Читать книгу Light - vermixt & zugenäht - Lene Sommer - Страница 3
Kapitel 1 Annika
ОглавлениеDer Begrüßungston der Ladentür erklingt und ich schaue von dem Terminplaner des ›Crazy Hair‹ auf. Meine Kundin Antje strahlt mich entschuldigend an, als sie das Friseurgeschäft betritt. »Sorry, ich hoffe ich bin nicht zu spät, doch Kilian hatte seine erste Krise. Er konnte seine blauen Schienbeinschoner nicht finden und steigerte sich total in ein Hirngespinst hinein, dass er mit den schwarzen Schonern nie und nimmer die ganzen Bälle halten könne. Ich sage dir - Jungs und Fußball.«
Ich trete hinter dem Kassentresen hervor, ziehe Antje an mich und begrüße sie lachend. Prompt erwidert sie meine Umarmung ebenso herzlich, welche auch nur auf ihre unkomplizierte, liebevolle Art zurückzuführen ist. Sonst pflege ich einen gesunden Abstand zu meinen Kunden, der sich lediglich auf ein kurzes Händeschütteln begrenzt. »Keine Bange, du bist pünktlich wie immer.«
»Ach Annika, ich bin so froh darüber, hier entspannt im Stuhl sitzen und dich meine Friseurin nennen zu können. Denn das Wissen, dass du genau nach meinem Geschmack schneidest, ist Gold wert«, gibt Antje erleichtert von sich und atmet einmal tief ein und aus. Ich stehe hinter dem Spülbecken der Waschstraße unseres Salons und brause ihr Haar mit einem glücklichen Lächeln ab. Anschließend schamponiere ich es mit der Eigenmarke unseres Friseursalons und gebe ihr währenddessen mit einer Kopfmassage die perfekte Möglichkeit zur vollständigen Entspannung.
»Dann hoffen wir mal, dass mein Chef genauso begeistert von mir ist.«
Daraufhin reißt Antje ihre Augen weit auf. »Ach, stimmt ja, heute ist ja deine Probezeit vorbei. Ja natürlich behält er dich. Das wäre ja geschäftsschädigend, wenn er dich nicht behalten würde«, antwortet sie sehr überzeugend.
Mein Gefühl, was meine Übernahme betrifft, ist ein sehr gutes. Ich arbeite fleißig, bin meinen Kolleginnen gegenüber stets sehr hilfsbereit und das ein oder andere Mal habe ich schon gehört, dass ich mit meiner kräftigen Haarfarbe und meinem Dauerlächeln auf den Lippen frischen Wind in den Salon bringen würde. Markus - mein Chef - beobachtet mich die letzten Tage sehr aufmerksam, das ist mir sehr wohl bewusst.
Es ist schon Wahnsinn, wie schnell ein Vierteljahr - und somit meine Probezeit – vergangen ist. Heute Abend, sobald mein Feierabend beginnt, werde ich wieder durchatmen können und mit Zufriedenheit wissen, dass ich hier richtig bin, um endlich Wurzeln zu schlagen. Hier - in Berlin - möchte ich bleiben, bin ich doch vor zwölf Wochen mit meinen beiden Reisetaschen von München erst hierhergezogen und habe alles hinter mir gelassen, da mich in Bayern nichts mehr gehalten hatte. Zu meiner Verwunderung fand ich sofort diese Anstellung, was mich natürlich freute, da in Berlin eine höhere Arbeitslosigkeit herrscht als im Süden Deutschlands. Meine netten Kolleginnen helfen mir sehr, mich hier wohlzufühlen. Was will Frau mehr?, frage ich mich in Gedanken selbst. Ein guter und sicherer Job gibt einem das Gefühl von Sicherheit, ist eine Konstante im Leben, nach der auch ich mich sehne.
Berlin ist sehr groß und neu für mich. Meine Heimatstadt München ist auch nicht gerade klein, doch diese beiden Städte unterscheiden sich schon sehr voneinander. Nicht nur durch die unterschiedlichen Dialekte. Ich finde Berlin ist vielschichtiger, ist eine Stadt mit vielen Gesichtern. Ein Mekka für Künstler, Kreative und all diejenigen, die unkonventionell leben wollen. Antje kann ich als gutes Beispiel dafür nehmen, denn sie ist an meinem ersten Arbeitstag in den Salon gekommen und bat meinen Chef, als sie mich sah, direkt um einen Termin bei mir. Sie verriet mir damals, dass sie mit meiner Kollegin nicht auf einer Wellenlänge sei, was die Vorstellung ihrer Frisur beträfe. Mittlerweile hat sie heute ihren sechsten Termin bei mir und es fühlt sich an, als wäre es bereits ihr dreißigster Besuch. Antje hat nie viel Zeit, denn sie ist beruflich mit ihrer Bar – dem ˏLight΄ - stark eingebunden.
Zudem ist sie glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder. Ich ziehe den Hut vor solchen Powerfrauen.
Inzwischen sind wir rüber zu meinem Frisierstuhl gewandert. Während ich ihre nassen Haare mit einem Handtuch trocken reibe, beginne ich ein wenig Smalltalk. »Sonst ist alles okay bei dir?«
»Puh! Nee, irgendwie kommt immer alles zusammen. Geplant war eigentlich, dass ich stundenmäßig ein wenig zurückschraube. Wegen der Kinder, weißt du? Doch seit drei Tagen fehlt mir eine Barfrau. Cornelia hat mit einem Mal alles hingeschmissen. Das ist der pure Horror für mich, einfach so stehen gelassen zu werden.«
Als sie fertig ist, schließt sie völlig erschöpft ihre Augen. Das tut mir sehr leid für sie. »Boah, das ist ja heftig. Unzuverlässigkeit kommt bei mir gleich nach Unpünktlichkeit auf der Abschussliste. Das sind beides Eigenschaften, die ich partout nicht nachvollziehen kann, ich hasse so etwas.«
Antje öffnet ihre Augen und schaut zu mir hoch. »Du sagst es, darf ich dir vielleicht meine Nummer dalassen, falls dir etwas zu Ohren kommt? Dann könntest du sie weitergeben.«
»Ja, na klar, gar kein Thema«, beruhige ich sie.
»Bitte schneide sie mir genauso wie beim letzten Mal. Das war perfekt.«
Das freut mich natürlich zu hören. In diesem Moment sehe ich meinen Chef unweit von mir stehen und hoffe, dass auch er das Lob vernommen hat. Ich lächle Markus an und mache mich an meine Arbeit.
Mit frisch geschnittenen Haaren steht Antje eine Stunde später zusammen mit mir am Kassentresen.
Sie schreibt mir noch ihre Telefonnummer auf ihr Kärtchen, bezahlt und ist gleich darauf schon wieder auf dem Sprung. Die Visitenkarte stecke ich mir in die hintere Tasche meiner schwarzen Röhrenjeans. Danach kehre ich die Haare zusammen und säubere meinen Arbeitsplatz. Heute spüre ich förmlich, wie Markus mich beobachtet, was dazu führt, dass ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch verspüre. Ist dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?, frage ich mich im Stillen.
Markus ist Mitte dreißig, somit fünf Jahre älter als ich, sieht sehr gut aus und liebt seine Freiheiten, was Mädels angeht. Ich glaube, dass meine Kollegin Yvonne es mit ihm treibt. Letzte Woche hatte ich meine Strickjacke vergessen und bin noch mal nach Feierabend zur Hintertür in das Geschäft gegangen, um sie zu holen, da habe ich meine geschätzte Kollegin schreien gehört. Ja, Yvonne gehört zur lauten Fraktion. Es geht mich an sich nichts an, wen sie in ihr Höschen lässt, zumindest solange nicht, wie es auf Arbeit fair zugeht. Bisher ist Markus aber ein toller Chef.
Mehrere Kundinnen später ist es bereits 18:00 Uhr und wir räumen das Geschäft auf, fegen und wischen die Räume einmal durch. Meine Kolleginnen haben gerade das Geschäft verlassen, als ich meine Tasche aus meinem Spind nehme und mich freue, dass der Tag geschafft ist. In diesem Moment ruft Markus mich zu sich in sein Büro. Jetzt wird sicher ein Feedbackgespräch anlässlich meiner verstrichenen Probezeit stattfinden. Einmal tief durchatmen, Annika, befehle ich mir in Gedanken.
Ich gehe in sein Büro, lächle ihn an und antworte: »Ja, Markus?«
»Komm rein, Annika. Und schließe die Türe hinter dir.«
Seine Stimme klingt irgendwie strenger als sonst, aber ich bilde mir das sicher nur ein und schiebe es meiner Nervosität zu. Er wird nach solch einem langen Tag auch einfach kaputt sein. Doch weshalb soll ich die Tür hinter mir schließen, wenn eh schon alle nach Hause gegangen sind?, rast es durch meine Gedanken und mein Herzschlag nimmt schlagartig zu.
Na ja, er wird sich schon etwas dabei denken, stelle ich für mich fest. Als ich mich auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch steht, setzen möchte, hebt er seine Hand. Ich ziehe fragend meine Augenbrauen nach oben. »Nein, komm her zu mir!«, weist er mich an. Hä? Wie jetzt, neben ihm steht doch kein Stuhl, frage ich mich gedanklich.
Etwas überfordert gehe ich um seinen Tisch herum und bleibe unschlüssig vor ihm stehen. Markus dreht sich mit seinem Bürostuhl mir zu und schaut mich dominant an, lässt seinen Blick über mich gleiten. So hat er mich noch nie angesehen. »Anlässlich deiner abgelaufenen Probezeit möchte ich persönlich herausfinden, wie viel dir dein Job wert ist. Arbeiten kannst du, das habe ich bereits zur Genüge gesehen und das hast du auch unter Beweis gestellt. Doch ist dir das Wohlergehen deines Chefs auch wichtig? In meinem Geschäft gibt es ein Aufnahmeritual, um dies herauszufinden.«
Ein Aufnahmeritual? Mir war gar nicht bewusst, mich einer Verbindung angeschlossen zu haben und mich beweisen zu müssen. Ist das nicht ein wenig schräg?, frage ich mich verunsichert in Gedanken. »Bitte?«, entgegne ich stirnrunzelnd.
»Du hast die Wahl, entweder kniest du dich jetzt hin und bläst mir einen oder ich nehme dich auf dem Schreibtisch. Du möchtest doch, dass es mir gut geht und ich zufrieden bin, oder?«, kommt es fordernd von ihm.
Als hätte man mir eins mit einer Keule über den Schädel gezogen, stehe ich vor ihm und schaue ihn blöd an. Ich beginne zu kichern, denn das kann ja nur ein schlechter Scherz sein. »Willst du mich verarschen?«
Sein Blick wird eindringlich und dunkel, als er antwortet: »So eine große Klappe gehört ordentlich gestopft, finde ich.«
Ich kann mich immer noch nicht beherrschen, zeige ihm einen Vogel und frage ihn fassungslos, aber lachend: »Du denkst ernsthaft, dass ich dir zum Feierabend einen blasen würde?«, und schüttle verwundert den Kopf.
Ich kann sehen, wie seine Kieferknochen mahlen. »Annika, ich scherze nicht. Du hast mich richtig verstanden. Nimm ihn in den Mund und mache deine Sache gut. Ich werde dich ein- bis zweimal die Woche ficken oder du wirst mir einen blasen.«
O Gott, holt er sich seine tägliche Portion Sex auf diese Art und Weise bei den Angestellten? Verlangt er dies etwas von allen hier?, geht es mir durch den Kopf.
Das hat gesessen. In mir steigt enorme Wut hoch. »Du verlangst von mir sexuelle Gefälligkeiten, ansonsten könnte ich meine Tasche packen und gehen? Habe ich dich richtig verstanden?« Meine Stimme ist lauter geworden. »Lässt sich Yvonne deshalb von dir vögeln, da sie sonst ihren Job verliert?« frage ich fassungslos.
Markus steht auf und scheint nicht darüber begeistert zu sein, dass meine Hose immer noch nicht geöffnet ist. Er kommt näher und drängt mich mit seinen starken Armen gegen ein Regal. Sein Gesicht ist meinem ganz nah. Bisher hatte ich ihn für sehr sympathisch und gut aussehend befunden. Aber solch eine Situation kann einen Menschen sofort in etwas Ekelhaftes und Abstoßendes verwandeln. »Stell dich nicht so an, du kleine Hexe, ich bin doch nicht blind. Laufend hast du mich angeschaut, bist extra länger im Geschäft geblieben, hast mit deinem Arsch gewackelt. Tu nicht so prüde. Deine Kolleginnen gehorchen mir alle.«
Ich stemme meine Hände angeekelt gegen seine Brust. »Du hast sie doch nicht mehr alle. Wie kommst du nur auf solch einen Schwachsinn? Für diesen Hungerlohn soll ich auch noch meine Beine breit machen? Ich habe mir hier den Arsch aufgerissen, ich brauche diesen Job und arbeite für mein Geld. Wenn du das falsch interpretierst, tut es mir leid. Du tust mir leid.«
Bei diesen Worten umfasst er rasend schnell meine Hände, zieht sie über meinen Kopf und lässt sie unsanft gegen das Regal knallen. »Au, lass mich los, du tust mir weh!«, bringe ich schockiert hervor. Ich bin total überfordert mit dieser Situation. So eine verfluchte Scheiße, niemand ist mehr hier. Das ist voll unheimlich, denke ich und beginne zu zittern. Er wird sich nehmen, was er will. Während eine seiner Hände weiterhin meine Handgelenke fest umschlossen hält, schließt sich seine andere recht grob um meinen Busen. »Nimm deine dreckigen Finger weg, du Schwein!«, sage ich jetzt lauter und wende meinen Kopf. Mein Blick streift die Fenster neben uns, und ich stelle dabei fest, dass zwei davon gekippt sind.
»Jetzt hab dich nicht so, sei nicht undankbar. Als Gegenleistung für eine kleine Verwöhneinheit biete ich dir immerhin einen tollen Job. Ich ficke dich jetzt einmal und dann kannst du in deinen wohlverdienten Feierabend gehen«, entfährt es Markus genervt.
»Lass mich los, sonst schreie ich - so laut ich kann -, und die Fenster stehen noch offen.«
Bei diesem Satz reißt er seinen Kopf zur Seite und sieht, dass ich recht habe. Er lockert unbewusst seinen Griff um meine Hände und ich nutze diese Situation aus, indem ich mich von ihm losreiße. Adrenalin strömt durch meinen Körper und ich schubse ihn grob von mir weg. Markus ist sauer, dass sehe ich ihm an, denn er hat sich das alles sicher anders und leichter vorgestellt. »Du Arschloch, machst du das immer so mit deinen Angestellten? Wenn du glaubst, dass ich nur wegen des Jobs mit dir in die Kiste springe, dann hast du dich gewaltig geschnitten. Nicht mal mit der Kneifzange würde ich dich anfassen. Was bist du nur für ein elendes Würstchen!«, spucke ich ihm entgegen.
Markus richtet sein Sakko, räuspert sich und setzt sich wieder. Ich merke, wie sehr er sich zusammenreißen muss, als er mir seelenruhig entgegnet: »Ich sag es nur noch ein einziges Mal. Entweder du setzt dich jetzt hier auf diesen Tisch und zwar ohne Hose oder du bist entlassen.«
Ich stehe in diesem beschissenen Designerbüro und bin mir augenblicklich bewusst, ab sofort arbeitslos zu sein. Wenigstens habe ich noch mein WG-Zimmer und somit ein Dach über dem Kopf. »Du kannst mich mal kreuzweise, Markus!«, fluche ich, schnappe mir meine Tasche von der Stuhllehne und bin gerade dabei, sein Büro zu verlassen, als er sagt: »Den Schlüssel der WG schmeißt du in genau einer Stunde in den Briefkasten.«
Das verwirrt mich jetzt und ich frage: »Was hat denn meine WG mit dir zu tun?«
Ich drehe mich um und schaue ihn abwartend an, bis mir ein Licht aufgeht. Mich trifft der Schlag, dieses miese Schwein weiß genau, dass ich hier in Berlin nichts und niemanden habe und zwingt mich somit in die Knie. »Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass dir die Wohnung gehört.«
Arrogant schaut er von seinen Unterlagen auf. »Tja, liebe Annika, ich sitze am längeren Hebel, du hast mich unterschätzt.«
»Ist dir klar, dass du dich wie ein Zuhälter verhältst. Ich dachte, dass es ein Zufall wäre, dass Yvonne und Bianca zusammenwohnen, aber jetzt ist mir alles klar. Du nutzt die Mädels aus, machst sie damit von dir anhängig und gefügig. Du bist so widerlich.«
»Kein Wort zu niemandem oder ich zeige dich wegen Diebstahl an, hast du verstanden?«, zischt Markus und ich zucke bei dieser Drohung kurz zusammen.
Ich muss hier unbedingt raus. Daher gehe ich nach vorne in den Verkaufsraum, schnappe mir meine Trinkgeldkasse, da ich jetzt jeden Cent gebrauchen kann, und flüchte förmlich aus dem Hinterausgang. Ich höre nur noch sein Lachen, sein widerwärtiges und zorniges Lachen.
Wie ferngesteuert laufe ich zu meinem Auto. Der schwarze 3er BMW ist alles, was ich noch von meiner Pflegemutter habe. Ich setze mich hinein, ziehe die Fahrertür zu und lasse meinen Kopf auf meine Hände fallen, die ich auf dem Lenkrad abgelegt habe. Mein Herz rast. Ich versuche meine Atmung zu verlangsamen und mich so zu beruhigen. Was war das denn für eine geschmacklose Situation? Das glaubt mir doch kein Mensch, schlussfolgere ich im Stillen.
Ich gehe in Gedanken noch einmal alles durch. Vor Wut laufen mir die Tränen. Plötzlich fällt mir siedend heiß ein, dass er mir nur eine Stunde Zeit gegeben hat, meine Sachen aus der WG zu holen. Panisch starte ich den Motor, denn ich möchte ihm nicht noch einmal begegnen. Während ich einen Blick in den Rückspiegel werfe, wische ich mir meine Augen sauber und fahre zu der Wohnung zurück, die ich eigentlich als mein zu Hause bezeichnen sollte.
Es ist niemand da, als ich die WG betrete. Ich laufe in mein Zimmer und packe meine Kleidung in meine zwei Taschen- mit mehr bin ich damals nicht hergekommen. Meine Nähmaschine steht abgedeckt auf dem Schreibtisch. Diese drei Dinge und mein Bettzeug schnappe ich mir und bin im Nullkommanichts wieder an meinem Auto. Den Schlüssel habe ich wie befohlen in den Briefkasten geschmissen. Ohne diesen Schlüssel fühle ich mich irgendwie sauberer und befreit. Der Gedanke daran, mich von ihm nehmen zu lassen, nur damit ich einen Platz zum Schlafen habe, ekelt mich an. So etwas Geschmackloses, den Gedanken beendet, bin ich auch schon wieder eine Erfahrung reicher, aber um eine Wohnung ärmer.
Ich schlage mit meinen Fäusten auf das Lenkrad ein und raste fast aus. Dieses scheinheilige Schwein hat mir in wenigen Minuten alles genommen. Was mach ich denn jetzt?, frage ich mich selbst. Ich hänge förmlich in der Luft, das ist so ein beschissenes Gefühl. Ich weiß nicht, wohin ich jetzt soll, möchte aus diesen Klamotten raus und einfach duschen. Danach eine Kleinigkeit essen und müde bin ich zudem auch noch. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, um zusammenzubrechen. Doch nicht einmal dafür habe ich die nötige Kraft. Ich fahre zum nächsten McDrive und gönne mir heute ausnahmsweise etwas richtig Ekelhaftes. So ekelhaft, wie ich mich gerade fühle. Ein Menü später sitze ich immer noch auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants und bin keinen Deut schlauer.
Wohin? Wohin soll ich? Was mache ich jetzt nur, verdammter Mist?, frage ich mich erneut.
Da meine Kräfte langsam schwinden, kann ich nicht mal mehr richtig trinken und fange schon an, mich zu bekleckern. Dieser Tag oder viel mehr dieser Abend hat mich emotional ausgelaugt. Jedes Kleinkind kann aus einem Strohhalm trinken, nur ich nicht. Aber das passt hervorragend zu diesem verdammten Tag. Um meine Sauerei mit einem Taschentuch abzutupfen, taste ich die Taschen meiner Jeans ab, ergreife etwas und denke bereits, dass ich fündig geworden bin, doch dann halte ich kein Taschentuch in Händen, sondern Antjes Visitenkarte.
Ist das ein Wink des Schicksals?, geht es durch meinen Kopf.
Antje ist, wenn man es mal realistisch betrachtet, die Einzige, die ich hier in Berlin kenne und mal abgesehen von diesem Fickverein ›Crazy Hair‹. Entschlossen mache ich mich auf den Weg zu Antjes Bar ›Light‹, denn dank ihrer Visitenkarte kenne ich nun die richtige Adresse. Als ich an der Bar ankomme, parke ich mein Auto recht weit hinten auf dem Parkplatz. Für den Fall, dass ich diese Nacht im Auto schlafen muss, möchte ich nicht unbedingt, dass jeder daran vorbeigehen und mich sehen kann.
Ich sehe sicher voll fertig aus, doch irgendwie ist mir das gerade völlig egal. Ich brauche etwas Starkes zu trinken und eine Kippe. Außerdem möchte ich diesen ganzen Scheiß von vorhin einfach nur noch vergessen. Ich hoffe nur, dass Antje auch da ist. Als ich das ›Light‹ betrete, staune ich nicht schlecht. Mich erwartet eine modern eingerichtete, hippe Bar. Antje steht hinter der Bar und hält sich ihr Handy ans Ohr. Zum Glück ist die Musik zu dieser Uhrzeit noch recht leise, sonst würde sie ihren Gesprächspartner sicher nicht verstehen können.
Es ist kurz nach 19:30 Uhr.
Als Antje mich entdeckt, bekommt sie große Augen, runzelt gleichzeitig ihre Stirn und beginnt, mich eingehend zu mustern. Sie bittet mich, vor ihr auf einem Barhocker Platz zu nehmen und mich ein klein wenig zu gedulden. Ich folge ihrer Bitte und just in dem Moment wird mir bewusst, wie bescheuert und verworren die ganze Situation eigentlich ist. Antje ist ja nicht mal eine Freundin, sie war bloß meine Kundin. Was hat mich denn in ihre Bar und zu ihr gezogen?, stelle ich mir in Gedanken diese Frage. Ich muss ihr ja nicht erzählen, was vorgefallen ist. Irgendwie ist mir die ganze Sache ziemlich peinlich. Hätte ich vielleicht doch meine Beine breit machen sollen? In Gedanken knalle ich mir selbst eine dafür, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Mir wird schon allein bei dem Gedanken daran schlecht. Wie billig sind diese Weiber eigentlich, von denen ich bisher glaubte, sie seien wie ich. Sie würden ihren Job lieben und am Abend zu ihren Liebsten – sofern sie welche hatten - nach Hause kehren.
Ich werde mir jetzt etwas Alkoholisches bestellen und versuchen, den ganzen Abend zu vergessen. Als Antje ihr Telefongespräch beendet hat, schaut sie mich prüfend an. Ab diesem Moment schrumpfe ich innerlich zusammen. »Ich kenn dich bisher nur als fröhliche und stets lächelnde junge Frau, die heute ihre Probezeit geschafft hat, und jetzt feiern wollen würde. Was ist passiert, dass du so fertig aussiehst und wie ein Häufchen Elend daherkommst?«, fragt sie, weitet neugierig ihre Augen und ist auf meine Antwort gespannt. Meine Nase kribbelt, was sie immer tut, bevor mir Tränen in die Augen steigen. Ich bleibe jetzt stark, spreche ich mir in Gedanken Mut zu und winke ab. »Ach, es war nur ein langer Tag.«
»Aha, bist du dir sicher?«, fragt sie mit schief gelegtem Kopf und zieht dabei eine Augenbraue in die Höhe. Ich versuche das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken und frage: »Kannst du mir etwas Hartes empfehlen?«
»So schlimm?« Antje legt ihre Hände tröstend auf meine. Nach einigen Sekunden tropft die erste Träne auf das dunkle Holz und ich schaue beschämt nach unten. Antjes Daumen streicht beruhigend über meinen Handrücken, als sie sagt: »Komm, erzähl schon, Annika.«
»Ich bin arbeitslos«, jetzt ist es raus.
»Hä, wieso das denn? Das verstehe ich nicht. Ich dachte immer, Markus fände, dass du wunderbar in das Geschäft passt. Die Kunden sind doch begeistert von dir, mich eingeschlossen.«
Ich muss bei ihren Worten hart schlucken und entgegne ihr: »Ja, doch ich fand, dass sein elendes Würstchen nicht in meine Vagina passen würde. Infolgedessen musste ich meine Kündigung hinnehmen und bin noch dazu jetzt obdachlos.« Langsam hebe ich meinen Kopf und schaue in ihr verwirrtes Gesicht. »Du machst Scherze!«
»Das habe ich ihn auch gefragt, aber nachdem er mich bedrängt hatte, war mir dann nicht mehr zum Lachen zumute. Er würgte mir dann noch rein, dass ich meine Koffer packen und verschwinden solle. Antje, ich hatte die Wahl, ein- bis zweimal die Woche seinen Schwanz zu lutschen oder mich von ihm auf seinem Schreibtisch nehmen zu lassen. Oder aber ich sei arbeitslos. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht gekotzt. Am Anfang dachte ich wirklich, dass gleich die versteckte Kamera um die Ecke kommen würde.«
Antje steht fassungslos da, dreht sich um und greift zur Whiskyflasche, die in einem Glasregal mit Spiegelrückwand steht. Sie gießt jeweils 4 cl in zwei Gläser und schiebt mir eines davon rüber. »Dieses Schwein, das gibt es doch nicht. Hat er sie noch alle? Du zeigst ihn doch an, oder?«, entrüstet sie sich und leert ihren Whisky in einem Zug. Ich schüttle schnell meinen Kopf und antworte: »Ach nee, lass mal. Er hat gedroht, dass er mich sonst wegen Ladendiebstahl anzeigen würde. Er hat mir schon demonstriert, dass er am längeren Hebel sitzt.«
Ich nehme einen großen Schluck und keuche, als die braune Flüssigkeit meinen Hals hinunterläuft. »Er nutzt deine Situation schamlos aus und erpresst dich auch noch. Zumal er dir alles nimmt, was du dir hart erarbeitet und aufgebaut hast.« Antje schüttelt ungläubig ihren Kopf, doch nach einem Moment hebt sie ihn rasch wieder an. »Ich kann dir zwar nicht die Stelle als Barfrau anbieten, es sei denn, du hättest eine zweite Ausbildung in diesem Bereich gemacht, aber ich brauche eine Hilfskraft. Getränke auffüllen und Tische abräumen. Du müsstest quasi das erledigen, wozu mein Barkeeper während seiner Schicht nicht kommt. Ich weiß, dass das nicht dein Traumjob ist, doch du würdest mir wahnsinnig helfen und könntest dir etwas dazuverdienen. Außerdem kann ich dich mit einem weiteren Angebot ködern«, grinst Antje jetzt siegessicher.
»Dann raus mit der Sprache!«, fordere ich sie auf. »Ich habe über der Bar ein Zimmer. Es ist wirklich nur ein kleines Zimmer mit einem Bett und einer Dusche. Aber es würde dich von der Straße holen.«
Ich lege meinen Kopf auf die Theke und stöhne: »O man, ich komm mir vor wie ein Penner.«
»Hey, so ein Quatsch. Lass dich davon nicht runterziehen, auch wenn das echt krass ist. Aber denke daran, dass nichts jemals ohne Grund geschieht.«
Daraufhin hebe ich meinen Kopf und entgegne matt: »Dein Wort in Gottes Ohr. Das ist so lieb von dir. Ich nehme dein Angebot gerne an.«
Sie lächelt und nickt begeistert. »Super, das freut mich, außerdem passt du optisch super in meine Bar. Du bist ein heißer Feger.«
Das bringt mich zum Lachen. »Mmh, das hat sich heute schon mal jemand gedacht.«
»Nein, mal im Ernst. Du bist schlank, deine langen roten Haare sind einfach wunderschön und mit deinem Nasenring wirkst du irgendwie frech, sodass sich keiner trauen wird, dir blöd zu kommen«, unterstreicht sie ihre Aussage mit einem Augenzwinkern. Wir gehen in die erste Etage und Antje zeigt mir meine neue Bleibe. Wir verabreden, uns in einer Stunde wieder unten in der Bar zu treffen. In der Zwischenzeit wasche ich mir unter der Dusche den seelischen Dreck vom Körper. Danach fühle ich mich ein wenig besser. Schnell schlüpfe ich in eine neue, hautenge schwarze Jeans sowie in ein schwarzes Tanktop und ziehe meine Sneakers an. Meine Haare trage ich gern zusammengebunden, denn sie reichen mir fast bis zu meinen Hüften. Damit sie mich gleich nicht bei der Arbeit stören, binde ich sie zu einem Fischgrätenzopf. Ich erneure mein Make- up und begebe mich anschließend auf den Weg nach unten. Der erste Abend verläuft gut und ruhig. Es ist kein hartes Arbeiten, bei dem ich mich erst beweisen muss. Ich räume Tische ab, stelle die dreckigen Gläser in die Spülmaschine, fülle Nüsse in die Schalen, die auf der Theke stehen, hole Nachschub im Getränkelager und schneide Obst zur Garnierung der Cocktails zurecht. Das geht die nächsten Tage so weiter. Bevor die Bar öffnet, wische ich den Boden einmal nass durch, womit ich Antje ein wenig Arbeit abnehmen kann. Sie hat so viel um die Ohren. Ich weiß nicht, wie es überhaupt ist, Kinder oder Eltern und eine Familie zu haben, aber ich stelle es mir sehr stressig vor, alles unter einen Hut zu bekommen. Doch wenn ich mir Antje so ansehe, bin ich mir sicher, dass sie nichts auf der Welt anders machen würde, denn sie liebt ihre Kinder, ihren Mann und auch ihren Beruf. Sie braucht die Arbeit, um leben zu können. Mit gutem Personal ist solch eine Bar schon fast ein Selbstläufer. Antje stellt mir deshalb ihren besten Barkeeper an die Seite.
Mit Tobi - dem Barmann -, dem ich unter die Arme greife, verstehe ich mich sehr gut. Von ihm habe ich nichts Negatives im Umgang mit mir zu befürchten. Weder anzügliche Blicke noch unsittliche Berührungen. Tobi ist sehr bodenständig und scheint eine gute Erziehung genossen zu haben, was man sofort merkt. Unser Verhältnis kann man mit dem eines Geschwisterpaares vergleichen.
Das Geschehene hat Spuren bei mir hinterlassen. Es sind erst ein paar Tage vergangen, doch Tobi stellt keine Gefahr für mich dar, denn er steht genau wie ich auf Männer.
Antje ist auch schon aufgefallen, dass wir beide uns sehr gut verstehen. Sie witzelte schon, dass wir immer das meiste Trinkgeld einheimsen würden, weil wir so viel Spaß hinter der Bar miteinander hätten.
Heute Abend ist nicht viel Betrieb und aus diesem Grund habe ich die Zeit, bei einem tollen Song mitzupfeifen und ein wenig später spüre ich eine Hand an meiner Hüfte. Ich drehe mich lächelnd um, da ich weiß, dass es nur Tobi sein kann.
Er zieht mich dicht zu sich heran und beginnt mit mir zu tanzen. Ich lache laut auf, denn es macht einfach Spaß, so losgelöst mit jemandem herumzublödeln.
Als der Popsong vorbei ist, bekomme ich zum Dank einen Kuss auf die Stirn. Tobi verneigt sich vor mir und flüstert: »Danke, Mylady.«
»Hey Tobi, zum anderen Ufer gewechselt?«, fragt jemand belustigt hinter uns. Ich wundere mich über die dreiste Frage und schaue in die Richtung, aus der die Stimme kam. Tobi lacht und drückt mich fest an seine Brust. »Bei ihrer Schönheit wäre das noch mal eine Überlegung wert.«
Ich ziehe kurz die Luft ein, als ich die Stimme endlich einem Mann zuordnen kann. Bei seiner Ausstrahlung bleibt mir fast die Spucke weg. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass er ein Nerd sei, da er eine sehr markante Brille trägt. Doch er wirkt keineswegs langweilig, sondern eher ein wenig rau und verwegen, was sicher auf seine Bartstoppeln zurückzuführen ist. Sein dunkelbraunes Haar fällt zu einer Seite und durch mein geschultes Auge kann ich bereits auf den ersten Blick erkennen, dass es schon länger nicht mehr geschnitten wurde. Die Länge steht ihm, verleiht ihm ein jüngeres, draufgängerisches und wilderes Aussehen. Nicht, dass er alt ist, ich schätze ihn auf Mitte dreißig, doch es wirkt frisch und nicht so durchschnittlich, wie einen ein Herrenkurzhaarschnitt nun mal oft wirken lässt. Er ist durchschnittlich groß, ungefähr einen Meter achtzig, zu dem Rest kann ich leider nichts sagen, da der Bartresen alles verdeckt. Leicht verlegen wende ich mich von den Männern ab, als sein Blick mich intensiv streift. Tobi steht vor ihm und begrüßt ihn per Handschlag.
O Gott, bitte nicht wieder so ein selbstverliebtes Arschloch wie mein Ex-Boss, denke ich.
Ich widme mich wieder meiner Arbeit, bringe diverse Bestellungen zu den Gästen, räume Tische ab und spüle Gläser. Antje schaut kurz bei uns vorbei und entdeckt ebenfalls Tobis schönen Gesprächspartner. Seit einer Stunde sitzt diese männliche Schönheit nun schon an der Bar, ohne dass ich weiß, wer er überhaupt ist. Mir scheint, dass sich die beiden sehr gut verstehen. Bei genauerer Betrachtung könnte der unbekannte Schöne auch schwul sein, immerhin hat er mich vorhin ziemlich komisch, fast schon eifersüchtig angeschaut. Nicht, dass er denkt, Tobi habe wirklich Interesse an mir.
Der Fremde ist extrem gut gekleidet. Abgecheckt habe ich ihn natürlich nicht. Ich bin nur rein zufällig geschätzte hundert Male an diesem Abend an ihm vorbeigelaufen. Da ist mir sein tadelloser Kleidungstil eben einfach aufgefallen.
Antje setzt sich zu ihm an die Bar und umarmt ihn zur Begrüßung. Sie unterhalten sich und lachen gelöst. Ich stehe ein wenig entfernt von ihnen am Spülbecken und kann nicht hören, was sie sagen, spüre aber, wie ihre Blicke auf mir ruhen. Vor allem seinen Blick spüre ich ganz genau. Er macht mich unsicher. Seit der Sache mit Markus habe ich Angst, mich zweideutig zu verhalten oder Blicke falsch zu deuten. Doch bei ihm scheint es egal zu sein.
Schade, dass immer die attraktivsten Männer schwul sind, schlussfolgere ich resigniert und stelle fest, dass der Getränkevorrat an der Bar zur Neige geht. Daher mache ich mich auf den Weg ins Lager, um Nachschub zu besorgen. Wenig später komme ich aus dem Getränkelager zurück, doch der Unbekannte ist inzwischen verschwunden. Als meine Schicht beendet ist, habe ich ihn bereits fast vergessen. Aber eben nur fast. Ich habe immer mal wieder kurz nach ihm Ausschau gehalten, ihn aber nicht mehr entdeckt. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann kann ich diesen Blick nicht vergessen und den dazugehörigen Körper ebenso wenig.