Читать книгу La Fenice - Lea Singer - Страница 5
ОглавлениеSie machte einen Schritt zurück in ihre Höhle, aus der es mich modrig anwehte, als sie mich vor der Tür stehen sah. Der Geruch beruhigte mich.
Es ist fast drei Jahre her, sagte ich.
Drei Jahre, zwei Monate und ungefähr sechs, sieben Tage, sagte die Fedele und ließ mich ein.
Bei alten Menschen werden die Augen meistens stumpfer und blasser, tiefbraune werden ockergelb, azurblaue immer wässriger. Ihre glänzten nach wie vor saftig und prall wie schwarze Oliven. Alles andere an ihr war rissiger und trockener geworden. Ich saß am Fuß der Leiter, sie hinter dem Schreibtisch.
Sie nahm die Brille ab und musterte mich langsam von oben bis unten, als müsste sie ein Gutachten über mich erstellen. Mein neues Kleid schien Lärm zu machen in diesem Zimmer.
Bestens, sagte sie. Alles bestens, schnell sind die Knospen aufgegangen, arg schnell. Also: Warum auf einmal wieder hier bei mir? Hat er dich hinausgeworfen aus seinem Kreis?
Irgendwoher wusste sie das mit Aretino, von ihm selbst bestimmt nicht und von mir auch nicht.
Reglos wartete sie ab, den Hals gereckt, den Rücken durchgedrückt, die Unterarme auf der Schreibtischplatte, genau parallel. Unmöglich, vor dieser Wachsamkeit davonzulaufen. Ich ergab mich und zog im Kopf alles aus, was ich hatte anbehalten wollen. So stellten die hinter den Spitzenbortengittern sich vermutlich eine richtige Beichte vor.
Nur die Augen musste ich schließen beim Erzählen, damit ich mich auf dem weiten Weg zurück nicht verlief.
Ca’ Bolani, hatte Aretino mir gesagt, Samstagmorgen um halb zwölf. Er sagte nicht Palazzo Bolani, wie die meisten hier, seit er drin wohnte, nur Ca’.
Ich kannte es von außen, das Haus, irgendwann mal ochsenblutrot angestrichen, aber längst verblichen. Die Front zum Kanal hinaus machte Eindruck und war halbwegs in Ordnung, an der Rückseite blätterte der Putz.
Die Bolani hatten das Haus vermietet, beim derzeitigen Wohnungsmangel in Venedig war in dieser Lage einiges herauszuholen. Mein Vater wusste – woher, war leicht zu erraten –, dass Aretino deutlich weniger zahlte als dort üblich, weil er etwas in der Hand habe gegen die Bolani, wurde geraunt, ungewohnt leise geraunt; Beweise fehlten. Das wäre kein Hindernis gewesen, ihn reinzuhängen, aber Aretino war eins; niemand wollte sich mit ihm anlegen, nicht einmal anonym. Aretino findet alles heraus, hieß es. Mein Vater bedauerte, dass er keinerlei Interesse an einer Stelle bei der Geheimpolizei zeigte.
Ich kam von der Rückseite, von der Wasserseite her kamen nur die Wichtigen und die Lieferanten. Im Treppenhaus roch es nach Hühnersuppe, von oben fiel ein Schwarm von Stimmen über mich her, Frauenstimmen, Mädchenstimmen, nichts Tiefes. An den Wänden hingen Gemälde in Goldrahmen, Goldrahmen im Treppenhaus! In den Nischen zwischendrin standen bemalte Keramikvasen, groß wie Fünfjährige. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock erwartete mich eine, die eher zur Hühnersuppe als zu den Goldrahmen passte. Ihre Schürze sah nach blutiger Arbeit aus, die Hand, die sie daran abwischte, auch. Hinter ihr tauchte eine Zweite in einem weißen bodenlangen Unterkleid auf, die bei den Malern sofort als Magdalena posieren konnte, dafür waren lange offene wellige Haare und schwere Brüste gefragt, es störte nur die schiefe Nase; dann eine Dritte, vielleicht fünfzehn, mit Kindergesicht und Melonenbauch. Da hörte ich ihn. Sein Hausmantel raschelte, Seide vor dem Mittagessen. Die Frauen fassten ihn an, als wäre er ein Wunderheiler, die Magdalena lehnte ihren Kopf an seine Schulter, er zog mich in den Portego.
Wer aus Verhältnissen wie meinen kam, wusste bestenfalls, dass sich der große zentrale Raum in solchen Häusern von der Vorderseite bis zur Rückseite erstreckte; von innen kannte ich nur zwei solche Säle, einer gehörte dem Vater der kastrierenden Patentante, einer ihrem Bruder. In beiden Porteghi hingen ausgestopfte Tierschädel, verstaubte Fahnen, ein paar alte Schwerter und andere Waffen an den Wänden, dazwischen schwarz gewordene Porträts irgendwelcher Ahnen. Offensichtlich fanden Männer das nett, denn Frauen hatten dort wenig bis gar nichts zu suchen, die hielten sich in den kleinen Räumen rechts und links davon auf, in denen Küche, Wirtschaftskammern und Schlafzimmer untergebracht waren, oder, wenn es eines gab, im Stockwerk darüber. Düster waren diese offiziellen Hallen wohl immer, nur an der Schmalseite Fenster und dann der lange Schlauch, auf den noch eine Balkendecke oder Kassettendecke drückte. Die teuren Terrazzoböden waren eiskalt, kälter als unsere billigen Holzböden, bei den Reichen lagen unter dem Portego Vorratskeller mit Zuckersäcken, Salzsäcken, Gewürzkisten, Öl- und Weinfässern, Gewölbe, in die es vom Kanal her hineinzog.
Aretino hatte die Teppiche auf dem Terrazzo übereinandergeschichtet. In seinem Vorzeigezimmer leuchtete und blinkte und glänzte es. Von den Balken hingen gleich drei Muranolüster, die Kerzen brannten am helllichten Tag. Aretino musste mit einem Spiegelhersteller verwandt sein, anders war nicht zu bezahlen, was hier in sämtlichen Formaten dafür sorgte, dass die Beleuchtung sich vervielfachte.
Schöner als ausgestopfte Tierschädel, Fahnen, Waffen und Ahnenporträts fand Aretino anscheinend Gemälde mit nackten Menschen. Engel und Jesuskinder, sonst waren mir bisher auf Bildern Nackte oder fast Nackte kaum begegnet, nur als Büßer in einer felsigen Einöde oder als Sünder in der Hölle, beides ungemütlich, die einen froren, die anderen schwitzten, die einen sahen verbittert aus, die anderen verzweifelt.
Was auf den Gemälden hier los war, hatte ich noch nie gesehen. Nackte Frauen rannten vor sonnengebräunten Männern davon, einige hatten Bocksbeine und Bocksohren, einem nackten schlafenden Mädchen wurde die Decke weggezerrt, eine nackte Schönheit wurde von einem Schwan zwischen ihren Schenkeln überwältigt, vielleicht geschwängert, was immer dabei herauskam, eine andere von einem Stier über einen breiten Fluss getragen, offensichtlich gegen ihren Willen; eine reckte auf der Flucht vor einem gut gebauten Verfolger, so nackt wie sie selbst, die Arme gen Himmel und bestand bauchabwärts aus Lorbeerzweigen.
Meine Mutter hätte sich bekreuzigt.
Nicht nur deswegen fühlte ich mich hier wohl. Weder das Büßen noch die Hölle leuchteten mir ein; wozu hätte Christus so entsetzlich sterben müssen und alle Sünden der Menschheit auf sich nehmen, wenn die Sünden hinterdrein wieder jedem Einzelnen aufgerechnet wurden. Mir erschien das blödsinnig. Schlimm geprügelt hatte meine Mutter mich, und sie prügelte fast nie, da war ich keine drei, als ich in ihren Korb mit frischer Wäsche gepinkelt hatte. Die ganze Mühe umsonst, hatte sie geschrien, die ganze Mühe, wozu das alles!
Aretino bemerkte, dass ich auf die Gemälde glotzte, legte seinen Arm um meine Schultern und sagte, es gehe hier um Mythen, um Geschichten von Göttern und Menschen, die sich die Griechen schon vor zweitausend Jahren erzählt hätten, fürs Leben entschieden nützlicher als Heiligenlegenden.
Warum hatte mein Lehrer sie mir dann verschwiegen? Nur von Odysseus und Aeneas hatte er geschwafelt, dass diese Helden Feiglinge seien, verglichen mit den christlichen Märtyrern, und ihr Leben in keiner Weise vorbildlich; schon deswegen interessierten sie mich.
Die Hühnersuppe wurde eine Etage drüber serviert.
Dort war es heller. Drei hohe Fenstertüren mit Spitzbögen führten auf einen langen, aber schmalen Balkon hinaus. Aretino nahm mich mit ins Freie. Nach rechts schaute man hinaus auf den Fleischmarkt und den Fischmarkt, nach links zur Niederlassung der deutschen Kaufleute, ein Riesenbau, den die Venezianer auf eigene Kosten nach dem Brand vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren hatten neu errichten lassen. Sogar die Fassadenbemalung von Giorgione und Tizian haben sie finanziert, sagte Aretino, das war drin bei den Wahnsinns-Zöllen, die sie abkassieren.
Direkt gegenüber lag der Rialto-Markt, daneben die Rialto-Brücke.
Das ist mein Theater, sagte Aretino, Aufführungen täglich und kostenlos.
Der Rialto-Markt wurde bereits abgeräumt. Der Boden war bedeckt mit Gemüseresten, zerdepperten Eiern und geplatzten Früchten; was nicht verkauft worden war, schleppten die Marktleute in Kisten und Körben zu den Lastkähnen. An der Brücke drängelten sich wie üblich die Bankleute, die Großhändler und die Fremden, sie hatten vermutlich dasselbe Ziel; direkt am Rialto lagen die Absteigen der Käuflichen, der billigen, die ihre Kunden schneller zufriedenstellten, als eine halbe Kerze herunterbrannte.
Um den Rialto kam keiner herum, also auch nicht ums Aufklären der Kinder. Eine Ecke weiter, am Ponte delle Tette, konnte außerdem jeder bei fast jedem Wetter sehen, wie Haus für Haus, Etage für Etage, Fenster für Fenster die Mieterinnen ihre Brüste vorzeigten, mit den Händen unter der Ware, als wären sie Marktfrauen mit frisch gerupften Wachteln.
Sogar der Himmel ist hier an manchen Tagen ein Spektakel, spannender als jedes Stück auf der Bühne, sagte Aretino, wenn die Wolken sich bedrohlich jagen oder auf einmal in Flammen stehen, als wäre ein Weltenbrand ausgebrochen. Er richtete seinen Blick aber nicht nach oben, nur auf die Holzbrücke, die als einzige über den Kanal führte, vor vier, fünf Jahren zusammengebrochen, durch dieses lumpige Provisorium ersetzt worden war und nach wie vor in einer Stunde mehr Leute aushalten musste als andere Brücken in einem Monat. Seit Jahrzehnten war von der Regierung eine Steinbrücke an dieser Stelle beschlossen und geplant, aber nicht mit allem waren die Venezianer so schnell wie mit dem Erfinden und dem Stehlen. Früher hatte die Familie Rampani geflucht, wusste ich von meinem Vater, nichts wert ihre Immobilien in dieser Gegend, laut, dreckig, überlaufen; längst schickten sie Dankgebete an die Märtyrerin Corona, Schutzpatronin des Geldes, der Schatzgräber und der Fleischer. Mein Lehrer hatte mir erzählt, dass sie auf Sizilien an zwei heruntergebogenen Palmen festgebunden worden war, die sie emporschnellend in zwei Teile rissen. Mit Tranchieren hatte das vielleicht zu tun, aber mit Geld? Weil man damit andere zerlegen konnte? Stinkreich waren die Rampani geworden mit Stundenhäusern in den Carampane rings um den Rialto.
Die Huren des Geldes suchen ihresgleichen.
Aretino sah mich an
… sagt meine Mutter.
Recht hat sie. Bei euch in Venedig gibt es mehr Bankhäuser und mehr Huren als sonst wo, Geldgeschäft und Liebesgeschäft sind nirgendwo besser organisiert als hier. Es kommen auf stark siebzigtausend Venezianerinnen achttausend, die ihr Geld mit diesem Gewerbe machen, dazu kommen um die dreitausend von auswärts, von Kreta oder von der Terraferma, aus Spanien, der Türkei, Albanien. Aber nur höchstens dreihundert von ihnen können ein Leben führen, das diesen Namen verdient. Die anderen verenden erbärmlich wie herrenlose Hündinnen, nur langsamer und vor Zuschauern.
Die Brühe, in der das Geflügel badete, war stark, roch nach Rosmarin, Nelke und Lorbeer, und oben schwammen Granatapfelkerne.
Aretino mochte offenbar nichts Schwaches, zeigen mochte er es jedenfalls nicht. Der Wein in seinem Glas war schwarzrot, mit den Ringen an seinen Fingern konnte man Scheiben einschlagen oder auch Zähne.
Während wir die Hühnersuppe löffelten, malte er mir das Dasein der zehntausendsiebenhundert übrigen Käuflichen so genau aus, wie das nur einer konnte, der es gründlich studiert hatte, haarklein und läuseklein.
Wie schön sie ist, wie wunderschön; für meine Mutter war bei Altarbildern nur wichtig, wie die Madonna aussah. Mir war die Madonna egal, ich mochte Gemälde, die von Carpaccio und den Bellini vor allem, wo nichts ausgelassen wurde. Die malten bei den Alten jede Runzel im Gesicht und jede Warze, bei den Büßern die gedörrten Bäuche, bei den Stiftern das feiste Doppelkinn, bei den Dogen dieses Trostlose im Blick. Die pinselten auf Altäre und andere Kirchenbilder die Wirtshausschilder, das Gedränge hässlicher Kamine auf den Dächern, das Fell der Schoßhunde, die starken Schultern der Negersklaven am Ruder, und die trauten sich auch mal eine Muttergottes, die wie eine Wasserleiche aussah, wenn sie ihren toten Sohn anstarrte mit dem räudigen Verwesungsbart und den blutigen Löchern durch die Handrücken.
Aretino schaffte etwas Ähnliches mit Wörtern.
Die Gebäude in den Carampane waren verwahrlost, die Balkone vom Absturz bedroht, die Treppen abgetreten, die Geländer rostig, dass man rote Finger davon bekam, die Böden morsch, von den Fenstersimsen bröckelte es herunter, in den Wänden saß der Hausschwamm, und alles aus Stoff – Kleider, Decken, Wäsche – stank muffig. Mäuse, Wanzen und Kakerlaken krochen durch die Ritzen und Spalten. Die Matratzen waren durchgelegen, ein sauberes Laken war schon Luxus, der Geruch in den Zimmern beißend. Wegen der hohen Nachfrage konnten die Vermieter Wucherpreise von den Frauen abzocken; von den Frauen? Von den Mädchen, irgendetwas zwischen zwölf und achtzehn. Erwachsen waren die Kupplerinnen, meistens die Mütter der jungen Käuflichen, die selber mit dreißig, fünfunddreißig viel zu alt für den Beruf waren oder zu krank. Manche schafften es nur ächzend hinauf in den zweiten oder dritten Stock, die Beine, das Kreuz, die Füße, mein Gott, manche waren verfault von innen heraus wie ein schlechter Kürbis, dem man außen noch nichts ansah, der dann auf einmal zu übel riechendem Matsch zusammenfiel. Die Matrosen und die Fremden aus aller Welt rückten meistens im vollen Saft, schwitzend und ungewaschen bei den Mädchen an und brachten immer wieder etwas Neues mit, um sie anzustecken, und die Franzosenkrankheit hatte schnell Italienisch gelernt. Trotzdem dachte die Regierung nicht im Traum daran, das Ganze zu verbieten; von dem, was hier eingenommen wurde, griff sie sich Steuern, und zwar nicht zu knapp.
Aretino zog mich wieder ins Freie und zeigte auf die Arkaden des neuen Fleischmarkts.
Obendrüber, du siehst die Fensterreihe, sitzen sechs piekfeine Herren aus piekfeiner Familie in piekfeinen Büros. Sie richten über die Käuflichen und die Kupplerinnen, männliche Zuhälter haben sie verboten, die waren zu oft in Schlägereien verwickelt, und das mag man hier nicht, schadet dem Fremdenverkehr. Die Aufgabe macht ihnen Spaß, den piekfeinen Herren. Sie arbeiten eng zusammen mit den Kriminalbeamten fürs Nachtleben, Signori di Notte al Criminal nennen die sich, denen und ihren Handlangern überlassen sie die grobe Arbeit und erfreuen sich an den Berichten. Auf diese Weise erfahren sie, zu welchen Veilchen man besser nicht geht, und mit solchen Tipps machen sie sich beliebt.
Veilchen sagen eigentlich nur die Einheimischen zu den Huren. Aretino war zugezogen, er hatte offenbar rasch gelernt. Mein Vater musste immer dringend etwas Wichtiges erledigen, sofort, wenn ich ihn befragt hatte zu diesen Herren der Nacht. Aus Aretino sprudelte es ungefragt heraus.
Die sind zuständig für die allgemeine Sicherheit, schwärmen nachts mit ihren laternenbewaffneten Agenten aus, fangen ein, wer ihnen verdächtig erscheint, Glücksspieler, Taschendiebe, Gotteslästerer, Einbrecher, Hurengänger, die angeblich Ärger machen, und verhören sie sofort. Ihr Büro liegt im Dogenpalast, und zwar dort, wo das Seil aufbewahrt wird, mit dem diejenigen erwürgt werden, die man unauffällig beseitigen will. Die Herren der Nacht haben die Oberaufsicht über die Folterkammern und das Recht zu Hausdurchsuchungen. Ihre Stellen sind begehrt, trotzdem sind die Chancen dranzukommen nicht schlecht, die Stellen sind zeitlich befristet. So einfach kann man sich bei den Leuten beliebt machen.
Als ich meinen Teller leer gegessen hatte, sah ich ein Paar beim Liebesakt.
Odysseus mit der Zauberin Kirke, sagte Aretino, gute Majolika aus Faenza.
Ich öffnete die Augen. Die Fedele hatte sich nicht bewegt. Was ist?, fragte sie.
Da dachte ich daran, was Sie mir über Aretino erzählt haben, er sei stolz darauf, wie Odysseus nie um den heißen Brei herumzureden, nur deswegen hörten ihm so viele zu und rissen ihm alles Gedruckte aus der Hand. Wie Odysseus, erinnern Sie sich?
Die Fedele nickte, mehr nicht.
Das habe ich Aretino serviert. Stimmt, hat er gelacht, sie versteht was, die Alte.
Dann verraten Sie mir, was diese drei Frauen in Ihrem Haus zu suchen haben.
Drei? Er fiel vor Lachen schier vom Stuhl. Hier leben immer um die sieben, acht Frauen, manchmal noch mehr, die Besetzung wechselt, und ab und zu schleppen sich zwischendrin ein paar Männer herum, aber ausschließlich kranke oder flüchtige ohne Geld und Bett, die wieder auf die Beine kommen müssen.
Die mit der Schürze sei seine Köchin, sie habe die beste Zunge, aber nur zum Schmecken, taubstumm seit Geburt. Die mit dem Melonenbauch sei von einem Mann geschwängert worden, der ihr die Heirat versprochen hatte, sich daran aber nicht mehr erinnern konnte; die Magdalena sei eine Ehefrau, die ihr Mann krankenhausreif geprügelt habe, aus Eifersucht auf einen Priester, dem sie angeblich zu inbrünstig zugehört hatte.
Hast du ihn auch gefragt, wollte die Fedele wissen, warum er dich eingeladen, mit Hühnersuppe und diesen … Berichten gefüttert hat?
Ich brauchte nicht zu fragen.
Die Bilder unten zeigen Götter und Halbgötter, sagte er; jede Frau, die sie erregte, griffen sie sich, besonders gern, wenn die Frau nicht wollte. Ran kamen sie immer, entweder durch Gewalt oder durch Tricks wie Verwandlung in ein Tier, bei dem sich keine Frau etwas Böses dachte, einen Schwan zum Beispiel. Zeus verwandelte nicht nur sich, er verwandelte auch mal seinen Samen einfach in Goldstücke, und schon machte die vom Vater weggesperrte Danaë ihre Beine breit. Ein Entkommen gab es für die Mädchen nur, wenn sich jemand anderes aus dem Olymp einschaltete und die Verfolgte in etwas verwandelte, das man nicht …
Nicht ficken konnte, hatte Aretino gesagt, in eine Krähe oder Schilf, einen Stern oder einen Lorbeerstrauch. Hätte ich das hier gesagt, hätte ich genauso gut furzen können.
Die Fedele verschränkte ihre Finger, dass es knackste.
Das man nicht was?
… in etwas, das man nicht vergewaltigen konnte, in eine Krähe oder …
Ich kenne die Geschichten. Hast du drüber nachgedacht, was die sogenannten Rettungsaktionen bewirkten? Dass die Opfer danach nicht mehr sprechen, also nicht mehr aussagen konnten?
War Aretino nicht aufgefallen, mir auch nicht.
Er hatte mich nur vorbereitet auf Venezianer, die sich wegen ihrer besonderen Herkunft etwas einbildeten, deswegen als Götter, wenigstens Halbgötter fühlten, menschlich aber nichts Besonderes und schon gar nichts Besseres seien. Sich um eine Frau zu bemühen, hielten sie für unter ihrer Würde. Ein Gott wirbt nicht.
Was das bedeutete, hatte Aretino ziemlich einfach übersetzt:
Die kaufen sich lieber eine, und zwar eine, die nicht billig zu haben ist. Davon kannst du leben, mehr als gut leben, auch ziemlich ungefährdet, wenn du so schlau wirst, dass dir keiner deine Schläue anmerkt. Du musst auch verinnerlicht haben, was die von dir wollen. In unserer Regierung sitzen verheiratete Männer, nicht mehr die Allerjüngsten, und sie wissen genau, dass ihre ledigen gelangweilten reichen Geschlechtsgenossen, solange sie Junghengste sind, ihren Trieb ausleben wollen, bei ihnen war es ja genauso. Das Hurenmilieu ekelt die jungen Verwöhnten an, nicht nur, weil dort, wo die Preise niedrig sind, die Ansteckungsgefahr verflucht hoch ist, auch weil es dort stinkt und schlimmer ausschaut als bei ihnen im Haus die Kammer des Dienstmädchens.
Im Visier, sagte Aretino, haben sie also die jungen gelangweilten reichen Ehefrauen der anderen. Wegsperren ist eine beliebte Lösung, sicher ist sie nicht. Personal kriegt immer zu wenig Geld. Außerdem machen es alle Männer gleich: In den sechs Monaten Karneval legen sie, wie du weißt, die Masken nicht ab. Die Verheirateten unter den Kunden, die wollen nichts anderes als das, was sie von zu Hause kennen, Perlenkette, Parfum, feine Unterwäsche, gute Manieren, sie wollen nur nicht dasselbe. Die Junghengste wollen vor der Ehe ohne Verpflichtung in angenehmer Umgebung eine Frau …
Eine Frau vögeln, hatte Aretino gesagt, auch dieses Wort hätte in der Stube der Fedele gestunken. Besitzen, sagte ich, eine Frau besitzen, die alles bietet, worum man sich sonst bemühen muss. Die Politiker, sagte Aretino, engagieren sich für die Gutbezahlten, gestehen ihnen zu, dass sie sich, anders als die Huren, in der ganzen Stadt bewegen dürfen, auf Bälle gehen, in den Salons von Belesenen verkehren und mitreden. Auf diese Weise verhindern sie, ständig gehörnt zu werden von Junghengsten, die sich bei ihren Ehefrauen bedienen. Deswegen dürfen diese oberen zwei- bis dreihundert unter den Käuflichen sich auch Kurtisanen nennen, sogar ehrenwerte Kurtisanen. Sie tun schließlich etwas für den sozialen Frieden.
Und er, fragte die Fedele, was tat Aretino für dich, dieser Wohltäter der Menschheit?
Versprach, mir das Notwendige beizubringen, um eine von den höchstens dreihundert zu werden.
In praktischen Übungen, für die er sich selbst aufopferte?, fragte sie.
Eine halbe Stunde lang verteidigte ich Aretino.
Er hat mich ausgebildet, ohne etwas dafür zu verlangen. Er hat mir Bücher geliehen mit den Geschichten aus der Mythologie, hat mir große Texte vorgesprochen. Er ist stolz auf sein klares Toskanisch, hat mir aber verraten, dass die meisten Männer von auswärts vernarrt sind in das venezianische Nuscheln, allerdings nur bei den Frauen. Er hat mir gezeigt, was die Kurtisanen von den einfachen Huren unterscheidet. Wochen hat er sich das kosten lassen.
Ich merkte, dass meine Wörter schneller waren als ich.
Überallhin hat er mich mitgenommen, wissen Sie, Wohnungsbesichtigungen bei den Erfolgreichen. Keine wohnte in der Nähe der einschlägigen Gegend um den Rialto, auch keine am Canal Grande, das ist ihnen verboten. Ich sollte mir merken, was unverzichtbar war. Es ging nicht nur um die Auswahl von Betten, Kissen, Matratzen, Teppichen oder Kleinmöbeln.
Die richtige Beleuchtung, die zählt, sagten die Gutbezahlten, mit nur einer Lampe an der Decke, wenn sie auch noch in der Mitte hängt, siehst du käsig und alt aus, und wenn der Mann in deinem Bett dich so sieht, weiß er, wie er selbst aussieht. Stille halten die meisten Männer schwer aus, aber reden wollen sie auch nicht unbedingt, also musst du singen können und brauchst mindestens ein Musikinstrument zum Selbstbegleiten, Gitarre oder Laute oder Mandoline, bis sie in Stimmung sind, und auch hinterher, wenn sie müde herumliegen. Spiegel sind wichtig, aber richtig platzieren musst du sie und überlegen, wer sich darin wie anschaut. Zwei, drei gute Gemälde musst du dir leisten – bewährt hatten sich die bekannten Szenen von Göttern und nackten Mädchen –, und ein, zwei Singvögel für angenehme Hintergrundgeräusche. Alle Frauen, bei denen wir waren, verfügten über einen Weinvorrat, empfohlen wurden Süßweine wie Malvasier, nicht zu stark und nicht zu viel, die Blase dürfe nicht voll sein.
Das haben sie dir alles frisch von der Leber weg erzählt?, fragte die Fedele.
Haben sie.
Glaubst du daran, dass Frauen zusammenhalten?
Was sonst!
Was hat Juno gemacht, wenn ihr Göttergatte Nymphen oder Königstöchter vergewaltigte?
Sie hat die Nymphen und Königstöchter verfolgt, bestraft oder ermorden lassen.
Die Garderoben der Gutbezahlten waren Apotheken. Auf den Kommoden Phiolen und Tiegel und Töpfe. Wer sollte das alles abstauben, und wozu das Ganze?
Arbeitsmaterial, wusste Aretino, Massageöle, Parfums, Raumdüfte, stärkende Elixiere, Medikamente und Pulver, vor allem eine Büchse mit der Lieblingsdroge der Reichen, Theriak. Laut Aretino enthält dieses Zeugs, das als Heilmittel gegen alles verkauft wird, von Husten bis Impotenz, von Malaria bis Franzosenkrankheit, um die dreihundert Ingredienzien, Opium ist dabei; ich hatte bisher nur gehört, dass Venedig damit die größten Umsätze in Europa machte und aus der Herstellung ein großes Spektakel.
Hilft, hilft absolut zuverlässig – wenn du dran glaubst, sagte Aretino, sonst hilft es nicht. Das ist sowieso das Wichtigste in deinem Beruf, glauben, an dich, an dein Können und deine Wirkung. Dann wird daraus etwas Wirkliches, du kannst andere glauben machen, was du willst. Wollen musst du das, was sie brauchen. Dafür zahlen sie. Du kannst Schwächlinge mit eingesunkener Brust in Muskelhelden verwandeln und Dummköpfe in Weise. Einer, dem sein Vater jeden Tag vorhält, was er selbst in dem Alter schon alles erreicht hatte, oder seine Frau, er werde niemals irgendwo der Erste sein, der will sich bei dir als Herkules fühlen. Der Glaube ist das Einzige, was einen schlappen …
Bitte?, sagte die Fedele. Steil aufgerichtet saß sie hinter ihrem Schreibtisch. Meinst du, ich merke nicht, dass du mir die Worte deines großen Lehrmeisters unterschlägst?
… was einen schlappen Schwanz aufrichtet. Tut mir leid.
Ihm sollte es leidtun. Was richtet ihn denn auf, deinen Aretino?
Ich weiß nicht, welche ihm am nächsten ist.
Habe ich wer gefragt?
Was. Das, worauf er stolz ist.
Worauf ist er stolz?
Auf seinen Aufstieg.
Den erkennt man woran?
Aretino hat Macht.
Woher?
Er hatte mir erklärt, dass alles, was an Hintergrundwissen und Geld aus weißderteufelwasfür Kanälen bei ihm einlief, nur dem Briefeschreiben zu verdanken sei, jeden Tag an Gottunddiewelt und über alles. Wer wen besticht und wen wie nahm, er sagte selbstverständlich etwas anderes und freute sich, wenn ich noch immer zusammenzuckte; wer was malt und wie geil oder göttlich, wer sich worüber das Maul zerreißt, wer der große Abzocker sein wird und wen es demnächst über die Kante haut. Der Vorrat an Wörtern und Wendungen müsse ein Keller sein, in dem es alles gibt, Lorbeersirup bis zum Erbrechen und jede Sorte Säure, von delikat bis ätzend.
Ich war gerannt beim Erzählen, aber auf keinem Wort mehr ausgerutscht, das nicht hierhergehörte.
Es ist wie beim Kochen, sagte Aretino, es braucht immer das Spitze und das Stumpfe; wenn eines fehlt, wird es fad. Man muss es können, das Briefeschreiben, was du schreibst, soll den Leuten schmecken wie dir meine Hühnersuppe. Stark und heiß und gut gewürzt soll es sein und hungrig machen auf mehr.
Die Fedele stand auf.
Zu spät, ich wusste es doch, sie schrieb seit Jahrzehnten an Hochadlige, Regierende, Gelehrte, vermutlich Kondolenzbriefe oder Gratulationen, von Macht und Geld keine Spur, zu spät. Sie würde mich hinauswerfen, bevor ich losgeworden war, was ich von ihr wollte. Sie kam nicht auf mich zu, sie blieb einfach stehen und ließ die Arme hängen, als wären sie zu schwer.
Wie viele Leute sind an einem Brief beteiligt?
Zwei. Absender, Empfänger.
Wie kommt es, dass Hunderte im ganzen Land und drüber hinaus Aretinos Briefe kennen?
Er lässt sie abschreiben.
Reicht das?
Vermutlich lässt er die Abschriften verteilen.
An wen?
Er sagt, er sei der Fischer mit dem größten Netz des Abendlands, und dieses Netz sei das dichteste. An jedem Knotenpunkt sitze einer, der sein Freund sein wolle.
Wäre dir das recht, wenn er über dein Liebesleben schreibt, über Spezialitäten, die mit der Todesstrafe geahndet werden? Wie Aretino in einem Brief an Michelangelo, dem er vorwarf, dass er es mit Männern treibt, Männern, die er beim Namen nannte, beim Vornamen, aber jeder wusste, wer es war.
Nein, niemals.
Aber du vertraust diesem Mann?
Die Bücherrücken in den Regalen hinter der alten Fedele und neben ihr sahen mich an wie sie, abwartend.
Ach ja, ich habe bei der Einrichtung und Ausstattung etwas vergessen, Bücher sollten auch vorhanden sein.
Damit der Besucher sie sieht oder damit du sie liest?, fragte die Fedele. Dein verehrter Aretino hat dir viele Verwandlungsmärchen erzählt, die meisten hat Ovid gedichtet, sie sind aber alle viel älter, war auch das von einer jungen Frau namens Caenis dabei?
Caenis war nicht vorgekommen, in bald drei Jahren nicht.
Die Fedele schien das nicht zu erstaunen.
Caenis war jung; ob sie schön war, wissen wir nicht, jung reichte. Allein ging sie am Strand spazieren. Neptun, als Meeresgott in Strandnähe, sah sie und vergewaltigte sie. Als er sie blutend liegen sah, bot er zur Wiedergutmachung an, ihr einen Wunsch zu erfüllen. Caenis wünschte sich nur eins: Mach einen Mann aus mir, damit mir so etwas nie mehr widerfährt. Von da an hieß sie Caeneus.
Personal, sagte ich, das Personal hatte ich vergessen. Die Bestverdienenden leisten sich vier, fünf Leute, aber mindestens drei, eine Frau für Empfang und Bedienung und eine fürs Putzen, und einen athletischen Mann, der sich auch als Rausschmeißer und Leibwache einsetzen lässt.
Wenn du dir den nicht leisten kannst?
Das Vibrieren kam aus dem Bauch von weit unten, wie gestern Abend, als ich ihn davongehen sah. Mit seinem eigenartigen Gang pirschte er durch meine Eingeweide, jeden Schritt spürte ich, wie er abrollte von der Ferse bis zum Ballen.
Was hast du?, fragte die Fedele und stand auf und legte ihre Hand auf meinen Kopf.
Ein ungutes Gefühl, sagte ich.
Die Hand der Fedele kroch über meinen Scheitel wie ein Mauergecko.
Wegen Aretino?
Er wird immer mein Beschützer sein.
Wie der liebe Gott?
Nein, er vergleicht sich nur mit Jesus. Die da oben, sagte er, können jeden im Namen Gottes oder des Gesetzes niedermachen. Aber ich kann wie Jesus dafür sorgen, dass Totgesagte wieder auf die Beine kommen.
Also weshalb dann?
Wegen einem dieser Halbgötter. Ich nannte Lorenzos Namen und sagte, dass er Schriftsteller werden wollte.
Warum redest du nicht mit Aretino darüber?
Als die Fedele alles wusste, nahm sie die Hand von meinem Kopf.
Was weiß dein Vater?
Der war im Glauben, ich würde Aretino beim Briefeabschreiben helfen.
Nichts, sagte ich.
Deine Mutter?
Noch weniger. Menschen, die nicht lügen, lassen sich so leicht anlügen.
Erst beim Hinausgehen stellte sie mir ihre letzte Frage.