bequem gemacht.

»Toivo …« Sie legte ihm die Hand auf den Kopf und blickte wieder Lucien an. »Er … lebt. Du lebst, aber wie? Ich habe doch das Feuer …«

»Ja, du hattest deine Gefühle nicht unter Kontrolle. Immerhin habe ich Toivo rechtzeitig rausschaffen können. Und ja, mein Leben hing am seidenen Faden, aber ich habe es trotzdem überlebt. O Mann, Oscuro wäre stinksauer gewesen, wenn er davon erfahren hätte. Zur Strafe für mein Versagen hätte er mich wohl im wahrsten Sinne des Wortes zweimal getötet.« Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber was mit mir ist, ist egal. Du bist wertvoll und ich bin froh, dass du überlebt hast.«

Ciel runzelte die Stirn. Sie sollte wertvoll sein? Das hatte er schon mal gesagt.

Sie hob die Hände, begutachtete sie und auch ihre Arme. Merkwürdig, sie hatte sich bei dem Unfall schlimme Brandverletzungen zugezogen, doch nun war ihre Haut makellos und rein.

»Ich habe dir eine ganz bestimmte Medizin gegeben, die die schlimmsten Verletzungen binnen Sekunden heilt«, erklärte Lucien, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Aber ich war mir nicht sicher, ob sie bei dir auch funktionieren würde.«

Es stimmte, die äußeren Verletzungen waren zwar verschwunden, aber sie fühlte sich noch immer wahnsinnig erschöpft und müde.

Als er ihr halb den Rücken zukehrte, um aus einem Eimer mit kaltem Wasser ein nasses Tuch herauszufischen, sah sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war nur ein kurzer Moment, den er sich von ihr abwandte, aber Ciel glaubte, zwei schmale Risse im Rücken seines weißen T-Shirts zu sehen.

Lucien wrang das Wasser aus dem Tuch und legte es ihr auf die Stirn.

»Bist du verletzt?«, wollte sie wissen.

Er war doch mit Toivo vom Feuer eingeschlossen gewesen und doch schien er vollkommen unverletzt zu sein. Bis auf diese Schrammen am Rücken.

Doch Lucien schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut.«

Er berührte mit seiner nassen Hand sanft Ciels Wange. Sie schloss die Augen, genoss die Kälte des Wassers auf ihrer Haut und gleichzeitig die Wärme und Geborgenheit, die er ausstrahlte. Noch nie hatte jemand sich so liebevoll um sie gekümmert, wie er es tat. Und es tat so gut!

Er erhob sich und schaute zu ihr herunter. »Ich kann dir nicht sagen, wie unendlich leid mir das alles tut«, flüsterte er traurig. »Ich hätte das nicht tun dürfen, dir das niemals erzählen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass es dich innerlich zerreißen würde, die Wahrheit zu hören.«

»Ist es das wirklich?«, flüsterte Ciel. »Die Wahrheit?« Sie griff nach seinem Hosenbein, um ihn am Gehen zu hindern. Obwohl sie sich kaum kannten, obwohl er ihr irgendwie unheimlich war, so wollte sie doch, dass er bei ihr blieb. Es war vollkommen unlogisch, aber sie fühlte sich bei ihm trotz der verrückten Sachen, die er sagte, sicher und geborgen in seiner Nähe.

Lucien bückte sich und strich ihr über das Haar, über die Wangen, dann mit dem Handrücken ihren Hals hinab.

»Schlaf jetzt, Ciel. Du brauchst viel Erholung. Selbst meine Kräfte reichen nicht aus, um so ein mächtiges Geschöpf wie dich völlig von schweren Brandverletzungen und Fieber zu befreien.« Er lächelte, wirkte aber selbst erschöpft. »Aber vergiss nicht, dass du niemals allein bist, auch wenn dir alles hoffnungslos erscheinen mag.«

Ciel blickte in seine schönen smaragdgrünen Augen und bemerkte, wie ähnlich sie ihren eigenen waren. Mit einem Mal klopfte ihr Herz, als würde es zerspringen. So laut und heftig wie noch nie. Doch es war nicht nur ihr Herz. Auch seines pochte laut. Ihre Herzen schlugen im Einklang, als seien sie eins. Auch seine Augen hefteten sich auf ihre, hielten sie gefangen. Er beugte sich langsam zu ihr. Sie hielt den Atem an, starrte auf seine Lippen, die immer näher kamen. Dann schloss sie die Augen. Würde er sie etwa küssen? Sie hatte noch nie einen Jungen geküsst. Gespannt wartete sie und bereitete sich darauf vor, den ersten Kuss ihres Lebens zu spüren.

Doch der Kuss, den sie erwartete, kam nicht. Sie öffnete die Augen und sah, wie Lucien errötete und den Kopf zur Seite drehte.

»Es tut mir leid«, nuschelte er undeutlich und ging schnell, fast schon fluchtartig zur Tür.

Bevor er das Zimmer verließ, fielen Ciel erneut die breiten Risse in seinem T-Shirt auf. Sie starrte ihm hinterher und musste plötzlich geblendet die Augen zusammenkneifen, als sie ein gleißendes Licht sah, genau an der Stelle, wo Lucien stand. Dann öffnete er die Tür und war auch schon verschwunden. Mit seinem Verschwinden hinterließ er Kälte und Dunkelheit in ihrer schäbigen Wohnung. Als hätte er all das Licht und die Wärme mitgenommen.

Sie zitterte und verspürte plötzlich den unerklärlichen Drang, aufzustehen und ihm zu folgen. Doch sie fühlte sie sich zu erschöpft und ausgelaugt. Lucien hatte recht. Sie brauchte jetzt Schlaf, um sich zu erholen. Als sie den Kopf drehte, fiel ihr Blick zum Fenster. Draußen funkelten die Sterne, und der Mond war umgeben von grauen Nebelfetzen. Sie wusste nicht, wie spät es war, doch sie glaubte, Luciens leise Stimme von draußen aus der Gasse zu hören. Und eine weitere Stimme, die sie schon einmal gehört hatte.

War es Oscuro, der Junge mit den eisblauen Augen? Sie war sich nicht sicher.

Eine bleierne Müdigkeit, gegen die sie sich nicht wehren konnte, überfiel sie mit aller Macht, ehe sie aufstehen und aus dem Fenster schauen konnte. Die Augen fielen ihr zu, und sie ließ sich von einem Traum entführen.

»Oh, da braucht wohl jemand ein neues T-Shirt.«

Oscuro lehnte an der Wand in der schmalen Gasse, unterhalb von Ciels Wohnungsfenster, und sah zu Lucien, der an ihm vorbeiging, ohne ihm Beachtung zu schenken. Oscuro blickte ihm mit schmalen Augen hinterher.

»Sag schon, was hast du getan? Hat man dich in deiner wahren Gestalt gesehen? Du weißt, was die Königin gesagt hat! Wenn uns auch nur ein Mensch in unserer wahren Gestalt sieht, ist unsere Mission vorbei! Sie macht uns einen Kopf kürzer.«

»Es hat mich niemand gesehen, also komm wieder runter.« Lucien blieb stehen und seufzte. »Der Engelszwilling des Lichts hatte sich nicht unter Kontrolle. Er hätte mich beinahe getötet.«

Noch immer bereute er, es ihr gesagt zu haben. Es war dumm von ihm gewesen. Er hatte nicht nachgedacht. Dabei hatte die Königin ihm und Oscuro verboten, irgendetwas auszuplaudern, was Ciels und Heavens wahre Gestalten betraf. Hoffentlich hatte Lucien diese rote Linie nicht überschritten und so die Königin erzürnt. Die Zwillinge mussten sich von allein daran erinnern, was sie waren und wozu sie fähig sein konnten. Es konnte fatale Folgen haben, wenn Ciel und Heaven sich erinnerten, obwohl sie noch nicht bereit dazu waren – oder wenn Lucien und Oscuro sich zu sehr einmischten und den beiden Mädchen zu viele Hinweise gaben. Im allerschlimmsten Fall könnte es sogar so weit kommen, dass Ciel und Heaven sich überhaupt nicht verwandeln würden.

Dann wären sie nutzlos, wie die Königin sagen würde, und sie würde sie einsammeln, vernichten und neu entstehen lassen. Oscuro und Lucien wären ebenfalls nutzlos, denn sie beide hatten nur diesen einzigen Zweck. Sie sollten den Zwillingen helfen, ihre wahren Gestalten anzunehmen. Doch Ciel und Heaven waren wie tickende Bomben, die jederzeit in die Luft gehen und Lucien und Oscuro töten konnten. Deshalb war Vorsicht geboten. Nur sie beide konnten diese Aufgabe bewältigen, weil sie einen Teil von Ciels und Heavens Kräften in sich trugen.

Oscuro lachte. »Schade, dass es nicht geklappt hat.«

Lucien drehte sich zu ihm um.

Oscuro winkte locker ab. »Ich meine damit nur, dass die beiden Mädchen die Einzigen sind, die uns töten können. Das wäre eine Erlösung, oder? Bist du es nicht auch langsam leid, unsterblich umherzuwandern? Wie lange dauert diese Mission jetzt schon an? Für meinen Geschmack zu lange.« Er blickte nachdenklich empor, als würde er für einen kurzen Moment an etwas Schmerzhaftes, Unaussprechliches denken, und schloss die Augen. »Stattdessen rettest du ihr das Leben? Wie vernünftig!«

»Ich mache so lange weiter, bis die Mission geglückt ist. Und ich weiß, du wirst mir helfen. Weil dir keine andere Wahl bleibt.« Lucien ballte die Fäuste. »Ich weiß nicht, warum du dich so aufführst, aber du brauchst mich. Wir können sie nur gemeinsam erwecken. Denk an die Worte unserer Königin.«

»Königin«, fuhr Oscuro ihn in verächtlichem Ton an. »Sie ist eine größenwahnsinnige Wissenschaftlerin, die Engel erschafft und Experimente durchführt. Großer Unterschied.«

»Mag sein, aber sie ist nun mal auch unsere Königin und wir müssen ihr gehorchen! Außerdem ist es eine wichtige Aufgabe.«, erwiderte Lucien kurz angebunden.

Durch Ciels und Heavens Verwandlung konnten die Leben von zahlreichen Engeln und Menschen gerettet werden. So hatte die Königin es ihnen gesagt. Ciel würde zum Engel des Lichts werden. Heaven zum Engel der Finsternis. Schon einzeln trugen sie unheimlich starke Mächte in sich, doch sobald beide erwachen würden, wäre ihre Kraft grenzenlos. Wenn Lucien und Oscuro beide erweckt hätten, könnten sie Gott spielen, aber das war nicht Sinn dieser Mission. Ciels und Heavens Mächte mussten zur Reinigung der Menschheit eingesetzt werden, und Oscuro und Lucien mussten sie darin unterstützen.

Oscuro warf ihm einen grimmigen Blick zu, fragte jedoch nur: »Sag, was macht eigentlich unser Engelszwilling der Finsternis?«

»Sag du es mir. Du bist ein Teil von ihr.«

Oscuros Augen wurden schmal. Er schwieg.

»Du weißt also, wo sie ist?«, fragte Lucien, doch Oscuro zuckte nur die Achseln.

»Heaven ist wesentlich gefährlicher als Ciel. Selbst ich könnte dabei draufgehen, wenn ich ihr zu nahekomme«, knurrte Oscuro schließlich. »Sie irrt gerade vermutlich irgendwo umher und sieht zu, wie dank ihr viele Menschen ihr Leben verlieren.«

Lucien seufzte. »Heaven leidet ebenso wie Ciel. Wir brauchen einen Plan, wie wir uns ihr nähern können, ohne von ihr getötet zu werden. Die Mädchen zusammenzubringen, ohne eine Katastrophe herbeizuführen, könnte sich als fast unmöglich erweisen. Sobald sie sich sehen, kochen die Kräfte in ihnen hoch wie bei einem Vulkan und entladen sich explosionsartig. Es könnte passieren, dass beide sterben. Das müssen wir irgendwie verhindern!« Er blickte empor zu Ciels Wohnungsfenster. »Was Ciel betrifft … Ich kann ihr nicht mehr unter die Augen treten. Sie fürchtet sich vor mir.«

»Ich fürchte mich auch, wenn ich deine Visage sehe.« Oscuro musterte ihn angewidert. »Jedes Mal, wenn du mir unter die Augen kommst, würde ich dir am liebsten meine Faust ins Gesicht rammen. Und deine Loyalität der Königin gegenüber geht mir auf den Sack!«

Doch Lucien hörte ihm kaum zu. Er starrte weiter schweigend zu Ciels Fenster empor, als hoffte er, dass sie zum Fenster kommen und herausschauen würde. Eine unheimliche Stille legte sich über ihn und Oscuro. Dann sagte Lucien plötzlich schweren Herzens: »Ich habe ihr die Wahrheit erzählt.«

»Warte, du hast was getan?« Oscuro starrte ihn entsetzt an.

»Ja, es war vielleicht ein Fehler, aber ich musste einfach etwas tun …« Doch da raste Oscuro auf ihn zu, packte ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Hauswand.

»Hast du den Verstand verloren, du Dreckskerl?«, zischte er zornig. Wut, so hell wie das Feuer, das die Hütte vernichtet hatte, loderte in seinen kristallblauen Augen auf.

Lucien schloss gequält seine eigenen, als er sich daran erinnerte. Ciel hätte ihn tatsächlich fast erledigt, und mit ihm wäre es auch Oscuros Ende gewesen und das der Mission.

»Die Königin hat gesagt, wir müssen aufpassen, was wir ihnen erzählen, da es sonst zu einer Kurzschlussreaktion kommen könnte. Und stell dir nur mal vor, Ciel rennt jetzt überall herum und plappert alles aus.«

»Ich habe aufgepasst. Hätten meine Worte in ihr etwas ausgelöst oder gar verhindert, dass sie ihre wahre Gestalt annehmen kann, wäre ihre Reaktion eine andere gewesen.« Lucien ächzte und packte Oscuros Hände, um seinen Griff zu lockern. »Außerdem glaubt sie mir nicht. Sie glaubt kein Wort von dem, was ich ihr gesagt habe. Sie ist bloß durchgedreht und hätte mich beinahe getötet. Und wem soll sie es erzählen? Sie hat niemanden mehr. Sie ist ganz allein. Außerdem würde ihr niemand glauben.«

Oscuro funkelte ihn mit schmalen Augen misstrauisch an. Schließlich ließ er ihn los und wich einen Schritt zurück. »Weißt du, Lucien, Menschen haben kein Existenzrecht. Die ganze beschissene Art ist von Zorn und Bosheit zerfressen. Meinetwegen können sie alle sterben. Die Königin ist naiv, wenn sie meint, dass Ciel und Heaven sie nur zu reinigen bräuchten. Ihnen könnte es dadurch zwar gelingen, die Dämonen aufzuhalten, aber das Böse lässt sich nie ganz aus den Menschen vertreiben.«

Lucien schüttelte den Kopf. »Hör auf, das zu sagen!«

»Gib’s zu, du bist doch auch der Meinung, dass Ciel ohne ihren beschissenen Chef besser dran ist, habe ich nicht recht?« Auf Oscuros Gesicht breitete sich ein teuflisches Grinsen aus.

Lucien riss die Augen auf, als ihm eine schreckliche Erkenntnis kam. »Du warst es? Du hast ihn getötet? Es war gar nicht der Engelszwilling der Finsternis?«

»Bingo!« Oscuro schnippte mit den Fingern. »Der Typ war ein widerwärtiges Monster. Ciel wäre zerbrochen, wenn sie weiter bei ihm geblieben wäre. Er hat sie wie Dreck behandelt und mit Füßen getreten. Ihr Leiden musste aufhören. Er ist einer der Gründe, weshalb es an der Zeit ist, die Menschen zurechtzuweisen und ihnen zu zeigen, dass sie sich nicht einfach aufführen können, wie sie wollen. Böse Menschen töten schwächere und werden nicht für ihre Taten bestraft.«

Luciens Augen wurden schmal. »Was hast du getan?«

»Nichts … außer ein paar Mal mit dem Messer auf diesen Dreckskerl einzustechen.« Oscuro strich sich die schwarzen Haare zurück und zuckte die Achseln, als sei das alles gar nicht so schlimm, wie es sich anhörte. »Er wollte mit einer Pfanne auf mich losgehen! Lächerlich! Um Gnade hat er gewinselt, als ich ihm das Messer ins Auge gestoßen habe. Hättest mal sein dämliches Gesicht sehen sollen, als er seinen letzten Atemzug getan hat. Ach ja, und um seine Leiche habe ich mich auch gekümmert. Er wird jetzt im Wald von den Tieren angeknabbert.«

Oscuro schaute Lucien durchdringend an.

»Dieser Kerl war doch ebenfalls nichts weiter als eine billige Schachfigur, von der Königin erschaffen, um Ciels Willensstärke zu testen. Sie wollte herausfinden, wie stark Ciel in Wirklichkeit ist, ob sich ihr Wille beugen lässt oder ob ihr Licht erlischt und sie aufgibt. So wie wir beide nichts weiter als Schachfiguren für ihre Mission sind.«

Lucien konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er packte Oscuro und holte mit der Faust aus, doch der war schneller. Er stieß Lucien mit voller Wucht gegen die Wand, sodass Lucien sich den Kopf anschlug und mit einem Stöhnen zu Boden sank. Er lag auf dem kalten Pflaster und wollte aufstehen, doch Oscuro stellte seinen Fuß auf Luciens Brust und verstärkte immer mehr den Druck. Lucien bäumte sich auf, als ihm fast die Luft wegblieb.

»Auf welcher Seite stehst du?«

Lucien sah ihn mit blitzenden Augen wutentbrannt an. Er verspürte ein schreckliches Brennen in seinen Flügelnarben. Spürte, wie sich seine Flügel von innen herauszudrücken versuchten und entfalten wollten. Der Schmerz war so stark, dass Lucien sich auf die Lippe beißen musste, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

»Die Königin hätte mir jemand Fähigeres an die Seite stellen sollen«, brummte Oscuro und bückte sich zu ihm hinunter. Er drückte Lucien den Fuß noch einmal kräftig in die Magengegend, und seine eisblauen Augen loderten auf. »Im Gegensatz zu dir laufe ich nicht blindlings herum und tue Dinge, die ich später noch bereuen werde. Stattdessen werde auf einen günstigen Moment warten und mir dann die beiden Mädchen schnappen.«

»Nein! Sie werden dich töten! Lass mich dir dabei helfen«, ächzte Lucien, doch da spürte er auch schon Oscuros Faustschlag mitten im Gesicht. Lucien unterdrückte einen Aufschrei und zog sich schützend die Arme vors Gesicht, doch ein weiterer Schlag kam nicht. Das Gewicht von seiner Brust verschwand. Als er sich das Blut von der Lippe wischte und sich aufrichtete, sah er nur noch, wie Oscuro schnellen Schrittes davonging. Er verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Nur seine Schritte hallten noch lange in Luciens Ohren wider.

Ein Sonnenstrahl fiel auf Ciels Gesicht.

Sie blinzelte, setzte sich auf und streckte sich. Sie fühlte sich wie neugeboren. Noch nie hatte sie so gut geschlafen. Sie fühlte sich gesund und munter und spürte, wie neue Energie ihren Körper durchströmte. Ihre sonst so triste Wohnung wurde in ein warmes Licht gehüllt.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie Toivo neben sich auf der Decke schlafen sah. Sie streichelte ihren Hund, dann warf sie einen Blick auf den Wecker, und erschrak. Hastig riss sie die Decke zurück und wollte schon aufspringen, um nicht wieder zu spät zur Arbeit zu kommen – als ihr klar wurde, dass sie nie wieder ins Mamma Mia gehen konnte. Henry war tot.

Sie ließ sich zurück auf ihre Matratze fallen und starrte an die Decke. Ja, ihr Chef war tot. Und sein Mörder lief noch immer da draußen frei herum. Plötzlich kamen ihr die Tränen, und all die Glückseligkeit und die Freude in ihr waren mit einem Schlag verflogen, als hätte man eine Kerze ausgepustet. Mit einem Mal zitterte sie unter der dünnen Decke.

Was sollte jetzt nur aus ihr werden? Was würde geschehen, wenn herauskam, dass Henry tot war? Würde man sie etwa verdächtigen? Verzweifelt versuchte sie, nicht an die schrecklichen Bilder ihres ermordeten Chefs zu denken, die plötzlich wieder in ihrem Kopf herumspukten. An das viele Blut, das Messer, das aus seiner Brust ragte, seinen geschundenen Körper.

Hastig schloss sie die Augen und dachte stattdessen an Lucien. An sein goldenes Haar und seine smaragdgrünen Augen, die ihren so ähnlich waren. Auch wenn sie sich kaum kannten, so war er immer nett zu ihr gewesen. Netter als jemals ein Mensch zu ihr gewesen war. An ihn zu denken, erleichterte es ihr ein wenig, die schrecklichen Ereignisse, die passiert waren, aus dem Kopf zu bekommen.

Lucien wusste über sie Bescheid. Er wusste, dass sie Tiere heilen, sie sogar wieder zum Leben erwecken konnte. Nur woher?

Und er behauptete, dass die seltsame Fremde, Heaven, ihre Zwillingsschwester war und sie beide etwas Besonderes waren. Sie wusste nicht, ob er die Wahrheit sagte, und ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Doch es gab etwas, was sie tun konnte und was ihr Hoffnung gab. Sie konnte versuchen, ihre Doppelgängerin zu finden und gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob sie tatsächlich Schwestern waren. Warum sie keinerlei Erinnerungen mehr hatten und wer diese seltsame Königin war, von der Lucien gesprochen hatte. Gemeinsam konnten sie vielleicht in Erfahrung bringen, ob alles, was er ihr über sie erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Sie musste Heaven finden. Wenn sie ihre Schwester war, würde sie sich mit ihr an der Seite nie wieder einsam fühlen, sondern stark und voller Hoffnung. Sie konnten zusammen so viel erleben, so viele Dinge tun! O ja, sie wünschte sich, dass sie ihre Zwillingsschwester war!

Aber wie sollte sie sie finden? Moment, hatte Lucien nicht gesagt, sie würden einander wie Magnete anziehen? Dass sie sich immer und überall fänden? Er hatte ihr die nötigen Hinweise gegeben, die sie brauchte. Nun lag es an ihr, sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit zu machen.

Ciel stand auf und zupfte an ihrem T-Shirt, das ihr Lucien angezogen hatte. Es roch sonderbarer Weise irgendwie nach ihm. Und es roch so gut! Sie schloss die Augen, atmete den Duft ein und erinnerte sich daran, dass er ihr erneut das Leben gerettet hatte. Sie betrachtete ihre Hände. Was war das bloß für eine Medizin, die er ihr gegeben hatte, um ihre Brandverletzungen und das Fieber so schnell zu heilen? War so etwas überhaupt möglich?

Toivo wurde wach, gähnte und bellte freudig, als sein Blick auf Ciel fiel.

»Ja, ich habe auch Hunger«, besänftigte sie ihn, aber dann fiel ihr ein, dass heute keine Tüte mit Hundefutter und alten Sandwiches an ihrer Tür hängen würde. Und Geld hatte sie keins mehr. Doch egal, was auch passiert war und wie schlimm es nun auch für sie sein mochte, sie durfte nicht aufgeben.

Sie suchte sich einen Pullover und eine neue Hose aus ihrem Schrank und zog sich um. Schließlich band sie Toivo an die Leine und verließ mit ihm die Wohnung.

Draußen war es windig, aber nicht kalt. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Die Sonne schien am wolkenlosen Himmel, aber es waren nur wenige Menschen unterwegs.

Sie schlenderte mit ihrem Hund durch die Straßen. Wo sollte sie mit dem Suchen anfangen?

Plötzlich stand sie vor dem Gebäude des 24-Pizza-Lieferservices, dem Ort, an dem sie jahrelang für Henry gearbeitet und gelitten hatte. Völlig in Gedanken versunken war sie automatisch hierhergekommen. Sie starrte die Tür an, und ihr Herz pochte schmerzhaft in ihrer Brust. Ihr brach der Schweiß aus, ihre Hände zitterten. Von außen sah alles noch genauso aus, wie sie es hinterlassen hatte. Die Jalousien waren noch immer heruntergezogen. Der Laden sah verlassen aus. Kein Licht brannte.

Ciel dachte an den kleinen Spatzen, der vor wenigen Tagen tot in ihrer Hand gelegen hatte. Es war leicht gewesen, ihm sein Leben zurückzugeben. Vor einiger Zeit hatte sie auch einen Hund zurück ins Leben geholt, der von einem Auto überfahren worden war. Aber sie hatte ihre Fähigkeit noch nie bei Menschen ausprobiert. Sie dachte nach. Wenn sie nun zu ihrem toten Chef gehen würde und es versuchte?

Mit bebender Hand öffnete sie die Tür. Ciel warf einen ängstlichen Blick hinein. Es war dunkel und stickig. Der Geruch von Blut, Schweiß und Verwesung hing schwer in der Luft – was nur bedeuten konnte, dass die Leiche noch hier sein musste. Warum war in der Zwischenzeit niemand vorbeigekommen? Hatte keiner die Polizei verständigt?

Ihr kam es fast so vor, als wäre der Mörder in der Nähe gewesen und hätte verhindert, dass sich jemand dem Laden näherte. Als hätte er neugierige Menschen davon abgehalten, den Laden zu betreten. Aber das war natürlich Unsinn. Wie hätte er das tun sollen?

Sie wollte die Sache schnell hinter sich bringen, ehe der Anblick ihres toten, blutüberströmten Chefs ihr jeglichen Mut nahm. Hastig ging sie zum Tresen, stellte sich innerlich darauf ein, diesen schrecklichen Anblick ertragen zu müssen – doch als sie dahinter spähte, musste sie mit Entsetzen feststellen, dass der Leichnam verschwunden war. Nur noch das Blut beschmutzte den Boden.

Ciel blickte sich um und bemerkte, dass schwache blutige Schuhabdrücke auf dem Boden zu sehen waren. Sie führten zur Hintertür.

War der Mörder tatsächlich zurückgekehrt, um die Leiche zu entsorgen?

Ciel hastete los und riss die Hintertür auf. Sie suchte den Boden nach weiteren Spuren ab. Doch sie endeten abrupt an der Türschwelle. Wie war so etwas möglich? Immerhin konnte der Mörder sich doch nicht wie ein Vogel in die Lüfte geschwungen haben, noch dazu mit einer Leiche.

Sie rannte nach draußen, drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, konnte aber nichts entdecken. Sie keuchte und sank auf die Knie. Ihr kamen die Tränen. Was sollte sie jetzt bloß tun? Henry war der einzige Mensch in ihrem Leben gewesen, der ihr Schutz geboten hatte, auch wenn er ihr tagtäglich das Leben schwer gemacht hatte. Sie hätte sofort versuchen müssen, ihn wiederzuerwecken, aber sie war geflohen. Und jetzt war es zu spät. Sie weinte bitterliche Tränen.

Doch nach einer Weile beruhigte sie sich. Nein, sie durfte jetzt nicht aufgeben und in Selbstmitleid versinken! Für ihren Chef war es zu spät, aber für sie gab es Hoffnung. Sie musste ihre Zwillingsschwester finden.

Nur mühsam setzte sie sich wieder in Bewegung, und Toivo trottete ihr glücklich mit dem Schwanz wedelnd hinter ihr her.

Sie ging durch die Stadt, kam an großen Einkaufszentren vorbei und spürte, wie ihr Magen laut knurrte, als sie ein paar Jugendlichen zusah, die vergnügt Döner verschlangen. Sie tastete nach ihrer Hosentasche und stellte fest, dass sie wirklich nicht einen Cent hatte. Sie bückte sich zu ihrem Hund hinunter und strich ihm übers Fell. Ihr gefiel es nicht, dass sie seine Rippen spürte. Wenn sie wenigstens ihm etwas zu essen kaufen könnte …

Enttäuscht und frustriert setzte Ciel sich mit Toivo im Schlepptau wieder in Bewegung. Sie lief kreuz und quer durch die Stadt, folgte einem versteckten Seitenweg durch eine menschenleere Gasse und kam an einer heruntergekommenen Kneipe vorbei. Die Fassade war gealtert, die Farben verblasst. Das Schild über der Kneipe war so verblichen, dass man nicht einmal lesen konnte, wie sie hieß. Sie hatte ein großes, verdrecktes Schaufenster, und Ciel erkannte, dass sich drinnen, außer einem Barmann, der gerade nach hinten verschwand, niemand befand. Kein Wunder, keiner würde um diese frühe Uhrzeit in so einem heruntergekommenen Laden sitzen und Alkohol trinken – oder doch …

Zwei Kerle in abgewetzten Lederjacken, der eine klein und mager mit schwarzem, fettigem Haar, der andere groß, mit Bauchansatz und Glatze, standen draußen an einem Stehtisch und rauchten Zigaretten. Sie tranken Bier aus braunen Flaschen.

Ciel wollte gerade weitergehen, als einer der beiden sie entdeckte.

»Hey, du da! Bleib mal stehen!«

Ciel erschrak und drehte sich zu den beiden Männern um.

»Das ist sie, oder?«, fragte der Dünne den Dickeren.

Er nickte. »Ey, komm mal her, Mädchen!«

»Ähm, w-was ist denn?«, fragte Ciel und kam zögernd auf die beiden zu. Sie kannte die Männer nicht. Vielleicht waren sie mal Kunden gewesen.

Der dünnere Mann nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, rülpste laut, dann musterte er Ciel ausgiebig. Seine Augen waren glasig, genau wie die des anderen Typen. Vermutlich war dieses Bier nicht ihr erstes heute. Von der Alkoholfahne der beiden drehte sich Ciel beinahe der Magen um.

»Du bist doch die Kleine, die bei Henry arbeitet, oder? Im Mamma Mia?«, lallte er.

Ciel zuckte zusammen. »Ich … ähm, also«, stammelte sie und wich zurück. Panik breitete sich in ihrem Kopf aus. Was wollten diese Typen? Woher kannten sie ihren Chef? Wussten sie denn gar nicht, dass er nicht mehr am Leben war?

»Alter, sie ist es tatsächlich. Ich habe sie schon öfter dort gesehen, als ich an Henrys Laden vorbeigegangen bin.« Der Größere stieß seinen Kumpel an und grinste.

»Sag, Kleine, wir haben nichts mehr von ihm gehört. Wie geht es ihm denn so?« Der Dünnere kam näher, musterte Ciel von oben bis unten und rümpfte die Nase, als würde sie stinken.

»Es geht ihm … gut«, log Ciel schnell. Ihr wurde fast schlecht von dem Gestank des Mannes. »Ich muss jetzt weiter. Auf Wiedersehen.« Sie wollte sich umdrehen, als der Dickere sie am Handgelenk packte.

»Sag mal, wie kommt Henry an so eine süße kleine Maus wie dich? Wo hat er dich aufgegabelt?«

Er kam näher, musterte ihr Gesicht und entblößte eine Reihe gelblicher Zähne. Als er ihr mit seiner schmutzigen Hand durch die Haare fuhr, wich Ciel angewidert vor ihm zurück.

»Willst du nicht lieber bei uns arbeiten? Wir würden dir auch ein wenig mehr Geld bieten als Henry.«

»So eine süße kleine Maus würde gut in unseren Laden passen. Es wird dir bei uns bestimmt sehr gefallen.«

Der Dünne trat hinter sie. Ciel stand stocksteif da, doch als er ihr seine Hand auf den Hintern legte, fuhr sie herum.

»Nein, lasst mich in Ruhe!« Sie holte mit der flachen Hand aus – und verpasste dem dünnen Kerl eine schallende Ohrfeige.

Er taumelte zurück und presste sich beide Hände an die Stelle, die Ciel getroffen hatte. Augenblicklich stieß er einen erstickten Schrei aus, und als er die zitternden Hände sinken ließ, zeichneten sich blutrote Brandblasen auf seinem Gesicht ab. Es stank nach verbranntem Fleisch. Ciel riss die Augen auf und starrte entgeistert auf ihre Hände. Es war wie bei Lucien – sie hatte es wieder getan. Sie hatte dem Mann die Haut verbrannt, obwohl sie das doch gar nicht gewollt hatte. »E-Es tut mir leid!« Vor lauter Angst vor sich selbst kamen ihr die Tränen.

»Alter, was ist los?«, rief der dicke Mann entsetzt, doch dann fiel sein Blick auf Ciel. »Du …!«, knurrte er, und seine Miene verzerrte sich zu einer scheußlichen Grimasse. »Was hast du getan, du Göre?«

Ciel wirbelte herum und wollte wegrennen, doch er packte sie mit einem so festen Griff am Arm, dass sie sich auf die Lippe biss, um nicht zu schreien.

»Lass mich!«, ächzte sie.

Toivo bellte, doch keiner beachtete ihn.

Ciel war von Panik erfüllt, sie wehrte sich und trat um sich. Ihr Fuß knallte mit voller Wucht gegen das schmale Gesicht des dünnen Kerls, der sie ebenfalls packen wollte und nun zusätzlich zu den schmerzhaften Brandblasen auch noch einen Schuhabdruck im Gesicht hatte. Er fiel zu Boden, presste sich die Hände vors Gesicht und rollte auf dem Boden herum wie ein weinendes Kind.

Der Dicke packte ein großes Büschel ihres blonden Haares.

»Du Miststück!«

Dann verpasste er ihr eine Ohrfeige, die so heftig war, dass Ciel zu Boden stürzte und ihr kurz die Luft wegblieb. Sie spürte ihre Wange schmerzhaft pochen, und ihr Kopf dröhnte, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. Für einen flüchtigen Moment war ihr wahnsinnig übel und schwindelig, alles drehte sich. Ihre Lippen waren von dem Schlag aufgeplatzt und als sie hochschaute, erstarrte sie. Die beiden Männer hatten sich bedrohlich vor ihr aufgebaut. Sie kniff die Augen zusammen, als sie sah, wie der dicke Typ auf sie zukam. Doch komischerweise spürte sie keine Hände, die sie packten und auf die Beine zerrten. Sie öffnete erst ein Auge, dann das andere – und erschrak.

Vor ihr stand ein großer Junge, der ihr den Rücken zukehrte. Er hatte schwarze Haare, trug eine schwarze Kapuzenjacke, dunkle Jeans und Kampfstiefel.

Oscuro.

Die beiden Männer starrten ihn an, als wäre er vom Mond gefallen.

»Wer bist du denn?«

Der Dickere spuckte vor Oscuro aus und beugte sich dicht zu ihm, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten, doch der Junge zuckte mit keiner Wimper und wich auch nicht zurück.

»Los, verzieh dich. Wir haben mit der Kleinen da ein Hühnchen zu rupfen.« Der Kerl grinste und entblößte seine gelben Zähne.

Oscuro sah beide mit funkelnden eisblauen Augen schweigend an und bewegte weiterhin keinen Muskel, was sein Gegenüber wohl noch zorniger machte.

»Willst du auch ein paar aufs Maul haben, Kleiner?«, fragte der Dünnere und knackste mit den Fingerknöcheln.

Sein Kumpel lachte.

»Nein, aber wahrscheinlich ihr, weil eure Hirne so klein wie Erbsen sind.« Oscuro grinste beide an, doch genauso schnell, wie sein Grinsen erschienen war, war es auch wieder verschwunden. »Man schlägt keine Frauen, ihr Dreckschweine! Typen, die so etwas tun, sollte man den Arsch versohlen, bis sie Blut spucken und sich auf Knien entschuldigen.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Außerdem ist zwei gegen einen unfair. Sucht euch jemanden in eurer Größe für euren Scheiß.«

Der dünnere Kerl knirschte mit den Zähnen und knurrte: »Ach ja? Ich glaube nicht, dass dich das hier etwas angeht.« Dann wühlte er in seiner Hosentasche herum, bis er ein Taschenmesser fand. Er holte es heraus und klappte es auf.

»Du kommst dir wohl besonders cool vor, was?« Diesmal knackste der dickere Kerl mit den Knöcheln. Er holte eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Jacke und zündete sie an. Seelenruhig nahm er einen tiefen Zug. »Und jetzt verzieh dich endlich! Wir wollen mit der Kleinen nur ein Wörtchen reden. Mir ist vorhin nur die Hand ausgerutscht. Kommt nicht wieder vor, also komm ja nicht auf die Idee, die Bullen zu rufen. Verschwinde jetzt!« Seine glasigen Augen fixierten Ciel, die sich hinter Oscuro aufrappelte und weit weg von diesem Ort und der angespannten Atmosphäre wünschte.

»Ihr beide solltet dringend zu einem Schönheitschirurgen, eure Hässlichkeit ätzt einem ja die Augen weg.« Oscuro grinste. »Aber ich kann das auch gerne übernehmen. Ich kann dafür sorgen, dass ihr sogar noch hässlicher ausseht, als ihr es ohnehin schon tut.«

Der dickere Mann mit Glatze beugte sich wieder zu Oscuro und blies ihm eine dichte Rauchwolke ins Gesicht. »Ja, sprich ruhig weiter. Für jedes Wort bekommst du einen extra Schlag.«

»Klingt lustig. Ihr seid die hässlichsten Typen mit Sinn für Humor, die ich jemals vermöbelt habe.« Dann fiel sein Blick auf den dünnen Kerl. »Hey, die Brandblasen stehen dir! Ich hoffe, es tut richtig schön weh.« Er lachte und schien sich gar nicht mehr einzukriegen.

»Leg dich lieber nicht mit uns an, Kleiner. Mein Kumpel hier, der war der beste Boxkämpfer unseres Jahrgangs.« Der dünnere Kerl klopfte seinem Kollegen mit Begeisterung auf die Schulter. »Er prügelt dich krankenhausreif.«

»Ich glaube, ich muss jetzt so tun, als hätte ich furchtbare Angst vor euch Vollidioten.« Oscuro verschränkte die Arme.

Der Glatzkopf knirschte mit den Zähnen. »Sobald wir mit dir fertig sind, wirst du dich auf Knien bei uns für deine frechen Worte entschuldigen«, knurrte er.

»Wie bitte? Ich soll mich entschuldigen, dafür, dass ich die Wahrheit sage?« Oscuro lachte auf.

Ciel schüttelte den Kopf. Entsetzt fiel ihr Blick auf das Messer. Die Typen waren bewaffnet, stark alkoholisiert, standen einem streitlustigen Jungen gegenüber, der wohl gerne Schlägereien anzettelte und sich dem Ernst der Lage nicht bewusst war. Wenn sie nicht schleunigst etwas unternahm, würde noch etwas Schlimmes geschehen.

»Ähm … wir wollten gerade gehen!«, sagte Ciel hastig und lauter als gewollt. Das Zittern in der Stimme verriet ihre Nervosität, als sie nach Oscuros Hand griff.

Er drehte sich fragend zu ihr um.

»Ihr geht nirgendwohin!«

Der Glatzkopf stieß ein lautes Knurren aus, dann riss er seinem Kollegen das Taschenmesser aus der Hand. Ciel schlug sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund, als sie sah, wie der Mann damit auf Oscuro losstürmte. Er zielte mit dem Messer auf das Gesicht des Jungen, doch der blieb vollkommen gelassen. Dann, blitzschnell und ohne Vorwarnung, wich er seinem Angreifer aus und packte ihn am Kragen seiner Lederjacke. Im nächsten Moment wurde der Mann zurückgeschleudert und donnerte mit einem lauten Knall in die Scheibe der Kneipe. Sie zerbarst in tausend Scherben, und der dicke Mann stöhnte auf, begraben unter einem Berg von rasiermesserscharfen Glassplittern.

Ciel starrte Oscuro entsetzt an. »Was hast du getan?«

Wie hatte er einen Kerl, der doppelt so viel wog wie er, mal eben so durch eine Glasscheibe befördern können, als wäre er so leicht wie eine Feder?

Der Dünne starrte seinen Kumpel entgeistert an, dann wirbelte er herum. Doch noch bevor er fliehen oder um Hilfe rufen konnte, sprang Oscuro auf seinen Rücken. Der Kerl verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran auf die harten Pflastersteine. Der Junge stand auf seinem Rücken und drückte ihm seinen Fuß ins Kreuz, sodass er am Boden wie festgeklebt war.

»Denkst du ernsthaft, dass ich euch einfach so davonlaufen lasse? Nach allem, was ihr dem Mädchen angetan habt?« Oscuro grinste, doch in seinen Augen funkelte Wut.

»Runter von mir«, ächzte der Kerl.

Doch da packte Oscuro ihn an seinem schwarzen Haar und donnerte sein Gesicht auf den Boden. Blut spritzte auf die Pflastersteine, auf Oscuros Hand und seine Kleidung. Als der Mann nur noch ein leises Grunzen von sich gab, ließ Oscuro von ihm ab, packte ihn am Nackenausschnitt seiner Jacke und warf ihn wie eine leblose Puppe vor Ciels Füße.

Sie starrte Oscuro entsetzt an, unfähig zu sprechen.

Er packte den Kerl am Haar und riss seinen Kopf hoch, damit er ihr in die Augen sah. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt, die Lippen aufgeplatzt, seine Augen rot und blau angeschwollen. Zwei Zähne fehlten ihm.

»Und jetzt entschuldige dich bei ihr!«, zischte Oscuro.

Der Mann keuchte, hustete und murmelte undeutlich eine Entschuldigung, ehe Oscuro ihm noch einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf verpasste, der dafür sorgte, dass der Mann bewusstlos vor Ciels Füße sank. Ängstlich starrte sie an, weil sie glaubte, er sei tot, doch da sah sie, wie er schwach atmete.

Oscuro erhob sich und starrte zu dem Kerl, den er durch die Scheibe geworfen hatte. »Jetzt bist du dran.«

Ciel starrte Oscuro entsetzt hinterher, während er über die Scherben lief und sich vor dem keuchenden dicken Mann aufbaute. Dann bückte Oscuro sich zu ihm hinunter und zog sich eine Zigarette und ein Feuerzeug aus seiner Brusttasche. Er zündete die Zigarette an, nahm einen Zug und musterte den Kerl gelangweilt. »Na, willst du es etwa noch mal wagen, eine Frau zu schlagen?«

Der Mann keuchte und hob schwach die Hand, um Oscuro zu packen, doch der stellte seinen Fuß auf das Handgelenk des Mannes, drückte es auf den Boden und verlagerte sein gesamtes Gewicht darauf, bis sein Opfer aufschrie und das ekelhafte Knacken von brechenden Knochen zu hören war.

»Hör auf!« Ciel gelang es endlich, sich aus ihrer Schockstarre zu befreien. Sie stürmte auf Oscuro zu und griff nach seiner Hand.

Er starrte sie an und lächelte ein Lächeln, das viel zu lieb für seinen hasserfüllten Blick aussah.

»Komm schon, Ciel, die haben es verdient! Du hättest tot sein können! Ich erteile ihnen bloß eine Lektion.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will hier weg. Bitte!«

Oscuro stöhnte genervt auf und nahm noch einen tiefen Zug von der Zigarette. Dann schnippte er dem winselnden, halb bewusstlosen Kerl zu seinen Füßen die Asche ins Gesicht, ehe er ihm auch noch die glühende Zigarette ins Gesicht warf. »Meinetwegen. Es wurde eh gerade langweilig.«

Plötzlich waren in der Ferne Sirenengeheul und aufgeregte Stimmen zu hören. Selbst der Barmann, der aus seiner Schockstarre erwachte und die ganze Zeit nur zugesehen hatte, kam hinter dem Tresen hervor, die Fäuste geballt. »Ihr könnt euch so oft und gerne prügeln, wie ihr wollt, aber ihr macht meinen Laden nicht kaputt! Die Glasscheibe bezahlt ihr!«

Ciel geriet in Panik. Was würde geschehen, wenn die Polizei kam?

Doch ehe sie begriff, wie ihr geschah, zog Oscuro sie hinter sich her. Sie stolperte und konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sein Griff war zu fest. »Oscuro, warte«, versuchte sie zu protestieren, doch er reagierte nicht, und ließ sie auch nicht los. Er hielt sie wie in einem Schraubstock gefangen, und zwang sie, ihm zu folgen.

Toivo bellte und rannte ihnen nach.

»War das wirklich nötig? Ich meine, willst du ihnen nicht helfen?«, flüsterte Ciel. Sie starrte auf seine blasse Hand, die ihre umfasste. Sie fühlte sich ganz warm an, als würde eine Flamme in seinem Innern brennen. Eigentlich war es genauso wie bei Lucien, doch Oscuros Wärme war … anders, kälter, weniger intensiv.

»Nicht wirklich«, antwortete er gut gelaunt. »Hey, jetzt sieh mich nicht so an! Irgendjemand wird sich schon erbarmen und ihnen helfen. Aber glaub mir, die werden nie wieder ein Mädchen verletzen!«

Nach einer Weile verlangsamte er seine Schritte und führte Ciel durch eine weitere kleine Gasse, dann liefen sie wortlos durch den Park, bis sie schließlich dem Strand näher kamen.

Ciel konnte noch immer nicht begreifen, was da geschehen war, also war zu schweigen das Beste, was sie tun konnte. Doch gleichzeitig lagen ihr so viele Fragen auf der Zunge. Sie hörte in der Ferne Meeresrauschen, und ihr wehte eine salzige Brise durch die Haare. Möwen flogen am Himmel und kreischten. Ciel kannte diese Stelle nicht. Sie war hier noch nie gewesen, obwohl sie oft am Strand spazieren gegangen war.

»Ich habe nach dir gesucht«, gestand Oscuro nach langem Schweigen und sah sie an. »Nachdem wir uns begegnet waren, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich musste dich unbedingt wiedersehen. Ich habe überall nach dir gesucht, habe Leute nach dir ausgefragt, doch niemand konnte mir sagen, wo du wohnst. Und dann habe ich dich und Toivo herumirren sehen. Du sahst so wahnsinnig traurig und verzweifelt aus. Da bin ich dir heimlich gefolgt und sah, wie diese Typen auf dich losgegangen sind. Diese verdammten Dreckschweine. Ich hätte sie töten sollen für das, was sie dir angetan haben.« Er drückte ihre Hand, und Ciel spürte deutlich, wie Zorn seinen Körper durchflutete.

»Bitte sag so etwas nicht!« Sie schüttelte entsetzt den Kopf. »Ich wäre da schon irgendwie heil rausgekommen.«

Oscuro warf den Kopf in den Nacken und lachte. Er lachte eine ganze Weile. Ein nervöses, schepperndes Lachen.

»Was ist? Glaubst du mir nicht?

Oscuro sah sie grinsend an, doch seine eisblauen Augen funkelten nicht so intensiv wie sonst. Er sah tatsächlich etwas nervös aus. »Klar, habe ich gesehen.«

Sie blinzelte. Entweder nahm er sie nicht ernst oder er fürchtete sich vor ihr, weil er gesehen hatte, was sie getan hatte. Sie blickte auf ihre Hand. Wie war sie nur dazu fähig, andere zu verletzen, wenn sie wütend war?

Er hatte sich wieder von ihr abgewandt und sagte plötzlich etwas, das Ciel zusammenzucken ließ. »Menschen sterben früher oder später doch sowieso, Ciel. Leider erwischt es fast immer nur die guten Menschen, während die bösen sich einen ablachen und länger am Leben bleiben, als sie sollten. Menschen sind Abschaum!«

Ciel riss sich von ihm los und stellte sich ihm in den Weg.

Er blinzelte sie überrascht an.

»Warum sagst du das?«

»Ich verstehe, dass du das nicht so siehst. Du bist ein so reines Geschöpf. Viel zu gut für diese grausame Welt!«, sagte er leise und strich ihr über die blutende Lippe.

Sie zuckte zusammen.

»Du hast dich von anderen immer nur herumkommandieren und -schubsen lassen. Nie hast du dich gewehrt, hast allen Schmerz über dich ergehen lassen und bist trotzdem nicht daran zerbrochen. Ich wünschte, ich hätte deine Stärke!«

Ciel starrte ihn ungläubig an. Das sagte ausgerechnet er, der die beiden Kerle gerade verprügelt hatte?

»Und jetzt bist du ganz allein.«

»Mein Chef«, flüsterte Ciel heiser. »Du weißt davon?«

»Lucien hat es mir erzählt.« Oscuro zuckte die Achseln. Als wollte er sie von dem Thema ablenken, sagte er: »Glaub mir, diese verdammten Dreckschweine hätten erst aufgehört, dich zu schlagen, wenn du ohnmächtig dagelegen hättest. Wenn ich nur ein wenig früher gekommen wäre, hätte ich dir noch mehr Leid ersparen können.«

Ciel berührte ihre geschundene Wange, die bläulich angelaufen war. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Mir geht es gut.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, dir geht es nicht gut.«

Ciel seufzte und schaute nach unten. Ja, sie fühlte sich wirklich mies, war immer noch schrecklich verwirrt und hatte Angst. Nach allem, was ihr in letzter Zeit Furchtbares geschehen war, auch kein Wunder. Aber Oscuro konnte unmöglich in ihre Seele schauen. Er konnte unmöglich von all diesen Dingen wissen.

»Hey, aber vielleicht kann ich dir helfen, dass du dich wenigstens ein bisschen besser fühlst.« Er lächelte sie an. »Komm mit!« Erneut griff er nach ihrer Hand.

Sie starrte auf seine blassen Finger und zuckte zusammen, als sie kleine Blutspritzer an ihnen kleben sah. »Oscuro, bitte tu das nie wieder«, flüsterte sie.

Er lachte, klang aber sehr ernst, als er meinte: »Ob ich das wieder tue, liegt an diesen Dreckschweinen und daran, ob sie es wagen, dich noch einmal zu verletzen.«

»Das werden sie nie wieder tun. Sie sind vermutlich in einem Krankenhaus und dort …«

»Nein, ich meine nicht nur diese Typen. Ich meine die Menschen. Alle Menschen auf dieser Welt, die Schwächere verletzen, obwohl sie selbst in Wirklichkeit nichts weiter als erbärmliche Kreaturen sind. Mörder, Vergewaltiger, Monster …« Unvermittelt grinste er wieder. »Aber lass uns nicht mehr darüber sprechen. Es wird Zeit, dass ich mein Bestes gebe, um dich wieder aufzupäppeln.«

Er führte sie einen abgeschiedenen sandigen Weg hinauf. Hohe Grashalme wiegten sich rauschend im Wind. Möwen zogen am Himmel kreischend ihre Runden. Schließlich kamen sie an einer Stelle am Strand an, an der Ciel noch nie gewesen war. Sie standen auf einer Düne. Vor ihnen erstreckte sich das weite Meer. Ciel atmete die salzige Luft ein, berührte mit den Händen die piksenden Grashalme und blickte sich um. Da bemerkte sie einen Picknickkorb, der einsam mitten auf der Düne stand. Genau dort führte Oscuro sie hin.

»Ich wollte nach dir suchen und dich einladen. Doch ich war mir nicht sicher, ob wir uns wirklich noch mal begegnen würden. Ich weiß doch, wie sehr du leidest, und dir kaum etwas zu essen leisten kannst.« Oscuro lächelte sie traurig an.

Sie fragte sich, woher er das wusste. Schließlich kannten sie sich kaum. Bei Lucien war es auch so gewesen. Auch er wusste eine Menge über sie, obwohl sie sich nur einmal zuvor begegnet waren.

Oscuro fuhr einfach fort, ohne auf ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck einzugehen: »Du bist nur Haut und Knochen. Also beschloss ich, dich zu einem kleinen Picknick einzuladen, wenn ich dich finden würde. Und keine Sorge, hierher kommt niemand. Dieser Ort ist abgeschieden.«

Als sie vor dem Picknickkorb standen, hob er den Deckel und zog eine Decke hervor, die er im Sand auf den Grashalmen ausbreitete. Dann bedeutete er Ciel, sich zu setzen. Sie ließ sich auf der Decke nieder, und Toivo sprang ihr auf den Schoß. Fasziniert sah sie zu, wie er mehrere Sachen aus dem Korb herausholte und auf der Decke verteilte. Zwei große Wasserflaschen, Äpfel und Birnen, ein paar Scheiben Vollkornbrot, Schafskäse, mehrere Hähnchen-Wraps, Tomaten und Mandarinen, Laugenstangen, Wurst, Käse und ein Baguette.

»Bedien dich!« Oscuro lächelte sie freudig an.

Ciel starrte auf die vielen leckeren Sachen. Sie spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief und ihr Magen mit einem lauten Knurren antwortete. Sie errötete und schlang sich die Arme um den Bauch. »Warum machst du das? A-also, i-ich meine, ich fühle mich geehrt, von dir zu einem solch wundervollen Picknick eingeladen zu werden.« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Niemand hat mich zuvor zu etwas eingeladen. I-ich w-weiß nicht, ob ich das annehmen kann.«

»Komm schon, sei nicht so schüchtern. Mund auf!«

Oscuro hielt ihr den Hähnchen-Wrap vor den Mund. Sie wollte den Kopf wegdrehen, denn sie spürte, wie ihr vor Rührung die Tränen kamen. Doch sie war zu hungrig, um Oscuros nette Geste abzulehnen. Sie öffnete den Mund, und biss ein Stück ab.

Er lächelte zufrieden, als sie den Wrap nahm und erneut abbiss.

»Oscuro, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist köstlich und ich bin dir wirklich sehr dankbar. Ich verspreche dir, mich zu revanchieren, sobald ich Geld habe, aber …«

Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Schon gut. Hier, iss so viel du willst.« Er nahm eine Gabel mit einem Stück Schafskäse und führte auch die an ihren Mund.

Ciel wischte sich die Tränen fort, bevor sie von dem leckersten Käse probierte, den sie jemals gegessen hatte.

»Oh, für deinen Hund habe ich auch etwas.« Oscuro griff in den Korb und holte zwei Näpfe und eine Dose mit Hundefutter heraus. Er öffnete die Dose und schüttete das Futter in einen Napf hinein. In den anderen füllte er Wasser.

»Vielen Dank, Oscuro«, hauchte Ciel gerührt, als sie ihrem Hund beim Fressen zuschaute.

Er griff besorgt nach ihrer Hand. »Tun deine Verletzungen noch sehr weh?«

Sie berührte mit der anderen Hand ihre schmerzende Wange und zuckte zusammen. »Ist halb so schlimm«, entgegnete sie schnell. »Es tut nur noch ein klein wenig weh.«

»Kühl sie, sonst wird sie noch dicker.«

Oscuro nahm ein Tuch aus dem Korb, feuchtete es mit dem Wasser aus der Flasche an und fuhr damit vorsichtig über die verletzte Stelle auf Ciels Wange. Sie zuckte kurz zusammen, als er ihr das Blut von der Lippe wischte, doch die Kälte des Wassers tat gut.

»Es tut mir so leid, was geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte dir den Schmerz nehmen.« Er seufzte leise.

»Du hast schon viel zu viel für mich getan.« Sie lächelte.

»Hey, vielleicht können wir uns ja öfter sehen? Wenn du willst …« Oscuro lächelte sie schüchtern an, als befürchtete er, sie würde Nein sagen.

Doch Ciel nickte begeistert. »Ja. Ich würde mich sehr freuen.«

Seine eisblauen Augen leuchteten erfreut auf. »Sag, was wird jetzt aus dir?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Ich muss Heaven finden, dachte sie, doch sie sprach es nicht aus. Dann schaute sie ihn neugierig an, denn nun beschäftigte sie eine ganz andere Frage. »Du kennst Lucien, richtig?«

Als Oscuro nickte und sagte: »Früher waren wir sogar mal Freunde«, zog sie die Augenbrauen hoch.

»Ähm, wie geht es ihm? Ich weiß kaum etwas über ihn, aber er viel über mich. Das ist fast unheimlich. Und du weißt auch eine Menge über mich. Woher?«

Eine sanfte Brise wehte durch Oscuros schwarze Haare. Er wich ihrem Blick aus, schaute zum Meer hinaus und dachte einen Moment lang schweigend nach. So lange, dass Ciel sich innerlich verfluchte, diese Fragen gestellt zu haben. Es war offensichtlich, dass Oscuro keine große Lust zu haben schien, über Lucien zu sprechen.

Doch schließlich sagte er: »Lucien und ich, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Wir sind damals oft an dem Laden vorbeigegangen, in dem du gearbeitet hast. Haben gesehen, wie sehr du dich gequält hast. Da wollten wir dir helfen.«

Ciel warf ihm einen fragenden Blick zu. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass er sie anlog.

»Sieh uns beide einfach als deine Schutzengel an, okay?« Er lächelte und seine eisblauen Augen leuchteten wie der weite Ozean. »Schutzengel, die ein armes Mädchen im Auge behalten und dafür sorgen, dass ihr Leid wenigstens ein klein wenig abnimmt.«

»Danke! Aber ihr hättet euch ruhig trauen können, mich anzusprechen. Ich habe keine Freunde und …«

»Wir wollten uns nicht zu sehr in dein Leben einmischen«, unterbrach Oscuro sie. »Menschen können so in große Schwierigkeiten geraten. Manchmal denkt man, etwas Gutes zu tun, doch oft erreicht man damit das genaue Gegenteil.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre nicht passiert. Nicht bei mir. Ich wäre froh gewesen, wenn ihr euch mir früher vorgestellt hättet. Wir hätten uns treffen können. Ihr hättet meine Welt ein klein wenig heller gemacht, und ich hätte mich nie wieder traurig gefühlt.«

»Wir mussten den richtigen Zeitpunkt abwarten«, sagte Oscuro und blickte zum Himmel empor.

Den richtigen Zeitpunkt abwarten?

Ciel dachte daran, wie sie Lucien das erste Mal begegnet war. Er war in ihr Leben getreten, als sie ihrer Doppelgängerin zum ersten Mal begegnet war. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Und wenn das kein Zufall gewesen war? Wenn es irgendeine Verbindung zwischen Heaven, Lucien, Oscuro und ihr gab? Ja, so musste es sein. Anders konnte Ciel sich die schrecklichen Ereignisse, die so plötzlich und unerwartet auf sie eingestürmt waren, nicht erklären. Sie traute sich fast nicht zu fragen, doch sie musste es einfach wissen. »Lucien hat mir merkwürdige Dinge erzählt, die ich nicht glauben kann und ehrlich gesagt auch nicht glauben möchte. Er sagte mir, dass das Mädchen, dem ich begegnet bin, meine Zwillingsschwester ist. Aber sie soll gefährlich sein. Ihr Name ist Heaven. Wenn du so viel über mich weißt, na ja, weißt du dann vielleicht auch etwas über sie?« Sie schaute ihn fragend von der Seite an.

Er wandte sich ihr zu. »Ich weiß, dass du eine Zwillingsschwester namens Heaven hast«, sagte er zu ihrer Verwunderung. »Lucien und ich fürchten uns vor ihr. Sie trägt so viel«, er schien nach den richtigen Worten zu suchen, »Finsternis in sich. Das macht sie so gefährlich – mehr als nur gefährlich.«

»Aber warum sollte sie …« Ciel brach den Satz ab. Das war doch verrückt. Was für eine Finsternis meinte Oscuro? Etwa, dass Heaven genauso litt wie Ciel, denn genau das hatte Lucien gesagt.

»Lucien hat mir auch etwas von einer Königin erzählt«, fuhr sie fort, während sie versuchte, sich an das Gespräch zu erinnern. Sie war so in Panik gewesen, dass sie Lucien nicht richtig zugehört hatte, aber ein paar Dinge hatte sie sich gemerkt.

»Ich weiß nix von einer Königin«, antwortete Oscuro kurz angebunden und wirkte plötzlich sichtlich genervt.

»Aber Lucien …«

»Hör nicht auf diesen Typen. Er ist ein elender Lügner.«

Er funkelte sie an. Es war offensichtlich, dass er keine Lust mehr hatte, weiter auf ihre Fragen einzugehen.

»Er wollte dir nur Angst einjagen. Ist deine Frage damit beantwortet? Ja? Dann sei bitte still und sprich kein Wort mehr über ihn.«

Ciel seufzte. Sie bemerkte, dass Oscuros Körper vor Zorn angespannt war, als er erneut auf das weite Meer hinausschaute. Sie ließ den Kopf hängen und ein peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie nahm sich ein Stück Baguette, und begann nervös daran herumzuknabbern.

Ihr fiel auf, dass Oscuro das Essen bisher nicht angerührt hatte. Hatte er das alles etwa nur für sie besorgt? Es schien ihm unheimlich viel zu bedeuten, dass es ihr gut ging. Deshalb verstand sie auch nicht, weshalb er nicht mehr über das reden wollte, was sie so beschäftigte.

Sie seufzte. »Ach, Heaven …« Sie fragte sich, wie es ihr wohl ging und ob sie wusste, dass sie und Ciel wahrscheinlich Geschwister waren?

»Wenn du ihr unbedingt begegnen willst, sollte ich dabei sein«, meinte Oscuro plötzlich und lächelte sie an. »Nur für den Fall der Fälle.«

Wie er das sagte, klang es, als würde er sich große Sorgen machen. Aber nicht nur um Ciel, sondern auch um ihre Zwillingsschwester.

Als sie ihn danach fragte, meinte er: »Die Finsternis in ihr sorgt dafür, dass Menschen sterben und ihnen Unglück passiert. Heaven ist ein kleiner Unglücksrabe. Das wird auch an ihrer Seele nicht spurlos vorbeigehen und sie belasten.«

»Wieso sollte sie Unglück bringen? Das ist verrückt.«

»Ja, du hast recht.« Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein merkwürdiges Lächeln ab, das Ciel nicht zu deuten wusste.

»Klar kann es bloß Zufall sein, dass sie, egal wohin sie auch geht, Unglück bringt und Menschen sterben. Aber wenn du mich fragst, es gibt keine Zufälle im Leben.«

Das bestätigte, was sie gedacht hatte. Doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, entdeckte sie etwas am Strand. Weit unten in der Nähe des Ufers, von oben kaum zu erkennen, sah sie plötzlich die Überreste von etwas Schwarzem, Verkohltem.

»Aber das ist doch …«, flüsterte sie. Konnte das da unten etwa Luciens Hütte gewesen sein, die sie niedergebrannt hatte?

»Da unten wohnte er. Lucien«, durchbrach Oscuro die Stille, als würde er ihre Gedanken lesen können.

Sie blickte ihn erschrocken an.

»Aber er ist tot. Ist am ganzen Leibe verbrannt. Nun ist nur noch Asche von ihm übrig. Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.«

»Aber Lucien lebt!« Ciel spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und ihr leicht schwindelig wurde. Lucien konnte nicht tot sein! Er lebte! Oder war sie nun etwa komplett verrückt geworden und hatte sich nur eingebildet, dass er bei ihr gewesen war?

Oscuro lachte plötzlich laut auf. »Ich mach nur Spaß. Wollte dein Gesicht sehen, wenn ich dir diese Lüge erzähle. Klar lebt der Spinner. So schnell sterben wir nicht. Wer den Himmel berühren kann, hat keine Feinde zu fürchten.«

Ciel schaute ihn unsicher an. Warum sagte er so etwas Eigenartiges und wieso machte er so böse Scherze über Lucien?

Doch Oscuro beachtete sie nicht weiter, sondern sah wieder aufs Meer hinaus.

»Ich würde meine Zwillingsschwester wirklich gerne sehen«, nahm sie nach einer Weile wieder das Thema auf. »und ihr helfen.«

»Ich würde es auch toll finden, wenn ihr euch begegnet, aber«, er sah sie an, und in seinen Augen funkelte Besorgnis, »hoffentlich passiert dir dann nicht auch etwas Schlimmes. Ich würde es nicht ertragen, wenn du stirbst.«

»Aber was redest du denn da? Sie würde mich niemals töten. Sie ist doch meine Schwester!« Ciel lachte und spürte eine Freude in ihrem Herzen, die sie noch nie zuvor in sich gespürt hatte. Das Wort Schwester auszusprechen, ließ ihr Herz höherschlagen.

»Oh, klar. Natürlich. Tut mir leid, dass ich das gesagt habe.« Oscuro lachte ebenfalls, doch sein Lachen hörte sich irgendwie gezwungen an.

Ciel streckte sich auf der Decke aus und blickte zum strahlend blauen Himmel empor. Zwei Möwen glitten über ihre Köpfe hinweg. Das Rauschen der Wellen war beruhigend. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so gut gegessen und sich so wohl gefühlt. Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie und so schloss sie die Augen. Sie spürte, wie Oscuro ihr über den Kopf strich, wie seine Finger über ihr Haar glitten und auf ihrer Wange ruhten.

Sie würde alles dafür geben, ihn und Lucien wiederzusehen und mehr mit ihnen zu unternehmen. Dinge, die Freunde halt so taten, ins Kino gehen oder zum Strand. Beide waren unglaublich nett. Sie könnten tatsächlich Freunde werden. Ciel wünschte sich so sehr Freunde. Solange Lucien und Oscuro bei ihr wären, wäre ihr dunkles Leben von Licht erhellt. Und wenn dann noch ihre Schwester bei ihr war …

Engelszwillinge

Подняться наверх