Читать книгу La Fenice - Lea Singer - Страница 4

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Zwischen sechs und sieben war ich, als ich sie kennenlernte, fast genau zehn Jahre bevor das geschah, was ich jetzt mit überreifen dreiundzwanzig endlich aufschreibe. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind übrigens kein Zufall, und dass alle Beteiligten noch am Leben sind, macht meine Geschichte spannender.

Ich lungerte vor der Haustür herum und probierte im Schatten, auf den Fingern zu pfeifen. Sie war mager und fahl wie ein Straßenhund, der seit Wochen nichts gegessen hatte, ein Sack voller Knochen, der zu klappern schien, und lief mit Büchern unter dem Arm vorbei, die ihr beinahe aufs Pflaster gekracht wären. Direkt bei mir blieb sie stehen, stöhnte nicht, versuchte aber angestrengt, den Griff um die Bücher zu ändern.

Warum schleppen Sie die schweren Bücher?, fragte ich.

Ich setze meine Studien fort, sagte sie, ging in die Hocke, erstaunlich schnell, zerrte mit der freien Hand ein Tuch von den Schultern, ließ es auf den Boden fallen, schob die Ecken auseinander, legte die Bücher drauf und packte sie in das Tuch ein.

Mir war gleich klar, dass sie log. Frauen studieren nicht.

Sie musste etwas jünger sein als meine Urgroßmutter, noch keine sechzig.

Als sie das Bündel am Knoten hochziehen wollte, knickte sie um.

Mein Mann ist letzte Woche gestorben, sagte sie, griff wieder nach dem Buchpaket und wankte davon.

Als ich meinem Vater von der Lügnerin erzählte, die wahrscheinlich gestohlene Bücher zu einem Hehler geschafft hatte, sagte er: Das kann nur die alte Fedele gewesen sein. Sie war einmal berühmt und hat anscheinend noch immer rund ums Jahr mit Briefschreiben zu tun, weil alle möglichen Adligen und Gelehrten mit ihr korrespondieren. Wenn ein weiblicher Staatsgast kommt, wird sie manchmal geholt, um die Begrüßungsrede zu halten.

Er wusste ihren Vornamen und schüttelte sich, wie ein Vater nur auf so etwas verfallen konnte – Cassandra.

Dass eine Frau, die einmal berühmt gewesen war, wie ein Straßenhund daherschlich, niemanden kannte, der ihr half, und nichts Besseres zu tun hatte, als Bücher nach Hause zu schleppen, ratterte in meinem Schädel, bis er wehtat.

Keine Woche später kam sie wieder vorbei. Ich hatte zum Spielen eine aufgeblasene getrocknete Schweinsblase gekriegt, aber es war niemand da, dem ich sie auf den Kopf schlagen konnte, also schlug ich damit gegen die Hauswand und langweilte mich.

Ich bot der alten Frau an, zwei Bücher zu tragen. Hätte ich geahnt, wie weit es zu ihr nach Hause war, ich hätte es bleiben lassen. Nah am Ghetto waren die Mieten fast so niedrig wie die Zimmer. Das Haus am Rio della Misericordia sah schon von außen krank aus. Im Eingang roch ich den Schimmel in den Wänden. Die alte Fedele wohnte im Erdgeschoss. Sie öffnete die Tür ohne Schlüssel. Bücher stiehlt hier in dieser Ecke keiner, sagte sie. Modergeruch wehte mir entgegen. Die alte Fedele dankte und kickte mit dem Fuß die Tür hinter sich zu.

Selbst schuld, dass ihre Möbel im Hochwasser geschwommen sind. Im Erdgeschoss wohnt man in Venedig nicht. Meine Mutter wusste, was sich gehörte.

Ich hätte ihr besser verschwiegen, wie die alte Fedele hauste, nun roch sie es, wenn ich bei ihr gewesen war. Meine Mutter misstraute ihr, als wäre sie eine Versucherin.

Was habt ihr geredet?

Nichts, log ich, sie hat mir vorgelesen.

Die alte Fedele besaß drei Wände voll Bücher, eine Leiter, ein Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Herd; ich saß immer am Fuß der Leiter, sie hinter ihrem Schreibtisch. Von dort schoss sie Fragen ab wie Walnüsse, sie aufzuknacken war meine Sache.

Was macht diese Stadt?, fragte sie.

Ich wusste es nicht.

… diese Stadt mitten im Wasser.

Sie spiegelt sich.

Wann und wie oft?

Dauernd.

Was passiert, wenn ein Mensch tagaus, tagein in den Spiegel starrt?

Ich denke, er wird verrückt.

Antworten gab sie so gut wie nie.

Irgendwann warf sie sich auf die Männer von Venedig.

Was fällt dir zu ihnen ein?

Sie sind mutig.

Warum sind sie mutig?

Weil sie alles riskieren, um Venedig stolz und reich zu machen, also weil sie zum Beispiel die Reliquie von San Marco aus Alexandria hierhergebracht haben.

Das hatte mein Vater mir erzählt. Erst durch die Gebeine von Marco konnte sich das Bistum Venedig gegen das von Aquileia behaupten; die Venezianer hatten zwar schon die Reste von Tòdaro, irgendeinem griechischen Krieger und Märtyrer, aber nun endlich etwas Exklusives, einen der vier Evangelisten. Ich fand es schwachsinnig, dass durch ein paar alte Knochen ein Ort wichtig wurde, trotzdem, die Kerle hatten ihrer Heimat damit eine Art Heiligenschein verschafft.

Wem gehörte die Reliquie zuvor?, fragte die Fedele.

Alexandria … also vermutlich den Ägyptern.

Wie haben die Venezianer die Reliquie in ihren Besitz gebracht?

Zwei Männer namens Rusticus und Tribunus haben sie erbeutet.

Aber die Venezianer führten doch keinen Krieg dort.

Dann eben den Muslimen abgekauft.

Hätten sie die Gebeine in diesem Fall unter Schweinefleisch, das kein Muslim berühren darf, außer Landes geschmuggelt?

Dann können sie die Knochen nur gestohlen haben.

Die Fedele war zufrieden.

… im Auftrag der Regierung.

Mit acht konnte ich dank der alten Fedele lesen, mit neun wusste ich dank der alten Fedele, was Venedig ausschließlich seinen eigenen Söhnen zu verdanken hatte. Sie hatten die Methode erfunden, eine Stadt im Wasser zu bauen, die Einkommensteuer, die offizielle Denunziation, die Herstellung von flachen Spiegeln, die schnellste Druckerpresse und die schnellste Galeere, die totale Kontrolle eines Staatsoberhaupts, den Suezkanal, den der Sultan allerdings nicht baute, das mundgeblasene Glas, Schuhe mit derart hohen Absätzen, dass keine Frau ohne Hilfe von zwei Begleitern darauf gehen konnte, den Patentschutz, die Großproduktion von Brillen und eine internationale Fahndungskommission mit Lizenz zum Töten flüchtiger Geheimnisträger. Sie hatten aus Jaffa die Überreste des heiligen Nicolò geraubt, weil auch die Seeleute einen Schutzpatron zu Hause haben wollten, und aus Byzanz die des heiligen Tòdaro; den, sagte Fedele, brauchte man in ihrer Kindheit noch, weil er für die Rückführung entlaufener Sklaven sorgte, mit denen die venezianischen Händler damals ordentlich Geld machten.

Die Venezianer, sagte die alte Fedele, handelten immer nach dem Vorsatz: Venedig zuerst. Das kam gut an. Sie stahlen aus Tiryns auf der Peloponnes Schiffsladungen von Reliquien und bestückten die Markuskirche mit dem, was sie in Konstantinopel nach der Abschlachtung der Einwohner hatten mitgehen lassen. Die Pferde aus dem Hippodrom, die seit Langem die Fassade schmücken, die Ikone der Madonna Nicopeia, die als wundertätig galt, ein Stück des Wahren Kreuzes, das Kaiser Konstantin gehört haben sollte, die beiden frei stehenden Säulen auf dem Markusplatz, zwischen denen gefoltert und hingerichtet wurde, außerdem alles, was man für den Domschatz so brauchen konnte an Gold, Edelsteinen, Kelchen und Emailarbeiten.

Die alte Fedele sah Venedig anders als die übrigen Venezianer, weil sie es jahrelang von Kreta aus betrachtet hatte – gehörte zwar zum Staat Venedig, hatte aber nichts damit gemeinsam. Auf dem Rückweg von der Insel hatten sie und ihr Mann, ein Arzt, ihren gesamten Besitz durch einen Schiffsunfall ans Meer verloren, die gewonnenen Einsichten aber waren nicht mit abgesoffen. Kam ich zu ihr, nahm sie die Brille ab. Damit ich dich unscharf sehe, sagte sie.

Als ich zehn war, begann sie ihre Spaziergänge mit mir in die Druckereien der Stadt, nirgendwo auf dem Kontinent gab es mehr als hier, hundertfünfzig ungefähr. Die Fedele machte sich darüber lustig, dass in Venedig Jahr für Jahr dreimal so viele Bücher gedruckt wurden wie in Mailand, Rom und Florenz zusammen, ausgerechnet in Venedig, wo es die besten Maler des Landes gab, aber kaum einen namhaften Schriftsteller oder Dichter.

Nach Harz und Ruß und Öl roch es in den Gewölben der Drucker, gesprochen wurde nichts, nicht einmal geflucht. Männer, deren Hemden wie Insektenflügel an den Leibern klebten, bedienten hölzerne Winden, drehten Kurbeln, drückten Hebelarme herunter, um armdicke Schrauben zu bewegen, wuchteten bleischwere Setzkästen und Papierblöcke, schoben Karren an, schmierten Gewinde, wechselten ihre Plätze, schnaubten und hoben den Blick nicht. Was drucken Sie?, fragte ich jedes Mal. Viele Druckereien boten etwas Besonderes. Wir drucken Arabisches mit arabischen Lettern, hörte ich dann, oder: Wir drucken Griechisches mit griechischen oder Glagolitisches mit glagolitischen, Armenisches mit armenischen, Hebräisches mit hebräischen Lettern, und die Lettern gießen wir selbst. Wir drucken Musiknoten und erotische Gedichte, wir drucken Landkarten und Kochrezepte, Reiseberichte und Ablassformulare, mathematische Abhandlungen und Handzettel zum Verteilen, Bücher über schwarze Magie und Gesetzestexte, jüdische Gebetbücher und politische Satiren, Heiligenlegenden und Schmähschriften.

Sie druckten alles, jedenfalls wurde alles irgendwo gedruckt.

Die Fedele fragte auch hier bis zum Anschlag.

Nein, abgelehnt wird kein Auftrag, kein einziger. Wenn wir es nicht machen … Sie verstehen? Die Auftraggeber von Schmähschriften zahlen am besten, hieß es, umso mehr, je schneller wir drucken.

Schmähschriften gegen wen?

Egal, sagten alle, der Inhalt geht uns nichts an, die Korrektoren haben sich um Satzfehler und Rechtschreibung zu kümmern, basta. Fürs Verbieten und Verbrennen sind die Gerichte da, die von der Zensur oder die von der Inquisition, wir sind für den Kunden da. Für den zählt, dass unterwegs ist, was er verbreiten will. Für immer unterwegs.

Für immer? Auch wenn das Gedruckte im Feuer landet oder im tiefsten Kanal versenkt wird und kein einziges Exemplar mehr aufzutreiben ist?

Ja, auch dann. Hast du jemandem ein tödliches Gift verabreicht, kannst du es nicht mehr zurückholen.

Es war der älteste der Druckereibesitzer, der mir das gesagt hatte, so gelassen, dass ich zu schwitzen begann.

Wie Traubenmost gärte es in mir. Als ich mit der alten Fedele allein war, schoss es den Spund heraus: Das kann doch nicht wahr sein, dass Lügen und Gerüchte nicht totzukriegen sind!

Was weißt du über Marin Falier?, fragte die Fedele.

Was jeder in Venedig über ihn weiß: dass er der dritte Doge aus der Familie Falier war und nicht mehr vom Rat kontrolliert werden wollte.

Was wollte er?

Alleine herrschen.

Wie versuchte er das?

Durch Hochverrat.

Woher weißt du das?

Davon, wie es ausging, und das habe ich oft gehört. Die Mitverschwörer wurden gehenkt, Falier wurde geköpft, der Kopf zwischen seine Füße gelegt.

Wie sah Falier aus?

Wie ein Verräter.

Gibt es ein Bildnis von ihm?

Es hängt golden gerahmt im Dogenpalast neben den Porträts der anderen Dogen, aber es wurde mit einem schwarzen Tuch übermalt.

Warum?

Damit jede Erinnerung an ihn auf immer und ewig gelöscht ist.

Gibt es Prozessakten?

Auch die wurden vernichtet oder verschwanden, weiß jeder in Venedig.

Woher weiß dann jeder in Venedig, dass er wie ein Verräter aussah und des Hochverrats schuldig war?

Weil es seit seinem Tod vor hundertundsoundsoviel Jahren weitererzählt wird.

Obwohl niemand weiß, ob es stimmt?

Als ich dreizehn war, fing die alte Fedele an, nach meinen Zielen zu fragen.

Ich kam nicht bis zum Blondsein. Als ich von einem freien und unabhängigen Leben in den eigenen vier Wänden redete, brach aus ihrem knochigen Körper ein Lachen, das ich ihm nie zugetraut hätte; es hatte Brüste wie unsere Geflügelhändlerin am Rialto, die sprangen aus dem Ausschnitt, wenn sie einer Gans den Kopf abschlug. Mit großer Geste wies einer von Fedeles dürren Armen auf ihren Hausrat; so sähe das dann aus, sagte sie, das freie unabhängige Leben. Mit der Sorte Illusion hatte sie Erfahrung.

Als Sechzehnjährige hatte sie jede Unterhaltung auf Latein führen können, als Siebzehnjährige auf Altgriechisch, worüber und mit wem auch immer. Als sie achtzehn war, hatte einer der Bellini-Brüder sie als Madonna verewigt, und ihr Vater hätte sie am liebsten auf eine Leistungsschau mitgenommen, die gab es jedoch nur für Hengste und Zuchtbullen. Berühmt wurde sie mit zweiundzwanzig; ihr Cousin Lamberto hatte in Padua sein Examen bestanden, sie wurde eingeladen, eine Lobrede auf die Wissenschaften zu halten, selbstverständlich lateinisch, die Rede wurde mit Ovationen gefeiert, zwei Jahre später gedruckt und in Europa verbreitet.

Ich kam damals wie gerufen, sagte die Fedele.

Sie passte ins Konzept von prominenten Wissenschaftlern und Gelehrten, die das Mittelalter zur Welt der Finsternis erklärten, bevölkert von dumpfen, übel riechenden, grausamen, menschenverachtenden Monstern. Die Zeit jetzt, ihre Zeit, verkauften sie als erhellt von Geist, Humanität, Erneuerung und Erkenntnisdrang.

Neu war offenbar die Erkenntnis, dass eine junge Frau denken konnte, und Männer, die ihr das zubilligten, bewiesen damit Geist und Humanität.

Die venezianische Regierung fand, dass ihr Cassandra Fedele ausgezeichnet stand; sie zeigen immer alles her, worauf sie sich etwas einbilden, die ganze Szenerie um den Dogenpalast wirkt wie aufgestellt für die Ankömmlinge, auf dass ihnen die Spucke wegbleibe. Man führte die Fedele bei offiziellen Anlässen vor, vergaß aber über aller Begeisterung nicht, dass sie eine Frau war, also weder Geld noch eine Zukunft brauchte. Als Königin Isabella von Kastilien ihr an ihrem Hof beides bot, untersagte der Doge Cassandra Fedele, die Republik Venedig zu verlassen. Von da an wurde sie nicht mehr für öffentliche Vorführungen engagiert, sie hätte vielleicht gepetzt.

Cassandra heiratete so spät, dass ihre Familie sie auslachte, nicht mehr gebärfähig, was sollte das, und sie haute ab samt Mann nach Kreta.

Ihr Vater sei weise gewesen, sagte die Fedele, als er sie auf den Namen der Seherin aus Troja taufte, die sah, was kommen würde, der aber kein Mensch glaubte.

Mit meiner Mutter redete ich nicht über meine Zukunft, sie glaubte an die göttliche Vorsehung und hoffte, dass ihre unerfüllten Wünsche durch ihr Kind in Erfüllung gingen. Vermutlich hoffen das alle Eltern, die zu kurz gekommen sind. Von den venezianischen Malern, deren Helfer auf der Suche nach einem Madonnenmodell sämtliche Sestieri abgrasten, ob da nicht mitten im Steinernen eine Rose blühte, hatte keiner meine Mutter entdeckt, kein einziger, und das, obwohl der Bedarf an Madonnenbildern in keiner Stadt höher ist als hier. Sogar die lausigen Pinsler, Madonnieri schimpft man sie, werden ihr Zeug los, als Souvenir an Fremde und für den Hausgebrauch.

In jeder Kirche hier gibt es mindestens eine gemalte Muttergottes, in manchen bis zu fünf, und meine Mutter wusste bei denen, die noch nicht zu lange dem Verkündigungsengel zuhörten, im Stallgeruch auf den Säugling starrten, am Kreuz heulten oder auf Wolken gen Himmel fuhren, wer sie waren: die Frau des Dachdeckers hinter Zanipolo, die Tochter des Fischers bei den Zattere, die Nichte des Leichenwäschers am Campo della Bragora.

Verheiratet mit einem der gefragten Maler, hätte ich meiner Mutter vielleicht doch noch zu einem Platz auf irgendeinem Hochaltar oder wenigstens einer Nebenkapelle verhelfen können. Der Tod Mariens wurde auch verewigt, und mit Mitte dreißig wäre sie dafür dann als Modell im richtigen Alter; Maria muss zwar beim Sterben Mitte fünfzig gewesen sein, aber die Maler litten an Jugendsucht wie alle Männer in Venedig; zumindest, wenn es nicht um sie selbst ging. Für Dogen fing die Karriere meistens erst mit achtzig an.

Kluge Frauen bemerkten, dass sich die Jugendsucht in manchen Fällen wie Trunksucht auswirkte und sogar Künstler unzurechnungsfähig machte. Zu Marias Himmelfahrt, obwohl die erst nach dem Tod möglich war, wurden bestenfalls Neunzehnjährige zugelassen, in wenigen Jahren war auch für mich diese Chance vorbei. Ich selbst hatte von meiner Mutter allerdings nichts geerbt, was madonnenhaft war, schon gar nicht den schamhaften Blick, und der lässt sich nicht lernen. Er buckelt und tastet sich dann von unten nach oben. Eigentlich ist der unschuldige Blick schuldbewusst, wer ist schon unschuldig, ich war mir aber nie einer Schuld bewusst.

Es gäbe nichts zu beichten, erklärte ich jedes Mal vor dem Spitzenbortengitter, hinter dem einer saß, der ähnlich wie mein Lehrer herausstank; offenbar beschwerte er sich bei meiner Mutter. Sie wusste, was ich verschwieg. Als ich dann beichtete, von meinem frommen Lehrer an den Brüsten und meinem Geschlecht befingert zu werden, wurde ich wegen Verleumdung zu so vielen Rosenkränzen verdonnert, dass ich mir neue Knie hätte kaufen müssen. Trotzdem führte das Erlebnis zu einer inneren Läuterung: Ich beschloss, meiner Mutter nie mehr etwas anzuvertrauen. Wir bewohnten von da an zwei Kontinente, die nichts teilten, schon gar nicht die Sprache, nur wusste sie davon nichts. Legte sie ihre sahnigen Arme um mich und ich atmete ihren Duft ein, diese Mischung aus schwarzer Seife, ein wenig Schweiß, eingekochten Früchten, einem warmen Bett und Rosmarin, war ich manchmal nahe dran, umzufallen, hinein ins weiche Herz ihrer Dummheit. Doch ich blieb standhaft.

Mein Vater setzte, was meine Zukunft anging, auf eine Heirat mit einem Richter, der dafür sorgen könnte, jene Kollegen, die ihn denunziert hatten, mit einer Anschuldigung aus den Briefkästen zur Strecke zu bringen; auch er träumte offenbar in meinem Gesicht. Altersarmut wie bei Cassandra Fedele kam in den Gedanken der beiden nicht vor.

Die Sorge meiner Mutter steckte in dem Satz, den sie mir mit jedem Frühstück auftischte: Verschenk dich nicht, Kind, verschenk dich bloß nicht an einen, der dich nicht verdient.

Ich sah die alte Fedele vor mir. Ihr Mann hatte sie wohl verdient, das hatte aber nicht gereicht.

Irgendwie kam ich an dem Punkt nicht weiter, auch nicht mit der klugen Fedele.

Seither, seit ungefähr drei Jahren, hatte ich sie nicht mehr gesehen, und das war mein Fehler.

Ich war ihr abtrünnig geworden, seit ich ihm begegnet war.

Die alte Fedele hatte mich vor ihm gewarnt, und sie wusste vieles von mir, nicht aber, wie Warnungen auf mich wirkten. Kein Vorbild, der Mann, aber verantwortlich für die wesentliche Entscheidung meines Lebens.

Er kam mir um die Ecke herum entgegen auf dem Campo von San Zanipolo, wo ich gerade mal wieder nichts gebeichtet hatte. Ich hörte ihn, seine maronenbraune Stimme, bevor ich ihn sah.

Mein Bett wäre unter ihm zusammengebrochen, und sein Mantel mit den goldenen Borten hätte einen Wandbehang abgegeben, für den bei uns zu Hause keine Wand breit genug gewesen wäre. Das schwarze Bartgestrüpp reichte bis zu den Schlüsselbeinen, und die langen schwarzen Haare hatte er mit einem orientalischen Schal hochgebunden. Auf der Brust glänzte ein fettes Goldmedaillon, an einem Ohr baumelte ein Klunker, so groß und so rot wie eine Kirsche, Glas war das nicht. Er brachte den Platz zum Dröhnen.

Erst eineinhalb Jahre war es damals her, dass Aretino nach Venedig gezogen war, das Pflaster in Rom war ihm zu heiß geworden. Längst kannte ihn hier jeder, er galt als so etwas wie ein Gegen-Doge, fürstlicher, weil er prächtiger war, Geld verschenkte, anstatt es zu kassieren, und weil keiner ihn kontrollieren konnte. Einen Satz von ihm reichten sich die Venezianer weiter wie den Klingelbeutel in der Kirche. Ich bin wirklich ein König, ich kann mich selbst beherrschen. Ich hatte den Satz eingepackt und trug ihn mit mir herum, ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte, doch ich war sicher, irgendwann würde ich ihn brauchen können.

Alles, was ich über Aretino wusste, verdankte ich der alten Fedele.

Sein Woher war noch weniger beeindruckend als meines. Sein Vater, hieß es, sei ein Schuster im toskanischen Arezzo gewesen, der aus gutem Grund fast nichts verdiente; seiner Mutter hatte man, nach Ansicht der Fedele ohne jeden Beweis, einen zweifelhaften Ruf angehängt. Schulbildung besaß er angeblich überhaupt keine, und gelernt hatte er den Beruf des Buchbinders, was ehrenwert war, dafür schäbig bezahlt und aussichtslos, das schien typisch fürs Ehrenwerte zu sein. Aber schon mit Ende zwanzig hatte er sich zu einem Schriftsteller hochgearbeitet. Seinen Künstlernamen leitete er von seiner Geburtsstadt ab.

Aretino gelang der Durchbruch, hatte die Fedele erzählt, als das Lieblingstier des Papstes starb, ein Elefant; er starb an Halsentzündung und Durchfall nach einer Überdosis Abführmitteln. Papst Leo X. hatte ihn seinen Leoparden und sogar den Chamäleons vorgezogen. Aretino gab blitzschnell Das Testament des Elefanten heraus, eine Schlüsselgeschichte über die Zustände im Vatikan. Der Schlüssel lag bei.

Fast jeder in Rom ahnte, dass es dort abartig zuging, Aretino überraschte sie alle. Die Ahnungen waren Heiligenlegenden gegen das, was er haargenau berichtete. Er wusste, welcher Würdenträger in welchem Bordell Stammgast war, welcher Kardinal sich durch welche Korruptionsgeschäfte, Unterschlagungen oder Geldwäschen bereichert hatte und wer von den Bischöfen sich nach seinen Predigten mit angelieferten minderjährigen Knaben erholte. Aretino wurde mit Inbrunst geliebt und bis aufs Blut gehasst, also mehr gelesen als irgendein anderer seiner Generation. Das sei wohl das Erfolgsrezept der Zukunft, schwante der Fedele, Aufmerksamkeit erregen, egal mit welchen Mitteln. Hauptsache, möglichst viele zerreißen sich das Maul über dich. Eine Figur musst du sein, kein Charakter. Es wird nur noch zählen, prophezeite sie, wie viele hinter dir dreinrennen, nicht welche. Kein Zweifel, sie würde nicht hinter Aretino herrennen, auch nicht, wenn sie vierzig Jahre jünger wäre.

Als das Testament erschien, war Aretino bereits bekannt wie ein bunter Hund. Dank einer Statue, nach der sich ohne ihn und ein paar andere mit messerscharfen Zungen kein Mensch umgedreht hätte. Eh ein Wunder, dass man diese Figur aus dem Bauschutt gezogen hatte, sie war so verstümmelt, dass keiner sagen konnte, wen sie zeigte, nur dass es ein nackter Bewaffneter war.

Seit der Mann ohne Arme und Beine an der Nordwestecke des Palazzo Braschi stand, nahe der Piazza Navona, stauten sich jeden Tag die Leute um ihn. Den Kriegskrüppel nannten ihn seine Feinde, alle anderen sagten Pasquino zu ihm, angeblich nach einem Lehrer dieses Namens am Gymnasium, der auf Handzetteln seine Kommentare zu Politik und Kirche verbreitete. Die waren derart brenzlig, dass sie sich wie ein Lauffeuer unter den Leuten aus dem Volk verbreitet hätten, aber die Leute aus dem Volk verstanden die Kommentare nicht; sie waren auf Latein verfasst. Die Männer da oben erklärten denen unten, Pasquino sei ein schamloser Lügner, wie angstvoll sie aber seinen Einfluss fürchteten, bekam jeder mit. Pasquinos Leiche muss noch warm gewesen sein, schon ließen sie sein Haus mit allem drin abreißen. Half nichts. Einem Bauarbeiter fiel beim Wegschaffen des Schutts auf, dass die Türschwelle der Rücken einer antiken Statue war. Pasquino feierte Auferstehung. Der Torso wurde aufgestellt und machte in seinem Namen für ihn weiter. Wer etwas gegen die da oben zu sagen hatte, konnte daran Zettel mit neuesten Skandalnachrichten und Schmähschriften festkleben. Keiner klebte mehr als Aretino, nicht auf Latein, sondern auf Italienisch. Jeder verstand seine Texte, jeder erzählte sie weiter.

Damit die Wahrheit endlich wieder nackt war, nur dann kann jeder ihre angeborenen Schwachstellen erkennen, schön muss die Wahrheit ja nicht sein und ist sie oft nicht, sagte die alte Fedele, riss Aretino ihr alles vom Leib, womit die Stellvertreter Gottes und ihre Verbündeten sie kostümiert hatten.

Das imponierte ihr, das Übrige weniger oder gar nicht.

Man könne sich ausrechnen, sagte sie, warum Aretino trotzdem Stammgast war auf den Gartenfesten der Bankdirektoren, den Galaveranstaltungen der Fürsten und beim Papst. Es sei das kleinere Übel, ihn zum Freund zu haben, als zum Feind. Er verdiene sein Geld nicht nur damit, dass er unliebsame Wahrheiten verbreitete, sondern genauso damit, dass er sie gegen Bezahlung zurückhielt. Man könnte das auch Erpressung nennen.

Du wirst ungefähr sechs gewesen sein, sagte sie, als der Elefantenpapst überraschend starb, angeblich an einer fiebrigen Erkrankung. Wie es um den päpstlichen Haushalt stand, zeigte sein Begräbnis. Es mussten sogar halb heruntergebrannte Kerzen verwendet werden. Er hatte den Etat der drei nächsten Päpste bereits aufgebraucht.

Verse, schlüpfrig wie Austern, und Gerüchte, direkt aus der Küche, hatten dem Elefantenpapst und seiner Tischgesellschaft am meisten Appetit gemacht. Als bevorzugter Lieferant des Elefantenpapstes hatte auch Aretino zum Bankrott beigetragen. Jeder dachte, jetzt sei es mit seiner Karriere vorbei.

Es kam anders; mit Aretino ging es steil aufwärts. Der neue Papst war eine vernünftige Lösung: ein Mann aus Utrecht, der erste nicht italienische Papst der Geschichte, sparsam, ehrlich, gelehrt, auch noch fromm; die meisten Römer fanden: Der passt nicht hierher. Aretino lästerte darüber, dass ausgerechnet so ein Musterknabe den mit Korruption, Lügen und Hurerei verdreckten Stall ausschwemmen sollte. Zuversicht erweckte in Aretino nur, dass der neue Papst fast dreiundsechzig war, als er antrat. Nach einem Jahr und acht Monaten war er tot.

So etwas kannte ich von hier, zu Dogen wurden ja auch nur Greise gewählt, in der Hoffnung, sie machten es nicht zu lange, aber offenbar konservierte Venedig im Allgemeinen und das Amt des Dogen speziell, die meisten waren hornalt geworden.

Nachfolger des Utrechters wurde wieder ein Medici, Vetter des Elefantenpapstes, Clemens VII. nannte er sich; es war der, für den Aretino zuvor im Wahlkampf geworben hatte.

Leider, sagte die alte Fedele, habe Aretino jedoch übersehen, dass nicht jeder aus dem Haus Medici wie er selbst den Liebesakt in allen Varianten für die wahre Offenbarung Gottes hielt. Einig war er sich darin mit dem hoch gehandelten Giulio Romano. Während der tagsüber einen Prachtsaal im Vatikan fertig ausmalte, zeichnete er abends Mann und Frau in …

Da hatte die Fedele gezögert; ich wusste, dass ich in solchen Fällen nur lange genug schweigen musste.

Was soll’s, sagte sie schließlich, in Venedig wissen alle längst über alles Bescheid, bevor das Schamhaar wächst. Also … er zeichnete Mann und Frau in sechzehn Stellungen, detailgenau, und er wollte die Freude daran mit vielen anderen teilen.

Die Zeichnungen hatte er Marcantonio Raimondi übergeben, dem besten Kupferstecher des Landes, damit sie ein großes Publikum erreichten. I Modi stand auf dem Titelblatt der Stiche, sie wurden unter dem Ladentisch zu Liebhaberpreisen verkauft. Giberti, der Zensor des Papstes, ließ sämtliche Exemplare der Stellungen, die er zu fassen bekam, verbrennen und erklärte, man müsse Raimondi dafür foltern und hängen. Weil keiner diese Arbeit übernehmen wollte, warf er ihn ins Gefängnis. Dass Raimondi freigelassen wurde, hatte er Aretino zu verdanken, der als ehemaliger Wahlhelfer beim Papst noch etwas guthatte. Bilder, für die einer ermordet werden sollte, interessierten Aretino. Kaum hatte er Raimondis Stiche zu Gesicht bekommen, verfasste er zu jedem ein Gedicht und gab beides zusammen unter dem Titel Unzüchtige Sonette heraus.

In einer Hochsommernacht wurde Aretino auf offener Straße niedergestochen, Stiche in die Brust, von einem, der das geübt hatte. Aretino überlebte. Durch ein Wunder, meinten seine Bewunderer, durch seine Dickleibigkeit, sagte die Fedele. Es hieß, Giberti habe den Täter beauftragt und bezahlt. Der Papst weigerte sich, den Täter und seinen Auftraggeber zu belangen. Aretino suchte das Weite und landete schließlich in Venedig.

Wie sie über Aretino dachte, war Cassandra Fedele anzumerken. Während der ganzen Geschichte hielt sie den Rand ihres Schreibtischs umklammert. Es gab aber ein paar Bemerkungen von Aretino, die der alten Fedele gefielen.

Christus hat, soviel wir wissen, keine Gefängnisse, keine Folterinstrumente und keine Henkersstricke hinterlassen, hatte er an die Inquisition geschrieben und den Brief wie fast alle seine Briefe öffentlich gemacht.

Aretino sei immer stolz darauf gewesen, sagte die Fedele, dass er alles beim Namen nannte, ganz gleich wie grob der war, im Interesse der Deutlichkeit, erklärte er. Alles andere sei etwas für gelehrte Langweiler, denen höre kein Mensch zu. Odysseus habe bestimmt nie um den heißen Brei geredet.

Sie ließ ihren Blick über die Regale wandern und aufatmend immer wieder innehalten.

Wie das Eindeutige bei Aretino klang, wollte ich wissen. Dass die Haut der Fedele, gelblich blass und pergamentartig wie meine Schweinsblase, von innen heraus rot leuchten konnte, erlebte ich da zum ersten Mal.

Sie verschwieg es mir, und Verschweigen löste bei mir das Gleiche aus wie Warnungen, Heißhunger, als stiege der Geruch von Röstzwiebeln in meine Nase nach drei Tagen Fasten.

Als mir Aretino dann ein paar Wochen später auf dem Campo von San Zanipolo wie eine Bugwelle entgegenrauschte, groß und wuchtig und prächtig, sah ich ihn an mit einem Blick, für den meine Mutter mich geohrfeigt hätte. So stellte ich mir einen vor, der mich verteidigen konnte. Er blieb stehen und sah mich an mit einem Blick, für den meine Mutter ihn geohrfeigt hätte, obwohl – nein, das hätte sie sich nicht getraut, und zu klein war sie dafür außerdem.

Du kommst aus der Kirche, sagte er. Hast du gebeichtet?

Ja, sagte ich.

Was hast du gebeichtet?

Nichts, sagte ich.

Bist du so brav?

Nein, sagte ich, so vernünftig.

Was sagt deine Mutter dazu?

Sie sagt immer nur: Verschenk dich nicht.

Er strich mir über den Kopf, und ich roch, dass er seinen Unterleib wusch und gutes Parfum benutzte.

Deine Mutter hat recht, sagte er, du solltest Geld dafür nehmen, und zwar nicht zu wenig.

Lächle mal.

Warum?

Du gefällst mir, also: Zeig mir die Zähne.

Sie freuten ihn, es seien die Zähne eines Marders, und die bissen sich überall durch, sagte er.

Von diesem Tag an hielt er seine Hand über mich, ja, nur über mich, nirgendwo sonst hin, und kümmerte sich um meine Fortbildung. Mein Lehrer kam weiterhin ins Haus, aber als ich ihm sagte, dass ich Aretino kennengelernt hatte, ließ er die Finger von mir.

Aretino war im Abseits geboren worden, auf dem Abfallhaufen der Gesellschaft, sagte er, und hatte dort, mit knurrendem Magen und klammen Fingern Bücher bindend, einen Stern glitzern sehen: die wahnwitzige Idee, sich mit Schreiben seine Freiheit zu erobern.

Wie das ohne Schreiben ging, wollte ich von ihm lernen. Ohne so dick zu werden wie er und ohne meine Ermordung herauszufordern.

Ich hatte trotz der guten Matratze miserabel geschlafen in der Nacht, die ich mit dem alten Säugling verbracht hatte und nicht mit dem Mann, der davongepirscht war. Die Wut war schneller müde geworden als ich, aber ein ungemütliches Gefühl wachte mit mir auf.

Der Tag war schon in der Frühe durchsichtig wie das Wasser der Kanäle nie, trübe war nur mein Kopf. Der Wein war nicht daran schuld. Ich wusste nicht, ob mein Nein noch Folgen haben könnte. Das Nächstliegende schien, Aretino beim Klären um Hilfe zu bitten. Ich hatte mir mit seiner Hilfe eine Wohnung, die erste eigene, am Campo San Giovanni Crisostomo in Cannaregio gemietet, obwohl die Kirche ein Neubau war, der mir nicht gefiel, und der Glockenturm noch eine Baustelle. Er wohnte im Palazzo Bolani, Canal Grande, linkes Ufer, dort, wo der Rio San Giovanni Crisostomo in den Kanal mündet, keine zwei Minuten entfernt von mir.

Ich verließ das Haus am späten Nachmittag. Eine Viertelstunde würde ich brauchen; nicht zum Palazzo Bolani ging ich, sondern zum Rio della Misericordia, zur alten Fedele. Mein Grund dafür hatte einen Namen: den des Mannes, den ich am Abend zuvor weggeschickt hatte. Lorenzo Venier.

Er war ein Freund von Aretino.

La Fenice

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