Читать книгу Der Nicht-tot-Mord - Lena M. Grimm - Страница 9
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Kapitel 2
„Sehen Sie mal, wer hier ist, Inspector“, flötete ihm Betty just in dem Augenblick entgegen, als er die Tür zum Gasthaus geöffnet hatte. Sie zog ihn am Arm ins Speisezimmer und dort, am Tisch beim Fenster, saß Isaac.
„Was machst du denn schon hier? Ich hatte dich frühestens um vier erwartet“, rief Jonathan überrascht aus.
Isaac erhob sich und schüttelte seinem Freund herzlich die Hand. „Betty hier hatte Glück, dein Brief wurde gerade noch mit dem Morgenexpress zugestellt, und kaum hatte ich ihn erhalten, habe ich meine sieben Sachen gepackt und bin auf dem schnellsten Weg zu dir gekommen.“
„Das ist großartig, ich brauche nämlich dringend deine Hilfe, Isaac. Es gab einen Todesfall auf Sutherten. Möglicherweise war es Mord.“ Da niemand außer ihnen im Raum war und Betty die Teller mit dem Mittagessen in der Küche nebenan anrichtete, konnte er frei mit Isaac Drew sprechen.
„Und hast du schon einen Verdächtigen?“ Isaac nahm einen Schluck Tee.
„Nein, alle sind schrecklich schockiert und verstört, einfach grauenvoll. Normalerweise kann ich nach der ersten Befragung ein Motiv ausmachen, doch diesmal ist es anders. Ich denke, das Ganze wird ziemlich kompliziert werden, ich kann es förmlich spüren.“
Die Kirchturmuhr schlug zwölf Uhr und prompt kam Betty herein und stellte zwei Teller mit reichlich Schmorbraten, Bratkartoffeln und Gemüse vor ihnen ab, ebenso wie eine Tasse Tee für Jonathan und zwei Servietten.
Während sie aßen, fing es draußen zu regnen an. Das war längst überfällig, eigentlich hatte Jonathan schon den ganzen Vormittag darauf gewartet, dass der Himmel seine Schleusen öffnete und die Engel ihr Badewasser ablaufen ließen.
„Betty, Sie müssen mir unbedingt das Rezept geben. So gut hab ich schon seit Jahren nicht mehr gegessen“, lobte Isaac das köstliche Essen der Wirtin überschwänglich. Er saß mit verzückter Miene da und schaufelte sich unentwegt Schmorbraten, Bratkartoffeln und Gemüse in den Mund.
Betty fing an zu lachen. „Tut mir leid, Mr Drew, das ist ein Familienrezept, ich werde es wohl erst auf meinem Sterbebett verraten.“
„Ich werde auf jeden Fall da sein“, scherzte Isaac.
„Da hast du schlechte Karten“, mischte sich Jonathan ein. „Ich befürchte, Betty wird uns alle überleben und auf unseren Gräbern tanzen.“
Nachdem sie ihr Mittagessen beendet hatten, kam Isaac auf den Fall zurück. „Nun, Jonathan, wann kann ich denn das Opfer untersuchen?“
„Von mir aus sofort, es sei denn, du möchtest dich von der Reise etwas erholen.“
„Nein, ich fühle mich überraschend ausgeruht. Vielleicht liegt es an der Stille hier auf dem Land. In der Stadt herrscht eine stetige Geräuschkulisse.“
„Verstehst du jetzt, warum ich die Stadt so verabscheue?“, konnte sich Jonathan den Kommentar nicht verkneifen.
„Ja, zumindest zum Teil. Nun denn, lass uns losgehen, der Regen hat gerade aufgehört.“
Sie zogen sich ihre Mäntel an und setzten ihre Hüte auf.
„Isaac, wie lange gedenkst du eigentlich, mich mit deiner Anwesenheit zu beehren?“, wollte der Inspector von seinem Freund wissen.
„Ich hatte mir überlegt, das hier mit einem Kurzurlaub zu verbinden, natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht, Jonathan.“
„Es ist mir immer eine Freude, dich hier zu haben.“ Clarkson wandte sich an die Wirtin, die gerade den Tisch abwischte. „Betty, würden Sie meinem guten alten Freund ein Zimmer fertig machen?“
„Natürlich, Inspector, für wie lange denn?“
„Ich fürchte, da können wir keine genauen Angaben machen, aber ich denke, fürs Erste gehen wir mal von etwa einer Woche aus.“
Sie nahmen den gleichen Weg, den Clarkson zuvor alleine gegangen war, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er keinen anderen kannte. Dieses Mal war das Eisentor nicht verschlossen. Sie liefen den Hügel hinauf und der Inspector klopfte an die Tür.
Wieder öffnete die kleine Katie. „Inspector, Sir, wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Sir“, piepste sie. Sie zupfte erneut an ihrer Haube, obwohl sie dieses Mal tadellos saß.
„Hallo Katie, dies ist mein guter Freund Professor Isaac Drew, er wird sich zusammen mit mir Lady Julias Leichnam ansehen, um die Ursache ihres Todes feststellen zu können. Würdest du bitte Lord Berrington suchen, ich müsste noch etwas mit ihm besprechen.“
„Natürlich, Sir, Inspector, Sir.“ Sie drehte sich um und huschte die Treppen nach oben.
„Jonathan, kannst du mir denn ein bisschen mehr zu dem Fall sagen?“, fragte Drew.
„Ich weiß selbst kaum etwas, außer dass Lady Julia heute Morgen nicht aufgewacht ist, alle schrecklich schockiert darüber sind und sich nicht erklären können, was passiert ist.“
„Sehr hilfreich, wirklich. Hast du schon alle vernehmen können?“
„Alle außer Lady Berrington, die Mutter. Sie war zu aufgewühlt.“
„Wäre ich auch“, erwiderte Isaac trocken.
Katie kam in Begleitung von Lord Berrington die Treppe herunter. „Inspector, Sir, Lord Berrington, Sir.“ Sie knickste genauso unbeholfen wie schon am Vormittag und lief durch dieselbe Tür wieder in die Küche.
„Inspector, man sagte mir, Sie bräuchten noch etwas?“, wandte sich Lord Berrington an ihn.
„Ja, dies ist mein guter Freund und Professor für Medizin Isaac Drew. Mit Ihrer Erlaubnis würde er gern die Ursache für Julias Tod finden. Und ich würde Sie bitten, mir zu erlauben, die privaten Aufzeichnungen Ihrer Tochter durchzusehen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass sich auf diesem Weg meistens einiges herausfinden lässt.“
„Gegen die Untersuchung habe ich nichts, allerdings weiß ich nicht, ob es Julia recht gewesen wäre, dass jemand Fremdes ihre Tagebücher liest. Wenn Sie dadurch allerdings feststellen können, was passiert ist und wer das meiner Tochter angetan hat, habe ich nichts dagegen.“
„Vielen Dank. Das hilft mir sehr weiter.“ Jonathan nickte dem Hausherrn zu.
„Dann lassen Sie uns nach oben gehen, damit Sie Ihre Arbeit tun können.“ Sie folgten Lord Berrington nach oben, diesmal führte sie der Weg in den Nordflügel. Sie mussten nur ein paar Schritte gehen, bis sie vor einer hellbraunen Tür standen.
„Dies ist Julias Zimmer“, erklärte ihr Vater. „Ich werde Sie hier verlassen, den Anblick Julias ertrage ich kein zweites Mal.“ Er klopfte sacht an, öffnete die Tür und ließ die Besucher eintreten, bevor er sich selbst umwandte und davonmarschierte.
Der Raum war fast so groß wie der Speisesaal in Bettys Gasthaus, hatte die gleichen hohen Fenster wie die Eingangshalle. Auf der rechten Seite stand ein tiefschwarzer Flügel, daneben drei Regale mit Büchern. Es gab eine Balkontür, neben der ein eleganter Schreibtisch mit einem samtüberzogenen Hocker davor thronte. Auf der linken Seite stand an der Wand ein Himmelbett, in dem ein blasses Mädchen mit langen haselnussbraunen Haaren lag, die über das gesamte Kissen ausgebreitet waren. Durch eine Tür neben dem Bett, die vermutlich zu Miss Julias persönlichem Waschraum führte, trat in diesem Moment eine Frau mit weißer Schürze. Clarkson erkannte sie von dem Verhör am Morgen wieder, das war Miss ... wie hieß sie noch gleich? Sie war jedenfalls die Amme von Miss Julia gewesen. Dunham, das war ihr Name.
„Inspector, kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte sie und wischte sich verstohlen über die Augen.
„Ja, Miss Dunham, dies hier ist Isaac Drew, Professor für Medizin. Er wird Lady Julia untersuchen, um die Ursache für ihren Tod zu finden. Lord Berrington gab mir seine Erlaubnis, derweil die privaten Aufzeichnungen seiner Tochter einzusehen.“
„Ja, natürlich, warten Sie einen Augenblick.“ Sie ging zum Schreibtisch und zog eine Schublade auf. „Hier bewahrte sie immer ihre Tagebücher auf.“
Die Frau reichte Jonathan Clarkson ein Büchlein mit einem roten Ledereinband. In der rechten unteren Ecke waren drei goldene Buchstaben eingeprägt: JEB – Julia Berrington. Ihren Zweitnamen kannte der Inspector nicht oder er hatte ihn wieder vergessen.
Als er das Büchlein aufschlagen wollte, ließ es sich nicht öffnen. Er drehte es um und entdeckte ein kleines goldenes Schloss. „Miss Dunham, wissen Sie vielleicht, wo Julia den Schlüssel dafür aufbewahrt hat?“, fragte er die Amme.
„Einen Schlüssel? Nein, da fällt mir nichts ein ... Warten Sie, doch! Sie hatte immer ein Medaillon um ihren Hals, vielleicht ist er darin. Einen Moment.“ Sie lief hinüber zum Bett und machte sich an der Kette der Verstorbenen zu schaffen. „Hier, das könnte er sein. Professor, fangen Sie ruhig mit Ihrer Untersuchung an“, wandte sie sich an Isaac Drew, bevor sie Clarkson den Schlüssel reichte. Dieser steckte ihn sofort in das Schloss des Tagebuchs und versuchte ihn umzudrehen. Tatsächlich passte er. Jonathan schlug das Büchlein auf und fing neugierig an, den ersten Eintrag zu lesen.
1. Januar 1901
Heute ist der erste Tag des neuen Jahres. Ich bin noch sehr müde, weil ich zum ersten Mal mit den Erwachsenen mitfeiern durfte. Henie ist nicht müde. Sie ist das wohl gewöhnt. Kein Wunder, sie darf das auch schon ein Jahr länger.
Morgen werde ich mit Daddy ausreiten. Es liegt noch Schnee, also wird Dreamdancer wahrscheinlich wieder nicht zu bremsen sein.
Ich freue mich sehr auf meinen Geburtstag. Der ist schon in zwei Wochen. Daddy hat gemeint, der 17. Geburtstag sei etwas ganz Besonderes, weil man danach seine erste Saison hätte. Am Wochenende fahren wir nach London, um meine Kleider abzuholen. Mummy will ein großes Fest geben. Ich kann es kaum erwarten.
Clarkson blätterte die Seiten durch. Viel stand noch nicht drin, denn Julia hatte offensichtlich zum Jahresbeginn ein neues Buch angefangen.
„Jonathan, ich glaube, wir haben hier ein Problem“, meldete sich Drew zu Wort.
Clarkson steckte das Tagebuch in die Innentasche seines Mantels und lief zum Bett hinüber. „Und welches wäre das?“
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber deine Leiche ... nun ja ... die lebt noch.“
Man hätte Clarkson auch sagen können, dass sämtliche Kinder von Königin Victoria (möge sie in Frieden ruhen) angefangen hätten, auf einem Bauernhof zu arbeiten, er hätte es ebenso wenig begriffen. „Bist du dir sicher?“, brachte er nur ungläubig hervor.
„Ja, ihr Puls ist zwar schwach, aber ich kann ihn fühlen“, teilte ihm sein Freund mit. Dieser Fall vereinte alles in sich, was Clarkson missfiel: Die Leiche lebte noch, niemand hatte etwas gesehen, gehört oder gerochen und alle waren furchtbar schockiert. Dieser Fall war durch und durch mysteriös. Er hatte es ja geahnt ...