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Der Anfang

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Mia trat aus der kleinen, an einer Landstraße gelegenen Pension, blinzelte in den wolkenlosen Himmel und atmete die kühle Morgenluft ein, während sie ein paar Vögeln lauschte, die ganz in der Nähe um die Wette zwitscherten. Verträumt bewunderte sie den glitzernden Tau, der über den weitläufigen Wiesen hinter der Leitplanke schwebte und beobachtete einen Moment lang, wie die Sonne langsam höher stieg. Die Umgebung war menschenleer, nur ganz hinten am Horizont entdeckte sie einen einzelnen Spaziergänger mit Hund. Obwohl es bereits Mitte September war, wollte der Sommer noch kein Ende nehmen, was Mia jedoch sehr entgegenkam.

Nachdem sie sich gestern den Titisee hier in Neustadt angesehen hatte, wollte sie sich nun einem Teil des Schwarzwaldes widmen. Der sollte einer ihrer letzten Highlights auf der langen Wanderung sein, die sie seit dem Unfall vor knapp zwei Jahren unternahm. Sie dachte inzwischen seltener an den Tag, doch immer noch saß der Schmerz tief. Es war der Tag, an dem sie zwar überlebte, ihr Leben dennoch endete!

Anfangs sollte diese Reise nur dazu dienen allein zu sein und all den mitleidigen Blicken zu entfliehen, die ihr jeder zuwarf, der ihre Geschichte kannte. Doch als sie wieder Frieden mit sich geschlossen hatte und ihr stetiges Fortlaufen anfing, sich wie eine eindrucksvolle Erkundungstour anzufühlen, wollte sie noch etwas mehr erleben. Seitdem hatte sie fast komplett Deutschland zu Fuß erforscht. Jeden Tag zog sie weiter. Nur wenn es zu viel regnete oder stürmte, blieb sie ein paar Tage irgendwo, bis sich das Wetter besserte. Hier und da hatte sie zwar nette Leute kennengelernt, mit denen sie einen zweiten geselligen Abend verbrachte, romantische Zweisamkeiten gab es dabei jedoch nie. Die waren für sie tabu!

Mia liebte die Freiheit gehen zu können, wohin auch immer sie wollte. Seit ein paar Wochen jedoch, spürte sie den stärker werdenden Wunsch nach einem zu Hause. Mit ihren achtunddreißig Jahren hatte sie noch gute Chancen, sich erneut ein sesshaftes Leben aufzubauen. Vielleicht fand sie einen Ort, an dem sie sich besonders heimisch fühlte und wo sie sich dann eine Wohnung oder ein kleines Häuschen kaufen könnte. Genug Geld dafür hätte sie noch aus dem Erlös ihres Besitzstandes.

Irgendwie fand sie es passend hier in Neustadt über einen Neuanfang nachzudenken, doch etwas Konkretes hatte sie jetzt noch nicht geplant. Heute wollte sie erstmal in Richtung Wald. Mal sehen, wie weit sie kommen würde.

Bevor sie ihren elf Kilo schweren Rucksack schulterte, prüfte sie in einer Fensterspiegelung, ob ihre Kleidung zufriedenstellend saß. An warmen Tagen trug sie stehts ein Shirt mit kurzen Jeanshosen, sowie feste Wanderschuhe. Da alles so saß wie gewünscht, band sie schließlich ihre braunen, schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und ging los. Laut der Wegbeschreibung, die sie gestern von dem Wirt erhalten hatte, müsste hinter der nächsten Biegung der Wanderweg beginnen, der sie zu ihrer Route führte.

Noch bevor sie den Weg erreichen konnte, sprang sie plötzlich erschrocken zur Seite. Ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug, rutsche mit quietschenden Reifen an ihr vorbei. Sie vernahm den beißenden Geruch des abgeriebenen Gummis, ehe es, mit immer noch hoher Geschwindigkeit, in die Leitplanke krachte. Beim Anblick der stark zerknautschen Motorhaube und der verbogenen Leitplanke, lief Mia ein kalter Schauer über den Rücken. Ihr Herz raste. Reglos starrte sie den Wagen an, doch niemand stieg aus.

~Hilfe…ich muss Hilfe holen~ , befahl sie sich selbst und schaffte es, sich aus ihrer Starre zu lösen. Schnell rannte sie die wenigen Meter zurück in die Pension, um den Notarzt rufen zu lassen, warf beim rausrennen ihren Rucksack in eine Ecke und kehrte dann zu der Unfallstelle zurück. Sie öffnete die Fahrertür und fand einen blutenden, bewusstlosen Mann und ein schockiertes Mädchen vor. Es musste um die acht Jahre alt sein, vielleicht auch älter.

Mit Mia waren zwei Männer aus der Pension geeilt, um ebenfalls zu helfen. Die beiden wollten den verletzten Mann aus dem Auto ziehen, doch sein Bein klemmte fest. Der Fahrer eines vorbeifahrenden Wagens erkannte die brenzliche Situation, hielt mit Warnblinkanlage hinter ihnen und sicherte die Unfallstelle. Mia atmete tief durch, umrundete das Auto, um auf die Beifahrerseite zu gelangen und öffnete die Hintertür, wo das Mädchen saß. Vorsichtig und mit etwas zittriger Stimme, versuchte sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: „Hallo kleine Maus, wie heißt du denn?“ Das Mädchen sah nur starr zu den Männern, die versuchten ihren Vater zu befreien.

„Hey kleines, komm schon sieh mich an!“ forderte Mia sie energischer und deutlich gefasster auf. Zwar wandte sich das Mädchen nun zu ihr, konnte jedoch nicht antworten. Tränen liefen über ihr Gesicht und sie zitterte, dennoch schien sie weitgehend unverletzt zu sein. „Ich hole dich jetzt aus dem Auto und dann gehen wir dahin, wo es sicherer ist, okay?“ Mia löste den Sicherheitsgurt und nahm das verschreckte Kind aus dem Auto. Sie schaute sich kurz um und ging dann in Richtung Pension. Davor stand eine kleine Bank, auf die sie sich setzte. Die Kleine drückte ihr Gesicht schutzsuchend an Mias Brust und wimmerte: „Mein Papa. Ist er, ist er tot?“

Mia hatte eben mitbekommen, dass der Mann am Steuer noch einen Puls hatte und auch atmete. „Nein Mäuschen, dein Vater muss sich nur etwas erholen. Gleich kommen Ärzte und die kümmern sich um ihn.“ Sie strich dem Kind zärtlich über den Kopf und wiegte sie fest im Arm. „Du hast dich ganz schön erschreckt was?“ Die Kleine nickte still.

„Ich mache dir einen Vorschlag: du beantwortest mir ein paar Fragen und ich bleibe bei dir, bis du gut versorgt bist. Wie wäre das?“ Das Mädchen nickte erneut und setzte sich aufmerksam hin.

„Also, wie heißt du?“ „Rita Lubitz.“ Mia bemerkte, wie das bebende Kind langsam ruhiger wurde und lächelte ihr aufmunternd zu: „Hallo Rita, ich bin Mia. Wie alt bist du?“ „Acht“ „Sag mal Rita, hast du irgendwo Schmerzen?“ „Nur mein Kopf tut mir weh und meine rechte Schulter.“ Mia sah eine kleine Wunde an ihrer linken Schläfe und prüfte möglichst unauffällig, ob noch mehr zu sehen war. Zum Glück nicht. „Wo ist denn deine Mama?“ „Die ist gestorben“, sagte Rita und hatte sofort wieder Tränen in den Augen.

Mia zögerte und musste sich sammeln, bevor sie weitersprechen konnte. Um die Kleine nicht weiter aufzuwühlen, beschloss sie nicht darauf einzugehen und konzentrierte sich stattdessen weiter auf ihre Fragen: „Gibt es sonst jemanden den ich für dich anrufen kann?“ „Nur Jo und Betty, aber die sind nicht da.“ „Okay, schade. Rita, du machst das prima! Weißt du auch, wie es zu dem Unfall gekommen sein könnte?“ „Papa und ich hatten Streit. Er hat mit mir geschimpft und dann hat es so gerumst. Es war alles meine Schuld, es tut mir so leid!“, weinte sie bitterlich. Mia packte sie an den Schultern: „Rita, sieh mich an! DU hast KEINE Schuld daran! Es war einfach nur ein Unfall, hörst du?“ Damit nahm sie das Mädchen wieder fest in den Arm. Während sie sie zärtlich wiegte, summte sie beruhigend vor sich hin.

Der Krankenwagen war inzwischen eingetroffen. Ritas Vater war nun von seinem Sitz befreit und wurde auf die Transportliege gehoben. Er schien immer noch nicht wach zu sein. Gerade zeigte einer der anderen Helfer, der mit einem der Sanitäter sprach, in ihre Richtung. Dieser kam dann in zügigen Schritten auf sie zu: „Hallo, ist das das Mädchen aus dem Unfallwagen?“ Mia setzte ihren Schützling auf der Bank ab und stand auf, um dem Sanitäter zu berichten, was sie bisher rausgefunden hatte: „Ja, das ist Rita Lubitz. Bis auf eine kleine Wunde am Kopf und Schmerzen im Schulterbereich, scheint es ihr gut zu gehen. Sie steht aber unter Schock.“ „Gut, dann nehme ich sie jetzt mit. In Kürze kommt ein zweiter RTW, dort sehe ich sie mir an.“ „Kann ich mitkommen? Ich habe ihr versprochen bei ihr zu bleiben. Sie wäre sonst ganz allein.“ Der Sanitäter überlegte kurz, stimmte dann jedoch zu. Das Mädchen schien der Frau zu vertrauen, da war es sicher förderlich sie mitzunehmen.

Zufällig kamen gerade auch die beiden Männer von der Pension auf sie zu. Einer davon war der Besitzer. Mia bat ihn darum ihren Rucksack aufzubewahren und zu prüfen, ob er für heute Nacht doch noch ein Zimmer für sie hätte. Der Mann nickte sofort hilfsbereit und sagte ihr, sie könne ihr Zimmer von gestern wiederhaben. Froh darüber das geklärt zu wissen, bedankte sie sich, holte aus dem Seitenfach ihr Portemonnaie hervor und vertraute ihm den Rucksack an. Dann nahm sie Rita wieder auf den Arm und folgte dem Sanitäter zu dem gerade eintreffenden Rettungswagen.

Auf den ersten Blick diagnostizierte er eine leichte Gehirnerschütterung und eine Prellung an der Schulter. Mit Sicherheit würde das jedoch erst im Krankenhaus festgestellt werden können.

Da Mia nicht mit zur Familie gehörte, durfte sie bei den Untersuchungen nur vor dem Behandlungsraum warten. Eine Schwester teilte ihr mit, dass Ritas Vater weiterhin ohne Bewusstsein, aber stabil sei und sie ihr näheres leider nicht verraten dürfe.

Nachdem Rita ein Zimmer zugeteilt wurde, half Mia ihr sich etwas einzurichten und wiegte sie dann wieder in ihrem Arm. Noch immer war Rita ganz benommen. Sie hatte bisher kaum gesprochen, nichts gegessen und nur unter Protest ein wenig getrunken.

Mia fragte sich, ob es überhaupt in Ordnung sei bei diesem Mädchen zu bleiben. Immerhin war sie eine Fremde. Gehen konnte sie aber auch nicht, so aufgewühlt wie die Kleine war. Zudem hatte sie ihr eben versprochen, noch zu bleiben, bis sie eingeschlafen war. Das arme Kind! Es sah völlig erschöpft aus. Mia strich ihr sanft übers Gesicht und sang ihr die Schlaflieder, die sie früher so oft vorgesungen hatte… Bald darauf schlief Rita fest ein. Eine Weile betrachtete Mia neugierig ihr nun ganz friedlich wirkendes Gesicht. Sie war ein zierliches Mädchen, mit braunen langen Haaren und ausdrucksstarken braunen Augen. Irgendwann legte sie sie ins Bett, deckte sie zu und besorgte ihr dann, in einem nahen gelegenen Geschäft, die nötigsten Utensilien für einen Krankenhausaufenthalt. Als sie wiederkam, war immer noch kein Bekannter oder Verwandter da. Seltsam. Inzwischen war es bereits Nachmittag, bemerkte denn niemand ihr fehlen?

Da Rita immer noch fest schlief, stellte Mia ihr die besorgten Sachen auf den Nachttisch und wollte zurück zur Pension laufen. Sie war nun selbst ziemlich erledigt. Zudem hatte sie riesigen Hunger und hoffte unterwegs noch etwas Gutes zu finden.

Bevor sie die Station verließ, gab sie einer Schwester im Büro Bescheid, dass sie nun gehe und bat darum, Rita lieb von ihr zu grüßen. Sicherheitshalber nannte sie auch ihren Namen und den der Pension, mit der Bitte sie zu benachrichtigen, falls irgendetwas gebraucht wurde. Sie wusste, dass sie das nicht tun musste, aber irgendwie fühlte sie sich verantwortlich für dieses Kind. Zuletzt erkundigte sie sich, ob es etwas Neues von Ritas Vater gäbe, doch die Schwester schüttelte leicht besorgt den Kopf.

Als sie das Krankenhaus verlassen hatte und sich umsah, wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war. Zwar war der Krankenwagen nicht sehr lange gefahren, doch sie hatte völlig vergessen, aus welcher Richtung sie gekommen war. Also besorgte sie sich hier in der Gegend etwas zu essen und eine Flasche Wasser, wobei sie auch gleich nach dem Weg fragte. Es waren knapp zehn Kilometer zu laufen. Mit einem Blick auf die Uhr entschied sie, sich heute mal ein Taxi zu gönnen.

In der Pension angekommen, trank sie noch etwas an der Bar, um dem freundlichen Besitzer die Geschehnisse aus dem Krankenhaus zu berichten. Gemeinsam ließen sie den Unfall noch einmal Revue passieren. Irgendwann schüttelte Peter, so hatte er sich ihr im Laufe des Gespräches vorgestellt, mit dem Kopf und meinte: „Armes kleines Ding. Ist wirklich nett von dir, wie du für sie da warst.“ Mia freute sich über die Anerkennung, fand ihr Handeln aber selbstverständlich.

„Das Zimmer ist übrigens die ganze Woche frei, falls du entscheiden solltest noch zu bleiben…“ Väterlich nickte er ihr zu, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Mia zog sich in ihr Zimmer zurück. Ihre Gedanken kreisten den ganzen Abend um Rita und ihren Vater. Sie machte sich Sorgen. Rita war noch so jung und hatte sicher große Angst. Daher beschloss sie, am nächsten Tag wieder hinzugehen. Wahrscheinlich war ihre Sorge unbegründet und Rita kam ganz gut ohne ihre Hilfe zurecht, doch sie wollte sich unbedingt davon überzeugen.

Am nächsten Morgen frühstückte Mia und zahlte ihr Zimmer für diese Nacht und auch für die kommende. Anschließend plauderte sie noch etwas mit Peter und seiner Frau. Als sie aufstand, um sich auf den Weg zu machen, sah Peter seine Frau an und brüstete sich stolz: „Siehst du Helene, ich kenne die Leute. War mir sofort klar, dass das Mädel hier viel zu gutmütig ist, um einfach zu gehen.“ Helene lachte zustimmend und bestand darauf, sie zum Krankenhaus zu fahren. Mia freute sich über die Zeitersparnis und nahm das Angebot gerne an.

Als sie auf die Station trat, kam die Schwester von gestern genervt auf sie zu: „So ein Glück, dass Sie da sind. Rita liegt seit gestern Abend einfach nur im Bett und starrt die Wand an! Vielleicht können Sie sie etwas aufmuntern.“ Mia blickte sie erstaunt an: „Okay, mal sehen was ich tun kann. Gibt es denn etwas Neues von Ritas Vater?“ „Ja, er ist gerade eben aufgewacht. Wir wollten es ihr aber noch nicht sagen, bis der Arzt bei ihm war.“ „Verstehe. War denn inzwischen jemand aus der Familie oder dem Bekanntenkreis hier?“ Die Schwester schüttelte traurig den Kopf, während sie sich schon wieder abwandte, um eilig den nächsten Patienten zu versorgen.

Mia klopfte an die Türe und trat vorsichtig ein. Gerade versuchte eine andere Schwester Rita zum Trinken zu bewegen, doch die starrte nur apathisch aus dem Fenster.

„Hallo Rita.“

Freudestrahlend sprang das Mädchen aus dem Bett und taumelte ihr in die Arme. Die Gehirnerschütterung störte noch ihren Gleichgewichtssinn. „Rita, du sollst doch im Bett bleiben“, befahl die genervte Schwester barsch. Mia sah die Frau beschwichtigend an und wandte sich dann an Rita: „Weißt du Spätzchen, die Schwester hat vollkommen Recht. Du möchtest doch schnell wieder gesund werden, oder?“ Reumütig nickte Rita und legte sich langsam zurück ins Bett. Die Schwester war froh, sich endlich wieder ihren anderen vielzähligen Aufgaben widmen zu können und verließ das Zimmer. „Du bist wiedergekommen!“, strahlte Rita sie an. „Ja natürlich. Ich habe dir doch versprochen, dass ich bleibe, bis du gut versorgt bist.“

Rita kuschelte sich dankbar an Mia. Der Unfall und die Sorge um ihren Vater hatten dem Mädchen viel abverlangt, doch in Mias festem Griff konnte sie sich endlich etwas entspannen. „Danke, dass du da bist!“ flüsterte sie und bestätigte Mia damit unbewusst, wie richtig ihre Entscheidung war, noch einmal herzukommen.

Im Laufe der nächsten Stunde schaffte Mia es, dass Rita ihr Frühstück zu sich nahm und ein großes Glas Wasser trank. Beides vertrug sie problemlos, ein gutes Zeichen. Bald darauf kam erneut eine Schwester ins Zimmer. Diesmal mit einem Rollstuhl: „Rita, ich habe gute Neuigkeiten. Dein Vater ist wach und möchte dich gerne sehen.“ Begeistert sprang Rita aus dem Bett und setzte sich in den Rollstuhl. Schon in der Tür wandte sie sich noch einmal um. „Mia, du wartest doch, oder?“ „Na logisch, jetzt geh und begrüße deinen Paps. Er vermisst dich sicher ganz doll!“

Mia besorgte sich einen Kaffee und setzte sich wieder ins Zimmer. Nach ungefähr einer Stunde ging die Tür auf und eine glückliche Rita wurde hereingeschoben. Die Schwester sah sie fröhlich an: „Herr Lubitz würde Sie gerne unter vier Augen sprechen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“ Mia nickte und stand auf, um ihr zu folgen. Unterwegs bereitete die Schwester sie darauf vor, dass Rita die ganze Zeit von nichts anderem erzählt hätte, als von ihr. Mit etwas flauem Magen, ob der Mann auch einverstanden gewesen war, dass sich, eine ihm fremde Person, so um seine Tochter kümmerte, trat sie ein. Ritas Vater lag im Bett und war an duzenden Kabeln angeschlossen. Um den Kopf war ein Verband gewickelt, sein Gesicht war stark geschwollen und seine Haut sah fahl und blass aus. Sein rechtes Bein, das er sich im Auto eingeklemmt hatte, war über der Bettdecke hochgelagert und ebenfalls einbandagiert. Er trug eines dieser Krankenhaushemden und sah noch ziemlich angeschlagen aus. Dennoch lächelte er schwach: „Hallo, ich bin Cedrik Lubitz.“

Mia griff nach seiner ausgestreckten Hand und lächelte zurück: „Ich bin Mia Felser.“

„Wie ich hörte hast du dich rührend um meine Kleine gekümmert. Vielen Dank dafür! Es ist schön zu wissen, dass sie gut aufgehoben ist.“ Traurig und erschöpft sah er aus dem Fenster. Offenbar dachte er an den Unfall. Er tat ihr leid. Dennoch schmunzelte sie, weil er sie einfach duzte.

„Habe ich gerne gemacht. Rita ist ein liebes Mädchen. Sie war wirklich sehr tapfer!“ Kaum hatte sie den Satz beendet, hatte er die Augen schon wieder geschlossen. Mia stand auf und richtete ihm bemutternd die Decke. Seine Hand berührte leicht ihr Handgelenk: „Danke“, raunte er noch einmal schwach, dann war er ganz eingeschlafen. Sie musterte ihn nachdenklich und ging dann wieder zu Rita. Zu gerne hätte sie noch gewusst, ob sie nicht jemanden über den Zustand der beiden informieren sollte, aber das würden sicher die Schwestern erledigen.

Seit dem Besuch bei ihrem Vater war Rita deutlich besser gelaunt. Sie trank nun von selbst und hatte mittags einen gesunden Appetit. Nach dem Essen durfte sie noch einmal zu ihrem Vater. Mia nutzte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden, musste jedoch versprechen, am nächsten Tag wieder zu kommen.

Gleich nach dem Frühstück ging sie zu Fuß zum Krankenhaus. Die Bewegung tat ihr gut, denn die letzten beiden Tage hatte sie viel im Krankenhaus rumgesessen. Gestern auf dem Heimweg war Peter zufällig an Mia vorbeigefahren und hatte sie auf halber Strecke mit zur Pension genommen.

Als sie wie gewohnt in Ritas Zimmer wollte, rief ihr eine Schwester zu: „Rita ist nicht mehr da. Sie wurde heute Morgen zu ihrem Vater ins Zimmer verlegt.“ „Ah okay, danke, dann schaue ich dort mal nach.“

Nervös, ob Ritas Vater der Besuch auch recht sei, klopfte Mia an die Türe und trat vorsichtig ein. Cedrik saß in seinem hochgestellten Bett, Rita eng an ihn gekuschelt daneben. Beide grinsten sie fröhlich an. „Ah, da kommt ja unser Engel“, sagte Cedrik, der heute wesentlich wacher schien als gestern. ~eine nette Stimme hat er~ , stellte Mia fest und grinste verdutzt zurück . Rita forderte sie, mit der Hand auf die Matratze klopfend auf, sich mit aufs Bett zu setzten, aber Mia nahm sich lieber einen Stuhl und sah die beiden fragend an: „Engel?“ „Ja, Rita glaubt du bist unser Schutzengel.“ „Achso, na dann!“, akzeptierte Mia ihre Anrede belustigt und fing Rita auf, die ihr kichernd in die Arme sprang. Cedrik viel nun schlagartig auf, wie unhöflich er war: „Oh entschuldige bitte, in meinem Kopf sind wohl die Benimmregeln etwas durcheinander…darf ich du sagen?“ „Ja gern“, lachte sie, bevor sie weitersprach: „Wie es scheint geht es euch beiden besser?“ „So ist es“, freute er sich. Rita zeigte aufgeregt auf ihr Bett: „Ich darf sogar bei Papa im Zimmer schlafen. Ist das nicht toll?“ „Auf jeden Fall. Zusammen wird man doppelt so schnell wieder gesund!“ Alle lachten. „Gibt es etwas, das ich tun kann? Soll ich irgendjemanden informieren, wo ihr seid?“ „Lieb von dir, aber du hast bei weitem genuggetan. Ich habe meine Freunde Betty und Jo gestern noch angerufen, die klären alles. Aber wenn du Lust hast, kannst du uns gerne noch Gesellschaft leisten. Rita würde sich bestimmt freuen.“ Seine Tochter bestätigte seine Vermutung umgehend, indem sie aufgeregt jubelte.

Vor dem Zimmer wurde es plötzlich laut. Es polterte an die Tür und drei Kinder sprangen herein. Zwei Jungs, vermutlich Zwillinge um die elf Jahre und ein Mädchen in Ritas Alter. Kurz darauf folgten eine sehr hübsche, elegant gekleidete Frau, mit der gleichen milchkaffeebraunen Haut, wie die der Kinder, sowie ein genauso attraktiver Mann in dunkelbraunem Hautton. Mit wildem Getöse begrüßten sie sich alle. Mia wurde als die Heldin des Tages vorgestellt, dann überschüttete Betty die Patienten mit Fragen über Fragen. Mia war etwas überfordert von so vielen Leuten, denn sie war die Stille ihrer Wanderungen gewöhnt und stellte sich daher abseits, um das Geschehen lieber von außen zu beobachten. Sie schienen sich alle sehr nahe zu stehen. ~Das muss schön sein~ , dachte Mia seufzend. Sie freute sich sehr für Cedrik und Rita, doch sie kam sich nun ziemlich fehl am Platz vor. Weil sie die offensichtlich sehr eingeschworene Gemeinschaft nicht stören wollte, verließ sie leise das Zimmer.

Erleichtert, das Krankenhaus unbemerkt verlassen zu haben, beschloss sie, sich wenigstens schon mal die verschiedenen Wanderwege am Wald anzusehen. Morgen würde sie sich dann endgültig von Cedrik und Rita verabschieden und ihr Abenteuer Schwarzwald beginnen. Es war gerade erst Mittagszeit und noch dazu Sonntag. Daher aß sie, statt der üblichen gesunden Snacks aus dem Einkaufsmarkt, in einem Imbiss ein Schnitzel mit Pommes und trank dazu ein Wasser. ~Bens Lieblingsessen~, dachte Mia wehmütig an alte Zeiten. Um sich wieder von diesem Gedanken loszureißen, schüttelte sie heftig den Kopf. Schnell aß sie auf und machte sich auf den Weg. Sie wollte sich eine ganz bestimmte Reihe Wasserfälle ansehen. Angefangen vom Zweribach-Wasserfall, bis hoch zum Edelfrauengrab. Mal sehen wie lange sie für die ca.100km brauchen würde. Vier bis fünf Tage vielleicht. Im Wald kam es immer auf die Beschaffenheit der Wege an, wie schnell man vorankam. Bald fand sie den kürzesten Weg, der sie morgen zu ihrem ersten Ziel führen würde. Bestens vorbereitet machte sie sich auf zur Pension. An der Bar kam sie wieder mit Peter und seiner Frau ins Gespräch. Sie erzählte das Neueste von Cedrik und Rita und informierte ihre Gastgeber darüber, dass sie morgen früh abreisen würde. Sie wollte gegen 09:00 Uhr am Krankenhaus sein, sich kurz verabschieden und dann los. Nach einem üppigen Abendbrot, das die rundliche Helene ihr gezaubert hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Sie packte schon mal alles, duschte genüsslich und ging dann früh zu Bett.

Pünktlich kam Mia am Krankenhaus an. Rita war allein im Zimmer und starrte aus dem Fenster. „Hi Rita, ist alles gut?“ „Ja, ich habe nur solche Kopfschmerzen.“ „Oje. Wo ist denn dein Paps?“ „Er wird untersucht. Warum hast du deinen Rucksack dabei?“ „Hm, weißt du, es wird Zeit für mich weiter zu ziehen.“ Rita sah sie entsetzt an: „Nein, bleib noch hier, BITTE!“ „Ich bleibe noch, bis dein Vater zurück ist, aber dann muss ich leider los. Einverstanden?“ Rita sah sie traurig an: „Einverstanden. Kannst du mich denn noch ein letztes Mal schaukeln?“ Lächelnd nahm Mia sich einen Stuhl, stellte ihn ans Fenster und nahm Rita in den Arm, um sie sanft zu wiegen. „Singst du mir auch was vor?“ Mia sah sie liebevoll an und sang Schlaflieder von Simone Sommerland. Gedankenverloren blickten beide in den blauen Himmel und merkten gar nicht, dass Cedrik zurück im Zimmer war. Ergriffen von der Szene gab er der Schwester, die seinen Rollstuhl schob, ein Zeichen leise zu warten. Still blieb er sitzen und lauschte ihrem Gesang. Als Mia ihn endlich wahrnahm, zuckte sie zusammen und wurde ganz verlegen. Cedrik sah sie nachdenklich an und sagte dann zu Rita, dass der Arzt auf sie wartete. Stöhnend stand sie auf und tauschte mit ihrem Vater den Platz im Rollstuhl, um dann mit der gerührten Schwester zu verschwinden. Mia half ihm ins Bett und war immer noch ziemlich verlegen.

Cedrik sah den Rucksack und witzelte, um die Stimmung aufzulockern: „Hey Engel, ziehst du jetzt ganz hier ein, um armen Patienten, wie mir, den Tag zu retten?“ Mia lachte auf, wurde jedoch schnell wieder ernst. „Nein, ich bin hier, um mich zu verabschieden. Ich werde heute weiterziehen.“ „Weiterziehen?“, fragte er betrübt, denn ihm gefielen ihre Besuche.

Mia erzählte ihm in kurzen Worten, dass sie seit knapp zwei Jahren als eine Art Rucksacktouristin durch Deutschland reiste und immer dahin ging, wohin ihre Füße sie trugen. „Dann hast du kein zu Hause? Und keine Verpflichtungen?“ „Nein, ich laufe bis ich müde bin, suche mir eine Unterkunft zum Schlafen und gehe dann weiter.“ Cedrik fand ihren Lebensstil sehr ungewöhnlich, aber genau das kam ihm gerade sehr gelegen, denn ihm kam eben eine gute Idee. Doch die sollte er besser vorsichtig und überzeugend anbringen, sonst gab das sicher nichts. Wenn ihm doch nur der Kopf nicht so schmerzen würde und er sich besser konzentrieren könnte…

Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie ihn. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er gründlich über ihre Worte nachdachte. Manche Leute verstanden ihre Lebensweise nicht und bezeichneten sie abfällig als Landstreicherin. Normal störte es sie nicht sonderlich, was andere von ihr dachten. Doch jetzt hätte sie das irgendwie getroffen. „Bereust du jetzt, dass ich so oft hier war?“ „Himmel nein, ich bin dir unendlich dankbar! Es ist nur…“ „Ja?“ „Nimmst du auch manchmal Jobs an?“ „Selten. Ich habe genug Geld für meine Reisen, aber ab und zu besser ich meine Urlaubskasse auf, indem ich Bauern bei der Ernte helfe. Warum?“ Langsam wurde Mia ungeduldig, weil sie nicht verstand, worauf er hinauswollte.

„Ich frage mich, ob du nicht eventuell für ein paar Wochen zu uns ziehen würdest. Der Arzt sagte mir eben, wenn ich jemanden hätte, der mir zu Hause hilft und sich um mich kümmert, könnte ich heim. Rita ist soweit auch wieder fit, daher ginge es ihr zu Hause sicher besser als hier. Normal würden das Betty und Jo übernehmen, aber die sind momentan ziemlich ausgelastet und jemand anderen hätte ich auch nicht, der dafür in Frage käme... Außerdem wäre Rita garantiert sehr glücklich, wenn du noch etwas bleibst. Sie mag dich sehr, weißt du?“

Mia dachte nach. Sie mochte die beiden, aber bei einem fremden Mann wohnen, um ihn zu pflegen, kam ihr doch etwas seltsam vor. „Was genau wären denn meine Aufgaben?“ „Ach gar nicht so viel. Du müsstest mich alle paar Tage zur Kontrolle herfahren, kochen und zwischendurch mal prüfen, ob ich noch lebe.“ Um ihr ein gutes Gefühl zu vermitteln, zwinkerte er sie an, dann fiel ihm noch etwas Wichtiges ein: „Ach und ab Mittwoch kann Ri wieder zur Schule, da müsstest du sie auch hinfahren und abholen. Du hast doch einen Führerschein, oder?“ „Ja schon, aber kein Auto!“ „Ich aber!“ „Das hast du kaputt gemacht, erinnerst du dich?“ Cedrik lachte, amüsiert von ihrem Sarkasmus: „Ich habe noch eins.“ „Hm. Und dir ist schon bewusst, dass ich seit zwei Jahren nichts mehr gekocht habe?“ „Ach, wir sind sehr genügsam… Und noch was: Wie klingen dreitausend Euro, mit freier Kost und Logis?“ „Wow, das ist viel! Brauchst du das Geld nicht für die Reparatur oder für Rita?“ „Alles gut, ich denke das kann ich mir leisten“, grinste er spöttisch. Dann sah er sie mit gespielt ernster Miene an und streckte ihr, zur Besiegelung ihrer Abmachung, die Hand entgegen: „Deal?“ Misstrauisch beäugte Mia seine Miene: „Warum bietest du mir so viel Geld an, für so wenig Arbeit?“ „Weil ich nach Hause will!“ „Was wäre, wenn ich eigentlich eine Irre oder so was bin?“ „Hm, neee. Irre sind nicht am Wohlergehen anderer interessiert! Außerdem vertraut Rita dir. Glaube mir, das ist selten! Deswegen vertraue ich dir auch.“ „Vielleicht bist du ja der Irre, der mich verschleppt und zerstückelt…“ „Genau, weil ich nämlich in meiner absurden Fantasie genau gesehen habe, wann und wo ich vor die Wand brettern muss, um DICH zu finden!“ Jetzt musste Mia lachen. Sie zögerte noch einmal kurz, dann schlug sie ein: „Deal!“

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