Читать книгу Dreizehn Tage im September - Lawrence Wright - Страница 10

Prolog

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In einer rustikalen Lodge am Ufer des Jackson Lake im Grand Teton Nationalpark unterbrach Jimmy Carter an einem späten Abend seinen Urlaub, um ein für ihn von der Central Intelligence Agency zusammengestelltes dickes Dossier zu öffnen. Er hatte einen letzten herrlichen Tag, den 29. August 1978, mit Fliegenfischen im Snake River und Ausreiten durch den Park verbracht, hatte dann mit seiner Tochter Amy Blaubeeren gepflückt, die in den Kuchen zum Nachtisch wanderten. Es war eine kurze Flucht vor der Hektik Washingtons und seiner schwachen und unbeliebten Präsidentschaft. Das Dossier enthielt psychologische Profile von zwei Regierungschefs, Anwar al-Sadat, dem Präsidenten von Ägypten, und Menachem Begin, dem Premierminister von Israel, die in ein paar Tagen mit dem wenig wahrscheinlichen Ziel in die Vereinigten Staaten kommen würden, Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Die Art, in der Carter auf diese beiden Regierungschefs eingehen würde – und sie aufeinander –, würde über Erfolg oder Scheitern dieses historischen Wagnisses entscheiden.

Der Mann, der das Dossier las, hatte die Präsidentschaft mit wenig Erfahrung in der Außenpolitik begonnen. Er war im ländlichen Süden aufgewachsen und hatte nur eine einzige Amtszeit als Gouverneur von Georgia absolviert. Er war nie einem Araber begegnet, bis er bei einem Stockcar-Rennen in Daytona neben einem saß. Der einzige Jude, den er als Kind gekannt hatte, war Louis Braunstein, ein Versicherungsvertreter in Chattanooga, der Carters Tante geheiratet hatte. Onkel Louis liebte professionelles Wrestling und konnte einen Klimmzug mit einem Arm machen – ein Kraftakt, der den jungen Carter begeisterte. Es gab ein paar jüdische Kaufleute in Americus, Georgia, nicht weit von Carters Heimatstadt Plains, und Carter hielt sie immer für „erhaben“1, was auch an seinen Bibelstudien lag, die ihn davon unterrichteten, dass Gott die Juden über alle anderen erhoben hatte. Erst als er Gouverneur wurde und nach Atlanta zog, wurde Carter mit dem versteckten, aber tief verwurzelten Antisemitismus des urbanen Südens vertraut, der Juden aus Country Clubs und Regierungsgremien ausschloss.

Während seiner Amtszeit als Gouverneur unternahm Carter mit seiner Frau Rosalynn 1973 eine Pilgerreise ins Heilige Land. Premierministerin Golda Meir stellte ihnen einen alten Mercedes-Kombi mit Fahrer zu Verfügung und sie fuhren durch das winzige Land – nicht mal ein Achtel so groß wie der Staat Georgia. Rosalynn weinte über die Kommerzialisierung der heiligen Stätten2, aber Jimmy versicherte ihr, es sei genauso gewesen, als Jesus die Tische der Geldwechsler im Tempel umwarf. Sie überquerten die Grenze ins besetzte Westjordanland, wo sie eine spezielle Genehmigung bekamen, sich im Jordan zu waschen, in dem Jesus getauft worden war. Der Fluss war nicht viel breiter als ein Bach im Süden Georgias, doch er fand Widerhall in Carters Vorstellung. Er hatte die Bibel seit seiner Kindheit studiert3, und die Geografie des historischen Palästina war ihm vertrauter als die eines Großteils der Vereinigten Staaten. Im Geiste konnte er die Reise Abrahams von der mesopotamischen Stadt Ur bis in das dürre und felsige Kanaan nachvollziehen, 2000 Jahre vor Christi Geburt. Auf denselben Straßen zu gehen, auf denen Jesus gegangen war, an den geheiligten Stätten zu stehen und im Jordan zu waten, erfüllte Carter mit Ehrfurcht und einer erwachenden Zielstrebigkeit.

Wenige Menschen wussten, dass er heimlich plante, für die Präsidentschaft zu kandidieren – in der Tat hatte kaum jemand außerhalb von Georgia je von ihm gehört –, doch sich mit Israel und dessen Problemen vertraut zu machen, war unerlässlich für jeden aufstrebenden nationalen Politiker. Carter besuchte etliche jüdische Siedlungen in den Gebieten, die seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 durch Israel besetzt waren. Den Israelis war immer noch schwindlig vor Begeisterung nach dem Blitzsieg über vier arabische Armeen, der ihnen die Kontrolle über die Golanhöhen von Syrien, die gesamte Sinai-Halbinsel von Ägypten, den Gazastreifen, das Westufer des Jordans sowie den Hauptpreis eingebracht hatte – die Altstadt von Jerusalem. Die Resolution 242 der Vereinten Nationen, angenommen nach Ende des Krieges, enthielt Richtlinien zur Beendigung des Konflikts, einschließlich der Beendigung jeder Geltendmachung des Kriegszustands, Anerkennung der Souveränität der Staaten in der Region und Achtung vor dem Recht der Anwohner, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen ohne Androhungen von Gewalt in Frieden zu leben. Sie verpflichtete Israel ebenfalls zum Rückzug aus den Gebieten, die während des Krieges besetzt worden waren, doch die Regierungsführer hatten es nicht eilig damit, die 11.200 Hektar besetzter Gebiete aufzugeben, durch die sich die Größe des Landes verdreifacht hatte. Die Frage, was mit den anderthalb Millionen Arabern geschehen sollte, die in diesen Gebieten lebten, wurde kaum angesprochen, obwohl sie eine potenziell verhängnisvolle demografische Bedrohung des jüdischen Staates darstellten, der zu jener Zeit 2,285 Millionen Juden umfasste, dazu 100.000 Christen und 290.000 arabische Muslime, die nicht geflohen waren4.

Menachem Begin, damals Vorsitzender einer Minderheitskoalition namens Likud, gehörte zu jenen, die sich am schärfsten für die Notwendigkeit einsetzten, an den Kriegsgewinnen festzuhalten, vor allem an der West Bank, für die er stets deren biblische Namen Judäa und Samaria benutzte. Zu Begins Ideologie gehörte ein stark vergrößertes Israel; er erkannte nicht einmal die Existenz des Königreichs Jordanien an, das seiner Meinung nach erobert werden und in einer ausschließlich jüdischen Nation5 aufgehen sollte – ein Traum, den er nie vollkommen aufgab. Viele Israelis hielten ihn für einen Spinner, einen Faschisten6 oder auch nur für eine peinliche Erinnerung an den terroristischen Untergrund, der die Legende des glorreichen Kampfs um die Unabhängigkeit des Landes befleckte. „Begin ist ein eindeutig hitlerischer Typ“, schrieb David Ben-Gurion, der verehrte Gründer und erste Premierminister Israels, über seinen lebenslangen politischen Gegner. „Er ist ein Rassist, der bereit ist, alle Araber umzubringen, um die Kontrolle über ganz Israel zu erlangen.“7 Prominente amerikanische Juden wie Hannah Arendt und Albert Einstein verurteilten Begins Karriere als Terroristenanführer. „Lehrer [wurden] geschlagen, weil sie sich gegen diese Terroristen ausgesprochen haben, Erwachsene [wurden] erschossen, weil sie verhinderten, dass sich ihre Kinder jenen anschlossen“, schrieben sie 1948 an die New York Times, als Begin seinen ersten Besuch in den Vereinigten Staaten machte. „Mit Gangstermethoden, Schlägen, Fenstereinschlagen und weitverbreitetem Diebstahl schüchterten diese Terroristen die Bevölkerung ein und verlangten einen hohen Tribut.“8

Als Gouverneur Carter das Heilige Land besuchte und Begin sich noch an den Randzonen der israelischen Politik befand, hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass diese beiden Außenseiter nur vier Jahre später die Geschicke ihrer jeweiligen Länder lenken würden.

Das Israel, das Carter damals erlebte, war hoffnungsvoll, blühend und erstaunlich selbstzufrieden. Die einzigen Männer in Uniform waren Verkehrspolizisten. Araber von der West Bank reisten frei nach Israel ein9, und das hohe Aufkommen jüdischer Touristen, zusammen mit großzügigen Investitionen, hatten den Lebensstandard der Palästinenser weit über das gehoben, was sie unter jordanischer Herrschaft hatten erdulden müssen. Allerdings gab es einige beunruhigende Anzeichen. Carter schätzte, dass es zu der Zeit etwa 1500 jüdische Siedler10 auf der West Bank und im Gazastreifen gab, doch er konnte bereits erkennen, dass sie eine erhebliche Bedrohung für den Frieden darstellten. Zusammen mit Rosalynn besucht er einen Gottesdienst in einer Synagoge am See Genezareth und war schockiert, dass außer ihnen nur zwei weitere Menschen teilnahmen. Als sie den Kombi an Golda Meir zurückgaben, fragte diese, ob Carter irgendwelche Anliegen habe. Er wusste, dass Meir, wie all ihre Vorgänger an der Regierungsspitze, eine säkulare Jüdin war, daher zögerte er, bevor er seine Erfahrung in der Synagoge und das allgemeine Desinteresse an Religion erwähnte, das er im Land vorgefunden hatte. Er wies darauf hin, dass die Juden in der Bibel, wann immer sie sich von Gott abwandten, politische und militärische Verluste erlitten hätten. Meir lachte ihm ins Gesicht. Der Gouverneur von Georgia! Doch im selben Herbst schickte Anwar al-Sadat die ägyptische Armee über den Suezkanal, überraschte die Israelis und weckte das Land aus seinem Traum der Unverwundbarkeit. Meir wurde im folgenden Frühjahr zum Rücktritt gezwungen. Die nach Georgia zurückgekehrten Carters fühlten sich verpflichtet, Israel auf jede nur denkbare Weise zu unterstützen. Der Gouverneur begann Meir als „eine alte Freundin“11 zu bezeichnen, obwohl sie sich nur dieses eine Mal getroffen hatten.

Schon bald nach seinem Einzug ins Weiße Haus richtete Carter seine Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten. Walter Mondale, sein Vizepräsident, wunderte sich darüber, dass Carter an seinem ersten Tag im Amt verkündete, Frieden im Nahen Osten sei von oberster Priorität12. Das erschien äußerst naiv. Ein amerikanischer Präsident nach dem anderen hatte dieses Problem in Angriff genommen, unter großen politischen Kosten und mit wenig vorzeigbaren Ergebnissen. Der ehemalige Außenminister Henry Kissinger, der unter den Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford Jahre mit dem Versuch verbracht hatte, die explosiven Temperamente im Nahen Osten zu besänftigen, warnte Carter, kein amerikanischer Präsident solle sich auf Verhandlungen einlassen, deren Ergebnis zweifelhaft sei13. Carters engste Berater rieten ihm, bis zu seiner zweiten Amtszeit zu warten, bevor er etwas von seinem brüchigen politischen Kapital riskierte14. Während seiner ersten Monate im Amt hatte Carters Beliebtheitsgrad in der amerikanischen Öffentlichkeit 75 Prozent erreicht, war aber seitdem ständig gefallen. Doch für Carter war dies keine ausschließlich politische Entscheidung. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass Gott von ihm forderte, Frieden zu bringen und er irgendwie einen Weg finden müsse, das zu tun.

Das gefährliche politische Kalkül dieses Unterfangens wurde ihm unverblümt in einem Memorandum dargelegt, geschrieben von seinem ehemaligen Wahlkampfleiter Hamilton Jordan, das so heikel war, dass er es selbst tippte und die einzige Kopie in seinem Bürosafe im Weißen Haus verschloss15. Juden stellten eine übergroße Präsenz im politischen Leben Amerikas dar, erklärte Jordan. „Starke Unterstützung der Demokratischen Partei und ihrer Kandidaten lag in der Einwanderertradition der zweiten und dritten Generation amerikanischer Juden begründet und wurde durch die Politik von Wilson und Roosevelt bestärkt“, schrieb er. „Harry Trumans Rolle bei der Gründung Israels festigte diese Identifikation mit der Partei.“16 Obwohl Juden nur 3 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachten, gäben sie fast 5 Prozent der Stimmen ab, bei einer Beteiligung von bis zu 90 Prozent bei den meisten Wahlen. Im Staat New York, zum Beispiel, sei der Prozentanteil von Juden und Schwarzen in der Bevölkerung fast gleich, doch bei der Wahl, die Carter ins Weiße Haus brachte, hätten nur 35 Prozent der schwarzen Bevölkerung von New York ihre Stimme abgegeben, im Vergleich zu 85 Prozent der Juden. „Sie erhielten 94 Prozent der schwarzen Stimmen und 75 Prozent der jüdischen“, schrieb Jordan. „Das bedeutet, dass Sie für jede schwarze Stimme, die Sie bei der Wahl erhielten, fast zwei jüdische Stimmen bekamen.“ Mehr als 60 Prozent der Großspender für die Demokratische Partei seien Juden, darauf wies Jordan hin. Juden unterhielten eine „starke, aber paranoide Lobby“ – das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) –, welche die Einstellungen und Ziele der Regierung Israels widerspiegele und eine verlässliche Mehrheit der Stimmen im US-Senat kontrolliere. Carter sei ein Südstaatler mit unbekanntem Hintergrund, zumindest für die jüdischen Führer. Er habe öffentliche Stellungnahmen abgegeben – über sichere und anerkannte Grenzen für Israel, die Notwendigkeit eines palästinensischen ‚Homeland‘ –, wie sie normalerweise nur hinter verschlossenen Türen vermittelt wurden, was ihn, Jordan, zu der Sorge veranlasse, dass sich die Juden bereits darauf einstellten, Carter Widerstand zu leisten: „Sie sind sicherlich vertraut mit Kissingers Erfahrung aus dem Frühjahr 1975, als die jüdische Lobby einen Brief in Umlauf brachte, unterzeichnet von 76 Senatoren, welche die amerikanische Unterstützung Israels auf eine Weise bekräftigten, mit der die Ford-Kissinger-Hoffnung auf eine neue und umfassende amerikanische Friedensinitiative vollkommen untergraben wurde.“ Der Tenor des Memorandums war, dass Carter sich die jüdische Gemeinde zu einem gefährlichen Feind machen würde, sollte er Druck auf Israel ausüben, was er aber tun müsse, wenn er hoffte, ein Friedensabkommen zu erreichen. Jordan, sein oberster politischer Berater, teilte ihm mit, dies sei eine Situation, in der Erfolg unmöglich sei. Es war ein Paradox: Nichts konnte ein größeres Geschenk für Israel sein als Frieden, und nichts war politisch gefährlicher für einen amerikanischen Politiker als der Versuch, diesen Frieden zu erreichen.

Carters unmittelbares Ziel war, die Gespräche der Genfer Nahostkonferenz wieder in Gang zu bringen. Die Genfer Nahostkonferenz hatte 1973 einmal getagt, unter Vorsitz des UN-Generalsekretärs. Beisitzer waren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion; sie endete mit einer Vertagung und verschwand im Ödland guter Absichten. In seinem ersten Amtsjahr bemühte sich Carter um Treffen mit den bedeutendsten arabischen Regierungschefs – ein entmutigendes Ritual, begleitet von überhitzter Rhetorik und unerfüllbaren Forderungen. Und dann kam Anwar al-Sadat ins Weiße Haus. Carter war sofort von ihm angetan. Im Vergleich zu den anderen arabischen Regierungschefs war Sadat ein „strahlendes Licht“, jemand, der „stark zur Beherztheit tendierte“17. Endlich, glaubte Carter, habe er einen Partner für den Frieden gefunden. Der Präsident neigte dazu, persönliche Verbindungen zu überhöhen, vielleicht, um zu kaschieren, dass er selbst eine höchst beherrschte und distanzierte Persönlichkeit war, die nur wenige Menschen nahe an sich heranließ. Trotzdem sahen Carters Berater, dass er und Sadat wirklich voneinander eingenommen waren. Kurz nach diesem ersten Treffen begann Carter von dem gläubigen ägyptischen Autokraten als seinem „teuersten Freund“18 zu sprechen – eine Bezeichnung, die von Regierungschefs nur selten verwendet wurde.

Carter traf sich ebenfalls mit dem israelischen Premierminister Jitzchak Rabin, den er als streitsüchtig und in puncto Friedensaussichten pessimistisch empfand. „Es war, als würde man mit einem toten Fisch reden“, erinnerte er sich19. Kurz darauf verlor Rabin sein Amt wegen eines Finanzskandals, und die Wahl Menachem Begins wurde zum größten Überraschungserfolg der israelischen Geschichte.

Carter wusste wenig über den neuen israelischen Premierminister; auch die CIA hatte wenig zu bieten. Mit zunehmender Besorgnis hatte Carter Begins Auftritt in einer amerikanischen Nachrichtensendung verfolgt, bei der dieser die UN-Resolution 242, die Grundlage aller Friedensverhandlungen des letzten Jahrzehnts, ablehnte. Jedes Mal, wenn ein Fragesteller sich auf die Gebiete bezog, die Israel im Sechs-Tage-Krieg besetzt hatte, korrigierte Begin ihn hartnäckig damit, die Gebiete seien nicht „besetzt“, sondern „befreit“ worden. Er sagte, er habe vor, auf der West Bank eine jüdische Mehrheit zu schaffen. Als er gefragt wurde, ob sein Standpunkt ihn nicht in direkten Konflikt mit Carters wohlbekannter Einstellung zu einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts bringen würde, antwortete Begin: „Präsident Carter kennt die Bibel auswendig, daher weiß er, wem dieses Land rechtmäßig gehört.“20

Die Profile, die Carter in Wyoming studierte, stammten von einem Treffen mit der CIA vor ein paar Wochen21. Er hatte die Analysten gebeten, eine Anzahl von Fragen zu Begin und Sadat zu beantworten:

Was hat sie zu Führern gemacht? Was lag ihren Ambitionen zugrunde?

Was waren ihre Ziele?

Welche früheren Ereignisse hatten ihre Charaktere geformt?

Wie stand es mit ihrer Religiosität? War sie aufrichtig?

Wer war wichtig für sie? Wie sahen ihre familiären Beziehungen aus?

Wie stand es um ihre Gesundheit?

Welche Versprechen hatten sie gemacht, und welche Verpflichtungen waren sie eingegangen?

Wie reagierten sie unter Druck?

Was waren ihre Stärken und ihre Schwächen?

Wie war ihre Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten und Carter persönlich?

Was hielten sie voneinander?

Wem vertrauten sie, vor allem innerhalb ihrer Delegationen?

Die daraus entstandenen Profile22 von Begin und Sadat ergaben äußerst gegenteilige Porträts. Sadat war ein Visionär – kühn, rücksichtslos und bereit, flexibel zu sein, solange er glaubte, seine Gesamtziele zu erreichen. Er betrachte sich als einen großen strategischen Denker, der wie ein Komet im Himmel der Geschichte loderte. Der CIA fiel seine Vorliebe für öffentliche Aufmerksamkeit auf, was sie als „Barbara-Walters-Syndrom“23 bezeichnet hatte, nach einer berühmten Fernsehpersönlichkeit; doch als das Profil für Carter erstellt wurde, war diese Klassifizierung zu Sadats „Nobelpreis-Komplex“ angehoben worden. Begin war hingegen verschlossen, legalistisch und misstrauisch gegenüber radikaler Veränderung. Geschichte war für Begin eine Pandorabüchse voller Tragödien, die man nicht ohne Reue öffnen sollte. Unter Druck gesetzt, tendierte Sadat zum Allgemeingültigen, während Begin sich an Details klammerte. Zusammenstöße und Missverständnisse würden sich nicht vermeiden lassen. Unter den Analysten, die das Dossier zusammengestellt hatten, herrschte einiger Zweifel, ob man zwei so gegensätzliche Persönlichkeiten je in einem Raum zusammenkommen lassen sollte. Die beiden Regierungschefs glichen sich auf aussichtslose Weise. Beide Männer hatten Blut an den Händen. Sie hatten beide längere Zeit im Gefängnis verbracht24 und mussten untertauchen, und sie waren versierte Verschwörer. Sie gehörten nicht zu der Art von Männern, die Carter bisher gekannt hatte.

Carter glaubte jedoch, er verstehe Sadat instinktiv, obwohl sie aus höchst unterschiedlichen Kulturen stammten. Ein Teil ihrer Verbindung resultierte daraus, dass sie beide Bauern gewesen waren. Als Junge hatte Carter hinter einem Maultier den roten Lehm Südwest-Georgias gepflügt, hatte die feuchte Kühle der frisch aufgeworfenen Erde zwischen seinen Zehen gespürt. Ihm war der Gedanke gekommen, dass Jesus und Moses sich während des ersten Teils des 20. Jahrhunderts auf einer Farm im tiefen Süden zu Haus gefühlt hätten25. Auf der anderen Seite des Globus, jedoch auf demselben Breitengrad wie Plains, Georgia, gab es in Ägypten ein Lehmhüttendorf namens Mit Abul-Kum, in dem Sadat seine frühe Jugend verbrachte. Zur Bewässerung ihrer Felder im schwarzen Schwemmland des Nildeltas benutzten die Bauern die archimedische Schraube, die der griechische Gelehrte angeblich erfand, als er im 3. Jahrhundert v. Chr. Ägypten bereiste. In den Grabmälern der Pharaonen waren gemalte Szenen des Dorflebens zu sehen, wie es sich 3000 Jahre später immer noch abspielte.

Unveränderlichkeit ist ein wesentliches Merkmal solch ländlicher Kindheit – ein Gefühl von Geborgenheit, gleichzeitig beschützt und gefangen. Und doch spürte Sadat bereits als Kind, als dunkelhäutiger Bauer aus einem kleinen Dorf im Nildelta, welche einmalige Rolle ihm in der ägyptischen Gesellschaft zufallen würde. Als er einmal mit anderen Kindern an einem Entwässerungskanal spielte, sprangen diese ins Wasser und Anwar sprang hinterher. Erst da fiel ihm ein, dass er nicht schwimmen konnte. Er dachte: „Wenn ich ertrinke, wird Ägypten Anwar Sadat verloren haben!“26

Obwohl er selten über seine Rassenzugehörigkeit sprach, war Sadat nur zwei Generationen von der Sklaverei entfernt – sein Großvater mütterlicherseits, ein Afrikaner namens Kheirallah, war als Sklave nach Ägypten gebracht und erst befreit worden, als die britischen Besatzer darauf drängten, den Sklavenhandel abzuschaffen. Kheirallahs Tochter, Sitt el-Barrein (Frau von zwei Ufern), war ebenfalls eine schwarze Afrikanerin. Sie wurde als Frau für Mohammed el-Sadaty ausgewählt27, Dolmetscher eines britischen Sanitätstrupps. Sie trug traditionelle schwarze Kleidung, lange Ärmel und einen Rock, der bis auf den Boden reichte. Sie war Mohammeds sechste Frau; die ersten fünf gebaren ihm keine Kinder, daher ließ er sich von einer nach der anderen scheiden. Sitt el-Barrein gebar ihm drei Söhne und eine Tochter. Anwar war ihr zweites Kind.

In der Sadaty-Familie sorgte die Mischung der Rassen für reichlich Spannung, wie auch in der gesamten ägyptischen Gesellschaft. Mohammed el-Sadatys Mutter, dem Brauch gemäß Umm Mohammed genannt (Mutter des Mohammed)28, war eine sehr herrische Persönlichkeit und hatte die Ehe mit Sitt el-Barrein arrangiert. Es ist ein wenig rätselhaft, warum sie diese Wahl traf, da Umm Mohammed türkischer Abstammung war, mit heller Haut, und ihre dunkelhäutige Schwiegertochter verachtete. Mohammed hatte die türkischen Gesichtszüge seiner Mutter geerbt; er besaß blaue Augen und blondes Haar. Im Islam ist es einem Mann gestattet, gleichzeitig vier Ehefrauen zu haben, und Mohammed sollte noch zweimal heiraten, als die Familie nach Kairo zog. Zusätzlich zu seinen drei Frauen und seiner Respekt einflößenden Mutter wuchs Mohammeds großer Haushalt schließlich auf 13 Kinder an. Sitt el-Barrein nahm wegen ihrer Abstammung den niedersten Rang ein. Sie war wenig mehr als ein Dienstmädchen und wurde gelegentlich in Anwesenheit ihrer Kinder von ihrem Mann geschlagen29. Sadat sprach nur selten von ihr.

Es war seine Großmutter, Umm Mohammed, die stärkste Persönlichkeit in der Familie, die den größten Eindruck auf Sadat machte. „Wie ich diese Frau liebte!“, erinnert er sich in seiner Autobiografie30. Sie konnte weder lesen noch schreiben, doch sie bestand darauf, dass ihre Kinder und Enkelkinder eine Ausbildung bekamen. Anwar verbrachte oft den Sommer in Umm Mohammeds Lehmhütte in Mit Abul-Kum, wo ihr Einfluss uneingeschränkt war. Von früher Jugend an sah er sich vom Schicksal ausersehen, seine Vorstellungskraft wurde befeuert durch die Geschichten, die seine Großmutter erzählte.

Am liebsten war ihm die Legende von Zahran, eine Märtyrerballade. Im Juni 1906, mehrere Jahre vor Anwars Geburt, war eine Gruppe britischer Offiziere zur Taubenjagd in das nahe gelegene Dorf Dinschawai gekommen. Dabei trafen sie mit ihren Geschossen auch Geflügel der Dorfbewohner, was diese in Wut versetzte. Totales Chaos brach aus. Einer der Soldaten verwundete versehentlich die Frau des örtlichen Imam. Die Dorfbewohner reagierten mit einem Steinhagel. Die Offiziere feuerten in die Menge und verwundeten fünf Menschen. Ein Getreidesilo fing Feuer, vermutlich durch einen Irrläufer. Zwei Offiziere eilten ins Camp zurück, um Hilfe zu holen, doch die anderen Mitglieder der Jagdgesellschaft ergaben sich den Dorfbewohnern. Einer der entkommenen Offiziere starb in der extremen Hitze an einem Sonnenstich, wobei er allerdings durch die Steinigung auch eine Gehirnerschütterung erlitten haben könnte. Zur Rettung angerückte britische Offiziere töteten einen alten Bauern, der dem Sterbenden helfen wollte, in der irrigen Annahme, der Mann hätte ihren Kameraden umgebracht. Die britischen Besatzer beschlossen, an Dinschawai ein Exempel zu statuieren. 52 Dorfbewohner wurden verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt. Die meisten Dorfbewohner wurden ausgepeitscht oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Vier wurden gehängt.

Dieser chaotische und tragische Vorfall markierte einen Wendepunkt der britischen Besatzung, schürte das Nationalgefühl der Ägypter und erregte selbst in Großbritannien Empörung. Dinschawai wurde zum Inbegriff für die unglückseligen Begleiterscheinungen des Imperialismus. Niemand verkörperte das Gesicht von Dinschawai mehr als der junge Mann namens Zahran, der als erster der Verurteilten gehängt wurde. Laut der von Sadats Großmutter vorgetragenen Ballade war Zahran der Sohn einer dunkelhäutigen Mutter und eines gemischtblütigen Vaters31 – genau wie Anwar. „Die Ballade handelt vom Mut und der Hartnäckigkeit Zahrans im Kampf … wie er mit hocherhobenem Haupt das Schafott bestieg, voll Stolz, dass er sich gegen die Aggressoren empört und einen von ihnen getötet hatte“, schreibt Sadat32. Er hörte diese Legende Nacht für Nacht, und sie verankerte sich tief in seinem Unterbewusstsein. „Oft sah ich Zahran sogar“, schreibt er, „und lebte seine Heldentaten im Traum mit; ich wünschte, Zahran zu sein.“

In Kairo begegnete Anwar zum ersten Mal den verhassten Besatzern. Er erinnert sich an „den hassenswerten Anblick des typisch britischen Polizisten, der auf seinem Motorrad Tag und Nacht wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt fuhr, mit seiner tomatenroten Gesichtsfarbe, grob, dick, mit hervorquellenden Augen und offenem Mund, wie ein Idiot mit einem Wasserkopf, auf dem ein roter Fez saß, der ihm bis zu den Ohren herunterrutschte. Jedermann fürchtete ihn – ich hasste diesen Mann“33.

Im Jahr 1931, als Anwar zwölf Jahre alt war, kam Gandhi auf dem Weg nach London zur Verhandlung über das Schicksal Indiens durch den Suezkanal. Das Schiff legte in Port Said an, woraufhin die ägyptischen Journalisten den asketischen Anführer bestürmten. Der Korrespondent von Al-Ahram staunte darüber, dass Gandhi nichts trug „als ein Stück Stoff im Wert von fünf Piastern, eine Drahtbrille im Wert von drei Piastern und die einfachsten Riemensandalen im Wert von höchsten zwei Piastern. Diese zehn Piaster an Kleidung haben Großbritannien eine Menge zu sagen.“34 Das Beispiel dieses armen, dunkelhäutigen Mannes, der das Empire auf den Kopf stellte, machte tiefen Eindruck auf den jungen Sadat. „Ich begann, ihn nachzuahmen“, schreibt er. „Ich zog meine Kleider aus, bedeckte mich von der Taille abwärts mit einem Schurz, machte mir selbst eine Wollspindel und zog mich in eine einsame Ecke auf dem Dach unseres Hauses in Kairo zurück. Dort blieb ich ein paar Tage, bis mein Vater mich überredete, meinen ‚gewaltlosen Widerstand‘ aufzugeben. Er argumentierte, dass das, was ich tat, weder mir noch Ägypten nützen würde. Im Gegenteil: ich würde sicherlich Lungenentzündung bekommen.“35 Sadats Besessenheit von bedeutenden Männern36 muss sicherlich komisch gewirkt haben, vor allem, als er Gandhi nachahmte, sich unter einen Baum setzte, vorgab, nichts essen zu wollen oder sich mit einem Lendenschurz bekleidete und eine Ziege hütete. Er sah sich bewusst nach den Eigenschaften von Größe um, probierte Merkmale und Ansichten aus. Nicht nur Gandhis Asketentum zog ihn an, sondern auch die autokratische Seite von Gandhis Natur, die Handeln dem Überlegen vorzog und sich nicht um Konsens bemühte.

Trotz Sadats Hass auf die Briten gelang es ihm dank der Hilfe eines britischen Arztes, mit dem Sadats Vater bekannt war, in die königliche Militärakademie aufgenommen zu werden. Das bewahrte ihn vor der Bedeutungslosigkeit, in die er hineingeboren war. Die Akademie war bis 1936, als die Briten der Vergrößerung der ägyptischen Armee zustimmten, ausschließlich der ägyptischen Aristokratie vorbehalten. Während dieser Zeit las Sadat Bücher über die türkische Revolution und empfand zunehmende Bewunderung für Kemal Atatürk, den Gründer der modernen Türkei. Sadat begann bereits, sich als transformatorische Gestalt zu betrachten, deren eiserner Wille seine Gesellschaft in ein neues Paradigma umformen würde. In dieser Weise waren er und Begin sich sehr ähnlich.

Paradoxerweise waren es dieselben Eigenschaften, die ihn zu Hitler hinzogen. „Ich war in unserem Dorf in den Sommerferien, als Hitler von München nach Berlin marschierte, um die Folgen der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg zu beseitigen und sein Land wiederaufzubauen“, erinnert sich Sadat. „Ich sammelte meine Freunde und sagte ihnen, wir müssten Hitlers Beispiel folgen und von Mit Abul-Kum nach Kairo marschieren. Damals war ich zwölf. Meine Freunde lachten und liefen davon.“37 Zwei Jahrzehnte später, nachdem Deutschland in Trümmern lag und sechs Millionen Menschen umgekommen waren, wurden Sadat und andere prominente Ägypter von einer Kairoer Zeitschrift gebeten, einen Brief an Hitler zu schreiben, als sei er noch am Leben. „Mein lieber Hitler“, schrieb Sadat, „ich bewundere Sie aus tiefstem Herzen. Auch wenn es so scheint, als wären Sie besiegt, sind Sie in Wirklichkeit der Sieger. Es ist Ihnen gelungen, Zwietracht zwischen dem alten Churchill und seinen Verbündeten zu säen, den Söhnen des Satans … Deutschland wird wiedergeboren werden, trotz der westlichen und östlichen Mächte … Sie haben einige Fehler gemacht … aber unser Glaube an Ihre Nation hat sie mehr als ausgeglichen. Es muss Sie mit Stolz erfüllen, für Deutschland ein unsterblicher Führer geworden zu sein. Es wird uns nicht überraschen, wenn Sie erneut in Deutschland auftauchen oder ein neuer Hitler sich erheben und Sie ersetzen wird.“38

Die Tatsache, dass Sadat ein Schwarzer war, könnte beschützende und brüderliche Gefühle in Carter wachgerufen haben. Als Jimmy vier Jahre alt war, zog seine Familie in den kleinen Weiler Archery, zwei Meilen westlich von Plains. Sie waren die einzigen Weißen in einer Gemeinde von 55 schwarzen Familien39. Die meisten von Jimmys Spielkameraden waren Söhne jener schwarzen Pachtbauern; ja, sogar sein Dialekt war in jener Zeit nicht von dem ihren zu unterscheiden. Jimmy und sein bester Freund Alonzo Davis bekamen manchmal Gelegenheit, mit dem Zug in die nahe gelegene Stadt Americus zu fahren, um zusammen einen Film anzuschauen, obwohl sie sowohl im Zug als auch im Kino getrennt in den Abteilungen für „Weiße“ und „Schwarze“ sitzen mussten. Damals nahm Carter solche Praktiken als natürliche Bestandteile einer Gesellschaft hin, in der die Weißen Besitzer und die Schwarzen Pächter waren.

Mit fünf Jahren begann Jimmy, Erdnüsse zu verkaufen, die er selbst gepflückt, gekocht, eingetütet und mit einem Leiterwagen in die Innenstadt von Plains transportiert hatte, wo er sie an kriegsversehrte Veteranen und Herumlungerer verkaufte, die vor dem Mietstall Dame spielten. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise war der Preis für Baumwolle 1932 auf fünf Cent pro halbem Kilo gesunken. Inzwischen hatte der nun acht Jahre alte Jimmy von seinen Erdnussverkäufen genügend gespart, um fünf Ballen für 25 Dollar das Stück zu kaufen. Als Baumwolle mehrere Jahre später wieder auf 18 Cent stieg, verkaufte er die Ballen und kaufte fünf Pächterhäuser, die er monatsweise vermietete, wodurch er bereits als Kind in die Hausbesitzerschicht aufstieg. Um diese Zeit öffneten einmal zwei seiner schwarzen Freunde ein Tor für ihn, traten beiseite und ließen Jimmy den Vortritt. Er dachte, sie spielten ihm einen Streich, doch diese symbolische Tat war Zeichen einer schwerwiegenden gesellschaftlichen Veränderung. „Der ständige Kampf um die Anführerschaft in unserer kleinen Gruppe war damit entschieden, aber das kostbare Gefühl der Gleichheit war aus unserer persönlichen Beziehung verschwunden“, schreibt Carter, „und danach war es zwischen ihnen und mir nie wieder dasselbe“40.

Religion war das Elixier, das sowohl Carter als auch Sadat im Übermaß genossen. Sadat war in seinem Dorf in die islamische Schule gegangen, wo er als Junge den Koran auswendig lernte. Später hatte er eine dunkle Schwiele auf der Stirn, die in endlosen Stunden der Gebetshaltung entstanden war. Das war lange, bevor eine solche äußerliche Zurschaustellung religiösen Eifers im kosmopolitischen Kairo in Mode kam. Er nannte sich selbst den „gläubigen Präsidenten“41. Obwohl Carter kein Aufhebens davon machte, sahen die Menschen in ihm dasselbe. Er hatte mit drei Jahren angefangen, die Bibel auswendig zu lernen und bekannte sich bei Erweckungstreffen offen zu seinem Glauben, als er elf war. Er wurde in der Plains Baptist Church getauft, in der Pastor Royall Callaway predigte, dass die Juden bald nach Palästina zurückkehren und damit die Wiederkunft von Christus sowie die Entrückung der wahren Christen in den Himmel herbeiführen würden – eine als Prämilleniarismus bekannte Doktrin42.

Wie bei Sadat hatte das Militär auch Carter eine Fluchtmöglichkeit geboten. Er hatte einen Onkel bei der Navy, den er vergötterte, und war während seiner ganzen Kindheit von dem Ziel besessen, in die Militär-Akademie in Anapolis, Maryland aufgenommen zu werden. Dazu war eine Aufnahmegenehmigung durch den Kongress erforderlich. Carters Vater wandte sich dazu immer wieder an ihren örtlichen Kongressabgeordneten, doch erst zwei Jahre nach Jimmys Highschool-Abschluss wurde die ersehnte Genehmigung erteilt. Carter begann als 18-jähriger Seekadett, Sonntagschulunterricht in Annapolis zu geben, etwas, was er sein Leben lang fortsetzte. Selbst auf U-Booten hielt er in der Enge zwischen den Torpedos Gottesdienste ab.

Wegen seines Südstaatenhintergrunds stellten seine Klassenkameraden in Annapolis Mutmaßungen über seine Einstellung zur Rassenfrage an. Doch als die Akademie schließlich mit Wesley Brown einen schwarzen Kadetten aufnahm, schirmte Carter ihn vor den Schikanen und der Bigotterie ab, die das Schicksal so vieler Bürgerrechtspioniere war. Carter wurde als „Niggerlover“ verschrien und, wie sich ein anderer Klassenkamerad erinnert, so behandelt, „als sei er ein Verräter“43.

Ab 1949 studierte Carter Atomphysik und Reaktortechnologie am Union College in Schenectady, New York. Admiral Hyman Rickover, bekannt als der „Vater der Atom-Marine“, hatte ihn zum Chief Officer auf der USS Seawolf ausgewählt, einem der beiden Prototypen der noch in der Entwicklung befindlichen Atom-U-Boote. Rickover war – wie Menachem Begin – polnischer Jude, bekannt ebenso für seine Ungeduld wie für seine Intelligenz. Beim Einstellungsgespräch ließ er Carter die Themen wählen, über die er sprechen wollte. Carter war ein unermüdlicher Autodidakt, aber bei jedem Thema, das er anschnitt – Tagesereignisse, Literatur, Elektronik, Geschützwesen, Flottentaktik, Navigation – stellte Rickover ihm immer schwierigere Fragen, die seine überlegene Kenntnis des jeweiligen Gegenstands bewiesen. Als Carter zum Beispiel über klassische Musik sprach, analysierte Rickover Nuancen bestimmter Stücke, von denen Carter behauptete, sie zu bewundern, wie den „Liebestod“ aus Wagners Tristan und Isolde. Während der gesamten Befragung blickte Rickover ihm direkt in die Augen, ohne zu lächeln. Sein Ziel war, zu sehen, wie ein Bewerber sich unter Druck verhielt. Am Ende war Carter schweißgebadet und fühlte sich gedemütigt.

Schließlich fragte Rickover ihn, wie er in seinem Jahrgang auf der Marine-Akademie abgeschnitten habe. „Sir, ich war der 59. in einem Jahrgang von 820!“, erwiderte Carter stolz44. „Haben Sie Ihr Bestes gegeben?“, fragte Rickover. Carter wollte schon zustimmend antworten, doch dann schluckte er und gab zu, nicht immer sein Bestes gegeben zu haben. Rickover blickte ihn lange an, drehte dann seinen Stuhl um und beendete das Gespräch. „Warum nicht?“, fragte er abschließend. Carter konnte nicht antworten. Er blieb einen Moment lang still sitzen, erschüttert von der Unverblümtheit der Frage und der kühlen Entlassung, dann stand er auf und verließ den Raum. „Er hat mir ständig Fragen gestellt, bis er bewiesen hatte, dass ich keine Ahnung von irgendwas hatte“, beschwerte Carter sich hinterher bei Rosalynn45. Ihr fiel auf, dass Carter noch Jahre später, als er Gouverneur war, jedes Mal in Schweiß ausbracht, wenn ihm gesagt wurde, Admiral Rickover sei am Apparat46.

Als einem von Rickovers Protegés stand Carter eine bedeutende Militärlaufbahn in Aussicht. Doch 1953 wurde bei Carters Vater Krebs diagnostiziert, und Jimmy kehrte nach Hause zurück, um sich zu verabschieden. Er war elf Jahre fort gewesen. Er war tief bewegt von der Prozession Hunderter Menschen, die Mr. Earl auf dem Totenbett die letzte Ehre erweisen wollten; so vielen davon hatte er über die Jahre mit seiner stillen Wohltätigkeit geholfen. Obwohl Carter einen sicheren Posten mit einer aussichtsreichen Zukunft hatte, kam es ihm vor, als könnte sein Leben niemals so bedeutsam werden, wie es ihm sein Vater in seiner kleinen Gemeinde vorgelebt hatte. Hinzu kam noch, dass kein anderer aus der Familie die Farm und das Unternehmen mit den Erdnusslagerhäusern übernehmen konnte, das sein Vater aufgebaut hatte. Jimmys jüngerer Bruder Billy war noch in der Highschool und die Erntesaison stand bevor. Während Carter über seiner Entscheidung grübelte, kam er zu dem Schluss: „Gott hat für mich nicht vorgesehen, mein Leben damit zu verbringen, an Vernichtungswaffen zur Tötung von Menschen zu arbeiten.“47 Er nahm seinen Abschied von der Marine und kehrte nach Plains zurück.

Südwest-Georgia war das Land des Ku-Klux-Klans, und Carter wurde mit seinen progressiven Ansichten zur Zielscheibe. Er war kein Aktivist, doch er war der einzige Weiße in Sumter County48, der sich weigerte, dem Weißen Bürgerrat beizutreten, der sich für die Rassentrennung einsetzte und die Südstaaten fest im Griff hatte. Sein Unternehmen wurde boykottiert. Als er 1966 zum ersten Mal als Gouverneur kandidierte, hoffte er, dass Georgia bereit sei, seine rassistische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er verlor die Wahl gegen Lester Maddox, der sich einen Ruf damit erworben hatte, schwarze Gäste mit einer Pistole und einem Axtgriff aus seinem Restaurant zu jagen. Carter war niedergeschlagen. „Ich konnte nicht glauben, dass Gott oder die Wähler Georgias es zulassen würden, dass mich diese Person schlug und Gouverneur unseres Staates wurde“, klagte er49. Seine Wahlniederlage gegen Maddox löste eine Krise in seinem Glauben aus, an dem er lebenslang festhielt. Seine Schwester Ruth Carter Stapleton, Autorin und Evangelistin, führte ein Gespräch mit ihm. Sie zitierte aus dem Jakobusbrief, der die Gläubigen anwies, sich an ihren Misserfolgen zu erfreuen, da sie zu Weisheit führen können. Carter war zu dem Zeitpunkt nicht bereit, auf ihren Rat zu hören, sagte aber später, es sei ein Wendepunkt gewesen – was er als sein Erlebnis der „Wiedergeburt“ bezeichnete. Er kandidierte erneut als Gouverneur, dieses Mal entschlossen, alles zu tun, um zu gewinnen.

Die Rassenfrage war immer noch das gefährlichste Thema in Georgia. Carter stellte sich im Wahlkampf von 1970 als Populist und Freund der Arbeiterklasse dar, womit er dieselbe Wählerschaft ansprach, die Maddox und andere Demagogen in Georgia umworben hatten. Gelegentlich ließ er durchblicken, dass er George Wallace, dem Gouverneur von Alabama, und anderen prominenten Segregationisten nahestand, borgte sich sogar Wallaces Slogan „Our Kind of Man“50 („Ein Mann nach unserem Geschmack“, Slogan auf einem Button für Wallaces Wiederwahl zum Gouverneur 1960, Anm. d. Übers.) als Augenzwinkern für die Rassisten in der Menge. Er ging sogar so weit, Lester Maddox zu unterstützen, der nicht selbst die Nachfolge antreten durfte und als stellvertretender Gouverneur kandidierte, und nannte ihn „die Verkörperung der Demokratischen Partei“. Es gab ein Foto von Carters Gegenkandidaten in der demokratischen Vorwahl, Carl Sanders, zusammen mit schwarzen Mitgliedern des Baseballteams Atlanta Hawks (das ihm teilweise gehörte), die ihm Champagner über den Kopf gossen. Reporter aus Atlanta behaupteten, Carters Wahlkampfhelfer hätten Flugblätter mit diesem Foto an weiße Friseurläden und Kirchen im ganzen Staat verschickt und sie sogar bei Ku-Klux-Klan-Treffen verteilt. Obwohl Carter nicht mit diesen Aktivitäten in Verbindung gebracht wurde51, da er ein Erdnussfarmer aus Süd-Georgia war, wurde bereits angenommen, er müsse Rassist und Plantagenbesitzer sein. „Ich bin kein Landbaron“, war Carter schließlich gezwungen, zu verkünden. „Ich habe keine Sklaven auf meiner Farm in Plains.“52

Einer von Carters hauptsächlichen Unterstützern war ein wohlhabender iranischer Jude aus Savannah namens David Rabhan. Er besaß ein wackliges Wirtschaftsimperium, das von Seewolf-Farmen bis zu Altersheimen reichte. Hoch gewachsen und muskulös, mit kahl rasiertem Kopf, gekleidet in den für ihn typischen blauen Overall und Turnschuhe, war Rabhan Schriftsteller, Bildhauer und Gourmet-Koch. Außerdem war er Pilot und flog Carter während des Wahlkampfs in einer zweimotorigen Chesna quer durch den Staat. Sie verbrachten so viel Zeit zusammen in der Luft, dass Carter lernte, die Maschine zu fliegen, während Rabhan ein Nickerchen machte.

Rabhan war ein Liberaler, vor allem in der Rassenfrage. Er hatte als Kind die Leiche eines Schwarzen gesehen, der von Weißen ermordet worden war, was sich ihm für immer eingeprägt hatte. Als Erwachsener pflegte er Freundschaften mit einigen der wichtigsten Persönlichkeiten in der einflussreichen schwarzen Gemeinde Atlantas. Er stellte Carter diesen Leuten unauffällig vor, zusammen mit schwarzen Predigern und Beerdigungsunternehmern im ganzen Staat. Diese Treffen wurden geheim gehalten, um Carters Chancen nicht zu zerstören. Eingeweihte schwarze Wähler konnten sich vorstellen, dass Carter ein heimlicher Progressiver sei, so wie weiße Rassisten annehmen konnten, er sei einer der Ihren.

An einem der letzten Tage des Wahlkampfs, als die beiden Männer von der Küste Georgias aus über den Bundesstaat flogen, übernahm Carter den Steuerknüppel, während Rabhan die Augen schloss. Sie flogen in 8000 Fuß Höhe, als beide Motoren zu stottern begannen und aussetzten. Carter geriet in Panik. Er versetzte Rabahn einen Rippenstoß, doch der Mann rührte sich nicht. Dann schlug er fester zu. „Was ist los?“, fragte Rabah53.

„Der Treibstoff ist uns ausgegangen!“ In dem Fall, sagte Rabahn, würden sie abstürzen. Rabhan ließ das erst einmal wirken, dann drehte er an einem Ventil und öffnete den Zusatztank. Hustend sprangen die Motoren wieder an.

Nur sehr wenige kommen damit durch, Jimmy Carter auf den Arm zu nehmen. Nachdem Carter sich beruhigt hatte, meinte er, Rabahn habe so viel für ihn getan. „Wir sind am Ende des Wahlkampfs“, sagte er. „Ich glaube, ich habe gute Chancen zu gewinnen. Gibt es irgendwas, das ich für Sie tun kann?“ – „Nein, ich brauche Ihre Hilfe als Gouverneur nicht“, erwiderte Rabahn. „Ich hätte nur gerne, dass Sie den Menschen von Georgia sagen, was Sie von dem Mühlstein des Rassismus halten, der so lange auf unserem Staat gelastet hat.“ Carter griff nach einer alten Flugkarte. Auf die Rückseite schrieb er: „Ich kenne diesen Staat so gut wie alle anderen. Ich sage Ihnen ganz offen, dass die Zeit für Rassendiskriminierung vorbei ist.“ Er reichte Rabhan die Karte. „Wenn ich die Wahl gewinne, werde ich in meiner Antrittsrede dieses Statement abgeben.“ – „Signieren Sie“, verlangte Rabhan.

Diese Deklaration aus dem Gouverneurssitz von Georgia am 12. Januar 1971 brachte Carter auf den Titel der Zeitschrift Time und säte den Samen für seine Präsidentschaftskandidatur.

Der amerikanische Secret Service hatte wenig Notiz genommen von Anwar al-Sadats früherer politischer Laufbahn. Damals überragte ihn der riesige Schatten Gamal Abdel Nassers, des charismatischen Architekten der ägyptischen Revolution. Als Nasser 1970 an einem Herzinfarkt starb, wurde Vizepräsident Sadat allgemein als Platzhalter betrachtet, bis der nächste starke Mann ihn beiseiteschieben würde. Stattdessen erwies er sich als ein Meister des Unerwarteten. Als Erstes verblüffte er Ägypten damit, Nassers korrupte Kumpane, welche die Schlüsselpositionen der Regierungsmacht innehatten, zu verhaften und ins Gefängnis zu werfen. Dann wies er 1972 15.000 sowjetische Soldaten und Militärberater aus Ägypten aus54. Bis zu diesem Zeitpunkt war Ägypten im Wesentlichen ein sowjetischer Militärstützpunkt, das vorrangige Standbein der Russen im Nahen Osten. In Washington, wo man vollkommen überrascht wurde, herrschte darüber ebenso viel Verwirrung wie Freude. Die Israelis waren überzeugt, dass die Ägypter ohne die Russen nicht in der Lage sein würden, Krieg zu führen55. Im darauffolgenden Jahr, an Jom Kippur, schickte Sadat seine Armee über den Suezkanal, überrumpelte die Israelis und brachte die Supermächte an den Rand eines atomaren Showdowns. Währenddessen war der unberechenbare ägyptische Staatschef für amerikanische Politiker und Geheimdienst-Analysten zu einer Obsession geworden.

Unter allen Überraschungen, die Sadat aus dem Hut gezaubert hatte, kam keine dem Moment des 9. November 1977 gleich, als er den vorbereiteten Text einer langatmigen Rede vor der ägyptischen Volksversammlung beiseitelegte und verkündete: „Ich bin bereit, bis ans Ende der Welt zu reisen, wenn dies in irgendeiner Weise einen ägyptischen Jungen, Soldaten oder Offizier davor bewahrt, getötet oder verwundet zu werden … Israel wird überrascht sein, von mir zu hören, dass ich willens bin, vor sein Parlament, die Knesset selbst, zu treten und mit den Abgeordneten zu debattieren.“56 Wenige glaubten ihm. Die ägyptischen Parlamentarier jubelten routinemäßig; selbst der als Gast anwesende Jassir Arafat, der Anführer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), applaudierte pflichtschuldig. Die Kairoer Zeitungen übergingen das Statement am nächsten Morgen. Alle hielten es für eine leere Geste.

Zehn Tage später hob Sadats Flugzeug zum Ben-Gurion-Flugplatz ab. Jetzt hielt er die Welt in Atem. Israel war in einem Stadium verwirrten Deliriums wegen des Besuchs, dem ersten eines arabischen Staatsoberhaupts in der israelischen Geschichte57. Zehntausende Soldaten, Polizisten und Sicherheitsleute standen bereit, um den ägyptischen Präsidenten zu schützen58, dazu noch 2500 Auslandsjournalisten59, die eilends angereist waren, um über das historische Ereignis zu berichten. Um 20.30 Uhr, zwei Stunden nach dem Ende des Sabbats, fingen Suchscheinwerfer das weiße Flugzeug vor dem schwarzen Himmel ein, das im Tiefflug über Tel Aviv kreiste. Ägyptische Fahnen in Rot, Weiß und Schwarz flatterten zwischen den blau-weißen Israels, obwohl die beiden Länder sich immer noch im Kriegszustand befanden. Da sie nicht über die Noten der ägyptischen Nationalhymne verfügten60, hatte das israelische Militärorchester sie durch Hören von Radio Kairo rasch spielen gelernt. Scharfschützen waren auf den Dächern des Flughafenterminals postiert61, sollten anstelle Sadats plötzlich Terroristen aus der Präsidentenmaschine stürmten. Aber dann war er da.


Anwar al-Sadat wird 1977 bei seiner Ankunft in Jerusalem von Menachem Begin begrüßt

Sadats Feinde warteten auf dem Rollfeld62 und er trat zu ihnen, scherzte mit den Generälen und den Kabinettsmitgliedern, begrüßte Menachem Begin und ehemalige israelische Premierminister.

„Madame, ich habe lange darauf gewartet, Sie kennenzulernen“, sagte er, als er Golda Meir küsste63. „Wir haben Sie erwartet“, sagte sie. „Und jetzt bin ich hier.“

Er scherzte mit Ariel Scharon, dem vielleicht größten Feldherrn der israelischen Geschichte, und drohte ihm, wenn er das nächste Mal den Kanal überquerte, würde er ihn verhaften lassen. „Oh nein, Sir“, erwiderte Scharon. „Ich bin jetzt nur noch Landwirtschaftsminister.“64

Durch seine Reise nach Israel machte Sadat zwei Kulturen miteinander bekannt, die einander beinahe vollkommen fremd waren. Nur wenige Israelis waren je einem Ägypter begegnet, abgesehen von den Juden, die von dort emigriert waren, daher mischten sich in den Schock, Sadat persönlich in ihrer Mitte zu haben, Neugier und Verwunderung. Dasselbe galt für die Ägypter, die das Ereignis im Fernsehen verfolgten. Sadat zu sehen, wie er den Feinden ins Gesicht blickte – bisher Gestalten der Legende –, machte die Israelis für die Ägypter auf plötzliche und beunruhigende Weise menschlich. Sadat war überzeugt, dass 70 Prozent des Konflikts zwischen Israel und den Arabern psychologischer Natur waren65, wenn es ihm gelänge, den Frieden real und greifbar erscheinen zu lassen, nicht nur für die Israelis, sondern auch für die Araber, wäre der größte Teil der Arbeit getan. Dann würde es vielleicht eine Möglichkeit für den Aufschwung geben, den die Ägypter so dringend brauchten, der aber durch Kriege chronisch verhindert worden war.

Sadats Entscheidung, nach Israel zu reisen, durchbrach das Tabu, mit den Israelis zu sprechen oder auch nur die Existenz eines jüdischen Staates anzuerkennen. Sowohl der Außenminister als auch der Mann, den Sadat zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, waren unter dem Protest zurückgetreten, dass Ägypten nun in der arabischen Welt isoliert sein würde. Sadat verstärkte die Beleidigung noch dadurch, dass er seine Ankunft auf den Abend des Eid al-Adha legte, des Opferfestes, einen der höchsten Feiertage im Islam. An diesem Tag öffnet der König von Saudi-Arabien die Tür der Kaaba, des quaderförmigen Steingebäudes in Mekka, auf das alle Muslime ihre Gebete ausrichten. „Ich bin immer zur Kaaba gegangen, um für jemanden zu beten, niemals, um gegen jemanden zu beten“, sagte König Chalid. „Aber zu diesem Anlass hörte ich mich sagen: ‚Oh Gott, gewähre, dass das Flugzeug abstürzt, das Sadat nach Jerusalem bringt, bevor es dort ankommt, damit er nicht zum Skandal für uns alle wird.‘“66

Während die Autokolonne des Präsidenten durch die felsigen Hügel auf Jerusalem zufuhr, sangen Menschenmengen auf der Straße „Hevenu Shalom Alechem“ („Wir bringen Frieden für alle“)67. Die Israelis besaßen keine gepanzerte Limousine für Sadat, daher liehen sie sich eine vom amerikanischen Botschafter68. Entlang des ganzen Weges weinten die Menschen offen69. Manche trugen T-Shirts mit dem Aufdruck „All You Need Is Love“. Die ägyptische Entourage staunte mit offenem Mund; sie fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. Die Autokolonne kam vor dem Jerusalemer King-David-Hotel zum Stehen, das Begins Partisanen während des britischen Mandats drei Jahrzehnte zuvor in die Luft gesprengt hatten. In der Lobby warteten 250 Menschen, die Sadat zujubelten. Auf der anderen Straßenseite erklang vom Glockenspiel des YMCA (CVJM) „Getting to Know You“70.

Jerusalem – der umkämpfteste Ort der Geschichte – war ein Gegenstand der Sehnsucht und Verehrung für die drei großen abrahamitischen Religionen und der Ursprung jahrhundertelangen Blutvergießens. Israel hatte Ostjerusalem zehn Jahre zuvor im Krieg von 1967 erobert, was Christen und Juden auf der ganzen Welt in Begeisterung versetzt und die Muslime in Verzweiflung gestürzt hatte. Aus ihren Zimmern im King-David-Hotel hatte die ägyptische Delegation nun einen fantastischen Blick auf die honiggelben Kalksteinmauern der Altstadt und die Baukräne, die wie ein riesiger Wald darum aufragten. „Diese ganze Bautätigkeit!“, sagte einer der Delegierten. „Ich befürchte, dass Jerusalem für die Araber verloren ist.“71 Obwohl Sadat selber gelassen und unberührt wirkte, führten die aus Beklemmung, Hoffnung und Furcht gemischten Gefühle unter den Ägyptern zu starkem Stress und Verwirrung. Einer von Sadats Leibwächtern starb im Hotel sogar an einem Herzinfarkt72. Seine Leiche wurde in ein Frachtflugzeug geschmuggelt, damit die Gerüchte eines Attentats keine Wurzeln schlugen.

Im Herzen der Altstadt erhebt sich der Tempelberg. Entsprechend jüdischer Tradition ist er der Ort, an dem Adam aus Staub erschaffen wurde, wo Kain Abel tötete und wo der Geist Gottes wohnt. König Salomon soll dort 1000 Jahre vor der Geburt Jesu den ersten Tempel errichtet haben, um die Bundeslade aufzunehmen, in der die Steintafeln mit den Zehn Geboten ruhten, die Gott am Berg Sinai Moses übergeben hatte. Der erste Tempel stand bis etwa 586 v. Chr., als der babylonische Herrscher Nebukadnezar ihn niederriss und die Juden nach Babylon verschleppte. 70 Jahre später wurden die Juden vom persischen Herrscher Kyros dem Großen befreit, und der zweite Tempel wurde an derselben Stelle errichtet. König Herodes vergrößerte ihn zu einem der größten Bauwerke der antiken Welt. Hier vertrieb Jesus die Geldwechsler und Verkäufer der Opfertiere und sagte: „Schafft das weg hier! Macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Kaufhaus.“73 Im Jahr 70 n. Chr. wurde der Tempel von den Römern nach dem jüdischen Aufstand gegen das Imperium erneut geschleift.

Um 1099 erreichten die Kreuzritter Jerusalem und töteten jeden in der Stadt. Die Juden wurden zusammengetrieben und in ihren Synagogen abgeschlachtet. Ein Zeuge beschreibt, wie die christlichen Ritter durch einen See von Blut ritten, nachdem sie 10.000 Muslime erschlagen hatten, die auf den Tempelberg geflohen waren74. Die Herrschaft über die Stadt wechselte zwischen Christen und Muslimen hin und her, bis Saladin die Stadt im 12. Jahrhundert friedlich zurückeroberte und allen Religionen das Recht erteilte, an ihren heiligen Stätten zu beten – ein Beispiel, dessen Befolgung sich für seine Nachfolger als schwierig erwies. Die Osmanen nahmen Jerusalem 1517 ein und behielten die Herrschaft 400 Jahre lang, bis die Briten die Türken und ihre deutschen Berater nach Ende des Ersten Weltkriegs hinauswarfen. Zu der Zeit war Jerusalem zu einer verpesteten Stadt mit 55.000 hungernden Menschen geworden, überschwemmt von Prostitution und Geschlechtskrankheiten. Sich des historischen Beispiels bewusst, bestand der siegreiche General Sir Edmund Allenby darauf, die Stadt zu Fuß zu betreten, um seine Ehrfurcht zu demonstrieren. Als ihm die Schlüssel der Stadt überreicht wurden, verkündete Allenby: „Die Kreuzzüge sind nun beendet.“75 Und dennoch teilten die Briten und Franzosen das Osmanische Reich unter sich auf. Bei diesem imperialen Festmahl gelang es den Zionisten in Europa, die Unterstützung der Briten zu gewinnen, um eine Heimat für die Juden in Palästina zu erlangen. Eine blutige neue Ära war geboren.

Muslime nennen den Tempelberg al-haram asch-sharif, das Edle Heiligtum. Laut dem Koran ist dies der Ort, an dem Abraham seine Gottesfurcht bewies, indem er seinen Sohn Ismael als Opfer darbot. (Christen und Juden glauben, dass Abrahams Sohn Isaak, der Vater der Juden, das vorgesehene Opfer war.) Jetzt stehen zwei Moscheen auf dem Berg, auf dem einst der jüdische Tempel gestanden hatte.

Der Tag nach Sadats Ankunft war der Tag des Opferfestes, an dem der Barmherzigkeit Gottes gedacht wird, Ismael (Isaak) zu verschonen. Verfolgt von Fernsehkameras und Hubschraubern betrat Sadat die Al-Aqsa-Moschee mit der Silberkuppel zum Frühgebet. Seine Anwesenheit an diesem heiligen Ort sandte elektrisierende Strömungen durch die muslimische Welt, wechselweise von Hoffnung und Betrug. Einerseits war der Verlust Jerusalems größer als der des Sinai und der gesamten West Bank, und die Tatsache, dass die Zukunft der Stadt erneut auf dem Verhandlungstisch lag, stellte eine fast unerträgliche Belastung dar; andererseits schürte die bloße Tatsache, dass Sadat mit den Besatzern verhandelte, Angst und Paranoia. Das war dieselbe Moschee, in der ein palästinensischer Schneider 1951 König Abdullah I. von Jordanien ermordete, weil dieser es gewagt hatte, mit den Israelis zu verhandeln. Die Einschusslöcher in den Alabastersäulen waren noch immer sichtbar. Während Sadat betete, beschuldigten ihn palästinensische Demonstranten lautstark desselben Verbrechens.

Danach begab sich Sadat in den Felsendom aus dem 7. Jahrhundert, das älteste Bauwerk des Islam, ein prachtvolles, achteckiges Gebäude mit kunstvollen Porzellan-Mosaiken und einer goldenen Kuppel, welche die Altstadt beherrscht. Der Felsendom ist sowohl ein strahlendes Symbol islamischer Spiritualität, als auch das omnipräsente politische Wahrzeichen palästinensischer Sehnsucht nach Rückgabe. Der Schrein umschließt die Felsspitze, die den Gipfel des Tempelbergs darstellt. Nach jüdischer Tradition ist der Fels der Sitz, den Gott für sich machte, als er das Universum schuf. Muslime glauben, dass von diesem Felsen aus der Prophet Mohammed auf seinem wundersamen Ross Buraq zu seiner nächtlichen Reise in den Himmel aufstieg. Nach islamischer Tradition wird am Ende aller Tage in diesem Heiligtum das Jüngste Gericht stattfinden, bei dem die Gesegneten und die Verdammten ihre getrennten Wege in die Ewigkeit antreten76.

Dann ging Sadat hinab in die Altstadt am Fuße des Tempelbergs und machte halt an der Grabeskirche. Ein Mönch zeigte ihm den Stein, auf dem angeblich der Leib des gekreuzigten Jesu gewaschen wurde, sowie das Grabmal, in dem er beerdigt war. Draußen begannen Demonstranten, die Sicherheitsabsperrung zu durchbrechen. „Sadat, was willst du von uns?“, schrien die Palästinenser, als er die Kirche verließ. „Wir sind gegen dich. Wir wollen dich hier nicht haben.“77

Danach legte Sadat einen Kranz vor der Gedenkstätte für die in allen Kriegen seit der Gründung des Staates Israel gefallenen Soldaten ab. Dann besuchte er zusammen mit Begin die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sadat wurde eine Scheitelkappe gereicht. „Das ist eine Kippa“, erklärte Begin. „Es ist unser Brauch, während des Gebets oder beim Betreten eines Gebetshauses den Kopf zu bedecken.“78

Schweigend ging Sadat durch die ergreifende Gedenkstätte, in der die Werkzeuge des Völkermordes offen ausgestellt waren. Da war das Tor von Auschwitz, mit dem grotesk-ironischen Motto „Arbeit macht frei“, das mehr als eine Millionen Juden auf dem Weg in den Tod passiert hatten. Die Halle der Namen enthielt kurze Biografien von zwei Millionen der während des Holocaust umgekommenen sechs Millionen Juden. In der Mitte des Raumes ragte ein großer, mit den Bildern der Opfer ausgekleideter Kegel zur Decke auf, wie die Schornsteine der Todeslager. „All das wurde uns angetan, weil wir keinen eigenen Staat hatten“, sagte Begin zu Sadat79.

Begins Eltern Ze’ev Dov und Chasia befanden sich, genau wie sein älterer Bruder Herzl, unter den Namen dieser grausigen Sammlung. Am 22. Juli 1942 hatten die Nazis seine Heimatstadt Brisk∗∗ erobert und mit der systematischen Vernichtung aller polnischen Juden begonnen. Ze’ev Dov hatte versucht, nach Palästina auszuwandern, als die Nazis kamen, aber Chasia lag mit Lungenentzündung im Krankenhaus. Die Deutschen ermordeten sie in ihrem Bett, zusammen mit anderen Patienten. 5000 Juden aus Brisk, unter ihnen auch Ze’ev und Herzl, wurden zusammengetrieben. Einige wurden erschossen und in eine Grube geworfen80; Ze’ev Dov wurde mit Steinen beschwert und im Fluss Bug ertränkt. Menachem erfuhr, das die letzten Worte seines Vater ein Fluch auf seine Henker gewesen waren: „Auch für euch wird ein Tag der Vergeltung kommen!“81

„Möge Gott unsere Schritte zum Frieden lenken“, schrieb Sadat ins Gästebuch. „Lasst uns alles Leid der Menschheit beenden.“82

Sadat, Meister der kühnen Geste, war unbedeutenden Einzelheiten gegenüber gleichgültig, doch seine verwirrten israelischen Gastgeber waren besessen vom Kleingedruckten. Was verlangte Sadat im Austausch zu seinem überwältigenden Angebot? Wollte er den Sinai? Gewisse Zugeständnisse auf der West Bank oder im Gazastreifen? Sie versuchten Sadat festzunageln, aber er blieb irritierend ausweichend. „Wir müssen uns auf den Kern des Problems konzentrieren, nicht auf technische Einzelheiten und Formalitäten“, erklärte er83. Er wollte ein „verbindliches Programm“ erreichen – eine Grundsatzerklärung, in der Israel zusicherte, aus den besetzten Gebieten abzuziehen und zu einer Lösung der Palästinenserfrage zu kommen. Aber was bedeutete das genau? Aus allen besetzten Gebieten, oder war das verhandelbar? Welche „Lösung“ gab es für die Notlage der Palästinenser? „Jede Seite möchte sich mit den Einzelheiten befassen“, beharrte Begin, „nicht nur mit generellen Aussagen“84. Da die Israelis so damit beschäftigt waren, die Nuancen von Sadats Sprache zu entziffern, waren sie blind dafür, dass Sadats Anwesenheit in Jerusalem die Botschaft selbst war.

Das Dilemma der Israelis bestand unter anderem darin, sich nie richtig damit auseinandergesetzt zu haben, was sie wirklich wollten. Andauernde Konflikte hatten das Thema permanenter Grenzen in eine ferne Zukunft gerückt, doch die unerwartete Aussicht auf tatsächlichen Frieden verlangte unmittelbare Entscheidungen. Was war ihnen der Frieden wert? Erweitert um die 1948 und 1967 eroberten Gebiete, reichte Israel nun von den Anhöhen des südlichen Libanons bis zum Roten Meer und vom Jordan bis ans Mittelmeer. All dieser Raum bot strategische Tiefe, etwas, das Israel nie zuvor besessen hatte. Der Sinai war ein historisches Einfallstor für angreifende Armeen gewesen, die Golanhöhen eine überragende Bastion für die syrische Artillerie, die West Bank ein Versteck für Terroristen. Warum das alles aufgeben? Würde der Frieden die Sicherheit ersetzen, die Israel dadurch gewonnen hatte, diese Gebiete unter militärische Kontrolle zu bringen?

Die Größe des durch die Besetzung gewonnenen Raums hatte auch etwas zutiefst Attraktives; aus ästhetischer Perspektive hatte Israel nun ein wohlgenährtes Aussehen. Vor der Besetzung der West Bank hatte das Land gewirkt, als sei es in der Mitte halb durchgebissen worden. Das kleine Fischerdorf Sharm el-Sheik, strategisch gelegen am südlichsten Zipfel der Halbinsel beim Zusammenfluss des Roten Meers und des Golfs von Akaba, hatte sich in einen israelischen Ferienort verwandelt, mit schicken Hotels und Tauchbasen. Radiosender in Tel Aviv verbreiteten regelmäßig Wettervorhersagen über die Strände am Roten Meer. Die Israelis hatten sich in dem komfortablen Gefühl eingerichtet, Eigentümer all dieses Grundbesitzes zu sein, auch wenn die Kriegsdrohung nie ganz verschwand. Darüber hinaus verfügte der Sinai über Öl, von dem das an Ressourcen arme Israel sich bediente. Und schließlich war da der Streitpunkt Jerusalem, Gegenstand und Mittelpunkt jüdischer Gebete seit Jahrtausenden. War Frieden es wirklich wert, auf all diesen kostbaren Besitz zu verzichten?

Nach dem Mittagsmahl begab Sadat sich in die Knesset, um seine Rede zu halten. Der unheimliche und beispiellose Augenblick seines Eintretens wurde durch Trompetensignale angekündigt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Institution war es den Mitgliedern der Knesset erlaubt, zu applaudieren85– wenn es auch nicht alle taten. Zwischen ihnen stand nach wie vor eine psychologische Mauer, die Sadat zu beseitigen gedachte. Selbst seine bittersten Feinde erkannten, dass Sadat sein Leben gefährlich aufs Spiel gesetzt hatte. Er hatte es den beiden Völkern schwerer gemacht, einander zu hassen, und der Verlust dieses wohligen Gefühls löste auf beiden Seiten mörderische Wut gegen ihn aus.

„Meine Damen und Herren, es gibt im Leben der Nationen und Völker Augenblicke, in denen die Weisen und Einsichtigen die Pflicht haben, ein Problem in seiner ganzen Kompliziertheit und in allen seinen Zusammenhängen in einem kühnen Aufbruch zu neuen Horizonten zu erforschen“, begann Sadat86. Er sprach Worte aus, die kein arabischer Staatsmann je zuvor gesagt hatte – Worte, die zu hören sich viele im Publikum nie hätten vorstellen können. „Sie wollen mit uns in diesem Teil der Welt leben. Ich sage Ihnen aufrichtig, dass wir Sie unter uns willkommen heißen, und zwar in der Gewissheit absoluter Sicherheit“, verkündete Sadat. „Bisher haben wir Sie abgelehnt“, räumte er ein. „Wir hatten unsere Gründe dafür und unsere Befürchtungen; gewiss! Wir pflegten Sie, als ‚sogenanntes‘ Israel zu brandmarken; gewiss! Wir nahmen zusammen an internationalen Konferenzen teil und gehörten denselben Organisationen an, aber unsere Repräsentanten haben niemals auch nur Grüße mit Ihren Delegierten ausgetauscht und tun es immer noch nicht; gewiss! So ist es geschehen und so geschieht es immer noch.“

Dann wurde sein Ton schärfer. „Offenheit macht es notwendig, Ihnen das Folgende zu sagen“, fuhr er fort. „Ich bin nicht hierhergekommen, um ein Separat-Abkommen zwischen Ägypten und Israel zu schließen.“ Viele im Raum, einschließlich Begin, hofften, die Palästinenserfrage beiseitezuschieben; ja, selbst Sadat hatte gelegentlich zwiespältige Gefühle zu diesem Thema gezeigt, doch nun war er unnachgiebig: „Lassen Sie mich ohne jedes Zögern sagen, dass ich nicht zu Ihnen unter dieses Dach gekommen bin, um den Rückzug Ihrer Truppen aus den besetzten Gebieten zu erbitten. Der vollständige Rückzug von den nach 1967 besetzten arabischen Territorien ist eine logische und unbestreitbare Tatsache. Niemand sollte darum bitten.“ Er fuhr fort: „Friede ist seines Namens nicht wert, wenn er nicht auf Gerechtigkeit beruht, sondern auf der Besetzung des Landes anderer. Es wäre nicht angemessen, etwas für Sie selbst zu verlangen, das Sie anderen verweigern … Sie müssen ein für alle Mal den Traum der Eroberung und den Glauben aufgeben, dass Gewalt die beste Methode ist, um mit den Arabern fertigzuwerden.“

Sadat versprach, dass Israel sicher und in Frieden mit seinen arabischen Nachbarn leben würde, unter gewissen Bedingungen. „Jedes Gespräch über einen dauerhaften und auf Gerechtigkeit basierenden Frieden und jede Bemühung, um unsere Koexistenz in Frieden und Sicherheit in diesem Teil der Welt herbeizuführen, würde bedeutungslos werden, solange Sie immer noch gewaltsam arabisches Gebiet besetzt halten“, sagte er und fügte hinzu: „Wir beharren auf einem kompletten Rückzug aus diesen Gebieten, einschließlich des arabischen Jerusalem.“

Die Stimmung in der Knesset, die so erwartungsfroh gewesen war, sank rapide. Die Abgeordneten machten sich nun auf das gefasst, was ihnen wie die üblichen arabischen Forderungen vorkam, obwohl kein anderer arabischer Regierungschef dabei jemals echten Frieden angeboten hatte. „Die Weigerung, das palästinensische Volk und sein Recht auf eigene Staatlichkeit sowie auf Rückkehr anzuerkennen, ist sinnlos“, fuhr Sadat fort und wischte sich in dem heißen, stickigen Raum über die schweißnasse Stirn. „Wenn Sie die legale und moralische Berechtigung gefunden haben, ein nationales Heim in einem Land zu errichten, das keineswegs Ihnen gehört, dann ist es unerlässlich, dass Sie auch Verständnis für den beharrlichen Wunsch des palästinensischen Volkes zeigen, wiederum einen eigenen Staat in seinem eigenen Land zu begründen.“ Verteidigungsminister Ezer Weizman steckte Begin eine Notiz zu: „Wir müssen uns auf Krieg vorbereiten.“87 Begin las sie und nickte.

Es war ein seltsamer Auftritt. Wann ist es je passiert, dass ein besiegter Gegner – sogar besiegt in vier Kriegen – die Hauptstadt des Feindes betreten hat, um Bedingungen für den Frieden zu stellen? Als Sadat seine Rede beendet hatte, applaudierte Begin nicht.

Obwohl Begin für seine Redekunst vor diesem Hause bekannt war, war seine folgende Ansprache improvisiert und voller Zurechtweisungen. Ein gekränkter Ton war ihm schon unter normalen Umständen eigen, und in der seltsamen Rollenumkehr bei dieser Begegnung bot Begin von sich aus keine Friedensbedingungen an. Stattdessen verteidigte er Israels Recht, überhaupt zu existieren. „Nein, mein Herr, wir haben kein fremdes Land eingenommen“, rief er aus88. „Wir sind in unser Heimatland zurückgekehrt. Die Bande unseres Volkes zu diesem Land sind ewig. Es wurde in der Morgendämmerung der menschlichen Geschichte erschaffen … Hier wurden wir zu einem Volk. Und als wir gewaltsam aus unserem Land vertrieben wurden, als wir aus unserem Land geworfen wurden, vergaßen wir dieses Land nicht für einen einzigen Tag. Wir beteten für es. Wir sehnten uns nach ihm.“ Er erwähnte Sadats Besuch im Holocaust-Museum früher am Tag. „Sie haben mit Ihren eigenen Augen gesehen, welches Schicksal unser Volk erlitt, als ihm sein Heimatland genommen wurde“, sagte er. „Niemand kam zu unserer Rettung, nicht aus dem Osten und nicht aus dem Westen. Und daher schworen wir, diese ganze Generation, die Generation des Holocaust und der Wiederauferstehung, unser Volk nie wieder in Gefahr zu bringen.“

Der Frieden war so nahe erschienen, als Sadats Flugzeug in Israel landete, doch als er abflog, war der Frieden immer noch sehr weit entfernt.

Carter hatte Begin kennengelernt, als er im Juli 1977 nach Washington kam, nur einen Monat nach dem Amtsantritt des Israeli. Carter erkannte sofort den bemerkenswerten Intellekt dieses Mannes – „Ich bin vermutlich kaum jemandem begegnet, dessen IQ so hoch ist wie seiner“89, notierte er – wie auch seine biblischen Kenntnisse, von denen Carter hoffte, sie würden dazu beitragen, Gemeinsamkeiten zu finden. Andererseits war er schockiert über Begins Arroganz und offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber den Bemühungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Nach Carters Meinung machte Begin von Anfang an klar, dass „er nicht das Geringste dafür tun würde“.

Begin war ein schlanker Mann mit einem hohen, kahlen Schädel und einem langen Kinn, was seinem Kopf ein wenig die Form einer Glühbirne verlieh. Die Augen hinter der Brille mit dem schweren Rahmen waren blaugrau, die dünnen, noch verbliebenen Haarsträhnen rotbraun. Wenn er lächelte, enthüllte er eine sichtbare Lücke zwischen den Vorderzähnen. Sein Desinteresse an Mode war zu einem Markenzeichen geworden, doch andererseits war er von Natur aus äußerst förmlich und legte großen Wert auf Zeremoniell. Würde war eine fixe Idee bei ihm. Sein steifer Ehrenkodex und sein geziertes Auftreten machten ihn für seine Gegner zur Zielscheibe von Karikatur und Lächerlichkeit. „Begin ist restlos davon überzeugt, dass er die Wahrheit gepachtet hat“, bemerkte Ezer Weizman. „Daher nimmt er bei Ansprachen – auch gegenüber Staatsoberhäuptern großer Nationen – die Pose eines Lehrers sein, der zu seinen Schülern spricht. Das hat etwas Anmaßendes.“90 Ansichten, die nicht mit seiner starren Lebensphilosophie übereinstimmten, wurden als naiv oder subversiv abgelehnt. „Begin treibt jeden, der mit ihm nicht übereinstimmt, schlicht die Wände hoch“91, bemerkte Samuel Lewis, der amerikanische Botschafter in Israel. Lewis hielt dies lediglich für eine von Begins vielen Taktiken. „Er verfügte über ein reiches Werkzeugarsenal: Wut, Sarkasmus, Bombastik; Übertreibung, ermüdende Wiederholung von Argumenten, historische Lektionen aus den dunklen Kapiteln der jüdischen Geschichte und Dickköpfigkeit.“92

Der Premierminister trug eine emotionale Bürde, die für Holocaust-Überlebende besonders heftig war. „Vor den Augen jedes Sohnes der Nation tauchen immer wieder die Todeswaggons auf“93, sagte er in einer seiner verzweifelten Proklamationen aus dem Untergrund. „Die schwarzen Nächte, wenn der Klang infernalisch kreischender Räder und das Bild der Verdammten von Ferne eindringt und einem den Schlaf raubt, um daran zu erinnern, was mit Mutter, Vater, Bruder, mit einem Sohn, einer Tochter, einem Volk geschah. In diesen unausweichlichen Momenten fühlt sich jeder Jude im Land unwohl, weil es ihm gut geht. Er fragt sich: Ist da nicht etwas Verräterisches an seinem eigenen Dasein? Er fragt sich, ob er da sitzen kann und diesen schrecklichen Widerspruch zwischen dem Todesmarsch dort und dem Fluss des Lebens hier zulassen?“ Er schloss: „Und es gibt keine Möglichkeit, diesen Fragen zu entrinnen.“

Im Privaten war Begin zurückhaltend und litt unter häufigen Stimmungsschwankungen, die ihn dazu veranlassten, sich in sein Büro zurückzuziehen und Termine abzusagen94. Der Premierminister umgab sich mit Ratgebern, die wenig mehr als Gefolgsmänner waren, meist aus der Zeit im Untergrund rekrutiert, die seine Launen tolerierten und seine Autorität nicht infrage stellten. Begin war keineswegs ein geschickter Verwalter. Er verstand wenig von der Wirtschaft oder von internationalen Angelegenheiten außerhalb seiner Region. Während seiner gesamten Laufbahn verfolgte er nur ein politisches Hauptkonzept: die Grenzen Israels auszuweiten. Seine Haltung gegenüber den Arabern, die innerhalb dieser Grenzen lebten, war ambivalent. Er war zutiefst davon überzeugt, der Staat Israel gehöre einzig und allein dem jüdischen Volk95; andererseits schlug er vor, dass Israel, wenn es die durch Krieg erlangten Gebiete annektierte, jedem Araber, der sie haben wollte, die Staatsangehörigkeit gewähren solle96.

Er war nicht ausgesprochen religiös und ging hauptsächlich an Feiertagen in die Synagoge97. Nichtsdestotrotz beschäftigte ihn das tragische Problem der jüdischen Geschichte in seinem tiefsten Inneren. Andere Länder konnten multireligiös und andere Religionen multinational sein, glaubte er, doch für die Juden gebe es nur eine Nationalität und eine Religion, und beide konnten nicht voneinander getrennt werden. Sein Ratgeber und Redenschreiber Yehuda Avner erinnerte sich an einen Abend des Bibelstudiums in Begins Haus, bevor dieser nach Washington flog. Begin hatte vorgeschlagen, über das 4. Buch Mose (Numeri) zu sprechen, Verse 22–24. In dieser Geschichte sind 40 Jahre vergangen, seit die Juden aus Ägypten geflohen waren, und ihre Wanderung war fast am Ende angelangt. Der furchtsame Moabiterkönig Balak versuchte, den Propheten Bileam zu bestechen, die Israeliten zu verfluchen, bevor sie das Gelobte Land betreten konnten, in welchem die Moabiter wohnten. Bileam weigerte sich. „Wie soll ich fluchen, dem Gott nicht flucht?“, sagt er zum König und fügt dann mit Bezug auf die Israeliten hinzu: „Siehe, das Volk wird besonders wohnen und nicht unter die Heiden gerechnet werden.“

„Ist das nicht eine erstaunlich genaue Prophezeiung der Erfahrung des jüdischen Volkes während seiner gesamten Geschichte?“, fragte Begin die versammelten Gäste98. Warum müsse Israel in der Welt derart im Abseits stehen? Es gebe viele christliche Staaten, muslimische Staaten und buddhistische Staaten; es gebe viele Länder, in denen Englisch, Französisch, Arabisch und so weiter gesprochen werde; aber es gebe nur ein einziges jüdisches Land auf der Welt, und nur eins, in dem Hebräisch gesprochen werde. Israel stehe allein. „Warum haben wir keine souveränen Freunde und Verwandte irgendwo auf der Welt?“, fragte er. „Kein anderes Land auf der Welt teilt unsere einzigartige Geschichte.“ Die einzige Bindung, die Israel mit anderen Menschen habe, sei die zu Mitjuden in der Diaspora, „und überall sind sie eine Minderheit und nirgendwo genießen sie irgendeine Form nationaler oder kultureller Autonomie.“

Begin begann sein erstes Treffen mit Carter im Weißen Haus mit einem Überblick der modernen Geschichte Israels und erinnerte an die Angriffe der Araber auf die Juden im Unabhängigkeitskrieg von 1948. „Es gab nur 650.000 Juden99 [in Palästina] zu jener Zeit, und wir mussten gegen drei Armeen kämpfen, plus die Iraker“, sagte er. „Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass wir manchmal mit unseren bloßen Händen kämpfen mussten, und manchmal mit selbst gebauten Waffen, die nicht immer funktionierten. Wir verloren ein Prozent unserer Bevölkerung in diesem Krieg, 6000 Menschen.“ Begin wurde emotional, während er von den Terrorangriffen durch die Palästinenser sprach. „Das Blutvergießen ist ständig weitergegangen. Mein Enkelkind wurde in Jerusalem bombardiert∗∗∗.

„Ich erinnere mich, wie wir im Mai 1967 während der Parade zum Unabhängigkeitskrieg Nachrichten von der ägyptischen Mobilmachung im Sinai bekamen“, fuhr Begin fort. „Zwei Wochen lang waren wir von einem Ring aus Stahl umgeben. Uns standen mehr Panzer gegenüber, als Deutschland 1941 gegen die Sowjetunion in Marsch gesetzt hatte. Alle arabischen Hauptstädte verlangten unseren Tod und wollten uns ins Meer werfen.“Angesichts einer solchen Bedrohung, sagte er, „beschlossen wir, die Initiative zu ergreifen. Der Sechstagekrieg war ein Akt legitimer Selbstverteidigung, um uns vor der vollkommenen Vernichtung zu bewahren“.

Begin hatte Dr. Schmuel Katz mitgebracht, einen scharfen Ideologen und Kameraden aus ihrer gemeinsamen Zeit im jüdischen Untergrund. Das Treffen fand in dem düsteren Klima der Angst und Besorgnis statt, das Begin und seine Vertrauten umgab. Katz rollte eine Gebietskarte auf, die den kleinen Staat Israel in Blau zeigte, umgeben von 21 arabischen Ländern in Rot – ungefähr die Größe von New Jersey im Vergleich zum Rest der Vereinigten Staaten. Katz behauptete, es sei ein reiner Mythos, dass Palästinenser das Land bewohnt hätten, bevor der Staat Israel gegründet wurde, und um das zu beweisen, bezog er sich auf Mark Twains missmutigen Bericht über seine Reise durch das Heilige Land in Die Arglosen im Ausland, wo er Obergaliläa im Jahr 1867 beschrieb („Es gibt kein einziges Dorf in der ganzen Weite des Landes im Umkreis von 30 Meilen. Da sind zwei oder drei Ansammlungen von Beduinenzelten, aber es gibt keine einzige feste Behausung“). Katz führte weiter aus, dass die Araber, die nach 1948 geflohen waren, keine echten Wurzeln in dem Land besessen hätten. „Bauern fliehen schließlich nicht, selbst mitten im Krieg“, sagte er leichtfertig100.

Yehuda Avner bemerkte Carters zusammengebissene Zähne und sein verkniffenes Gesicht, während der unermüdliche Katz mit seinen stumpfsinnigen Bemühungen fortfuhr, jeglichen Anspruch zu untergraben, Palästina sei jemals Heimstatt anderer als der Juden gewesen. Schließlich hielt Begin seinen alten Kameraden zurück. „Ich möchte über die Frage diskutieren, die Sie wegen der Siedlungen vorgebracht haben“, sagte er zu Carter. „Ich möchte offen sprechen. Wir werden nicht zulassen, dass Siedlungen zu Hindernissen bei Verhandlungen werden.“ Er vertrete jedoch den Grundsatz, dass es Juden gestattet sein sollte, überall dort zu leben, wo sie wollten. Die West Bank sei übersät von Städten mit historischer Bedeutung für die Juden: „Es gibt viele Städte namens Hebron in den Vereinigten Staaten und viele mit den Namen Bethel und Shilo“, führte er an. In der Genesis ist Bethel der Ort, an dem Jakob einschlief und von der Himmelsleiter träumte. Als er sie hinaufstieg, wartete Gott oben auf ihn und versprach ihm das Land Kanaan. Shilo (oder Silo) war vor Jerusalem eine Hauptstadt der Israeliten. „Nur 20 Meilen von meiner Heimatstadt gibt es ein Bethel und ein Shilo, die beide eine baptistische Kirche haben!“, informierte ihn Carter. „Stellen Sie sich vor, der Gouverneur eines solchen Staates verkündet, alle amerikanischen Bürger außer den Juden könnten in diesen Städten leben“, rief Begin aus. „Kann von uns, als Regierung von Israel, erwartet werden, einen Juden davon abzuhalten, sich im ursprünglichen Bethel niederzulassen? Im ursprünglichen Shilo? Sie werden kein Hindernis bei Verhandlungen werden. Die Worte ‚nicht verhandelbar‘gibt es in unserem Vokabular nicht. Aber dies ist von hoher moralischer Bedeutung. Wir können Juden in ihrem eigenen Land nicht verwehren, sich in Shilo anzusiedeln.“

Die CIA-Analysten hatten sich bemüht, ein Dossier über Begin zusammenzustellen. Sie hatten seine beiden Memoiren-Bände gelesen: White Nights über seine Gefangenschaft in sowjetischen Arbeitslagern und The Revolt, eine Aufzeichnung seiner Erfahrung als Anführer der Irgun Zwai Leumi (der „nationalen Militärorganisation“, in Israel als Etzel bekannt, aber im Ausland als Irgun), eine Untergrundgruppe, die vor der Unabhängigkeit Terrorangriffe auf die britischen Streitkräfte und danach gegen palästinensische Dorfbewohner durchführte. In seiner Autobiografie stellte sich Begin als unbeugsam dar, sich seiner großen Intelligenz äußerst bewusst, leidenschaftlich, von Schuldgefühlen zerrissen und voller Zorn. Er präsentierte sich als ein „neues Exemplar menschlichen Wesens“101, geboren aus der Asche des Holocaust, „der kämpfende Jude“. Seine Redegewandtheit bewegte sich am Rande von Sophisterei und Schwülstigkeit, doch er besaß eine Genialität dafür, an einem einzelnen Wort herumzupicken, bis er dessen Bedeutung auf den Kopf gestellt hatte. Zum Beispiel: „Es ist unumstößlich, dass derjenige, der kämpft, hassen muss – etwas oder jemanden“, schrieb er102.

„Wir mussten vor allen Dingen die entsetzliche, uralte, unentschuldbare vollkommene Wehrlosigkeit unseres jüdischen Volkes hassen, das durch die Jahrtausende gewandert war, durch eine grausame Welt, für deren Mehrheit die Wehrlosigkeit der Juden eine ständige Einladung war, sie zu massakrieren … Wir mussten … die Fremdherrschaft im Land unserer Vorfahren hassen … Wer will den Hass auf das Böse verurteilen, welcher der Liebe für das Gute und Gerechte entspringt? Solcher Hass war die Antriebskraft des Fortschritts in der Geschichte der Welt – ‚nicht der Frieden, sondern das Schwert‘ – im Namen der Weiterentwicklung der Menschheit. Und in unserem Fall war solcher Hass nicht weniger und nicht mehr als eine Manifestation des höchsten menschlichen Gefühls: Liebe. Denn wenn man Freiheit liebt, muss man Sklaverei hassen; wenn man sein Volk liebt, kommt man nicht umhin, die Feinde zu hassen, die dessen Vernichtung herbeiführen; wenn man sein Land liebt, kann man nicht anders, als jene zu hassen, die es annektieren wollen.“

Der Autor dieser Aussage war taub gegenüber demselben Argument, das die Palästinenser bezüglich ihres eigenen Kampfes anführten, Schwäche zu überwinden und Gerechtigkeit zu erlangen. Sein eigenes Leben hatte ihn dem Leiden anderer gegenüber abgestumpft. Er erzählte Carter, seine früheste Erinnerung sei die an einen polnischen Soldaten, der einen Juden in einem öffentlichen Park auspeitschte103. Sein Vater Ze’ev Dov, ein Holzhändler, trichterte seinen drei Kindern zionistische Doktrin ein, bestand aber darauf, sie in die polnische Schule zu schicken statt auf eine private jüdische. Die staatliche Schule war kostenlos, die Begins hatten nur wenig Geld; außerdem würde die polnische Schule, nach Ze’ev Dovs Meinung, seinen Kindern eine bessere Chance geben, einen Beruf zu ergreifen. Er wollte, dass Menachem, sein Jüngster, Anwalt würde (Menachem machte schließlich seinen rechtswissenschaftlichen Abschluss an der Universität Warschau).

Eines Tages ging Ze’ev Dov mit einem Rabbi die Straße entlang, als ein polnischer Polizist versuchte, den Bart des Rabbi abzuschneiden. „Das war ein beliebter Sport unter den antisemitischen Rüpeln jener Tage“, erklärte Begin, als er Carter die Geschichte bei ihrem ersten Treffen erzählte104. „Mein Vater zögerte nicht. Er schlug die Hand des Polizeibeamten mit seinem Stock weg, was in jener Zeit einer Einladung zu einem Pogrom gleichkam.“ Der Rabbi und Ze’ev Dov kamen mit Prügeln davon. „Mein Vater kam an jenem Tag in schrecklichem Zustand nach Hause, aber er war glücklich. Er war glücklich, weil er die Ehre des jüdischen Volkes und die Ehre des Rabbi verteidigt hatte.“ Begin fuhr fort: „Herr Präsident, von dem Tag an habe ich mich stets an diese beiden Dinge aus meiner Jugend erinnert: Die Verfolgung unserer hilflosen Juden und den Mut meines Vaters, deren Ehre zu verteidigen.“ Später sagte Begin zu seinem Privatsekretär, er habe Carter diese Geschichte erzählt, um ihn wissen zu lassen, „mit welcher Art Jude er es zu tun hat“.

Menachem war ein schmächtiges, blasses Kind; mit seiner dicken runden Brille und den vollen, sinnlichen Lippen war er ein leichtes Opfer für Schlägertypen. Statt zu fliehen lernte er, sich gegen den Antisemitismus in der Schule zu wehren, „jene zu schlagen, die uns schlugen, und unsere Beleidiger zu beleidigen“105. Er war zu schwächlich, um seine Peiniger abzuschrecken. „Wir kamen blutend und zerschlagen nach Hause, doch in dem Wissen, nicht gedemütigt worden zu sein“, erinnerte er sich. Was ihm an körperlicher Kraft fehlte, macht er durch Redetalent in der Öffentlichkeit wett. Schon als frühreifer kleiner Junge106 trug er Gedichte bei den zionistischen Versammlungen vor, die sein Vater organisierte, und als Jugendlicher sprach er vor großen Menschenmengen, die über seine Fähigkeit staunten, starke und beunruhigende Emotionen zu wachzurufen.

Im Jahr 1929 machte Begin eine politische Verwandlung durch107. Wladimir Jabotinsky, ein russischer Journalist, der eine expansive Form des Zionismus, genannt Revisionismus, befürwortete, hielt eine Rede in einem Theater in Brisk. Die Revisionisten lehnten die Politik der kleinen Schritte ab, die von der Hauptströmung der Zionisten vertreten wurde; sie bestanden darauf, das gesamte Land Israel in Besitz zu nehmen, statt sich auf Kompromisse mit den Arabern einzulassen, die dort bereits lebten. Die Veranstaltung war ausverkauft, doch Begin schlich sich in den Orchestergraben. Jabotinsky war der Überzeugung, die Diaspora habe das jüdische Volk so geschwächt, dass es nicht mehr wusste, wie man sich für seine eigenen Interessen einsetzte. Nur ein Staat konnte die Zuflucht bieten, welche die Juden brauchten, um wieder ein Volk zu werden. Eine seiner Antworten war, Betar zu gründen, eine paramilitärische jüdische Jugendorganisation. Die Aufgabe von Betar war es, eine neue Art von Juden zu formen, die rasch einen jüdischen Staat aufbauten – und entsprechend verteidigen konnten. Er schrieb Lieder für die Bewegung, um die Jugendlichen zu erreichen, deren Geist er zu formen hoffte:

Aus den Tiefen von Verfall und Staub

Durch Blut und Schweiß

Wird uns eine Generation erwachsen

Stolz, edelmütig und entschlossen.

Eingezwängt im Orchestergraben muss der 15-jährige Menachem Begin das Gefühl gehabt haben, dass Jabotinsky von ihm sprach. Er empfand eine geistige Verbindung zum Anführer der Betar, die er später mit dem heiligen Ehebund verglich. „Jabotinsky wurde Gott für ihn“, bemerkte einer von Menachems Freunden später108.

Zu der Zeit von Jabotinskys Rede waren die Juden in Palästina etwa acht zu eins in der Minderzahl∗∗∗∗. „Emotional ist meine Haltung gegenüber den Arabern dieselbe wie gegenüber allen anderen Nationen – höfliche Gleichgültigkeit“, schrieb Jabotinsky 1923109. „Politisch ist meine Haltung von zwei Prinzipien bestimmt. In erster Linie betrachte ich es als absolut unmöglich, die Araber aus Palästina zu vertreiben. Es wird immer zwei Nationen in Palästina geben – was für mich in Ordnung ist, vorausgesetzt, die Juden sind die Mehrheit.“ Er erkannte, dass es „absolut unmöglich“ war, die palästinensischen Araber zu überreden, ihre Souveränität aufzugeben. „Jede eingeborene Bevölkerung, zivilisiert oder nicht, betrachtet ihr Land als ihre nationale Heimat, deren einziger Herr sie ist, und möchte diese Herrschaft für immer behalten“, merkte er an. Es gebe „kein einziges Beispiel irgendeiner Kolonisierung, die mit dem Einverständnis der eingeborenen Bevölkerung durchgeführt wurde“. Da eine freiwillige Einigung mit den Arabern eine Illusion sei, schrieb er, müsse eine „eiserne Mauer“ zwischen Juden und Arabern errichtet werden – mit anderen Worten, eine schlagkräftige Militärmacht, von der die meisten Zionisten glaubten, das müssten ihre britischen Beschützer sein. Jabotinsky behauptete jedoch, dass es nur die Juden selbst sein konnten. Eine Einigung würde nicht möglich sein, bis die Araber begriffen, dass es keine Hoffnung mehr gab, die Juden loszuwerden; erst dann würde die Führerschaft auf moderatere arabische Stimmen übergehen, die um gegenseitige Zugeständnisse bemüht wären. „Dann können wir möglicherweise von ihnen erwarten, ehrlich über politische Fragen zu diskutieren, wie eine Garantie, die Araber nicht zu verdrängen, oder gleiche Rechte für arabische Bürger oder arabische Integrität. Und wenn das passiert“, betonte er, „bin ich überzeugt, dass wir Juden bereit sein werden, ihnen befriedigende Garantien zu geben, damit beide Völker in Frieden miteinander leben können, wie gute Nachbarn.“

Ein halbes Jahrhundert, nachdem Jabotinsky diese Worte geschrieben hatte, war sein berühmtester Gefolgsmann gezwungen zu entscheiden, ob dieser Tag endlich gekommen war. Sadats Geste hatte Begin verwirrt, ihn misstrauisch und ratlos gemacht. Es war viel einfacher, mit Gewalt umzugehen als mit Frieden. Begin gestand Carter später, dass Sadats kühner Schritt ihn an Jabotinsky erinnert habe110– als sei der Ägypter der tatsächliche Erbe des Vermächtnisses seines Idols, und nicht Begin.

Nach 36 Stunden verließ Sadat Jerusalem, überzeugt davon, einen großen Triumph errungen zu haben. „Ihr Journalisten werdet nichts mehr zu tun haben“, zog er Reporter in Kairo auf. „Alles ist gelöst worden. Es ist alles vorbei.“ Was sei mit der West Bank, Gaza, Jerusalem? „In meiner Tasche.“111

Sadat wurde in den internationalen Medien als moderner Prophet gefeiert oder sogar als Retter. „Es war, als sei ein Bote Allahs ins Gelobte Land hinabgestiegen“, schwärmte die Time112. Sadat glaubte jedes Wort. „Der Nahe Osten wird nach meiner Initiative in Jerusalem nie wieder der Nahe Osten sein, der er zuvor war“, jubelte er bei ABC113. Aber die Veränderung, die er erzwungen hatte, forderte ihren Tribut. Die arabische Welt wandte sich von Ägypten ab. Es gab Demonstrationen gegen Sadats Besuch in verschiedenen arabischen Städten, und auf die ägyptischen Vertretungen in Beirut und Damaskus wurden Bombenanschläge verübt. In Athen griffen Palästinenser die dortige ägyptische Botschaft an114 und töteten eine Person; eine weitere wurde bei einem Raketenangriff auf die Botschaft in Beirut getötet.

Eine Gruppe unübersehbarer Mitspieler war aus den Friedensgesprächen ausgeschlossen worden: die Palästinenser. Sadat war nicht bevollmächtigt, ihre Interessen zu vertreten, und Carter war eingeschränkt durch eine geheime amerikanische Zusage an Israel, vereinbart während der Regierungszeit von Präsident Ford, nicht mit der PLO zu reden – der einzigen bevollmächtigten Vertretung des palästinensischen Volkes –, solange sie sich weigerte, die Existenz Israels anzuerkennen und die UN-Resolution 242 zu akzeptieren. Jassir Arafat, der Vorsitzende der PLO, weigerte sich, die Resolution anzunehmen, ehe die USA nicht dafür garantierten, dass ein palästinensischer Staat gegründet und von der PLO regiert würde. Das war zu viel für Carter, der das Interesse daran verlor, sich auf Arafat einzulassen115.

Inzwischen wartete die Welt auf Israels Antwort zu Sadats historischem Angebot. Begin ließ sich einen Vorschlag einfallen, den er den Autonomieplan nannte. Er legte ihn Carter bei einem weiteren Treffen im Weißen Haus vor, einen Monat nach Sadats Besuch in Jerusalem. Nach diesem Plan würden die Palästinenser weiter auf der West Bank leben und wählen können, ob sie Bürger von Israel oder Jordanien werden wollten. Eine eingeschränkte örtliche Verwaltungsbehörde sollte berechtigt sein, Abwasserrohre zu legen und Baugenehmigungen zu erteilen, konnte aber kein Geld drucken oder eine Armee aufstellen – all das, was einem funktionierenden Staat gleichkäme. Die israelischen Siedlungen auf der West Bank und im Gazastreifen würden bestehen bleiben, genau wie die israelische Militärpräsenz. Ägypten würde die Souveränität über den gesamten Sinai erhalten, doch die israelischen Siedlungen dort würden fortbestehen wie auch zwei israelische Flugplätze in einer von den Vereinten Nationen kontrollierten Pufferzone. „Das ist ein sehr interessanter Plan“, räumte Carter ein116. Begin kehrte hocherfreut nach Israel zurück. „Mir ist seit Jabotinsky kein solcher Intellekt begegnet“, sagte er über Carter. Und was seinen Autonomieplan angehe, hätten ihn „alle gelobt, die von ihm hörten“, berichtete er.

Doch Begin verlor prompt jedes Wohlwollen, das er sich bei den Amerikanern erworben hatte, als er den Plan von General Ariel Scharon billigte, eine Anzahl von Siedlungsattrappen auf dem Sinai aufzustellen – vor allem an Orten, die laut Zusicherung der Israelis unter einem künftigen Friedensabkommen an die Ägypter zurückgegeben werden sollten. Die Idee dahinter war, rasch „vor Ort Fakten“ zu schaffen, um Israels Anspruch auf die Halbinsel zu bekräftigen. Die „Siedlungen“ bestanden aus nichts anderem als Attrappen von Wasserbohrtürmen und rostigen alten Bussen. Wenn schon für sonst nichts, führte Scharon an, könnten diese Kulissen als Druckmittel bei den Verhandlungen dienen, um die tatsächlichen Siedlungen zu bewahren, die Israel zu behalten hoffte. Das war ein unglaublicher Fehler. Begin wurde international mit Hohn und Spott überhäuft, sogar in Israel, wo man ihm vorwarf, den Friedensprozess zu sabotieren. Sadats vorhersehbare Reaktion war das Stellen eines Ultimatums: „Keine einzige Siedlung soll auf dem Sinai verbleiben!“117 Falls die Israelis darauf bestünden, die Siedlungen an Ort und Stelle zu lassen, sagte er, würde er sie persönlich in Brand stecken118.

Carter war ebenfalls wütend. Er machte klar, dass die Siedlungen auf der West Bank und dem Sinai illegal waren119, darüber hinaus lehnte er Begins Autonomieplan ab, außer als Grundlage für Verhandlungen. Noch während dieser Ereignisse wurde Scharon von Begin bevollmächtigt, Bulldozer auf die West Bank zu schicken, um eine vollkommen neue Siedlung zu bauen. Nur ein Aufstand im israelischen Kabinett gebot diesem Plan Einhalt.

Während alles auseinanderfiel, drängte sich die PLO in die Auseinandersetzung hinein. Am 18. Februar 1978 betraten zwei palästinensische Terroristen die Lobby des Hilton Hotels in Nikosia, Zypern, und ermordeten Youssef el-Sebai, einen beliebten Schriftsteller und den Herausgeber der ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram. Außerdem war er ein enger Freund von Sadat und hatte diesen nach Jerusalem begleitet. Danach entführten die Mörder ein Flugzeug, doch es wurde gezwungen, nach Zypern zurückzukehren, nachdem sich mehrere arabische Regierungen weigerten, den Männern Asyl zu gewähren. „Alle, die mit Sadat in Israel waren, werden sterben“, teilten die Entführer ihren Geiseln mit, „einschließlich Sadat“120.

Sadat antwortete mit der Entsendung ägyptischer Kommandotruppen, um die Terroristen gefangen zu nehmen und sie in Ägypten vor Gericht zu stellen121. Offenbar informierte er die Zyprioten aber nicht von seinem Vorhaben. Sobald das ägyptische Flugzeug gelandet war, stürmten die Kommandotruppen auf das entführte Flugzeug zu und wurden augenblicklich vom zypriotischen Militär unter Beschuss genommen, da man eine Invasion befürchtete. 15 ägyptische Soldaten wurden getötet. Allerdings hatten sich die Entführer kurz vor dem Überraschungsangriff schon zur Aufgabe bereit erklärt. Die Ägypter gaben vor allem den Palästinensern die Schuld an dem Fiasko und warfen ihnen Undankbarkeit gegenüber den Hunderttausenden vor, die in den Kriegen gegen Israel gefallen waren.

Eine Monat später, am 11. März 1978, landeten elf militante Palästinenser mit einem Schlauchboot an einem Strand, 40 Meilen nördlich von ihrem beabsichtigten Ziel Tel Aviv entfernt. Sie waren mit Kalaschnikows, Panzerfäusten, Granatwerfern und Sprengstoff bewaffnet. Die erste Person, der sie begegneten, war Gail Rubin, eine amerikanische Fotografin und Nichte von Senator Abraham Ribcoff122, die gerade Fotos von einem Landschaftsschutzgebiet machte. Die Terroristen fragten Rubin, wo sie wären, und ermordeten sie, nachdem sie es ihnen gesagt hatte. Dann rannten sie zur Schnellstraße, schossen auf Autos und warfen Granaten. Sie entführten ein Taxi und dann zwei Busse, deren Insassen sie als Geiseln nahmen. Die meisten davon wurden kaltblütig erschossen, selbst Kinder, die sich an ihre Eltern klammerten123. Der Vorfall endete in einem wilden Schusswechsel mit der Polizei. 38 Israelis wurden getötet, unter ihnen 13 Kinder; mehr als 70 Personen wurden verwundet. Es war der schlimmste Terrorangriff in der Geschichte Israels.

Die Ermordung von Sadats Freund und das Massaker an Israelis auf der Küstenstraße waren deutliche Botschaften, mit denen die PLO die Verhandlungen zum Scheitern bringen wollte. Allein genommen, reichten die Angriffe jedoch nicht aus. Die Terroristen rechneten mit heftigen Vergeltungsmaßnahmen vonseiten Begins, welche die arabische Welt in Brand stecken und Sadats Initiative untergraben würden. So gut wie jeder andere durchschauten sie den Teufelskreis, in dem sich der Nahe Osten befand, wo Gewalt nur mit größerer Gewalt beantwortet werden konnte. Die Akteure spielten ihre Rollen nun wie in Trance. Die Terroristen rechneten damit, dass Begin unfähig zu einer gemäßigten Reaktion war. „Jeder, der in unserer Zeit Juden tötet, kann nicht mit Straffreiheit rechnen“, sagte Begin mit zitternder Stimme, die Augen rot geschwollen124. Drei Tage später marschierten israelische Truppen mit dem erklärten Ziel im Libanon ein, dortige palästinensische Milizen zu bestrafen, nur um im Verlauf der Aktion mehr als 1000 Zivilisten zu töten, 100.000 obdachlos zu machen und die arabischen Ängste zu schüren, Israel würde den südlichen Teil des Landes annektieren.

Carter war entsetzt von dem, was er als schreckliche Überreaktion betrachtete125, und besorgt wegen des Einsatzes amerikanischer Waffen, die für solche Konflikte ausdrücklich verboten waren, einschließlich der geächteten Streubomben, gedacht für einen groß angelegten Krieg gegen militärische Ziele. Begins erneuter Besuch im Weißen Haus, zehn Tage nach dem Angriff, während sich israelische Truppen noch im Libanon befanden, sollte Carters Verständnis gewinnen. Begin sagte, er sei „ins Herz getroffen“126, als Carter Abstand von Begins Autonomieplan nahm. Begin behauptete, Sadats Besuch von Jerusalem sei nur eine großspurige Geste gewesen, und das, was Sadat wirklich wolle, sei ein palästinensischer Staat und Israels vollkommener Rückzug aus allen eroberten Gebieten.

Carter zählte die Hauptpositionen des Premierministers auf: Begin sei „nicht bereit, sich politisch oder militärisch aus irgendeinem Teil der West Bank zurückzuziehen; nicht bereit, den Bau neuer Siedlungen oder die Erweiterung bestehender Siedlungen zu stoppen; nicht bereit, die israelischen Siedler aus dem Sinai zurückzuholen oder sie auch nur unter den Schutz der UN oder Ägyptens zu stellen; nicht bereit, anzuerkennen, dass die UN-Resolution 242 für das West-Bank/Gaza Gebiet galt; nicht bereit, den palästinensischen Arabern echte Autonomie oder ein Mitspracherecht bezüglich der Festlegung ihrer eignen Zukunft zu geben“127. Carters präzise Aufzählung der israelischen Position wurde als „die sechs Neins“ bekannt. Am nächsten Tag berichtete er einer Delegation führender US-Senatoren, dass Begins Unnachgiebigkeit die Aussicht auf Verhandlungen zerstört habe128. Begin war erschüttert von diesem Gespräch. Er sagte zu seinen Beratern, dies sei der schlimmste Moment seines Lebens gewesen129. Aber sobald er wieder in Jerusalem war, wurde er trotzig. Es würde keine israelische Antwort auf Sadats Friedensangebot geben. Er würde „nichts für nichts“ bekommen130.

Das war die Situation, der Carter am Ende des Sommers 1978 gegenüberstand, nicht einmal ein Jahr nach Sadats Besuch in Jerusalem, als die ganze Welt geglaubt hatte, der Frieden sei zum Greifen nahe. Nun schien das nur noch wie ein törichter Traum zu sein. Die erbarmungslosen Legionen des Krieges waren wieder erwacht und auf dem Marsch. Terror grassierte, Bomben fielen. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden entwurzelt und verstreut. Uralter ethnischer Hass, der immer knapp unter der Oberfläche wallte, brach erneut hervor, ausgelöst durch den Kampf des 20. Jahrhunderts, moderne Nationalstaaten zu schaffen, und angeheizt durch grausame Erinnerungen und so tief greifende Verluste, dass es aussah, als könnte die Geschichte niemals alle Leichen begraben.

Die drei Männer, die sich in den Mittelpunkt dieser nicht enden wollenden Tragödie gestellt hatten, waren größtenteils durch Zufall oder Glück in ihre Ämter gekommen. Sadats radikale Reformen hatten sein Land erschüttert und die arabischen Ölscheichs verprellt, deren wirtschaftliche Unterstützung dringend benötigt wurde. Sein Angebot an Israel hatte islamische Extremisten zur Raserei gebracht. Mehrere arabische Regierungschefs planten tatsächlich, Sadat ermorden zu lassen. Er schien ihren Hass regelrecht herauszufordern, nannte seine Rivalen „Pygmäen“131. Trotz der sich gegen ihn erhebenden Kräfte war Sadat alarmierend großspurig geworden. Immer häufiger benutzte er die erste Person Singular; er sprach von „meiner Wirtschaft“ oder „meiner Armee“132. Die CIA-Analysten merkten an, dass sein Beraterkreis auf eine Handvoll Speichellecker geschrumpft war, was ihm erlaubte, sich immer weiter von der politischen Realität zu entfernen. Er machte sich falsche Vorstellungen über Carters Fähigkeit, Israel eine Lösung aufzuzwingen. „Wenn der Nahe Osten ein Kartenspiel ist, hält Amerika 90 Prozent davon“133, sagte er immer wieder, als könne Carter einen Zauberstab schwingen und Menachem Begin überreden, sein lebenslanges Projekt freiwillig aufzugeben.

Begin hatte seine politische Laufbahn in der Opposition verbracht, wo er allen Erwartungen nach bleiben sollte, bis dann Sadat den Krieg von 1973 begann und ein schockiertes Israel sich dem Mann zuwandte, der die am schwersten verwundeten und aggressivsten Eigenschaften der israelischen Psyche verkörperte. Blockade, nicht Führerschaft, lag in seiner Natur. Statt entgegenkommender und flexibler zu werden, um politischen Konsens zu erreichen, blieb Begin seiner Ideologie verhaftet. Die CIA-Analysten stellten eine Zunahme seiner provokativen Bemerkungen und seines feindseligen Verhaltens fest. Die schlechtesten Eigenschaften beider Männer übernahmen die Kontrolle über ihre Persönlichkeit, zerstörten jede Möglichkeit, miteinander arbeiten oder einander auch nur verstehen zu können.

Von allen dreien war Carter in der schwächsten Position. Seine Präsidentschaft näherte sich dem Scheitern. Er war ins Amt gekommen durch den Sieg über einen nicht gewählten Präsidenten, Gerald Ford, der Richard Nixon begnadigt hatte, die am meisten verhasste Figur der amerikanischen Politik. Genau die Eigenschaften, die Menschen überzeugt hatten, für Carter zu stimmen – seine Ernsthaftigkeit, sein Außenseiterstatus, sein Versprechen, „nie zu lügen“ – erschienen nun wie die unbeholfene Naivität eines Amateurpolitikers. Er war intelligent, aber unpersönlich, mit einer Art mechanischer Gemütsbewegung, die es den Menschen schwer machte, ihn zu mögen. Ständig zeigte er ein breites Grinsen – der Gegenstand zahlloser Karikaturen –, doch statt Wärme oder Humor auszudrücken, wirkte sein Lachen oft dümmlich, unaufrichtig oder bedrohlich auf Menschen, die den Zorn dahinter sahen. Carter war von Natur aus kühl und zurückhaltend, doch wenn er wütend war, wurde er eisig. Seine Stimme wurde leise, seine Augen verhärteten sich und schossen Blitze, und sein unpassendes Lächeln wurde zu einer eingefrorenen Grimasse. Menschen, die ihm in diesem Zustand begegneten, vergaßen es selten. Er war persönlich rechtschaffen, aber es gab andere wichtige Eigenschaften, die ihm fehlten. „Wenn ich einen Politiker wählen sollte, der an der Himmelstür sitzt und das Urteil über meine Seele fällt, dann wäre das Jimmy Carter“, bemerkte James Fallows, sein unzufriedener früherer Redenschreiber134. Fallows stellte Carter als einfältig und leidenschaftslos dar, gefangen in einem Labyrinth aus Einzelheiten und unfähig, Prioritäten zu setzen oder auch nur seine Ziele zu artikulieren. „Ich kam zu der Überzeugung, dass Carter 50 Dinge glaubt, aber keine einzelne Sache“, schrieb Fallows nach seinem Rücktritt. Carter stellte Listen zu erledigender Aufgaben ohne Prioritäten zusammen, diskutierte über alles von Abtreibung bis zu Zero-Base-Budgeting (Null-Basis-Budgetierung) in alphabetischer Reihenfolge135. Er nahm sich Zeit, um die Rechtschreibung von erhaltenen Memos zu korrigieren, und gab seinem Stab das Gefühl, nie genug tun zu können, um ihn zufriedenzustellen136. Fallows beschrieb ihn als ebenso gewandt und klug wie jeden der gewählten Präsidenten, aber ein echter Intellektueller war er nicht. Carters außerordentliche Selbstdisziplin zeigte sich in getippten Listen der klassischen Musik, die er sich während des Tages anhören würde; er zitierte Reinhold Niebuhr oder Bob Dylan, um die Weite seines kulturellen Horizonts aufzuzeigen; und doch wirkten diese Hinweise oberflächlich und unreflektiert, ein Versuch, die Unsicherheit zu bekämpfen, die ihn ständig verfolgte, trotz des allwissenden Verhaltens, das er vortäuschte. Seine Bestrebungen, in Camp David einen Konflikt zu lösen, den niemand je zu einem Abschluss hatte bringen können, zeigte seine beeindruckende Hartnäckigkeit, aber auch ein erstaunliches Maß an Hybris. Seine Hauptaufgabe würde die Überwindung seiner eigenen Grenzen sein.

Alle drei Männer sahen sich selbst als lebende Beispiele prophetischer Tradition. Die Worte der Propheten hallten in ihren Köpfen wider. Begin glaubte felsenfest, Gott habe seinen Vorvätern das Gelobte Land geschenkt und Israel sei die letzte Zuflucht des jüdischen Volkes, das ständig vom Schreckgespenst der Auslöschung verfolgt wurde. Es sei seine historische Bürde, es in Sicherheit zu bringen. Sadat stellte sich als der Retter seines gedemütigten und geknechteten Volkes dar. „Gott der Allmächtige hat es zu meinem Schicksal gemacht, die Verantwortung im Namen des ägyptischen Volkes zu übernehmen und an dieser schicksalhaften Verantwortung der arabischen Nation und des palästinensischen Volkes teilzuhaben“, hatte er in der Knesset gesagt. Carter war mit der blutrünstigen Geschichte des Alten Testaments wohl vertraut; dennoch sagte er: „Ich spürte, dass Gott Frieden im Heiligen Land wünschte und ich dabei nützlich sein könnte“137. Der Glaube dieser Männer an ihre Traditionen befähigte sie, an die Rechtmäßigkeit ihres Anliegens zu glauben, doch gleichzeitig stellte religiöses Denken das größte Hindernis für den Frieden dar. Das Vorhandensein göttlicher Gebote, die keinen Kompromiss duldeten, lenkte immer noch das Denken dieser Männer, die teils in der modernen säkularen Welt lebten – mit deren unterschiedlichen Sichtweisen und widersprüchlichen Anforderungen – und teils in der Welt von Prophezeiung und Offenbarung. Das Unterfangen, Frieden im Nahen Osten zu schaffen, machte es erforderlich, diese unterschiedlichen Sichtweisen zu vereinen, etwas, zu dem viel stärkere und angesehenere Persönlichkeiten nicht fähig oder gar bereit waren, es auch nur zu versuchen.

Im Juli 1978 fuhren die Carters für ein ruhiges Familienwochenende nach Camp David138. Die Bemühungen des Präsidenten, die Kontrahenten zu Friedensverhandlungen an einen Tisch zu bringen, hatten zu nichts geführt; ja, die Ereignisse schienen sich in die entgegengesetzte Richtung zu entwickeln, hin zu Krieg und Ausweitung der Konflikte. Jimmy erzählte Rosalynn von seiner Frustration über den festgefahrenen Friedensprozess, und sie schlug vor, er solle noch einen letzten Versuch unternehmen. Vielleicht könne er die beiden Männer hierher bringen, nach Camp David. Carter sprang sofort auf die Idee an. „Es ist so schön hier“, stimmte er zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand hier sein könnte, nahe der Natur, friedvoll und abgeschieden von der Welt, und weiterhin einen Groll hegen“139. Er sollte sich der Naivität dieser Aussage noch bewusst werden.

Rosalynn führte an, dass es für die beiden Männer unmöglich sein würde, von ihren rigorosen Standpunkten abzurücken ohne einen dritten Beteiligten, der bereit wäre, die Schuld auf sich zu nehmen. „Bist zu bereit, als Sündenbock herzuhalten?“, fragte sie. „Das bin ich ja gewohnt“, erwiderte Carter. Er wurde bereits von der Presse an den Pranger gestellt und lächerlich gemacht, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was passieren würde, wenn der „mächtigste Mann der Welt“ einen Friedensgipfel inszenierte, der zu dem Fiasko würde, das jeder vorhergesagt hatte.

„Du hast dich noch nie vor Misserfolgen gefürchtet“, erinnerte ihn Rosalynn. Einige Wochen später schickte Carter seinen Außenminister Cyrus Vance nach Ägypten und Israel, mit handgeschriebenen Einladungen an die beiden Regierungschefs, Anfang September nach Camp David zu kommen. Carters entsetzte Berater versuchten, seine Erwartungen zu dämpfen. Vizepräsident Walter Mondale, der nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski sowie Verteidigungsminister Harold Brown warnten ihn, der Plan habe wenig Aussicht auf Erfolg140. Die Regierung habe dem Nahen Osten bereits außergewöhnlich viel Zeit gewidmet, ohne ein Resultat aufweisen zu können, während viele andere wichtige Belange unter den Tisch gefallen seien. Die Differenzen zwischen den beiden Beteiligten seien zu groß, um beigelegt zu werden, argumentierten die Berater. Falls Carter noch mehr von seinem politischen Kapital in ein Projekt investiere, das so eindeutig zum Scheitern verurteilt sei, könnte es seine schwache Regierung torpedieren141. „Wenn Sie versagen, sind wir geliefert“, hatte ihn Mondale gewarnt. „Wir werden unser Ansehen als nationale Führer untergraben. Wir müssen einen weniger riskanten Weg für Friedensverhandlungen finden.“142

Carter hatte ihren Zweifeln wenig entgegenzusetzen. Selbst in den schriftlichen Lagebesprechungen, die er während seines Urlaubs in Wyoming las, kamen ihre Bedenken zum Ausdruck. „Unser Hauptziel in Camp David besteht darin, den momentanen Stillstand auf höchster politischer Ebene aufzubrechen, damit Verhandlungen für detaillierte Vereinbarungen auf ministerieller Ebene fortgesetzt werden können“, riet Vance. „Unser Ziel besteht nicht darin, ein detailliertes Abkommen zu erreichen.“143

Jetzt war es zu spät. Gegen den Rat seiner engsten Berater und gegen sein eigenes politisches Interesse hatte Carter beschlossen, alles aufs Spiel zu setzen. In Camp David würde es nicht darum gehen, einen politischen Stillstand aufzubrechen, damit weitere Verhandlungen stattfinden konnten; es würde darum gehen, ein dauerhaftes Friedensabkommen für den Nahen Osten zu schaffen, mit den Unterschriften aller drei Regierungschefs. Auf einem Notizblock listete Carter alle Gründe auf, warum die beiden Länder Frieden schließen müssten, und schrieb dann zuversichtlich: „Der erste ägyptisch-jüdische Frieden seit der Zeit Josefs“144. Dann strich er „Josef“ aus und schrieb „Jeremia“ – der verzweifelte Prophet aus dem 7. Jahrhundert v. Chr., der sowohl die Vernichtung der Israeliten wie auch der Ägypter wegen ihres Unglaubens und ihres Eigensinns vorhersagte:

Wir hofften auf Frieden, und da ist nichts Gutes,

auf eine Zeit der Heilung, und siehe da: Schrecken.145

Anwar Sadat strich das „y“ an seinem Nachnamen nach der Revolution von 1952.

∗∗ Brisk war der Name, den die Juden der als Bresk-Litowsk bekannten Stadt gaben, gelegen zwischen Russland und Polen, die beide diese Stadt zu verschiedenen Zeiten für sich beanspruchten. Im 16. Jahrhundert wurde sie für kurze Zeit zur Hauptstadt Litauens. Heute heißt sie Brest und gehört zu Weißrussland.

∗∗∗ Begin bezog sich vermutlich auf einen Vorfall im Oktober 1966 in dem Jerusalemer Vorort Romema Elite, als zwei Gebäude durch Attentäter bombardiert wurden, die mit der palästinensischen Terrorgruppe El-Fatah in Verbindung standen. Vier Menschen wurden verletzt, keiner ernsthaft. Begins Sohn Benny und seine Familie wohnten in einem der Gebäude, waren aber nicht unter den Verletzten aufgeführt.

∗∗∗∗ Die britische Volkszählung von 1922 in Palästina verzeichnete 84.000 Juden und 670.000 Araber, von denen 71.000 Christen waren und der überwiegende Rest Muslime.

Dreizehn Tage im September

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