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IV

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Zuerst Libyen, daran war man bereits gewöhnt, Libyen und La Belle. Jeder kannte den schönen Namen der Disco in Berlin, wo vor allem Angehörige der dort stationierten US-Army ihre Nächte durchgetanzt hatten. Seit im La Belle in der Nacht auf den 5. April zwei US-Soldaten und eine Türkin von einer Bombe zerfetzt worden waren, fünfundzwanzig Besucher das Blutbad überlebt hatten, zweihundertfünfzig froh waren, dass nur ihr Trommelfell geplatzt war, wurde ständig mit Vergeltung gedroht. Dass Gaddafi hinter dem Attentat steckte, galt als sicher.

Kaufmann hasste das Wort Vergeltung. Er hatte sein Croissant wieder auf den Teller gelegt, um das Radio abzustellen. Fußball und Wetter interessierten ihn nicht. Die Meldung war kurz: Meilen, Zürichsee. Ein Schweizer Diplomat, Mitte vierzig, werde seit gestern vermisst. Nach Polizeiangaben sei Suizid nicht auszuschließen. Die Verlobte des Vermissten, wohnhaft in Lausanne, bestreite das.

Der Fremde erschien keine fünf Minuten später am Frühstückstisch. Aus dem Radio kam Klaviermusik.

Kein Schumann, oder?, sagte der Fremde und setzte sich auf den freien Stuhl.

Skrjabin, cis-Moll-Etüde. Es geht aber nicht um Skrjabin, es geht um Horowitz. Er wird zum ersten Mal seit einundsechzig Jahren wieder in seiner Heimat auftreten, am 20. April in Moskau. Die cis-Moll-Etüde gehört zu seinen Bravourstücken. Bravour-, das Wort würde er sich verbieten. Dafür ist dieses Stück zu dunkel, viel zu dunkel.

Kaufmann behauptete später, es sei das Interesse des Fremden an Horowitz gewesen. Das habe ihn auf die Idee gebracht, diese Reise anzutreten. Der Fremde behauptete später, es sei Kaufmanns Instinkt für das Richtige gewesen, sein Gespür dafür, dass diesem Zufallsbekannten die Geschichte eines anderen helfen könnte, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Jedenfalls saßen sie, die Croissants waren noch nicht verdaut, in Kaufmanns altem Peugeot, am Steuer der Fremde. Sagen Sie Robert zu mir, hatte er gebeten, als Kaufmann ihm drei Hemden und drei fabrikneue Unterhosen auslieh. Der Rhythmus der Scheibenwischer machte es Kaufmann leicht, zu erzählen.

Es war in Basel, fast genau vor neunundvierzig Jahren, ebenfalls April, nur das Wetter war besser. Sie können es Zufall nennen, dass ich ihn kennenlernte. Ich würde es … Gut, lassen wir das. Ich war am Stadttheater Solorepetitor, meine zweite Saison, erste Station auf meiner Dirigentenlaufbahn. Ich durfte bunte Abende dirigieren und selbst komponierte Weihnachtsmärchen, als Höhepunkt mal Mozarts Schauspieldirektor. Mitleid? Lassen Sie’s. Mit einundzwanzig kann man sich darüber noch freuen. Mein Vater verkündete, sein Sohn werde nun doch kein zweiter Liszt, dafür ein zweiter Toscanini. Er wusste so gut wie ich, dass es ein Ausweg war oder eine Ausrede.

Ein niederländischer Maler, Bob Gésinus-Visser, gar nicht schlecht übrigens, von vielem angehaucht, von Nabis, Fauves und Neoimpressionisten, nur auf Besuch in Basel, mit dem ich über meinen Freund Jörg, ebenfalls Maler, zusammenkam … Also, Bob hörte, ich sei eigentlich Pianist, und fragte: Wollen Sie Horowitz kennenlernen?

Kaufmann musterte den Mann, der Robert genannt werden wollte, von der Seite. Ich weiß nicht, ob es für Sie jemanden gibt …

Ja, Tina Turner.

Zwei, drei Jahre zuvor hatte ich Horowitz in der Tonhalle erlebt. Sie haben es nicht so mit der Klassik, was? Also, das Publikum klatscht dort üblicherweise so, als müsste es zahlen für zu viel Applaus. Bei Horowitz standen alle nach der dritten Zugabe und gingen schließlich widerwillig, mit roten Handflächen und Köpfen.

Bob kannte Horowitz erst seit Kurzem, durch die Bernoullis. Sie sind Schweizer, Ihnen muss ich zu diesem Namen nichts erklären. Das Haus kannte in Basel jeder, Holbeinstraße 69, von außen brav und bescheiden, zwei niedrige Geschosse, weißgelackte Sprossenfenster, Schlagläden, und innen drin? Innen war Europa. Die Gäste, Sie verstehen, einmalig. Bernoulli, in diesem Fall Christoph Bernoulli der Soundsovielte, war Kunsthändler, Innenarchitekt, Musikwissenschaftler aus einer Musikerfamilie und seine Frau Alice, geborene Meisel, Modezeichnerin, jüdische Polin. Horowitz als jüdischer Ukrainer mit polnischen Großeltern passte hierher.

Die Bernoullis prüften mich auf Horowitz-Tauglichkeit. Nach dem Abendessen musste ich vorspielen, nach dem Vorspiel wurde gnädig genickt. Zwei Tage später …

Er brach ab und wurde ganz Scheibenwischer, atmete sogar in ihrem Rhythmus, sagte aber nichts. Erst nach ein paar Minuten meinte er: Das erzählt sich besser vor Ort.

Als Robert im Steinengraben parkte, hatte er unter der Kuppel des Autodachs gehört, wie Horowitz das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow spielte, zwei Mal hatte er es hören müssen. Beim ersten Mal versäume man atemlos über dem Staunen die Musik, hatte Kaufmann erklärt. Andere sind als reife Pianisten über diesem Stück wahnsinnig geworden, er hat das mit siebzehn gespielt, obwohl er damals lieber Wagners Götterdämmerung und sämtliche Puccini-Opern hinlegte, auswendig natürlich.

Bei seinem Abschlussexamen in Kiew spielte er nach ein paar Anwärmstücken von Bach bis Beethoven, an denen Mitstudenten scheiterten, die mörderische zweite Sonate von Rachmaninow, Chopins gnadenlose Fantasie in f-Moll, und hinterdrein gab er noch die Don-Juan-Paraphrase von Liszt, da wird Ihnen beim Zuhören schwindlig. Es soll das erste und einzige Mal gewesen sein, dass die Jury sich aufgeführt hat wie ungefähr fünfzehn Jahre später das Publikum in der Tonhalle.

Der Regen war in Nieseln übergegangen. Der Steinengraben langweilte sich menschenleer. Zwischen Versicherungs- und Bankenbeton verzagten ein paar zierliche Barockhäuser. Kaufmann blieb vor einem Sechzigerjahre-Kasten stehen. Hier müsse es gewesen sein, er sei nie mehr hergekommen seither, damals ein Bau aus den Zwanzigern, ein Gästehaus, nichts Aufregendes. Erste Adressen habe Horowitz gemieden, in Paris das Ritz, in Basel die Drei Könige, in Zürich das Baur au Lac.

Sein Blick klebte beim Reden an der Fassade. Horowitz hatte ein Appartement gemietet, erster Stock, zwei helle Zimmer mit Steinway. Geöffnet hat er selbst. Er war etwas kleiner als ich, und ich hätte ihn vermutlich wegen der tiefen Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln für mindestens fünfzehn Jahre älter gehalten. Es waren aber nur zwölf. Der Tisch war zum Tee gedeckt, für zwei. Keine Musik, kein Radio, kein Grammofon.

Horowitz setzte sich so, dass er meine Hände von der Seite sah beim Spielen. Sagte wenig. Langsamer, kam es irgendwann. Da steht Crescendo, nicht Accelerando. Lauter werden heißt nicht schneller werden. Oder: Singen, mit den Fingern singen. Er sprach mit russischem Akzent. Mein Deutsch ist schrecklich, entschuldigte er sich, mein Vater sprach fehlerfrei, welcher Schande, sagt man das?

Als ich den Deckel zuklappen wollte, stand er auf und legte sein Jackett ab. Er wog nicht viel, Bizeps hatte er auch keinen. Über dem Bauch spannte sein Hemd, ein rotes Hemd. Er roch nach einem Parfum aus Veilchen, Lavendel und Kaffeebohnen und nach Zigaretten. Mit zwei Fingern korrigierte er meine Handhaltung. Seine Hände waren schmal, eher klein, weiß und haarlos, die Finger lang, knochig, die Enden stumpf. Was mir auffiel, war die Muskulatur seiner Daumen.

Kaufmann nahm Roberts Hand. Sehen Sie, hier, wo es sich bei Ihnen oder mir nur leicht wölbt, saß bei ihm eine beinharte Halbkugel.

Ich wartete auf sein Urteil. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Sie sind musikalisch, sagte er. Aber Klavier spielen können sie nicht.

Kaufmann spannte den Schirm auf, gab ihn Robert und setzte sich neben ihm in Bewegung Richtung Norden.

Gibt es bei Ihnen auch Sätze, die Sie nie vergessen?

Sogar einen ganz frischen, sagte Robert. Gestern fuhr ich mit der Fähre über den See, von Meilen nach Horgen. Ein alter Mann, der offenbar nichts anderes tut, als mit der Fähre hin und her zu fahren und da an seinem Stammplatz nistet, sagte: Sie sehen aus, als würden Sie zum ersten Mal ans andere Ufer fahren.

Und?, fragte Kaufmann. Hatte er recht?

Hatte Horowitz recht?, fragte Robert.

Es war Darjeeling, machte Kaufmann weiter, und er schenkte ihn von weit oben ein. Ich sollte nicht, sagte er, als er den zweiten Löffel Zucker in seine Tasse rieseln ließ, aber ich brauche es. Dann zog er seine Hosenbeine hoch. Seine Waden waren steckendünn, trotz der weißen Bandagen. Eine Venenentzündung, sagte er, noch immer nicht ganz ausgestanden. Sie haben mich nach einer Blinddarmoperation zehn Tage liegen lassen.

Das mit den zehn Tagen hat er zwei Mal wiederholt. Den Pariser Ärzten habe er schon vorher misstraut, alle prominenten Chirurgen abgeklappert, jedes Mal das Gleiche: Ihr Blinddarm ist völlig in Ordnung, was wollen Sie? Jeder verweigerte ihm die Operation. Einer hatte sich schließlich breitschlagen lassen. Aus den zehn Tagen wurden drei Monate, nur wegen der Venen. Seine Amerikatournee musste er absagen. Und dann kam eine Bemerkung, die mich irritierte, das weiß ich noch. Sie kam ganz leise. Gut für die Nerven, schlecht für die Seele, sagte Horowitz. Die Dämonen lieben die Untätigen.

Beide Spaziergänger hielten den Mund, Kaufmann summte eine Passage aus dem langsamen Satz des Dritten von Rachmaninow, bis sie vor dem Bernoullianum standen, sogar unter dem wieder stärker gießenden Gewölk ein adrettes kleines Bildungsschloss. Mich hat die Architektur, die Geschichte der ehemaligen Sternwarte, die Bibliothek und all das hier nie interessiert, nur der Park nebendran.

Er schwenkte nach rechts; die Wege unter den noch fast kahlen Bäumen nass, das lichte Grün troff.

Auf dem Heimweg in meine Pension habe ich hier immer welche getroffen, die wie ich heiß darauf waren, jemand Neuen zu entflammen.

Horowitz hatte davon keine Ahnung. Er hatte mich zum Abendessen eingeladen, ziemlich teuer, Champagner, Spargel, pochierter Rhein-Salm, Erdbeeren mit Vanille-Glacé. Mir schien das eine Art Pflaster auf die Wunde zu sein, die er mir zugefügt hatte, außerdem kannte er in Basel anscheinend außer den Bernoullis keine Menschenseele. Nach dem Abendessen spendierte er noch einen Drink in der Bar drei Häuser weiter. Der Alkohol hatte mich träge gemacht. Es traf mich aus dem Nichts. Ich habe einen Erholungsurlaub in Luzern gebucht, sagte Horowitz. Soll ich Ihnen dort ein paar Lektionen geben?

Kaufmann machte eine Pause, als erschreckte er noch immer.

Es geschah auf dem Rückweg. Meine Manieren funktionierten noch, ich wollte ihn heimbegleiten; mein Hirn war konfus. Warum wollte er, der bisher keinen einzigen Schüler hatte, sich im Urlaub eines schlechten Klavierspielers annehmen, mit einundzwanzig eh zu alt für die große Karriere? Von seinem Privatleben wusste ich nur, was jeder wusste. Über diese Sensationsehe hatten sogar die Schweizer Hausfrauenblätter berichtet: Der berühmteste Pianist der Welt heiratet die Tochter des berühmtesten Dirigenten der Welt. Wanda Toscanini war nur Tochter von Beruf und sah auf Fotos nicht sehr verführerisch aus, eher wie ein mürrischer Mann in Haute Couture. Trotzdem, es war sein Urlaub. Und dann ein Schüler, der Ärger versprach. Was sollte das?

Robert blieb stehen, weil Kaufmann stehen blieb.

Ja, ziemlich genau hier war’s, im Windschatten. Horowitz wollte eine rauchen. Er hielt die Zigarette zwischen den ausgestreckten Fingern, ich durchwühlte meine Taschen nach meinem Feuerzeug. Als ich ihm endlich Feuer gab, nahm er seine Zigarette aus dem Mund, ließ sie auf den Boden fallen und küsste mich.

Langsam wandte Robert sein Gesicht zu Kaufmann.

Er lächelte.

Der Klavierschüler

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