Читать книгу Babys machen und andere Storys - Laurie Penny - Страница 7
Blue Monday
Оглавление»Frauen und Katzen tun, was sie wollen.«
Robert A. Heinlein
Früher wollte ich die Welt retten. Jetzt will ich nur meine Katze wiederhaben.
Mit diesen Gedanken checke ich um sieben in der Firma ein. Der Himmel über dem Parkplatz ist schon dunkel, als ich meinen Dienstausweis durchziehe. Bei den Arbeitszeiten bekommt man von der Sonne nicht viel zu sehen.
Ich stiefele durch die Sicherheitskontrolle zur Monitorwand, an der die Tagschicht auf Ablösung wartet, Simon oder Steve, oder vielleicht ist es auch Stuart. Mit dem schwarzen T-Shirt und dem zotteligen Bart sehen sie für mich alle gleich aus. Wär schön, ich könnte mir einen Bart wachsen lassen. Dann könnte nicht jeder Arsch mein Gesicht angucken.
An 4Chan CATastrophe sieht man, dass es heute Nacht noch hoch hergeht, sagt er. Mehr als 200 000 Aufrufe in den letzten beiden Stunden, die Livecam-Nutzer nicht mitgezählt.
Ich schaff das schon, sage ich.
Super, sagt er. Dann lass ich dich allein. Ich muss nach Hause, die Katze füttern.
Mhm, sage ich.
Du magst wohl keine Katzen?, fragt er. Ich tue, als hätte ich ihn nicht gehört. Da kapiert er es endlich und trollt sich.
Nur, damit das klar ist: Nein, ich mag keine Katzen. Als Tierart sollen die hinterhältigen kleinen Monster nur in ihrem Körbchen bleiben. Ich mag keine Katzen. Ich mag Katze. Ich mag eine Katze. Meine Katze.
Und die haben sie mir gestohlen. Wenn alles nach Plan läuft, zahle ich es ihnen heute Nacht heim. Aber wie. Vorerst kann ich allerdings nur warten und die Bildschirme überwachen.
Der Monitorraum ist ganz okay. Es ist ruhig, und in den sechs Jahren, die ich schon hier arbeite, hat sich der Drehstuhl praktisch der Form meines Hinterns angepasst. Wenn mir kurz die Augen zufallen, kann ich die Bildschirme immer noch sehen. Es sind vierundzwanzig. Jeder zeigt ein Set: Wohnzimmer, Bäder, Gärten.
Das blaue Licht tanzt über meine Haut, als ich nach den Datentransferzahlen schaue. Nerdy Zottelbart lag richtig mit seiner Vermutung. Klar ist heute Abend viel los. Es ist der dritte Montag im Januar. Man nennt ihn auch den Blauen Montag. Offiziell der Depri-Tag des Jahres. Die Zeitungen verbreiten mal wieder Horrorstorys über neue Selbstmordrekorde, aber die meisten Leute kommen klar, fühlen sich nur noch ein bisschen mieser als sonst und töten den Schmerz mit Kätzchenvideos.
Oder Welpenvideos. Oder Ferkelchenvideos. Wir haben sie alle da. Auf jedem Bildschirm toben, bellen, quietschen und schnarchen Tierkinder in gefakten Wohnzimmern herum, die verschleiern sollen, dass wir das Zeug im industriellen Maßstab raushauen. Ich sehe wieder nach den Zahlen. Die kleinen Bulldoggen sind heute Abend besonders beliebt.
Das gehört sich auch. Immerhin haben wir den alten Wurf gerade erst durch einen frischen ersetzt.
Ich mache eine Tüte Frazzles auf und hole mir die Faultiere auf den Hauptmonitor. Das wären meine Lieblingstiere, wenn ich welche hätte.
Für diesen Job braucht man eine besondere Konstitution. Normalerweise stellen sie keine Mädchen ein, weil Mädchen so verrückt sind nach Küken, Welpen und Kätzchen. Es fehlt ihnen an der nötigen professionellen Distanz, vor allem, wenn die Tierchen groß werden, beißen, überall hinscheißen und das Unvermeidliche geschieht.
Mögen Sie Tiere?, fragten sie mich im Bewerbungsgespräch.
Ich erwiderte, dass ich eigentlich gar nichts mag außer Scandal und Chips und manchmal meiner Mum, wenn sie mit mir redet. Sie sagten, ich sei eingestellt.
Später mochte ich auch Jackie und Pocket. Das kam eher unerwartet. Jackie arbeitete in dem Café, in dem ich immer schwarzen Kaffee und Käsecracker frühstückte. Ich saß gern allein, kümmerte mich um meinen eigenen Mist. Aber eines Tages kam sie und fragte mich, warum ich immer so traurig sei.
Ich bin nicht traurig, sagte ich, ich bin Misanthropin. Kannst du nachschlagen.
Jackie lachte nur und fragte, ob sie mir nachschenken solle.
Drei Wochen später zog sie bei mir ein.
Von der Katze erzählte sie mir erst, als es schon zu spät war, und wahrscheinlich war das gut so. Sie wusste, dass ich keine Katzen mag. Im Grunde mag ich gar keine Tiere, aber Katzen sind am schlimmsten. Am zweitschlimmsten, nach Menschen.
Katzen haben den Dreh raus, sagte ich. Das sind die schlimmsten Parasiten. Die wahren Herren im Haus. Die kleinen Tyrannen drehen es so, dass sie auf unsere Kosten den ganzen Tag faulenzen können. Wusstest du, dass sie die Geräusche menschlicher Babys nachahmen, damit wir uns mehr um sie kümmern?
Wusstest du, sagte ich, dass sie sogar einen Wurm in sich tragen, der sich in deinem Gehirn festsetzt und dafür sorgt, dass du Katzen magst? Das ist teuflisch, sagte ich eines Abends, nachdem ich den Kampf um den Platz an Jackies linker Seite mal wieder gegen Pocket verloren hatte. Ich hatte frei, und wir waren bis spät in die Nacht auf, weil die Hippies nebenan wieder Lärm machten.
Quatsch, sagte sie. Du bist ein Katzenmensch.
Das ist völliger Blödsinn, sagte ich.
Gar kein Blödsinn, sagte sie. Du magst keine Katzen – du magst eine Katze sein. Du bist fies. Du fauchst Fremde an. Du verteidigst dein Revier. Du ernährst dich im Grunde von einem einzigen Lebensmittel. Du hast sonderbare Schlafplätze, und du würdest den ganzen Tag pennen, wenn du könntest. Du magst niemanden, außer denen, die dir etwas zu essen geben, und auch die kannst du nur schwer ertragen.
Ich mag dich, sagte ich, und versenkte mein Gesicht in ihrer Schulter. Drückte meine Titten gegen ihren Rücken.
Nur weil ich dir etwas zu essen gebe, sagte sie lachend.
Ich warf ein Kissen nach ihr und sagte, vielleicht bin ich ja eine Katze und fange mal damit an, dass ich mich untenrum lecke, wenn ich mich über dich ärgere.
Da kommst du nicht ran, sagte sie.
Tja, sagte ich. Vielleicht fällt uns was ein.
Die kleinen Bulldoggen sind heute der Renner. Sie fallen dauernd um und zappeln mit den Beinchen, und die rosa Flauschbäuchlein fangen das warme Licht des Wohnzimmer-Sets ein. Sie wuseln über den Teppich und hocken winselnd unter dem Esstisch, auf dem man die Teller planvoll willkürlich verteilt hat. Die Szenenbildner sind große Klasse, das gebe ich zu. Authentizität geht über alles. Die Leute wollen das Gefühl haben, dass sie etwas Echtes kaufen, und unseren staatlichen Auftraggebern gefällt das auch.
Dreiundfünfzigtausend Zugriffe, Tendenz steigend. Schön, dass die Bulldoggen so beliebt sind. Die Kamera war eine Weile aus. Vor ein paar Monaten sind diese verdammten Tierbefreier eingebrochen und haben elf Bulldoggen geklaut, fünfzehn Kätzchen, ein Pärchen narkoleptischer Dackel und einen Affen, der auf einem Schwein ritt.
Das Schwein haben sie nicht mitgenommen, denn das Schwein ist ein fieses Miststück. Es hat mir mal ein Stück Fleisch aus dem Knöchel gebissen, als ich hineinging, um die Mikrofone zu richten. Nach dem Einbruch saß es kreischend in einer Ecke und hatte zwei Fingerkuppen im Maul.
Davon bekamen wir ein paar gute Fingerabdrücke, und das Schwein bekam einen neuen Affen.
Es war nicht meine Schicht, als die Tierbefreier einbrachen, aber ich half dabei, ihre Gesichter aus den Videos zu ziehen und mit Datenbanken abzugleichen, die wir offiziell nicht hätten anzapfen dürfen. Ich dachte, es gibt Verhaftungen, aber ein Prozess hätte sich für das Unternehmen nicht gut gemacht.
Bei uns dreht sich doch alles darum, dass es den Leuten gutgeht und dass sie mit dem täglichen Horror ihres sinnlosen Lebens besser zurande kommen. Nicht einmal die Leute, die wissen, wie die Wurst hergestellt wird, wollen es in der Zeitung lesen. Ich habe gehört, ein paar Aktivisten wurden bestochen oder erpresst, etwas zu unterschreiben, oder – ich weiß es nicht genau. Die Tiere sind schon lange weg. Die Glücklichen.
Ich fummle an den Toneinstellungen für die Bulldoggen herum, während ich auf meine Kontaktperson warte. Ich habe ihm den Zugangscode und einen Schlüssel gegeben. Wenn er nicht so dämlich ist, sich zu verlaufen oder sich schnappen zu lassen oder beides, müsste er in einer Stunde hier sein.
Bei einem Bildschirm in der Ecke der Monitorwand gibt es Probleme. Es blinkt rot, das Streaming funktioniert nicht. Ich klicke ihn nicht an. Den klicke ich nie an, wenn ich es vermeiden kann. Ich schalte die Monitore für ein paar Minuten auf Selbststeuerung und schleppe meine müden Knochen zum Snackautomaten.
Die Flure hier sind steril, in einem industriellen Blau, das mich an Flughäfen erinnert, und bis auf den Erste-Hilfe-Kasten, der neben der Treppe hängt, völlig leer. Alles ist schalldicht, gedämpft. Die dicken Teppiche riechen nach Reinigungsmittel. Anlagen regeln alles präzise. Sogar das Klima.
Das ist kein Ort, an dem sich Menschen begegnen, es ist überhaupt kein Ort für Menschen. Selbst bei Tage treffe ich selten jemanden, obwohl hier Hunderte Tierpfleger, Klangspezialisten, Tierärztinnen, Betreuerinnen und weiß der Geier wer arbeiten.
An dem Automaten, der aussieht wie ein Sarg aus einer fernen Galaxie, hole ich mir ein Päckchen Frazzles. Als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze und es öffne, tollen die Welpen noch herum.
Die Inhalte, die wir hier raushauen, sind dazu gedacht, den zornigen Teil unseres Gehirns lahmzulegen. Deshalb hasse ich das. Das Ministerium für Arbeit und Versorgung fördert uns, weil es in der Krise steckte. Als es die Sozialleistungen kürzte, bekamen die Leute nicht etwa schneller einen Job, sondern die Selbstmordrate ging durch die Decke, und keine staatlich geförderte Therapie hätte die Leute dazu bringen können, Armut, Hunger und Perspektivlosigkeit einfach so wegzustecken.
Aber alle mögen Katzenvideos. Und Welpenvideos. Je höher die Qualität, je frischer die Inhalte, desto besser. Es war nur eine Frage der Zeit, dass Fördergelder flossen. Hier geht es um Angebot und Nachfrage. Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Welpe. Oder eine Katze. Dann fänden mich die Leute wahrscheinlich reizend. Oder zumindest die Mädchen, und um die geht es.
Ehrlich, mich erstaunt, was Mädels Katzen so alles durchgehen lassen. Wenn ich mich je aufgeführt hätte wie Pocket – einmal die Stunde Jackie anschreien, damit sie mir genau das zu essen gibt, was ich mag, ihre Lieblingssachen zerfetzen und sie passiv-aggressiv ignorieren, wenn sie auch nur fünf Minuten zu spät von der Arbeit kommt –, dann hätten ihre Freunde ihr wohl dringend geraten, unsere Beziehung an den Nagel zu hängen. Wenn ich es mir recht überlege, haben sie ihr das wahrscheinlich sowieso geraten.
Jackie wollte immer, dass ich mich öffne. Ich sagte, warum, wo wir doch fernsehen und Toast essen können und ich mich über dich hermachen kann wie ein Welpe über ein Stück Fleisch. Sie hörte einfach nicht auf damit. Ich rede nicht gern über Gefühle, weil die Leute dann erwarten, dass man auf Knopfdruck welche hat.
Das eine Mal, dass wir uns über den ganzen Kram unterhielten, war es Pockets Schuld.
Und das kam so: Eines Tages wachte ich unvermittelt auf und konnte die Augen nicht öffnen. Etwas Warmes, Lebendiges drückte mir die Lider zu, Haare kribbelten mir in der Nase und im Mund, Tiergeruch, ich konnte nicht atmen, und feines Fell setzte sich zwischen die Zähne, und es erstickte mich, und …
… die Katze hatte sich doch tatsächlich auf meinem Gesicht schlafen gelegt. Keuchend schleuderte ich sie weg und warf mit Gegenständen nach dem idiotischen Vieh, das nun fauchend an der Schlafzimmertür kauerte. Ich warf mit den Schuhen und dem Handy, bis mir Jackie in den Arm fiel, Pocket hochnahm und die Badezimmertür hinter sich zuknallte. Ich kreischte immer weiter.
Also erzählte ich Jackie schließlich, was mit Emily passiert war. Nur, damit sie aus dem Bad kam und aufhörte zu weinen. Und als ich es ihr erzählte, fing sie gleich wieder an.
Mir geht’s gut, sagte ich. Das ist lange her, und ich bin darüber hinweg. Es sterben dauernd Leute, so ist das eben. Und manchmal sterben sie, wenn sie noch klein sind, und manchmal ist die große Schwester mit im Zimmer und kann nichts tun, weil sie auch noch klein ist, Scheiße noch mal. Alles in Ordnung, sagte ich.
Nichts ist in Ordnung, sagte Jackie. Du bist nicht in Ordnung. Und dann fing sie wieder an zu weinen, und ich musste sie küssen, bis sie aufhörte.
Lass dich nie auf ein Mädchen ein, das eine Katze hat. Wenn sie nicht schon immer überkandidelt war, wird sie es spätestens dann.
Pocket konnte gar nichts falsch machen. Einmal kackte sie in Jackies Schuhe – eine Wurst in jeden Schuh, genau über dem Absatz –, und das war offenbar okay. Pocket schien an dem Tag nervös zu sein. Ich sagte Jackie, ich sei auch nervös, und das schon seit Monaten, und ich fragte sie, wie es für sie wäre, wenn ich in ihre Schuhe kackte. Sie nahm die Katze und marschierte mit ihr ins Schlafzimmer, und ich schwöre, das verfluchte Vieh grinste mich an.
Später haben wir uns versöhnt. Das Fass war nicht übergelaufen. Noch nicht.
Zum Überlaufen brachten es die Hippies nebenan. Ein ständiges Poltern und Klopfen, die ganze Nacht. Der Wohnblock ist alt, und die Mauern sind dick, aber trotzdem hörten wir unheimliche Geräusche durch die Trennwand – es knurrte und jammerte und krachte, als hätte man auf einem Bauernhof die Tiere aus dem Stall gelassen. Hippies sollten keine Haustiere halten dürfen. Sie bringen schon für sich nicht die notwendige Disziplin auf, geschweige denn für ein Tier oder zwei oder sechs.
Wenn der Lärm mal einen Tag lang aufhörte, dachten wir, Jackie und ich, wir könnten endlich eine Nacht durchschlafen. Doch dann ging es wieder los. Jackie brauchte ihren Schlaf. Ich leide schon immer an Schlaflosigkeit, daher macht es mir nichts aus, aber Jackie wurde blass und verwirrt, wenn sie auch nur ein oder zwei Stunden zu wenig Schlaf hatte.
Es half nichts, gegen die Wand zu hauen. Passivaggressive Zettel halfen auch nicht weiter. Und mein Mädchen wurde blasser und blasser, kam morgens zu spät zur Arbeit und kriegte Ärger. Ich konnte das nicht länger hinnehmen.
Eines Morgens kam ich in der Frühe nach Hause und wollte mich zu ihr kuscheln, da lag sie auf dem Bett, hingestreckt wie eine Leiche, die Augen aufgerissen, die Lippen zusammengekniffen, und horchte auf das Klopfen und Knurren, das durch die Wand drang. Im Hintergrund liefen Videos von der Arbeit. Sie schaute sie sich immer zur Beruhigung an, wenn ich nicht da war, aber nun sah sie gar nicht hin. Tränen durchnässten den Pfirsichflaum auf ihren Wangen.
Und ich gebe es zu: Ich drehte einfach durch.
Ehe ich mich versah, stand ich vor der Tür der Nachbarn und schrie, sie sollten herauskommen und mir Rede und Antwort stehen.
Ein dürrer weißer Knabe mit dreckigen Dreadlocks machte auf und entschuldigte sich immer und immer wieder, und hinter ihm knallte ein Mädchen in Schlabberhosen Türen, damit ich nicht sehen konnte, was immer ich da nicht sehen sollte. Was mich noch wütender machte.
Ich sagte, ich würde die Polizei rufen, und er entschuldigte sich. Ich sagte, ich hätte diesen ganzen Scheiß gründlich satt, und er entschuldigte sich und bot mir Geld, das er augenscheinlich nicht hatte, weil er wahrscheinlich alles für Gras und das bescheuerte Patschuli-Öl ausgegeben hatte, und genau das sagte ich ihm auch. Als ich endlich fertig war, schien er in sich zusammengefallen zu sein: Er stand noch da, aber es sah aus, als wollte er sich in seinem T-Shirt verstecken. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen.
Jackie wartete in der Küche auf mich. Starrte mich an, hellwach.
Ich wusste nicht, dass du so sein kannst, sagte sie.
Ihre Stimme klang leise und erschöpft.
Alles okay, Süße, sagte ich. Die werden uns so bald nicht mehr stören.
Ich wollte meinen Arm um sie legen, doch sie wich zurück.
Nichts ist okay, sagte sie. Du hast mir Angst gemacht.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also sagte ich nichts. Bald darauf ging sie ins Bett, und ich legte mich auf das Sofa. Es war völlig still, doch ich konnte erst einschlafen, als die Sonne hoch am Himmel stand. Ich wachte davon auf, dass mir Pocket miauend mit der Tatze aufs Gesicht tatschte. Jackie war weg.
Um ehrlich zu sein: Danach ging es mir ziemlich dreckig. Ich arbeitete weiter, oder besser gesagt, ich ging in die Firma und hackte Zahlen in Masken, die auf der Windschutzscheibe meines Lebens zu einer Schmierspur aus Verbitterung verwischten. Arbeiten, nach Hause, schlafen.
Ich überlegte, ob ich mir in meiner Freizeit Videoclips reinziehen sollte, denn dafür waren sie ja da, zum Geier, damit es den Leuten besser ging, aber ich wollte gar nicht, dass es mir besserging. Ich starrte lieber die Schatten an, die über die Sockelleisten krochen.
Allerdings hatte ich ja noch die Katze. Deshalb bin ich mir sicher, dass Jackie nie für immer gehen wollte. Auf dem Zettel, den sie zurückließ, stand, dass ich mich um Pocket kümmern sollte und möglichst auch um mich. Auf beides war ich nicht sonderlich scharf, aber Pocket war das einzige Lebewesen, das Jackie so sehr zu vermissen schien wie ich.
Ein Tier ist ein Haken, den man in einem anderen Menschen hinterlässt. Pocket drückte sich auf der Treppe herum, maunzte und machte sich aus Höschen, die unter dem Bett lagen, kleine Nester, bis ich sie fand und wegwarf; die Katze und ich sahen einander nicht an, weil es uns beiden sichtlich peinlich war.
Schließlich schien Pocket zu begreifen, dass Jackie nicht zurückkommen würde. Sie hörte auf, wie eine Blöde durch die Wohnung zu rennen, und saß nur noch da, die mandelförmigen Augen halb geschlossen. Sie starrte die Tür an oder hockte unter dem Wasserhahn und ließ sich volltropfen, plitsch, platsch, ohne sich auch nur zu bewegen. Oder sie lag auf dem Bett, ausgestreckt wie ein überfahrenes Tier, und machte dieses grässlich ächzende Autoreifengeräusch.
Ich weiß nicht, warum ich anfing, Videos zu drehen. Wenn ich ehrlich bin, hoffte wahrscheinlich etwas in mir, sie würde sie sehen. Sie liebte die Tierclips, musste dauernd heulen, wenn sich die dusseligen kleinen Bulldoggen nicht auf den Beinen halten konnten, auf ihrem flauschigen kleinen Rücken hin und her schaukelten und mit den Beinen strampelten. Das sei eine Metapher für unsere Beziehung, sagte sie. Ich sagte, laber doch keine Scheiße – einer dieser Sätze, die ich mir besser verkniffen hätte.
Die Katzenvideos mochte sie am liebsten. Katzen in Schachteln. Katzen, die in Schachteln zu klettern versuchten, obwohl sie zu klein dafür waren. Katzen, die wie Menschen auf die Toilette gingen. Katzen, die sich so benahmen, dass Menschen sie mehr liebten als andere Menschen.
Jedes Mal, wenn ich einen Clip postete, in dem Pocket die Wand anstarrte, hoffte ich wahrscheinlich, dass Jackie ihn sehen würde und Bescheid wüsste. Sie würde ihn sehen, und sie würde sehen, wie traurig die Katze war, und sich zumindest mal melden.
Aber sie meldete sich nicht. Andere Leute meldeten sich.
Hunderte von Leuten. Dann Tausende.
Dann Zehntausende, und alle sagten dasselbe. Die Katze bin ich, sagt Dina9 aus Albuquerque. Sad Pocket berührt mich tief in der Seeeeele, sagt Toni aus Hamburg. Warum, um Himmels willen, ist die Katze so traurig?? Jemand muss sie retten!!, sagt KitKatCally aus London.
Genau. Komm, und rette uns, Jackie. Komm nach Haus und rette uns beide.
Bald arbeitete ich mehrere Stunden am Tag an den Videos. Und wahrscheinlich war ich nicht sonderlich überrascht, als ich telefonisch zu meiner Arbeitsstelle zitiert wurde.
Man führte mich durch die Eingangshalle in einen kleinen Raum, in dem ein kleiner Mann in Anzug und Schlips auf mich wartete, vor sich einen Stapel Papier, auf dem Gesicht ein aufgesprühtes Lächeln.
Miss Lehman, sagte der Schlipsträger. Er erweiterte meinen Namen um acht zusätzliche Konsonanten. Den Snobs reicht es nicht, dass sie alles Glück und alles Geld haben, sie horten auch noch alle Konsonanten. Danke, dass Sie so kurzfristig gekommen sind.
Ich sagte ihm, dass man mich wie die Zitrone aussprach, Lemon, und außerdem hätte ich wohl keine andere Wahl gehabt, Sir.
Oh, nennen Sie mich Ollie, sagte der Schlipsträger und zog die Mundwinkel hoch, ohne mit den Augen zu lächeln. Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie hier sind. Ich war darauf gefasst, gefeuert zu werden, sagte es aber nicht.
Wir sind alle sehr beeindruckt von Ihrer, ähm, freiberuflichen Tätigkeit, sagte er. Sehr innovativ, wirklich. Unser Unternehmen hat sich auf leichte fröhliche Inhalte spezialisiert. Das Sad-Pocket-Format unterwandert dieses Prinzip. Es schafft eine Beziehung. Es ist ein völlig anderes Produkt, eins, von dem wir gar nicht wussten, dass es uns interessieren könnte.
Wir bieten einen verfolgbaren digitalen Dienst für Gefühlsansteckung, aber offenbar ist tragische Katharsis ebenso ansteckend wie komische Erleichterung. Unsere wichtigsten Projektpartner sehen das genauso. Das Ministerium für Arbeit und Versorgung interessiert sich für Sie.
Ich nickte und starrte auf einen Punkt knapp oberhalb seines rechten Ohrs. Den Trick habe ich in der Schule gelernt. Er garantiert, dass sich jemand leicht unwohl fühlt, ohne genau zu wissen, warum.
Der Schlipsträger rutschte auf seinem Stuhl hin und her und räusperte sich.
Also, jedenfalls, äh, es geht um Folgendes. Wir wollen Sad Pocket in unsere Marke integrieren. Sie als Besitzerin erhalten natürlich Boni. Eine Gewinnbeteiligung, vielleicht sogar einen kleinen Vorschuss. Selbstverständlich brauchen wir die exklusiven Rechte für den Markennamen Sad Pocket und das Verfügungsrecht. Hier vor Ort.
Ich fragte ihn, ob er meine Katze ernsthaft requirieren wolle.
Umsiedeln, korrigierte er und grinste mich an, als wäre ich ein leckerer kleiner Snack. Die Katze erhielte eine vorzügliche Betreuung. Wirklich, das ist nur vernünftig. Das Tierchen ist wertvolles geistiges Eigentum. Sie wissen das ja bestimmt, als Besitzerin.
Ich erklärte ihm, dass ich nicht die Besitzerin sei, sondern Pocket nur füttere, bis die Besitzerin zurückkomme, und außerdem gehe es uns bei mir zu Hause ganz gut, danke schön.
Ah, sagte der Schlipsträger. Nun, ich sage Ihnen das wirklich nicht gerne, aber es gibt da ein paar juristische Details zu bedenken.
Der Schlipsträger ließ sich von einem ebenfalls Schlips tragenden Lakaien ein Blatt Papier geben und erklärte mir, ich hätte keine Wahl. Urheberrechtsverletzung blablabla. Blablabla ungenehmigte freiberufliche Tätigkeit. Die beiden lächelten unentwegt. Sie boten mir Kaffee an. Ich lehnte dankend ab.
Am nächsten Tag kreuzten drei Kerle in Security-Jacken bei mir zu Hause auf und nahmen Pocket mit.
Ich durfte sie nicht besuchen. Nicht, dass ich gewusst hätte, was ich mit ihr hätte anstellen sollen. Ich meine, sollten wir den neuesten Tratsch austauschen? Ich weiß auch nicht. Ich nahm mir eine Zeit lang frei, und in der Firma fanden das offenbar alle in Ordnung. Ich hatte jede Menge Urlaub angespart. Meine freien Tage verbrachte ich auf dem Sofa. Ich sah mir Clips an und fand Pocket innerhalb von weniger als zehn Sekunden, aber das machte mich einfach nur traurig. Deshalb sah ich mir wie die meisten Leute lieber die Welpen an. Und den frechen Foxterrier. Und den Plumplori, der breit grinste, wenn man ihn kitzelte. In Wahrheit ist das für diese schrägen Dschungelviecher eine Form der Folter. Mit dem herrlich menschlichen Lächeln drücken sie ihre Todesangst aus. Aber wen juckt’s? Ist doch total süß.
Ich lag also auf dem Sofa, sah mir die Videos an und schmorte im Schweiß meiner Schlabberhosen vor mich hin.
Alles wäre wunderbar gewesen, wenn durch die Wand aus der Nachbarwohnung nicht wieder dieses Geheul gekommen wäre.
Ich setzte mir Kopfhörer auf. Es half nichts.
Ich hämmerte gegen die Gipskartonwand, damit ich ungestört weiter in meinem Drecksaft schmoren konnte. Keine Antwort.
Schließlich zog ich mir Schuhe an, ging nach nebenan und klingelte etwa eine Stunde lang Sturm, bis White Boy Dreadlocks und die Kleine aus Almost Famous endlich aufmachten.
Ich sagte kein Wort. Ich stürmte an ihnen vorbei ins Wohnzimmer, wo ich mit offenem Mund stehen blieb. Besichtigte das Chaos aus sabbernden, winselnden, scheißenden Viechern und musste lachen.
Denn da waren elf halb ausgewachsene englische Bulldoggen und nahmen das Zimmer auseinander. Ich wusste genau, wo sie herkamen.
Dreadlocks nieste im Hintergrund – wahrscheinlich eine Allergie –, und die Karen-Carpenter-Billigversion zupfte an meinem Ärmel.
Sie sind nicht mehr lange da, Miss, sagte sie. Bitte sagen Sie es niemandem. Und dann jammerte sie ordentlich herum, was genau, weiß ich nicht mehr.
Einer der Hunde bestieg einen anderen, und sie begannen japsend zu poppen. Die Hippietussi schauderte und entschuldigte sich gleich wieder. Da kam mir eine echt interessante Idee.
Nein, sagte ich. Das ist toll. Ich glaube sogar, wir können uns einigen.
Schritte in der Eingangshalle, fast geräuschlos. Ich höre sie nur, weil ich schon darauf warte. Dann ein leises Klopfen an der Tür. Er ist hier.
Ich lasse ihn schnell rein. Er schiebt sich zwei schmuddelige Dreadlocks hinters Ohr, während er sich im Monitorraum umsieht.
Ach du Scheiße, sagt er. Das ist ja noch abgefahrener, als du gesagt hast.
Ich frage ihn, ob er hat, was er braucht, und er sagt ja, alles. Er trägt sogar dünne schwarze Handschuhe, in seinem Kopf scheint eine Art James-Bond-Film abzulaufen.
Ich sage ihm dasselbe wie in seiner Wohnung, als wir den Plan ausgeheckt haben, nämlich, dass er in einer halben Stunde wieder draußen sein muss. Dass ich die Übertragung nur so lange unterbrechen kann und danach der Alarm losgeht.
Mein Nachbar, der jetzt möchte, dass ich ihn Charlie nenne, setzt ein albernes Grinsen auf, für das ich ihm am liebsten eine kleben würde. Du bist echt cool, sagt er. Danke.
Ich nicke. Dann bindet er mich wie vereinbart mit Klebeband am Stuhl fest. Er räuspert sich, als er sich an meinen Füßen zu schaffen macht, und ich weiß, dass ihm ein schweinischer Witz auf der Zunge liegt. Er öffnet den Mund.
Ich sehe ihn streng an.
Er schließt den Mund.
Pocket ist in einem Raum im zweiten Stock. Ich weiß nicht, in welchem, weil sie es mir nicht gesagt haben. Mein Nachbar wird alle Türen öffnen müssen, bis er sie gefunden hat. Er hat eine halbe Stunde, in der er reingehen und mit Pocket und möglichst vielen Tieren wieder rauskommen muss, mit möglichst viel Tamtam, damit man ihn auch bemerkt, was immer er sich davon verspricht.
Und jetzt, sage ich zu Charlie, schlag mir ins Gesicht. Damit es authentisch aussieht.
Das will er nicht, also trage ich ihm auf, meinen Stuhl umzuwerfen. So bekomme ich einen Schlag auf den Kopf, der beweisen wird, dass man mir Gewalt angetan hat.
Charlie kippt den Bürostuhl sehr, sehr sanft um und legt ihn samt mir auf die Seite.
Viel Glück, Süße, sagt er und zieht mir vorsichtig den Ausweis über den Kopf. Dann ist er weg.
Meine Wange wird gegen den Teppich gedrückt, sie juckt und brennt. Mein Gewicht lastet auf dem Genick und auf der Schulter, aber ich kann mich noch bewegen, weil dieser idiotische Pastafari nicht einmal in der Lage ist, jemanden anständig zu fesseln. Ich kann ihn jetzt sehen, auf dem zweiten Bildschirm ganz oben. Er ist bei den Bulldoggen.
Als er den Raum betritt, fangen die Welpen sofort an zu kläffen und wuseln ihm über die Füße, aber er nimmt sie nicht hoch. Stattdessen holt er eine Sprühdose heraus und schreibt eine riesige windschiefe Nachricht an die Wand.
Er braucht drei wertvolle Minuten, um K-O-NZ-E-R-N-M-A-N-I-P-U-L-A-T-I-O-N an die Wand zu klecksen, und dann ist er im nächsten Raum und setzt seine Graffiti-Protestaktion fort.
Genau wegen solchem Gedöns lasse ich die Finger von der Politik.
Ich reckte den Hals, um einen Blick auf die Statistik zu erhaschen. Die Live-Streams laufen heiß.
Dann fällt mein Blick auf den Bildschirm in der Ecke. Den mit dem roten Blinklicht.
Das Set für Sad Pocket ist ein Meisterstück. Im Raum wimmelt es von halb verzehrten Mahlzeiten, leeren Pizzaschachteln und Bewerbungen, Relikten der Verzweiflung. Sechzehn Katzen liegen nur so auf dem Sofa herum und starren in die Glotze. Die meisten stehen unter Drogen.