Читать книгу Start klar - Leibovici-Mühlberger Martina - Страница 5
Was stimmt wirklich?
ОглавлениеMärz 2020: Ich verlasse das Altwiener Innenstadthaus, in dem ich wohne, mit einem neuen Gefühl von Bewusstheit und gleichzeitiger Spannung. Heute sieht man sich um. Der breite Hauseingang im Mantel eines Jugendstilentrée mit dem kunstvoll verlegten schwarzweißen Mosaikboden ist noch derselbe. Seine Steine vermögen das Auge wie ein Vexierbild immer aufs Neue mit ihrer springenden Geometrie zu narren.
Doch bereits beim ersten Schritt ins Freie ist es klar. Die Etikette auf der Straße hat sich drastisch geändert. Man weicht einander aus. Und man ist sehr achtsam dabei. Wenn einem der Sicherheitsabstand von eineinhalb Metern nicht ausreichend erscheint, dreht man zusätzlich den Kopf auf die andere Seite, sobald man auf gleicher Höhe ist. Ängstliche tun das sowieso bei jeder Begegnung, Vorausschauende wechseln lieber gleich die Straßenseite.
Im Schaufenster des Reisebüros ein paar Meter neben meinem Hauseingang läuft ein Fernseher auf Dauerschleife. Ein Werbefilm für Kreuzfahrten wechselt sich mit farbenprächtigen Bildern anderer tropischer Reiseziele und einem Familienhotel an der italienischen Adriaküste ab. Ein Angebot für kulinarisch Interessierte verspricht in einer Rundreise auch den Besuch der Kulturschätze der Lombardei. Auf dem Plakat nehme ich bereits eine feine Staubschicht wahr. Das wirkt jetzt alles ganz seltsam anachronistisch, skurril unpassend, ja längst überholt und das holt mich für einen Moment mit endlos auswegloser Verlorenheit so kräftig ein, dass sich meine Eingeweide schmerzhaft verschrauben. The day after! Unvermutet sind wir hier angekommen.
Aber das ist doch alles Wahnsinn, schießt es mir in einem Anfall von heißem Aufbegehren durch den Kopf. Da läuft doch ein kollektiver Irrsinn mit diesem Shutdown, der alles lahmlegt und die Großstädte zu seltsam schaumgebremsten Zonen macht, in die erste Wildtiere wieder einwandern. Millionen Menschen erkranken doch jährlich an der Grippe und zigtausende sterben dann auch daran. 2018/19 waren das alleine in Österreich 1400 und 2017/2018, einem besonders miesen Jahr, geschätzte rund 25.000 Tote allein in Deutschland. Trotzdem hat man nichts abgeriegelt, keine Veranstaltungen abgesagt, die Geschäfte nicht gesperrt, die Schulen nicht geschlossen oder dergestaltige Beunruhigung ausgelöst, dass sich alle vor einem Zombievirus fürchten, wie sie es jetzt tun und deswegen Hamsterkäufe tätigen. Die Schlacht ums Klopapier erlaubt dabei einen bemerkenswerten Einblick in die Seele. Wir sind wohl wirkliche Scheißer!
Manche und durchwegs anerkannte Stimmen aus der Gemeinschaft der Virologen, wie etwa Hendrik Streeck vom Uni-Klinikum Bonn, meinen, dass, wäre uns das Virus nicht aufgefallen, wir im Nachhinein vielleicht festgestellt hätten, dass wir dieses Jahr eine schwere Grippewelle gehabt hätten. Pure Massenhysterie also!
Ich spüre meine Wut und mein grimmiger Gesichtsausdruck ist wohl der Grund, dass mir die mit einer grünen OP-Maske ausgestattete entgegenkommende Frau gleich noch einen Meter mehr auszuweichen versucht.
Das Ganze ist vielmehr eine globale Case Study für die Lenkung kollektiver Massen, wir werden hier wohl gerade schrecklich verarscht und müssen die ganze falsche Show dann auch noch mit unseren Steuern bezahlen, denke ich. Und das alles, einfach weil ein paar Politclowns auf die falschen Virologen setzen oder manche Hardliner als Trittbrettfahrer der Gelegenheit hier vielleicht sogar die Unterwanderung unserer Bürgerrechte planen. Meine Wut hat mich jetzt gut im Griff, kreist siegessicher und adrenalingesteuert durch meinen Körper, während ich mich im kühlen Wind mit raschem Schritt durch die leere Innenstadt pflüge.
Ich trabe über den fast ausgestorbenen Heldenplatz, durchquere die Hofburg, denke an der Gottfried von Einem Stiege kurz daran, dass ich endlich meine alte Freundin Lotte Ingrisch, die Witwe von Gottfried von Einem, die mit dem Jenseits recht geläufig kommuniziert, anrufen muss und jetzt endlich Zeit dazu habe. Dann geht es weiter durch die Stallburggasse, vorbei an einem unsicher wirkenden einsamen Polizisten, der aussieht, als würde er etwas bewachen, obwohl mir nicht klar ist, was das wohl sein könnte, und durch die Bräunerstraße Richtung Graben. Vertrautes Gelände, Heimat und doch gleichzeitig fremd und leer heute. Langsam beruhige ich mich.
Andere Bilder steigen auf, beängstigende, Schrecken erregende. Das Interview mit einer verzweifelten Ärztin aus Cremona und jenes mit zwei Intensivmedizinern aus der Lombardei, die vor laufender Kamera Überforderung und Weinen fast nicht mehr zu unterdrücken vermocht hatten. Das geht mir nahe. Ich bin auch Ärztin. Ganz am Anfang meiner Laufbahn und noch geschützt durch die Unwissenheit und Unbewusstheit der Jugend habe auch ich Triage gelernt, jenes Verfahren, das bei begrenzten medizinischen Mitteln die Entscheidung festlegt, wer Hilfe bekommt und wer zum Sterben verurteilt wird. Es ist schrecklich. Unmenschlich, sagt man da gern. Und dennoch in Frankreich, diesem reichen, oberflächlicher Schönheit verpflichteten Land bereits Gegenwart, wenn alte Patienten mit COVID-19-Symptomen einfach nicht mehr in Spitäler aufgenommen werden, und sich die behandelnden Pflegeeinrichtungen darauf zurückziehen, mit höheren Dosen Schmerzmitteln das Leiden zu lindern und dabei verdeckt Sterbehilfe leisten.
Ein grausamer Spiegel des Neoliberalismus, der ein Gesundheitssystem auch für die Schwachen über Jahre systematisch ausgehöhlt hat. Die Bilder der langen Reihen von aufgebahrten Särgen in Norditalien und Spanien sind so beängstigend, dass sie trockene Kehlen verursachen. Die Berichte des ersten, sich gemessen bewegenden Zugs von Militärtransportern, die die Leichen abtransportierten, da die örtlichen Bestattungsbetriebe und Krematorien überfordert waren, haben mich, wie viele andere auch, verstört. Genauso die Bilder der in einer Eislaufhalle in Spanien gelagerten Toten oder jene der Kühllastwägen am Hintereingang amerikanischer Krankenhäuser. Für normal hängen in ihnen Rinderhälften. Im jetzigen Massensterben sind es gestapelte Särge.
Alle hängen wir an dieser schrecklichen logarithmischen orangen Kurve und an irgendwelchen Grafiken und Zahlen im Internet, die immer größer werden und möglicherweise zu allererst nur Fantasieprodukte mangelhafter Datenerhebung sind. Ein magisches »R«, das über die weitere Ansteckungsgeschwindigkeit entscheidet, wird zum Richter des Tages und Propheten, ob sich die Kurve abflachen wird und wir aufatmen können oder der steile logarithmische Anstieg einen hohe »pay toll« fordern wird, wir also auch in unserem Gesundheitssystem unausweichlich gegen die Wand rasen.
Was stimmt wirklich? Auf den zwei Kilometern bis zum Stephansdom, vor dem ich nun kurz anhalte, habe ich den Bogen meiner Einschätzung, wie COVID-19 zu sehen ist, von einer von Medien und einer Expertenelite getriebenen Massenhysterie, die die Wirtschaft vollkommen unproportional schädigt bis hin zu einer existenziellen Bedrohung, die jede Maßnahme einer Eindämmung verdient, gespannt. Ich bin zwischen Wut über die Aufbauschung, ja Lächerlichkeit und blankem, gefühltem Horror geschwankt. Das liegt ziemlich weit auseinander, würde ich sagen. Ich bin doppelt verwirrt, einerseits von der ungewöhnlichen Stille um mich herum, anderseits vom Sturm in meinem Kopf.
Über die fast ausgestorbene Kärntnerstraße, sonst ein Touristenmagnet durch den man sich durchnavigieren muss, gelange ich geradlinig zur Oper. Als Jugendliche bin ich oft dichtgedrängt mit anderen an der Stehplatzreling gehangen, später dann gemeinsam mit sozialem Aufstieg habe ich weiter vorne auf den Sitzplatzreihen Platz nehmen können. Werden wir alle, die keine privaten Logen finanzieren können, nach COVID-19 Angst vor unseren Nachbarn in der Reihe haben?
Der übergroße pinke Hase der Albertinapassage, der gleich daneben lange Zeit den Weg in dieses noble Untergrundnachtlokal wies, springt mich heute in der Reprise seltsam lächerlich an. Genauso wie die Erinnerung eines einige Zeit zurückliegenden Besuchs eben dort, zu dem ein mir damals sehr aufregend erscheinender Mann mich im Verführungstanz eingeladen hatte. Ein vernebelnder Schaumschläger, dessen wilde Arabesken von einfältiger Bindungsängstlichkeit nun mit neuer Nüchternheit entzaubert vor mir liegen. Die Krise spitzt alles an. Durch die Krise erlangt der Blick lang entbehrte Schärfe. So eine Krise ist nichts für Feiglinge. Sie hat die Macht, das Leben ins Wirkliche zu drehen, zu zeigen, was wichtig ist und was nicht – und wer ein wirkliches Gegenüber ist. Unter der Krise werden die Guten einfach noch besser und die Miesen ihrer Masken entlarvt, auch wenn jetzt alle Schutzmasken tragen sollen.
Plötzlich erkenne ich, dass es egal ist, ob unser Umgang mit COVID-19 auf einer simplen, gut geschürten Massenhysterie fußt oder es sich um die Dimension einer ernsthaften Bedrohung für unsere Menschheit handelt. Sich mit diesem Streit aufzuhalten hieße, sich der Dringlichkeit des tatsächlichen globalen Anliegens nicht zu stellen, denn was wir gerade erleben ist »Wirklichkeit«, erlebte, tägliche Wirklichkeit, ist die den Alltag bestimmende Realität! Diese Realität gilt es vollständig zu akzeptieren, ihre Bedeutung für unsere gesamte weitere Zivilisation zu verstehen. Die Aufgabe ist, die in ihr liegende Botschaft zu entschlüsseln.
Im Jänner 2020 war ich noch auf einem großen Ball in der Wiener Hofburg, auf dem sich Tausende eng durch die Gänge und auf den Tanzflächen drängten. Wir scherzten und kamen einander nahe, und die Nikotinfreaks begegneten einander im wirklich engen Schulterschluss im Raucherzelt. Anfang März flog ich für ein Meeting nach Innsbruck, wie man das eben so macht, und eine kurze Reise zu einem Klienten in Moskau musste ich dann unmittelbar auch noch unterbringen.
Der Flughafen war bereits erfreulich leer, was die Abfertigung angenehm machte, aber noch nicht wirkliche Nachdenklichkeit bei mir lostrat, da unsere Spezies ja gerne an einer einmal gewählten Wirklichkeit festhält. Für April hatte ich mit einem Arbeitspartner eine Reise nach Bangkok geplant, um Berufliches und Interessantes verbinden zu können. Er hatte mir auch einen Besuch bei seinem wirklich exzellenten Schneider um die Ecke angekündigt. Und irgendwann im Juni würde ich dann beginnen, in der Toskana mein übliches Sommerquartier zu beziehen, nachdem ich zuvor im Mai zweimal an den verlängerten Wochenenden überwachen würde, dass alles dort in Schuss gebracht würde.
Das alles wirkt aus heutigem Blickwinkel anachronistisch und das meiste unpassend, ja manchem gegenüber habe ich sogar ein mulmiges, fast ein wenig schuldiges Gefühl.
Jetzt leben wir nahezu von einem Tag auf den anderen in einer ganz anderen Welt. Strikte Ausgangsbeschränkungen werden verhängt, deren Einhaltung in manchen Ländern wie zum Beispiel in Israel mit Methoden, die sonst der Terrorbekämpfung vorbehalten sind, kontrolliert werden. Wer einen Funken Verstand zu haben behauptet, hält plötzlich einen garantierten Mindestabstand von einem Meter, besser zwei, vom nächsten Menschen ein.
Dafür schreiben mir plötzlich zahlreiche Menschen (und nicht alle hätte ich unbedingt vor COVID-19 zu meinen vertrauten Freunden gezählt), dass wir durchhalten müssen, dass wir nur gemeinsam durch die Krise kommen, und in den wenigen Begegnungen mit Passanten beim Ausführen des Hundes, dringender Besorgungen oder um sich den Lagerkoller kurz abzugehen, herrscht eine Stimmung ungewohnter Ansprechbarkeit und amikaler Gemeinsamkeit, obwohl wir Distanz halten.
Die ganze Welt hält sozusagen den Atem an, ganze Volkswirtschaften werden in den Boden gerammt, die Airlines haben ihre gesamte Luftfahrtflotte auf den Boden gebracht, der Individualverkehr ist um achtzig Prozent reduziert. Dinge also, die wir bisher als vollkommen unmöglich angesehen und nur verrückten Fantasten zugeschrieben hätten, sind zur Realität geworden. Die Forderungen von Fridays for Future sind keine Utopie, sondern derzeit weit überholt, schaut man sich die gegenwärtigen Satellitenbilder unseres Globus an. COVID-19 hat uns in eine andere Realität geschleudert, geht über alle geografischen Grenzen und zwingt uns, eigene Denkbarrieren niederzureißen.
Aber was ist hier wirklich passiert?