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ОглавлениеDer Vierwaldstätter See schlief an diesem Nach- mittag. Sein Blau war unbewegt und tief, und die Wälder um ihn her träumten. Noch störten die Fremden nicht.
Auf dem Parkplatz mit Aussicht stand nur ein alter Peugeot, daneben zwei Männer.
Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, sagte Kaufmann ins Weite. Wie schön er ist.
Aber Ertrinken ist wie Ersticken, kam Roberts Stimme von der Seite. Kein angenehmer Tod.
Ich hätte erwartet, dass Sie schwimmen können. Kaufmanns Harmlosigkeit war wasserdicht.
Robert schnappte nach Luft, setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Wie viel wusste er?
Vermeiden lassen würde es sich nicht, dass Kaufmann erfuhr, mit wem er da in seine Vergangenheit reiste. Robert konnte sich selbst nicht erklären, warum dieses Niemandsland, in dem er sich seit gestern aufhielt, so viel bedeutete und er es so lange wie möglich verteidigen wollte. Gut, als Kind hatte er sich schon eine Tarnkappe wie Siegfried gewünscht, der sah, ohne gesehen zu werden. Keiner erfuhr mehr über die anderen und über das, was sie von einem selbst hielten.
In den letzten Jahren hatte er seinen Psychoanalytiker beneidet, kein Ehering, keine Selbstauskunft, weder sexuell noch politisch oder ideologisch, auf jede Frage dieser Art immer nur mit bedeckter Stimme: Was vermuten Sie?
Kurz nach der Stadteinfahrt von Luzern kurbelte Kaufmann an der ersten roten Ampel das Fenster herunter und fragte, wie man zur Furrengasse komme.
Es sei klüger, hieß es, das Auto im Parkhaus loszuwerden und zu Fuß dorthin zu gehen.
In der Furrengasse war es still. Keine Geschäfte, keine Cafés, keine Restaurants, unterwegs war nur eine Frau, die am Rollator hängend den beiden Männern entgegenkam, nun aber keinen Schritt mehr von der Stelle tat und die Eindringlinge ins Visier nahm.
Los war hier damals schon nichts, sagte Kaufmann. Meinem Vater war das mehr als recht. Er hatte persönlich das Zimmer für mich ausgesucht. Die Neugier der Anwohner war Teil einer Alarmanlage.
Kühl wehte den Spaziergängern der Geruch von Mörtel und frischem Beton entgegen. Vor einer Baulücke, die Nachbargebäude rechts und links abgestützt, seufzte Kaufmann: Unsere Spuren werden vernichtet, vielleicht gut so. Hier hat es gestanden, ein Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert oder noch älter. Die Treppen knarzten, die Dielen knarzten, und Madame war Witwe und schlief schlecht. Das war der andere Teil der Alarmanlage. Spätes unbemerktes Heimkommen unmöglich, schon gar nicht in Begleitung. Er grinste. Es war nicht Horowitz, dem mein Vater misstraute, der hatte keinerlei Verdacht erweckt. Sein erster Brief an mich war ans Elternhaus in Zürich adressiert, wo ich am Wochenende hinfuhr, die Basler Pensionswirtin öffnete meine Post. Er war auf Deutsch verfasst, handschriftlich, und nicht erotischer als eine Rechnung. Es lag eine Liste mit Stücken bei, aus denen ich welche auswählen und vorbereiten sollte für die Lektionen in Luzern. Ich lese sie immer mal wieder durch. Bach, drei Stücke aus dem Wohltemperierten Klavier, zwei davon in Moll. Beethoven, 32 Variationen c-Moll. Schumann, Fantasiestücke und Toccata. Chopin, die As-Dur-Ballade und insgesamt vier Etüden aus Opus 10 und Opus 25, alle in Moll. Hinter einigen Werken stand: Nur langsam üben!
Überall hatte mein Vater herumerzählt, sein Sohn werde nun der erste Schüler des weltweit größten Pianisten, sogar Rubinstein habe der überholt; billig sei es nicht, aber den Luxus gönne er sich.
Nur einem misstraute er: mir. Aus gutem Grund. Ich wollte jedem gefallen, Bildung, Herkunft, Geschlecht ziemlich egal, und gab dafür mein Letztes, vor allem nachts.
Kaufmann betrachtete die Bautafel, sie zeigte den Neubau. Man könnte weinen, flüsterte er und ging zügig weiter.
In der Haldenstraße wehte es den See herüber. Die Nummer 57 hätte vier Nummern benötigt. Eine Front, drei Giebel, unter jedem ein Wort. Links Carlton, in der Mitte Hotel und rechts Tivoli. Hohe Tannen und Tujen rahmten das Gebäude.
Innen ist es angeblich nicht mehr so vornehm wie vor bald fünfzig Jahren, sagte Kaufmann. Die Geldigen bleiben weg, die wollen heute einen Whirlpool auf dem Zimmer. Ihm genügte sein Steinway.
Unten, im Erdgeschoss, vor den hohen Fenstern, war die Terrasse des Restaurants, ist sie noch, aber da sitzt bei diesen Temperaturen keiner. Wir saßen dort jeden Mittag beim Lunch, leider nicht allein. Seine Frau war nach London geflohen. Nichts entnerve Wanda mehr als Ruhe und ein nur langsam genesender Mann, sagte Horowitz. Aber bei ihm war Sonia. Wie schön das Wetter war in diesem Juni siebenunddreißig kann ich nie vergessen, denn sie sagte Monsieur blanc zu mir, ich trug meistens einen weißen Anzug. Sonia hatte glühende Kohleaugen, butterweiche Hände, ein explosives Lachen und nur einen Fehler, der war ungefähr vierzig Jahre alt und offiziell ihre Gouvernante. Ich habe damals sofort nachgerechnet: Sonia wurde bald drei, Horowitz musste seine eheliche Pflicht sofort erledigt haben, in den Flitterwochen nach Weihnachten dreiunddreißig.
Kaufmann sah auf die Uhr. Fünf sei doch eine gute Zeit für einen Rum mit etwas Tee.
Der Salon des Carlton Tivoli glich einem abgehalfterten Opernhelden. Er stellte nach wie vor Ansprüche, und der einstige Ruhm war ihm noch anzusehen, man war versucht, seiner großen Vergangenheit zu applaudieren. Doch das Publikum blieb aus.
Robert schien das wohlzutun; entspannt saß er auf dem speckig gewordenen Samt und schlug vor, hier im Haus zu übernachten.
Kaufmann ließ sich Zeit mit dem Erzählen. Robert hatte Zeit. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit. Auch in einem so langsamen Beförderungsmittel wie dem Zug, in dem er gestern vom Landesteg der Fähre in Horgen nach Zürich gezuckelt war, hatte er als Kind zum letzten Mal gesessen. Jedes Warten hatte er jahrzehntelang panisch vermieden, jetzt rekelte er sich darin.
Kaufmann gefiel seine Geduld.
Die ersten Tage in jenem Juni siebenunddreißig gähnten den jungen Nico Kaufmann an. Vormittags sollte er üben, Vater Kaufmann hatte dafür einen Kirchengemeindesaal mit Klavier organisiert. Erst nachmittags, Horowitz bestand auf seinem Mittagsschlaf, waren die sogenannten Lektionen vorgesehen. Vor dem Mittagessen Spaziergang zu viert, nach dem Abendessen Barbesuch mit Schatten. Wanda zahlt ihr für die Überstunden wahrscheinlich den doppelten Tarif, spottete Horowitz.
Der Kuss in Basel war ein Signal gewesen; Kaufmann hatte damit gerechnet, nur vordergründig als Klavierschüler eingeladen worden zu sein. Doch Horowitz berührte ihn nicht, jedenfalls nicht mehr als unter Bekannten üblich und notwendig. Geküsst wurde er nicht einmal auf die Wange. Wollte Horowitz etwa doch seine pädagogischen Fähigkeiten an diesem jungen Mann erproben? Der Unterricht bestand darin, dass Kaufmann etwas von den vorbereiteten Stücken spielte, Horowitz auf dem Sofa saß, immer in derselben Ecke, ganz links, öfters überstürzt ins Bad rannte und bei der Rückkehr murmelte: Darmkoliken wünsche ich nicht einmal Rubinstein. Sonst sagte er fast nichts. Sah Kaufmann zu ihm hinüber, begegnete er niemals seinem Blick. Der war nicht für Begegnungen geeignet. Er fiel nach innen und war zu dunkel, um Iris und Pupille zu unterscheiden. Weder Handhaltung noch Fingersatz oder Interpretation wurden korrigiert, nicht einmal kommentiert. Griff Kaufmann daneben, kam müde: Langsamer. Ich habe gesagt, langsam üben.
Robert beugte sich vor. Was haben Sie sich dabei gedacht?
Kaufmann verzog das Gesicht. Der ist wie gelähmt, dachte ich, vielleicht sollte ich eins drauflegen, um seine Laune zu verbessern. Mein Ruf als guter Unterhalter war mir wichtig. Anscheinend hatte Horowitz mich als Mittel gegen seine Langeweile nach Luzern geholt. Vom Tourneenrausch in die Stille zu fallen, das halten viele nicht aus. Also servierte ich Witze, Klatsch, Anekdoten.
Mit Erfolg?, fragte Robert.
Den musste ich mir anderswo holen. Es waren genügend Töchter und Söhne reicher Eltern unterwegs, denen Ruhe und Idylle so wenig schmeckten wie Wanda.
Mehr haben Sie sich dabei nicht gedacht?
Habe ich leider nicht. Kaufmanns Stimme knickte ein. Er räusperte sich zurück ins Erzählen. Dann reisten Kind und Gouvernante ab zum Großvater Toscanini, in sein Urlaubsdomizil am Lago Maggiore. Horowitz war übrigens stolz auf das Kind und führte es jedem breit grinsend vor. Selbstgemacht, sagte er. Ich wollte eigentlich Komponist werden, leider habe ich es nicht geschafft. Das wird mein einziges Werk bleiben.
Beim Zeitzeichen für die Nachrichten stand Robert auf, ging mit großen Schritten zum Radioapparat und stellte ihn ab. Das passe nicht hierher.
Champagner, Spargel, Fisch, vermutlich Egli-Filet, und hinterdrein Erdbeeren mit Vanille-Glacé? Sie wirken, als wollten Sie mich essen sehen, sagte Robert.
Und ich lade Sie dazu ein, sagte Kaufmann.
Als das Dessert aufgetragen wurde, war er endlich so weit: Wir lagen nebeneinander auf dem Bett, Kingsize, Lehrer und Schüler beim Mittagsschlaf, kaum bekleidet. Jeden Nachmittag lagen wir nun so.
Ziemlich harmlos sei das gewesen, aber genug für einen Skandal von unvorstellbarem Ausmaß, hätte es jemand beobachtet.
Üblicherweise verriet gegen vier das Geschirrklappern auf der Terrasse unten, wo die Teetische gedeckt wurden, dass es Zeit zum Aufstehen war. Und dann kam dieser Nachmittag, träge und feuchtwarm. Geigentöne schreckten die beiden auf, aus allernächster Nähe. Sie kamen aus dem Vorzimmer der Suite.
In der Erinnerung erstarrte Kaufmann. Ich war abgebrüht, aber da setzte mein Herzschlag aus. Irgendwer hatte sich Zugang verschafft, ein Klatschreporter, Erpresser oder Paparazzo. Mir war schlecht. Mein Vater! Meine Familie! Seine Frau! Die Zeitungen! Meine Karriere!
Und seine, sagte Robert.
Ja, und seine. Horowitz blieb ruhig liegen. Er weiß alles über mich, flüsterte er, seit wir siebzehn sind, weiß er alles.
Jetzt erst hörte ich zu. Es waren Paganini-Capricen, die da direkt nebenan gespielt wurden, und wie. Meine Panik war mir peinlich. Reporter, Erpresser, Paparazzi spielen selten Geige und schon gar nicht Paganini.
Beim Tee lernte ich ihn kennen, Nathan Milstein. Gleich groß wie Horowitz, gleich alt, beinahe ebenso berühmt, Russe wie er. Und doch das komplette Gegenteil. Milstein war ein Menschenfreund, liebte Frauen und Champagner, am besten beides Magnum. Abends lud er uns in ein Dancing ein, wie das damals hieß, ein schummriges Etablissement im ersten Stock, direkt am Ufer der Reuss. Überquellende Damen mit Netzstrümpfen und falschen Wimpern, Tischtelefone, Paravents. Milstein dachte dabei weniger an sich als an Volodja. Eine bessere Deckung für ein Männerpaar gab es kaum. Meinen Champagnerrausch erbrach ich über dem Geländer hängend in die Reuss. Horowitz sah zu wie gelähmt, Milstein hielt mich fest. Keine Ahnung, wie sie es schafften, dass die Treppe nicht knarzte, als sie mich in mein Zimmer hievten.
Ich hatte die Augen geschlossen, das Haus, mein Bett ein wankendes Schiff. Da küsste mich Horowitz.
Robert beugte sich wieder vor.
Auf die Stirn, sagte Kaufmann.
Klingt heute noch enttäuscht, sagte Robert.
Kaufmanns schmale Augen glitzerten. Damals war ich süchtig, nicht nach Drogen, Zigaretten, Alkohol, ich war ein Adorationsjunkie. Je berühmter der Bewunderer, desto wirksamer die Droge. Horowitz – Sie verstehen. Was mit ihm los war, habe ich gar nicht wahrgenommen. Es war Milstein, der mich darauf stieß.
Er erzählte von Paris, es prickelte nur so. Horowitz reagierte nicht, lachte nicht, warf nichts ein, hakte nicht nach, sogar seine Mimik blieb in dieser Frühsommerhitze vereist. Hast du meine letzte Platte gehört?, fragte er Milstein. Einiges ist gut, vieles ist schlecht, sehr schlecht. Weißt du, was über mich in Paris geredet wird, warum ich nicht auftrete? Stimmt es, dass Toscanini verbreitet, wenn mein nächstes Konzert keine Sensation werde, könne ich für immer einpacken?
Milstein fragte nur zurück: Übst du wieder, Volodja?
Ich … ich versuche es, sagte Horowitz und betrachtete dabei seine Hände, als wären sie ihm völlig fremd.
Als Milstein auf die Toilette ging, passte ich ihn ab. Aber warum übt er nicht, warum spielt er nicht, wenn er ohne das depressiv wird?
Drehen Sie es um, dann geht die Gleichung auf. Bei Volodja fing das 1934 an. Eine Zeit lang konnte er es überspielen, am Klavier, auf mörderischen Tourneen. Er redet immer nur von seinen Dämonen und hat versucht, sie durch Rastlosigkeit zu ersticken.
Und warum, habe ich gefragt, warum fing es 1934 an?
Wenn Sie Daten aufeinanderlegen, können Sie oft den Zusammenhang erkennen, sagte er.
Beim Abschied drei Tage später nahm Milstein meine beiden Hände in seine, für mich sah das aus, als beteten wir gemeinsam. Tun Sie ihm gut, junger Mann. Niemand hat vor Volodja so gespielt wie er, niemand wird nach ihm je wieder so spielen. Dieser Klang! Manchmal glaube ich, dass ihm der Klang wichtiger ist als die Musik. Dafür lebte er, nur dafür. Und fürs Geld.
Ich wollte gefallen, auch Milstein. Also bekniete ich Horowitz, ihm beim Üben zuhören zu dürfen. Ich kniete wirklich, und das gefiel ihm. Er stutzte und schwieg. Spätabends in der Bar wollte er wissen, wo ich ihn gehört hatte und womit.
Tonhalle Zürich mit dem Tschaikowsky-Konzert.
Und?
Ich schwärmte haltlos.
Es war schlecht, unterbrach er mich, weil ich nicht Tschaikowsky gespielt habe, sondern Horowitz, alles Mögliche, was gar nicht in den Noten steht. Es hat trotzdem funktioniert. Je mehr Risiken ich einbaute, desto größer war der Applaus, wenn ich sie überstand.
Die Leute erwarteten von mir Nervenkitzel, und ich habe ihn geboten. Nur: Es war schlecht.
Beim nächsten Mittagessen wollte ich meine Scharte auswetzen. Zum Blender hatte ich Talent. Es sei nicht das Virtuose, es sei der Klang gewesen, behauptete ich, damals in der Tonhalle. Niemals hätte ich vorher jemanden so spielen hören. Dieser Klang, dieser unfassliche Klang!
Er schwieg. In drei Tagen, vielleicht, sagte er endlich.
Wirklich setzte er sich drei Tage später nach dem Mittagsschlaf an den Steinway, aufrecht und ernst. Schumanns C-Dur-Fantasie, ein höllisches Stück. Sein Rücken, seine Schultern blieben reglos, erst vom Ellenbogen ab bewegte er sich. Die Hände flach, die langen Finger gerade ausgestreckt, die Fingerkuppen fast aufgebogen, der kleine Finger war eingerollt und schnellte dann blitzartig hervor. Eine Handhaltung, bei der jeder ordentliche Klavierlehrer Zustände bekommen hätte. Horowitz tobte die Oktavsprünge hinunter, als wäre es ein Spaziergang, ließ die Punktierungen zucken, bewältigte mühelos die rapiden Wechsel von Tempo und Dynamik. Aber er brach ständig ab. Eine einzige Passage spielte er drei, vier, auch zehn Mal, pedalisierte anders, phrasierte anders, oft nur um Nuancen. In meinem ganzen Leben hatte ich niemals so geübt.
Aber da war noch etwas ganz anderes. Wenn Horowitz eine Taste anschlug, sie aber sofort wieder losließ, ging die Resonanz wie ein Wunder auf im Raum, und der Raum ging auf im Weltenraum. Ich erlebte hier aus nächster Nähe die Geburt der Musik im Klang. Nun erst verstand ich Milstein.
Der nächste Mittagsschlaf war alles andere als schläfrig. Als er, ein Handtuch um die Hüften, aus dem Bad kam, fragte mich Horowitz, ob ich einen Führerschein hätte, er besitze keinen, nur einen Chauffeur, und der sei beim Rolls Royce in Paris geblieben. Das Hotel mietete einen Wagen und …
Kaufmann sah auf die Uhr. Wir sollten uns um Zimmer kümmern.
Als der Peugeot am Vormittag aus dem Parkhaus rollte, hatte das morgendliche Getröpfel aufgehört. Rechter Hand der Ausfahrt zog ein Kioskbesitzer die Plastikplane von seinen Ständern.
Kaufmann überflog die Schlagzeilen.
Robert blickte geradeaus. Schon vor dem Frühstück hatte er in der Lobby die Zeitungen durchsucht. Nur zwei hatten eine Kurzmeldung gebracht, ohne Namensnennung, ohne Foto, einzige Angabe: Alleinstehender Jurist aus Meilen, dahinter in Klammern: 45. Sein prüfender Blick in den Rückspiegel fiel Kaufmann auf. Man könnte Sie durchaus für Anfang vierzig halten.
Warum sagen Sie das?
Horowitz sah nicht viel jünger aus mit knapp vierunddreißig. Sie fahren mich jetzt dorthin, wo damals ich ihn hinfuhr. Hertenstein, Gemeinde Weggis, direkt am Ufer. Da wohnt mein Freund Sergej, sagte Horowitz, schon seit fünf Jahren. Er hat sich ein Haus gebaut, die Villa heißt Senar, aus Sergej und Natalia Rachmaninow. Natalia ist seine Cousine und seine Frau seit ewigen Zeiten, seine Lebensversicherung. Fast dreißig Jahre und einen halben Kopf Länge hat Sergej mir voraus und seine Pranken! Legt er seine Hand auf meine, ist von meiner nichts mehr zu sehen. Ja, er hat mich in der Hand, mein Freund Sergej. Dann verstummte Horowitz schlagartig. Sein Schweigen vibrierte. Ich hörte Milstein reden: Meine Beziehung zu Sergej ist unkompliziert. Manchmal empfängt er Gäste im gestreiften Schlafanzug. Knochig wie er ist, mit seinem düsteren Ausdruck und diesem Stoppelschädel sieht er dann aus wie ein Häftling. Ich lache drüber, und wenn er sauer wird, gehe ich einfach.
Rachmaninow und Horowitz bezeichneten sich überall als Freunde, dicke Freunde, wichtigste Freunde. Aber einfach sei es nicht zwischen den beiden, verriet mir Milstein. Rachmaninow erklärte anderen oft: Horowitz spielt mein Drittes besser als ich. Widersprach ihm dann keiner, knallte er die Türen zu. Seinem Freund Milstein hatte Horowitz gestanden, dass er vor Zittern kaum den Klingelknopf drücken konnte, als er in New York zum ersten Mal vor Rachmaninows Tür stand, solche Angst habe er vor ihm gehabt. Da war er Anfang zwanzig gewesen. Offenbar hatte Horowitz die Angst noch immer. Er gestikulierte, rutschte hin und her und gab ab und zu ein Stöhnen von sich, als hätte er Bauchweh.
Vor einem kalkweißen Quader im Bauhausstil, brüsk hineingekantet in einen grün gepolsterten Privatpark, bat Kaufmann Robert anzuhalten.
Das Haus passt zu seinem unzugänglichen Hausherrn, dachte ich damals. Und dann … Ich starrte auf die Haustür, wie Sie jetzt. Sie führte zum Olymp. Dort traf mein Gott Horowitz seinen Gott Rachmaninow, und ich, ein bedeutungsloser Repetitor von einundzwanzig Jahren, würde auf dem Olymp dabei sein. Nur warum? Schlagartig wurde mir klar, was Horowitz nervös machte. Seine Mutter war tot, sein Vater hatte ihn in Paris besucht, das erste und wohl letzte Mal, dass er aus der Sowjetunion ausreisen durfte. Horowitz meinte es ernst mit mir, mit uns. Rachmaninow ersetzte ihm die Eltern, und heute war der Tag, an dem er dem wichtigsten Menschen in seinem Dasein den Geliebten präsentieren wollte. Mir ist schier die Hose geplatzt.
Horowitz stieg aus und kam zu mir auf die Fahrerseite herüber, ich hatte schon ein Bein aus der Tür. Bitte ein Stück zurückfahren, sagte er. Ich setzte zurück, er stand da und bedeutete: Noch weiter, weiter. Die Villa war nicht mehr zu sehen, sah also mich nicht mehr. Horowitz ging auf das Haus zu, wie an einer Schnur gezogen. Seine Haltung verbot es, ihm nachzugehen. Umdrehen würde er sich bestimmt nicht. Ich riss die Wagentür auf, wollte schreien. Es klang wie Kläffen. Die Metzger hatten damals noch alle dieses Schild mit dem gekritzelten Hund: Wir müssen draußen bleiben. Rasch hatte ich die Möglichkeiten durchgespielt. Hupen, klopfen, klingeln, rufen. Lief alles auf dasselbe hinaus. Frau Rachmaninow, vielleicht auch nur jemand vom Personal am Eingang. Sein Chauffeur?, würde es heißen. Sie dürfen gerne in der Küche auf ihn warten.
Nicht vorstellen, nein, verleugnen wollte er mich. Ich war für ihn nicht mehr als ein Edelstricher, nur eben einer, der kein Geld nahm, sondern mitbrachte für den Unterricht. Meine Vorzüge: gute Tarnung durch musikalische Ambitionen, reduziertes Syphilisrisiko, unverdächtiger Hintergrund. Arzthaushalt, solide Bürger, mittlerweile wohnhaft in einer Villa an der Seepromenade. Ich wartete und wurde allmählich schläfrig und leer.
Nach mehr als zwei Stunden öffnete Horowitz die Tür auf der Beifahrerseite und setzte sich neben mich. Kein Wort der Entschuldigung.
Es war schon dunkel, als wir beim Carlton Tivoli vorfuhren. Ich parkte das Auto so weitab wie möglich vom Lichtschein des Hauses unter einer Tanne.
Keiner von uns beiden machte Anstalten auszusteigen.
Horowitz wartete hörbar auf Erlösung.
Ich riskierte es schließlich.
Rachmaninow verachtet Homosexuelle. Ist es das?
Horowitz’ Hand war blitzschnell und stark. Er drückte meinen Kopf zu sich. Der Kuss war länger als der in Basel. Sehr viel länger und sehr viel tiefer.