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Wir müssen uns nur entscheiden

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Ja, COVID-19 hat eine Krise ausgelöst. Das ist globaler Konsens, egal ob man zum Lager der kühlen Analysten oder zum Lager der mahnenden Hysteriker gehört. Die Krise ist real und deshalb mussten die politischen Entscheidungsträger handeln. Sie mussten mit Bedrohungsszenarien umgehen und der allgemeinen Unsicherheit entgegentreten. All das fand unter enormem Zeitdruck statt, gepaart mit der Gewissheit, dass jede Entscheidung weitreichende Auswirkungen auf unsere Zukunft haben wird. Nichts wird nach COVID-19 so sein wie vorher. Diese Festlegung transportierten Medien, Politiker und Experten unisono und fast vom Anfang der Krise an. So sicher die totale Veränderung zu sein scheint, so fragwürdig sind die damit verbundenen Konditionen des Weiterlebens.

Wie wird die Welt nach COVID-19 also aussehen? Sie wird gerade geboren, ist eben in statu nascendi. Doch eines ist klar. Ihr Antlitz, ob es sich um eine erschreckende, hässliche Fratze handeln wird oder sich ausgeglichene Harmonie in den Gesichtszügen spiegelt, wird davon bestimmt werden, für welche Spielregeln wir uns entscheiden.

Macht COVID-19 in der Folge also wirklich Tabula Rasa mit unserer Zivilisation und ihren Denkmustern? Oder werden wir uns in kollektiver Ängstlichkeit an das Bisherige klammern und mit noch mehr Härte, Druck und Konsum die Wirtschaftskreisläufe am Laufen halten, »koste es, was es wolle«? Könnte es stattdessen auch passieren, dass wir uns neu erfinden und uns von der Ausnahmesituation beflügeln lassen? Welche altgedienten Werte wollen wir dabei trotz der Aufbruchsstimmung in die neue Welt hinüberretten und wofür lohnt es sich zu kämpfen? Und am Allerwichtigsten, wie, in ganz praktischer und konkreter Weise, entwickelt sich die Welt nach COVID-19 weiter? Welche Schritte gilt es zu setzen?

Das Wort Krise kommt aus dem Altgriechischen und steht für eine »Beurteilung« oder »Entscheidung«. Das dazugehörige Verb »krinein« bedeutet »trennen« beziehungsweise »unterscheiden«. Womit eigentlich geklärt sein sollte, was im Moment zu tun ist. Wir müssen …

… erstens die Lage beurteilen und dazu möglichst viele kompetente Stimmen hören.

… zweitens Entscheidungen treffen, wie wir in Zukunft leben wollen.

… drittens unsere Handlungs- und Denkmuster auseinander dividieren, um dann zu entscheiden, von welchen dieser Muster wir uns in Zukunft besser trennen.

Das klingt eigentlich nicht so schwer und bedeutet dennoch eine Aufgabe, die sogar einem Titanen, wie sie in den griechischen Götter- und Heldensagen vorkommen, gröberes Kopfzerbrechen beschert hätte. Denn nicht weniger als eine schonungslose Selbstreflexion unseres Seins als Menschheit ist gefragt. Nackt und ungedeckt, dafür mit einer Haltung, die rationales Denken mit empathischem Empfinden in Einklang zu setzen vermag, müssen wir unserem Spiegelbild, der Zivilisation, vertrauensvoll und veränderungsbereit entgegenblicken. Wir werden dabei nicht nur wohlgefällige Errungenschaften erkennen, sondern auch mit Falten und Verwerfungen konfrontiert werden. Ja, und auch unsere eigene Hässlichkeit, ja sogar Niedertracht wird uns an mancher Stelle entgegen starren.

Doch seien wir mutig und sei es, weil wir jetzt bereits auf die Spitze der Klippe hinaufgeklettert sind und es kein Zurück mehr gibt. Das ist das Wesen der Krise. In der Medizin ist die Krise der Höhepunkt der Erkrankung, jener Zeitpunkt an dem sich entscheidet, wie sich die Krankheit weiter entwickeln wird, ob der Patient sterben oder genesen wird.

Besser also, wir machen uns nichts vor. Die Krise hat sich angebahnt. Sie hat sich im kollektiven Unbewussten Schritt für Schritt aufgebaut und wurde durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte befeuert. Wir haben technologische Höchstleistungen in atemberaubendem Tempo vorangetrieben. Das exponentielle Wachstum, vor dem sich im Angesicht von COVID-19 nun alle fürchten, war unsere Wohlstandsreligion.

Dabei haben wir auch viele großartige Dinge auf den Weg gebracht. Globale Mobilität und technologische Netzwerke machten uns zu aufgeklärten Menschen, die im Austausch mit der ganzen Welt stehen. Scheinbar unüberwindbare Diktaturen, Autokratien und Blöcke wurden von aufblühenden Demokratien verdrängt.

Über all das haben wir zurecht gejubelt. Diese Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit haben uns aber nicht davon abgehalten, gleichzeitig Überforderung, Beliebigkeit, Macht- und Wohlstandsgefälle und ungebremsten Konsumismus zu züchten. Wir wollten von möglichst allem so viel wie möglich und haben das maßlose Streben als Teil unserer hart erkämpften Freiheit interpretiert. Wir haben also das Kleingedruckte im Vertrag bewusst ignoriert. Das war jener Teil, in dem es bei aller Wahlfreiheit um die gleichzeitig uns zufallende Wahlverantwortung ging. Das trifft uns jetzt breitseite.

Dieser narzisstische Individualismus funktionierte ausgezeichnet im Fahrwasser einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Er prägte den Alltag unserer Gesellschaft und verursachte einen nur mehr als dramatisch zu bezeichnenden Anstieg bei der Diagnose von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Im atemlosen Wettkampf der Selbstdarsteller blieben gleichzeitig viele auf der Strecke. Sie vermochten im Strudel der Selbstoptimierung weder zu bestehen noch sich ihm erfolgreich zu entziehen. Der sozialen Vernetzung standen Vereinzelung, Isolierung und Abschottung gegenüber.

Zusammengefasst müssen wir wie der Arzt am Krankenbett attestieren: Es gab Errungenschaften und es gab Fehlentwicklungen. Es gab Gutes und es gab Schlechtes. Wir haben unsere Energien und unsere Zeit in Materielles investiert und unsere Menschwerdung vernachlässigt. Nun müssen wir der Krise alle Ehre machen und uns entscheiden, von welchem Ballast wir uns trennen.

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